Filmdienst 13 2014

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Filmkunst

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FILM DIeNsT Das Magazin für Kino und Filmkultur

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SCHAUPLATZ AUTO Auch das Kino spielt gerne mit Autos. Dabei ist es im Auto oft genug eng. und doch bleibt viel raum für Dramatik.

KINO-SCHWESTERN es ist kein neues Phänomen, prägt aber aktuelle Filme auf verblüffend vielfältige Weise: schwestern-Bande im Kino.

HINTER DER KAMERA Michael Ballhaus ist einer der bedeutendsten deutschen Bildgestalter. Nun erinnert er sich an seine „Bilder im Kopf“.

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19. Juni 2014 € 4,50 67. Jahrgang

Die Fotografin wird in einem Dokumentarfilm entdeckt: „Finding Vivian Maier“. Was sie in den straßen Chicagos abbildete, war stets auch ihr eigenes Leben.

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Akteure

Kino 10

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In seinem Inneren ist das Auto Aquarium und Panoptikum zugleich: ein Raum zwischen Isolation und Begegnung, Enge und Bewegung. Als Handlungsort im Kino beherbergt er weit mehr als nur gestresste Fahrer bei Verfolgungsjagden. Eine Spritztour in sechs Stationen.

Nur ihr Film „Archipelago“ kam bisher in die deutschen Kinos. Doch Joanna Hogg gilt als eine der außergewöhnlichsten Regisseurinnen Großbritanniens. Vielschichtige, fein austarierte Beziehungsbeobachtungen bestimmen ihr Kino-Universum. Von Olaf Möller

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JoANNA HoGG

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sCHWesTerN Das Bild der Schwester als missgünstige Rivalin ist passé: Das Kino etabliert Schwestern in all der emotional verstrickenden Vielfalt, die der Verwandtschaftsgrad auch in der Realität bereithält. Von Felicitas Kleiner

Alle Filme im tV vom 21.6. bis 4.7. das extraheft 48 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV 80.000 Film-Kritike n u n t e r w w w. f i l m d ienst.de

INSOMNIA – SCHLAFLOS 21.6. ZDF

VIER MAL – LE QUATTRO VOLTE

Ständige Beilage

FILM

LUKS GLÜCK 27.6. zdf.kultur

IM TV 21.6.– 4.7.2014

MIDNIGHT IN PARIS 23.6. ZDF

Out of Sight von Steven Soderberg h Über den Dächern von Nizza von Alfred Hitchcock Brownian Movement von Nanouk Leopold

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25.6. arte.

IN MeMorIAM Mit dem Tod von Helma SandersBrahms und Hansjürgen Pohland verlor die deutsche Filmlandschaft zwei engagierte Regisseure, die mit ihren Werken auch mal aneckten. Von Ralf Schenk

MURIELS HOCHZEIT 4.7. 3sat.

NOWHERE BOY 29.6. Das Erste.

[21.6. VOX] [29.6. ZDF]

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[3.7. 3SAT]

KATeLL QuILLÉVÉrÉ

Out of Sight 21.6. VOX Über den Dächern von Nizza 29.6. ZDF Brownian Movement 3.7. 3sat

„Abbitte“

religion macht kasse

Ein Gespräch mit der Regisseurin von „Die unerschütterliche Liebe der Suzanne“ über filmische Lücken, emotionale Brüche und die Kraft des Unerwarteten in ihrem „Biopic einer Unbekannten“. Von Daniel Benedict

hollywood­Korrespondent Franz everschor über eine Zielgruppe, die hollywood mit dem erfolg von „heaven Is For Real“ wiederentdeckt: Bekennende Christen

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Neue Filme

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LITerATur Zwei Bücher gewähren Einblicke ins japanische Kino: die Monografie „Kurosawa. Die Ästhetik des langen Abschieds“ und der Katalog „Ästhetik der Schatten. Filmisches Licht 1915-50“.

