Filmdienst 13 2015

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fIlM DIenST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de www.fi lmdienst.de

» FREISTAT T« VO N MAR C B RU M M U ND

ein Schandfleck deutscher erziehungsgeschichte: Der film »freistatt« blickt kritisch auf das Schicksal deutscher Heimkinder.

A DÈLE H A EN EL

Der französische Shooting-Star fasziniert in »liebe auf den ersten Schlag« als Überlebenskämpferin.

H AT DI E FI LM K RITI K EI N E ZU K U N F T ?

Das Kino eröffnet imaginäre Räume. Immer noch. ein Gespräch dazu mit Wolfgang Höbel. und ein neues Buch über filmkritik.

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SIDE KICKS

25. Juni 2015 € 5,50 68. Jahrgang

Der »Sid ekick« is t der bes freund d te es filmh elden. »Sidekic ks« entw ick mitunter selbst Ku eln ltp wie die » Minions« otenzial – . eine Hommag e an die gr »Kumpe ls« im fil oßartigen m.

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der katholischen Filmkritik

40 freistatt Erschütterndes Drama über Gewalt in einem Fürsorgeheim für Jugendliche

10 heimfilme

neu im kino ALLE STARTTERMInE

51 45 51 44 37 40 50 49 39 43 49 45 41 38 45 45 48 47 49 46 36 51 42 49

antboy 2– Die rache der red fury 25.6. atlantic. 25.6. Bad luck 2.7. Dior und ich 25.6. Das fehlende grau 25.6. freistatt 25.6. ich seh, ich seh 2.7. insidious: chapter 3 2.7. Jurassic world 11.6. liebe auf den ersten schlag 2.7. Die liebe seines lebens 25.6. Marry Me! 2.7. Men & chicken 2.7. Minions 2.7. Miss Bodyguard 11.6. Öğrenci İşleri 28.5. Der Papst ist kein Jeansboy 2.7. seht mich verschwinden 2.7. täterätää–Die kirche bleibt im Dorf 25.6. tempo girl 2.7. underdog 25.6. Verliebt, verlobt, verloren 25.6. worst case scenario 2.7. wunder der lebenskraft 25.6.

27 e-mail aus hollywood

fernseh­tipps 56 Pünktlich zur Sommerferienzeit lässt sich auch auf dem heimischen Sofa in die Ferne schweifen: Gleich mehrere Spielfilmund Dokumentarfilm-Reihen entführen in ferne Länder: »Mit arte nach Asien«, auf 3sat ins vitale griechische Arthouse-Kino oder mittels zweier spannender Dokus nach Afrika (beim SWR).

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32 wim wenders’ »hammett« Fotos: TITEL: Universal. S. 4/5: Edition Salzgeber/First Hand Films/Paramount Pictures/StudioCanal/Pro-Fun/Senator/Zorro

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20 adèle haenel 17.06.15 15:20


inhalt kino

akteure

filmkunst

16 sidekicks

24 lena lauzemis

28 wolfgang höbel

10 HEIMFILME

20 ADÈLE HAEnEL

Von Holger twele

Von marius nobach

16 SIDEKICKS

22 KORnÈL MUnDRUCZÓ

Von Felicitas kleiner

Von ralf schenk

Schwarze Pädagogik und brutale Unterdrückungsmechanismen prangert Marc Brummunds Drama »Freistatt« an. Es ist dies nicht der erste Film, der den Auswüchsen in Heimen nachgeht und damit auch den Opfern ein Gesicht gibt.

Anlässlich der Heroisierung der »Minions« von einer Revolte zu sprechen, scheint etwas übertrieben; unübersehbar ist aber, dass »Sidekicks« zunehmend in den Fokus rücken. Eine kleine Hommage an die großartigsten Filmkumpels der Welt.

Die Figuren der jungen französischen Darstellerin zeichnen sich durch ihre eindrückliche Körperlichkeit aus. Aktuell kann man Adèle Haenel als heißspornige Überlebenskämpferin in »Liebe auf den ersten Schlag« (Kritik in dieser Ausgabe) bewundern.

Mit »Underdog« schuf der ungarische Regisseur ein zorniges Gleichnis, in dem er eine sich organisierende Hundemeute in eine Großstadt einfallen lässt. Im Interview spricht er über den Umgang mit Tieren und Filmen in seiner Heimat.

24 LEnA LAUZEMIS

Bislang schlüpfte die 1983 geborene Schauspielerin in wenige, aber wehrhafte Rollen; darunter in die einer RAF-Terroristin in »Wer wenn nicht wir« sowie einer Domina in »Das Zimmermädchen Lynn«. Eine neue Hommage in unserer Reihe »Spielwütig«. Von alexandra Wach

26 In MEMORIAM

nachrufe u. a. auf den Winnetou-Darsteller Pierre Brice und den spanischen Regisseur Vicente Aranda.