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+ ALLe sTArTTerMINe

47 About Last Night [19.6.] 44 Beste Chance [26.6.] 47 Cuban Fury - Echte Männer tanzen [19.6.] 36 Finding Vivian Maier [26.6.] 46 Flöckchen - Die großen Abenteuer des kleinen weißen Gorillas! [19.6.] 41

Anders als in „die unerschütterliche liebe der suzanne“ richtet sich die leidenschaft starker Frauenfiguren nicht immer auf das männliche gegenüber. „Violette“ erzählt von der liebe zu den worten der französischen schriftstellerin Violette leduc. einem verbalen traumjob jagt wiederum eine nachrichten-moderatorin in der l.A.-odyssee „mädelsabend“ hinterher.

Lupu [19.6.]

VIVIAN MAIer Ihr Leben lang fotografierte das Kindermädchen aus Chicago alles, was ihr vor die Linse kam. Ihr Bilder-Schatz wurde 2007 bei einer Auktion ausgehoben und hält seitdem die Kunstwelt in Atem. Von Daniel Kothenschulte

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DreI KAMerAMÄNNer: BALLHAus, WILLIs & BerTA Michael Ballhaus’ Autobiografie „Bilder im Kopf“ besteht aus Wörtern zum Verschlingen. Der verstorbene Kameramann Gordon Willis war ein Bilder-Magier, der die Essenz in der Reduktion suchte. Von Thomas Brandlmeier + Deutscher Kamerapreis: Renato Berta

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kinotiPP der katholischen Filmkritik

39 No Turning Back [19.6.] Drama von Steven Knight

45 Mädelsabend [26.6.] 47 Sauacker [26.6.] 37 Still [19.6.] 38 Tiefe Wasser [26.6.] 42 Die unerschütterliche Liebe der

Fotos: TITEL: nfp S.4/5: Universal; fugu films; Warner Bros.; Studiocanal; Arsenal; Kool; Universum

s. DIe uNersCHÜTTerLICHe LIeBe Der suZANNe

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s. VIoLeTTe

Suzanne [19.6.] 40 Violette [26.6.] 46 Wechselzeiten [26.6.] 46 Wolf Creek 2 [19.6.] 43 Zoran - Mein Neffe der Idiot [19.6.]

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CHArLes LLoYD

s. MÄDeLsABeND

Die neue Dokumentation „Arrows Into Infinity“ zeichnet die Karriere einer US-amerikanischen Jazz-Legende nach. Von Ulrich Kriest

ruBrIKeN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Magische Momente DVD-Perlen Vorschau Impressum

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MAGIsCHe MoMeNTe Dieses Mal: Eric Rohmer und „Meine Nacht bei Maud“. Von Rainer Gansera

Kritiken und Anregungen?

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Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf Facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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klaustrophobie und Freiheit Filmschauplatz Auto

Das Kino spielt gerne mit und in Autos. Eine subtilere Herausforderung als wilde Verfolgungsjagden und spektakuläre Crashs ist es allerdings, das Gefährt als atmosphärischen Schauplatz zu inszenieren: Im Auto ist es eng, weder die Kamera noch die Schauspieler haben darin viel Platz. Umso präziser muss die Inszenierung sitzen, wie aktuell im Kinofilm „No Turning Back“.

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Eingeschlossen im Auto

kino

Wenn man an Autos im Kino denkt, fallen als erstes rasante Momente ein: Autorennen wie das fatale Duell in „…denn sie wissen nicht, was sie tun“ oder Verfolgungsjagden wie die spektakuläre Sequenz in „French Connection“, in der Gene Hackman im Auto eine Hochbahn verfolgt. Tatsächlich dient das Auto seit Stummfilmtagen vor allem zur Dynamisierung. Seinen prominentesten Platz hat es im Genre des Actionfilms, aber auch in Reisefilmen und in Road Movies. Ein Film wie „No Turning Back“ (Kritik in dieser Ausgabe) führt allerdings vor Augen, dass sich das Motiv nicht in äußerer Dynamik erschöpft. Der von Steven Knight inszenierte Film spielt fast durchgängig im Inneren eines BMWs, mit dem ein Mann durch die Nacht fährt und dabei an einen entscheidenden Wendepunkt seines Lebens gerät. Der Handlungsort Auto dient hier als sinnfälliges Inszenierungsmittel, um der psychischen Situation des Helden einen physischen Rahmen zu geben, der auf dramatische Weise ambivalent ist: Einerseits ist der Protagonist höchst mobil und legt eine große Wegstrecke zurück, andererseits ist er im Wageninneren extrem eingeschränkt. Er

Annäherungen: etwa jene zwischen Miss Daisy und ihrem Chauffeur im gleichnamigen Film von Bruce Beresford (1989), in dem die Nähe im Wagen zum Nährboden für eine Freundschaft (zwischen den Figuren von Jessica Tandy und Morgan Freeman) wird, die Rassen- und Klassenschranken überschreitet. Das funktioniert auch andersherum: im Thriller und im Horrorkino kann sich die Situation im Autoinnern in äußerste Destruktion verwandeln. Die scheinbare Sicherheit im Inneren eines Gefährts erweist sich hier oft als trügerisch: wenn z.B. ein monströser Truck einen PKWFahrer in ein mörderisches „Duell“ verwickelt (wie in Steven Spielbergs Klassiker aus dem Jahr 1971) oder wenn ein psychopathischer Slasher ein im Wagen turtelndes Teenager-Pärchen ins Visier nimmt (wie in „Düstere Legenden“, 1998). Die Angst, die daraus entsteht, dass das Sicherheit suggerierende Gehäuse, das in Wirklichkeit ja nur sehr dünnwandig ist, zerstört zu werden droht, ist ähnlich zeitlos wie das klassische „Home Invasion“-Motiv. Action und Eingesperrtsein, Bewegung und Klaustrophobie liegen oft dicht beieinander bzw. spielen ineinander.

kommuniziert zwar mit anderen, ist aber zugleich furchtbar allein und auf sich selbst zurückgeworfen.

Allerdings muss nicht jede „Invasion“ des Autoinnenraums durch einen Fremden tödlich enden. In Taxi-Filmen ist es ganz selbstverständlich, dass der Fahrer/die Fahrerin Unbekannte zu sich ins Auto nimmt, und mit ein bisschen Glück geraten sie dabei nicht an einen Killer à la Tom Cruise in „Collateral“ (2004), sondern es kommt zu inspirierenden Begegnungen wie in Jim Jarmuschs „Night on Earth“ (1991): Hier entfaltet das Auto in besonderem Maße seine Rolle als intime Kapsel, die für die Dauer einer Fahrt Verständigung zwischen völlig Fremden stiften kann.

Doch nicht nur in „No Turning Back“ machen solche Ambivalenzen das Auto zum interessanten Spielort für Filme. Ähnlich wie bei anderen Fortbewegungsmitteln geht mit dem Motiv des Autos im Kino eine Spannung zwischen Außen und Innen einher. Während das Auto selbst als Vehikel den Raum durchmisst, stellt es gleichzeitig einen Innenraum dar, der die Fahrenden einschließt und zum Stillsitzen verdammt. Es bewegt sich in der Öffentlichkeit, interagiert im Straßenverkehr mit anderen und ist dank seiner Scheiben transparent für Blicke hinaus oder hinein. Zugleich bietet es den Insassen einen gewissen Schutz gegen die Außenwelt und garantiert eine Nähe zwischen ihnen. Das Kino nutzt diese Spannung auf mannigfaltige Weise. Etwa in Szenen, in denen sich Paare im Auto näherkommen, während die Außenwelt als gesellschaftlicher Rahmen präsent bleibt. Wobei man nicht nur an romantische Knutschereien oder an Sex auf dem Rücksitz denken sollte, sondern auch an zartere

Die folgenden Texte erinnern an Filme und Filmszenen, in denen dem Auto als Schauplatz eine besondere Rolle zukommt. Auf signifikante Weise spielen sie mit den vielfältigen Spannungen, die mit diesem Setting einhergehen, und/oder auch mit den inszenatorischen Ansprüchen, die der beengte Innenraum an Regie und Kamera stellt. Also: Einsteigen, anschnallen und losfahren! Felicitas Kleiner