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ruBriken EDITORIAL InHALT MAGAZIn DVD/BLU-RAy DVD-PERLEn TV-TIPPS ABCInEMA VORSCHAU / IMPRESSUM

27 E-MAIL AUS HOLLywOOD

Ob in »San Andreas« die Erde erzittert oder in den kommenden »Terminator«und »Blade Runner«-Fortsetzungen die Apokalypse aus Roboterhand beschworen wird: Die Zukunft bebt. Von Franz Everschor

28 wOLFgAng HöbEL

Anlässlich des Films »Was heißt hier Ende?« spricht der Kulturjournalist über die Lücke, die Michael Althen in der Filmkritik hinterlassen hat. Ein Gespräch über Kultur-Pessimismus, Blogosphären und den Kinosaal als Ort zum Träumen. Von michael ranze

31 LItERAtUR

»Geschichte der deutschen Filmkritik« von David Steinitz Von thomas Brandlmaier

32 wIM wEnDERS & HAMMEtt

Als sein Hollywood-Erstling »Hammett« bei den Produzenten durchfiel, sah sich Wim Wenders gezwungen, eine zweite Fassung zu drehen. Die großartige erste Version hat nun das Filmmuseum München vorgestellt. Von rainer gansera

34 MAgISCHE MOMEntE

Wenn Alan Rickmans Engel in »Dogma« je nach Gefühlslage die Flügel zucken lässt, ist das einer der vielen himmlischen Augenblicke in Kevin Smiths Fantasy-Parabel. Von rainer gansera

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r nur eigentlich spielen sie imme kicks« die zweite Geige: die »side vor- jene nebenfiguren, deren ht, rangige Aufgabe darin beste tzend den Hauptfiguren unterstü besonzur seite zu stehen und sie n. doch ders gut aussehen zu lasse mer »sidekicks« entwickeln im l: Viele wieder selbst Kultpotenzia hserien Kinofilme und auch Fernse und haben dies längst erkannt gewürdigen sie inzwischen an t einem messen. mitunter sogar mi Platz im rampenlicht.

E i d n a E g a m m o H EinE grossartigEn »sidEkicks« im Film

e t s n ö h c s e i D r e D e h c a s neben W e lt

kino sidekicks

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Von Felicitas kleiner

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is & Dean Martin symbiotisch: Jerry lew

Potter: ron weasley ry zweite geige hinter Har

Pennyworth Batman-Butler alfred in »lone ranger« Johnny Depp als tonto

to n to un D Jac k spa rroW es ist deprimierend, das sidekick-schicksal. ron weasley kann ein lied davon singen: als bester kumpel steht er immer im schatten von Harry Potter. Harry ist der »Auserwählte«, Ron ist – eben Ron: nicht ganz so talentiert, nicht ganz so mutig wie Harry und manchmal ein bisschen tollpatschig. Was Ron allerdings von den durchschnittlichen Sidekicks unterscheidet: Autorin Joanne K. Rowling psychologisiert in ihren »Harry Potter«-Romanen die aus unzähligen Büchern und Filmen bekannte Rollenverteilung. Ron weiß, dass er nur die zweite Geige spielt, und er leidet darunter. Rowling macht daraus, jenseits des »äußeren« Kampfs gegen Lord Voldemort, Rons ganz eigenen Konfliktstrang, der sich durch mehrere Bände (und Kinofilme) zieht und in der Beziehung zu Harry stets für Spannungen sorgt. Ron ist ein Sidekick, der gegen sein »Schicksal« der Marginalisierung aufbegehrt. Wahrscheinlich würde Ron der neue »Minions«-Film gefallen. Waren die knubbeligen gelben Gehilfen in den Aminationsfilmen »Ich – einfach unverbesserlich 1 & 2« lediglich die hinreißend komischen Sidekicks des (Anti-)Helden Gru, sind sie nun selbst Hauptfiguren (Kritik in dieser Ausgabe). Eine Beförderung, die kein Einzelfall ist. Eine Aufwertung hat sich beispielsweise auch schon jener bucklige Diener erspielt, der über Jahrzehnte unter verschiedenen namen durch Variationen des »Frankenstein«Stoffs hinkte – oft als Igor, im James-Whale-Klassiker aus dem Jahr 1931 als Fritz, in »Rocky Horror Picture Show« als Riff Raff. In »Victor Frankenstein«, einer neuen Variation von Mary Shelleys Romanstoff, inszeniert von Paul McGuigan (Kinostart: 18.10.2015), gibt der Schweizer Arzt Viktor Frankenstein zwar einmal mehr den Titelhelden, doch im Mittelpunkt steht die Perspektive des Dienstboten, der durch »Harry Potter«-Star Daniel Radcliffe verkörpert wird.