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Finding Vivian Maier

Im Dokumentarfilm hat man es regelmäßig mit Schicksalen zu tun, an denen sich Script-Doktoren die Zähne ausbeißen würden, da sie die Unwahrscheinlichkeiten der Vorlage einfach nicht in den Griff bekämen. Etwa die Geschichte von Vivian Maier (1926–2009), die als Nanny in Chicago arbeitete und nebenbei mit der Rolleiflex-Kamera wie ein Profi fotografierte. Ihre Bilder, die man erst posthum entdeckte, sind die einer hochbegabten Straßenfotografin. Vergleiche mit Großen der Zunft, mit Diane Arbus, Robert Frank oder Lisette Model, sind nicht zu hoch gegriffen. Aber Charlie Siskel und John Maloof erzählen in „Finding Vivian Maier“ keine Aufsteigergeschichte. Denn erst nach ihrem Tod erfährt Maier die Aufmerksamkeit, die sie verdient. Wollte oder konnte die Fotografin nicht anders? Zu Lebenzeiten ließ sie von ihren Aufnahmen nur wenige Vergrößerungen anfertigen; der Großteil ihrer Negative wurde nach ihrem Tod unentwickelt aufgefunden. Maloof, heute Nachlassverwalter der Fotografin, stieß im Jahr 2007 während einer Zwangsversteige-

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rung auf Maiers Bilder. Er erahnte ihre Bedeutung, erzielte mit 200 auf einer Website präsentierten Bildern Klick-Rekorde, organisierte eine vielbeachtete Ausstellung und bat Experten um ihre Meinung. Der renommierte Fotograf Joel Meyerowitz attestiert Maier im Film einen „unverfälschten Blick“ und einen „tiefen Sinn für die menschliche Natur“. Was in dem Film an ausdrucksvollen Schwarzweißfotos zu sehen ist, lässt keinen Widerspruch aufkommen. Dass Vivian Maier zwar Negative belichtete, aber keine ausstellungswürdigen Prints in Auftrag gegeben hat, ist für den Galeristen Howard Greenberg kein Einwand gegen ihre Qualität; er nennt Spitzenfotografen wie Garry Winogrand (1928–1984), die endlose Meter unentwickelter, aber großartiger Bilder hinterlassen hätten. Der Film deutet an, dass hinter manchen Argumenten gegen eine Würdigung von Vivian Maiers auf höherer Ebene auch der Unwille von Museen steht, die Geschichte der Fotografie umzuschreiben oder zumindest um eine Protagonistin zu erweitern – und damit den Wert der eigenen Foto-

sammlung womöglich zu schmälern. Aber daran ist nicht zu rütteln: Maier hatte einfach den Blick für Kristallisationsmomente im Chaos der Ereignisse. Ihre hohe Ausbeute an guten Schüssen pro Film (es gab weder Digitalkameras noch eine Löschfunktion) verblüfft ebenso wie ihre skrupellose Art, Leuten auf den Leib zu rücken und im richtigen Augenblick auf den Auslöser zu drücken. Dabei ließ sie selbst kaum Nähe zu, wollte sich ungern in die Karten schauen lassen. Filmisch ist „Finding Vivian Maier“ kein Meisterwerk. Die Abfolge von Nacherzählung und Interviews, der Schnitt und die eher konventionelle Musikuntermalung erlauben sich keine Experimente. Zu etwas ganz Besonderem wird die Dokumentation dank der Vielstimmigkeit, die sich aus der großen Zahl der Menschen ergibt, mit denen Vivian Maier zu tun hatte, und auch aus der ans Pathologische grenzenden Widersprüchlichkeit ihrer Persönlichkeit. Siskel und Maloof machen es spannend, indem sie die Suche nach der mysteriösen Fotografin in die Erzählstruktur des Films integrieren. Neben Fotografen und

Galeristen kommen Eltern und ehemalige Schutzbefohlene zu Wort – Zeitgenossen, die Maloof nur mit Mühe ausfindig machte. Die fesselnden Bildwelten der FreizeitSoziografin und obsessiven Bildermacherin stehen einem von Beklemmungen und Einsamkeit überschatteten Alltag gegenüber. Keiner der Menschen, bei denen Maier als Nanny arbeitete, hatte eine Ahnung von den Dimensionen ihrer Leidenschaft und ihres Talents. Als hätte es unzählige Vivian Meiers gegeben, loben einige ihre liebevolle Natur, während andere von der Exzentrik oder gar den dunklen Seiten ihrer Kinderfrau berichten. Maier nahm Kinder mit auf Fotostreifzüge in gefährliche Gegenden von Chicago. Sie konnte wohl auch gewalttätig werden, etwa gegen Männer, die sie generell hasste. In späteren Jahren setzte sie offenbar auch den Kindern zu. Mehr und mehr wurde Maier von ihren Arbeitgebern und wenigen Freunden als Belastung empfunden. Sie hortete stapelweise Zeitungen, frönte einer Gier nach Informationen und Bildern, die sie kaum mehr zu kontrollieren schien.

Fotos S. 36-47: Jeweilige Filmverleihe.

Eine der großen Fotokünstlerinnen des 20. Jahrhunderts wird entdeckt

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im Kino

neue Filme

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Langzeitbeobachtung einer jungen Bäuerin und ihrer Familie Maier starb verarmt und einsam in der Nähe von New York. Was wäre aus ihr geworden, wenn sie der Welt ihren Bilderschatz geöffnet hätte? Wie erfüllend ist ein künstlerisches Tun ohne Betrachter, ohne Resonanz? Der Film erzählt eine letztlich traurige Geschichte, kündet aber auch von erfüllten Augenblicken – die Vivian Maier, mit oder ohne Absicht, für die Nachwelt einzufrieren vermochte. Jens Henrichsen Bewertung der Filmkommission

Fotos S. 36-47: Jeweilige Filmverleihe.

Vielstimmiger Dokumentarfilm über Vivian Maier (1926–2009), die 1951 von Frankreich nach New York zog, um dort als Kindermädchen zu arbeiten. Nebenbei ging die exzentrische junge Frau ihrer großen Leidenschaft nach und fotografierte unablässig Menschen auf der Straße. Nur von den wenigsten ihrer großartigen Aufnahmen ließ sie Abzüge machen; ein Großteil der Negative wurde unentwickelt im Nachlass gefunden. Erst posthum wurde so eine Künstlerin entdeckt, die über vier Jahrzehnte lang mit großer Meisterschaft den großstädtischen Alltag in New York und Chicago fotografisch festhielt. Formal konventioFINDING VIVIAN MAIER nell, aber mit großer Leidenschaft macht USA 2013 sich der Film auf die Suche nach der regie, Buch, kamera: John Maloof Straßenfotografin, deren Widersprüchmusik: J. Ralph lichkeit ihrer Umwelt Rätsel aufgab, schnitt: Aaron ohne dass ihr Wickenden Talent je erkannt wurde. Ihre fesselnden enthüllen länge: 84 Min. | Bilderwelten kinostart: 26.06.2014 sich dabei als Spiegel eines eigenwilligen, Verleih: nfp | Fsk: ab 0; f zunehmend von Beklemmung und Fd-kritik: 42 427 Einsamkeit bestimmten Schicksals. – Sehenswert ab 14.

FINDING VIVIAN MAIER USA 2013 regie, Buch, kamera: John Maloof musik: J. Ralph schnitt: Aaron Wickenden länge: 84 Min. | kinostart: 26.06.2014 Verleih: nfp | Fsk: ab 0; f Fd-kritik: 42 427

So richtig still ist nie auf der Alm, wohin es die 30-jährige Uschi mit jeder Faser ihres Wesens zieht. Doch für die zupackende Frau mit dem kehligen Lachen klingt im unablässigen Glockengeläut der Kühe eine Verheißung mit, die sich mit dem sanften Wind und dem Summen der Natur zum Sound eines befreiten Lebens vereint. Hier oben ist sie ganz bei sich und den Tieren, die sie innig herzt und mit Hingabe pflegt; die harte Arbeit, das Melken, Buttern und „Kasern“, geht ihr leicht von der Hand, der Tag wird vom Lauf der Sonne und dem Wetter bestimmt, Fragen nach dem Alleinsein oder der Zukunft stellen sich nicht. Doch im Nu ist der Sommer vorbei, und mit dem Abtrieb kehren auch die weniger paradiesischen Gefilde mit ihren Sorgen und Zwängen wieder, allen voran die Frage, ob Uschi den kleinen Milchbauernhof ihrer betagten Eltern nicht endlich doch übernehmen will. Wie ein Mantra kommt der Regisseur Matti Bauer immer wieder auf dieses Thema zu sprechen, das seine über zehn Jahre sich erstreckende filmischen Begegnungen mit Uschi und ihren Eltern strukturiert. Was 2003 auf der Alm als Porträt einer ungewöhnlichen Frau begann, wandelt sich zu einem thematisch vielschichtigen Zeit- und Generationenbild, das den Veränderungen des Lebens im Spiegel einer unkonventionellen Bauernfamilie auf der Spur ist. Als der Regisseur im Winter wieder auf den Hof kommt, ist Uschi schwanger; zwei Jahre später wuselt der kleine Jakob herum; der Traum vom Sennerinnen-Dasein wird vorerst aufgeschoben. Im fünften Jahr hat Uschi den Hof übernommen, am Ende sagt sie stolz, dass sie „Bäuerin“ sei. Der Vater, inzwischen

fast 80, hilft noch immer mit, die Mutter ist alleine ins Austragshäuschen gezogen. Die Entscheidung, den Film in Schwarz-Weiß zu drehen entpuppt sich dabei als Glücksfall: Während das Sujet, die Ästhetik der Bilder und viele Motive eher Brücken in eine von (Film-)Klischees überwucherte Vergangenheit schlagen, erweisen sich alle Mitglieder der Familie als humorvolle Freigeister, die keineswegs in Herkunft oder Tradition aufgehen. Dem Vater, einem aufrechten, gütigen Mann, funkelt der Schalk aus den Augen; die Mutter bekennt freimütig, dass sie heute „alles“ anders machen würde; die Tochter, bis in Körperhaltung, Temperament und Charakter hinein eine Wiedergängerin ihrer Mutter, setzt dies in die Wirklichkeit um: mit einem ausgeprägten Willen, sich nicht in Vorgegebenes zu fügen, sondern nach ihrem eigenem Kopf zu entscheiden. Und sei dies, ihren Sohn allein aufzuziehen oder mit einem Piloten zusammenzuleben, obwohl auf dem Hof ein Bauer vonnöten wäre. Uschis Eigensinn stellt auch die Inszenierung vor Herausforderungen. Denn nicht immer ist sie bereit, sich filmen zu lassen, was auch ein Grund dafür ist, dass „Still“ eher wie eine kurzweilige, polyphone Collage denn eine durchkomponierte „SennenBallade“ im Stil von Erich Lang-

jahr wirkt. Über den Bildern liegen häufiger Uschis nachdenkliche Kommentare, der Regisseur meldet sich als Erzähler wie als Gesprächspartner zu Wort, die Protagonisten äußern sich meist im Interview. Es gibt viel zu sehen, traumhafte Landschaftsaufnahmen, vielsagende Gesten und stille Alltagsmomente; doch die dem Leben mit der Kamera abgerungenen Beobachtungen halten sich mit den verbalen Äußerungen in etwa die Waage. Dass in der Montage daraus dennoch eine unterhaltsampointierte Langzeitbeobachtung entsteht, hat nicht zuletzt mit dem oberbayerischen Dialekt zu tun, der den Lebensweisheiten der Protagonisten über die authentische Beglaubigung hinaus Witz und Tiefenschärfe verleiht. Josef Lederle

Bewertung der Filmkommission

Eine eigensinnige 30-Jährige verbringt den Sommer allein mit den Tieren auf der Alm. Im Herbst kehrt sie zu ihren Eltern auf den kleinen Bauernhof zurück, den sie übernehmen soll. Doch erst eine Schwangerschaft zwingt sie, ihre Träume vom Leben als Sennerin aufzuschieben. Unterhaltsam-pointierte Langzeitbeobachtung, die über zehn Jahre hinweg ein vielschichtiges Zeit- und Generationenbild zeichnet und als kurzweilige Collage aus Landschaftsbildern, Momentaufnahmen und dem Charme des bayerischen Dialekts für sich einnimmt. – Ab 12.

Schwarz-Weiß. Deutschland 2013 regie, Buch: Matti Bauer kamera: Klaus Lautenbacher schnitt: Ulrike Tortora länge: 83 Min. | kinostart: 19.06.2014 Verleih: Zorro | Fsk: ab 0; f Fd-kritik: 42 428

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