Bereits 2013 schrieb das Popkultur-Magazin »Rolling Stone« anlässlich des Kinostarts von Gore Verbinskis »Lone Ranger« von einer »sidekick revolution«. In »Lone Ranger« stahl der stumme Indianer Tonto, der in der zugrunde liegenden Serie lediglich der Gehilfe gewesen war, dem weißen Titelhelden locker die Show. Kein Wunder: Tonto wurde von Super-Star Johnny Depp gespielt. Der hatte schon in Verbinskis »Pirates of the Caribbean«-Franchise Erfahrung darin gesammelt, wie man aus einer nebenfigur eine Hauptrolle macht. Ein exzentrischer, ein wenig tuntiger, dem Rum zugeneigter Kauz wie Captain Jack Sparrow wäre in klassischen Abenteuerfilmen allenfalls dafür gut gewesen, um für ein paar Lacher zwischendurch zu sorgen, während der romantische Held den Tag rettet. Doch das Gespann Depp/Verbinski machte diese Figur zum Herzstück des Franchise, während der klassisch angelegte Held (gespielt von Orlando Bloom) nach Teil 3 von Bord gehen musste. Depps Charaktere in »Lone Ranger« und »Fluch der Karibik« stehen in der Tradition karnevalesker nebenfiguren, die den »hohen« Helden eine »niedrigere« oder auch schrägere Perspektive an die Seite stellen. Als ihren großen Gewährsmann könnte man Falstaff aus Shakespeares »Heinrich IV« sehen (der es ja auch schon in Verdis Oper zum Titelhelden gebracht hat). Damit ist auch schon umrissen, was diesen Typus und andere Sidekick-Rollen immer wieder so attraktiv macht: Ihre Stärken sind immer auch ihre Schwächen – die diversen charakterlichen oder körperlichen Schrullen, die sie womöglich nicht zu sonderlich bewunderungswürdigen Vorbildern machen, die sie dafür aber umso menschlicher erscheinen lassen. Das gilt sogar dann, wenn die nebenfiguren gar keine Menschen sind, sondern Roboter: C3PO in den »Star Wars«-Filmen ist neben dem edelmütigen

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Dass Sidekick-Typen wie Tonto oder Jack Sparrow mitunter den Helden den Rang ablaufen, deutet darauf hin, dass die Vorstellungen davon, was denn nun heldenhaft und was eben nur »sidekick-haft« ist, durchaus fließend sind. Ein schönes Beispiel dafür geben auch Sherlock Holmes und Dr. Watson ab. Watson war, seit ihn Arthur Conan Doyle als fiktiven Chronisten von Holmes’ Fällen erfunden hat, der Muster-Sidekick schlechthin: ein Freund, der sich ganz in den Dienst stellt, den Ruhm des genialischen Helden hell erstrahlen zu lassen. In den neuinterpretationen des Stoffs fürs Kino (mit Robert Downey jr. und Jude Law) und auch als Fernsehserie (mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman) wurde dieses Kräfteverhältnis auffällig verschoben: Während Holmes sich mehr exzentrische Schrulligkeit denn je leisten darf, wird dem nüchtern-biederen Dr. Watson deutlich mehr Platz im Rampenlicht zugestanden, verbunden mit einem aktiveren Anteil an den Aufklärungsarbeiten. Aus einer Held-Sidekick-Beziehung wird so eine Co-Helden-Beziehung. Man kann in solcher Aufwertung einen längst überfälligen egalitären Impuls sehen. Schließlich ist die klassische Held-Sidekick-Beziehung das dramaturgische Pendant zum feudalen Herrschaft-DienstbotenVerhältnis – und viele Sidekicks waren und sind ja auch veritable Diener, von Don Quijotes Sancho Pansa über Batmans Butler Alfred bis zu Kato, dem Chauffeur von »Green Hornet«. Diese Standeskluft kleiner zu machen, ist ganz im Sinne der demokratischen »political correctness«. Schon J.R.R. Tolkien ging da mit gutem Beispiel voran: Die Figur des Sam in »Der Herr der Ringe« ist zwar ein klassischer

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Hobbit-gefährte sam

Diener-Sidekick und stellt das »Klassensystem«, das ihn zu Frodos ergebenem Gehilfen bestimmt, nicht in Frage, und doch lässt ihn der Autor (und Peter Jackson übernimmt das in der Verfilmung) im Lauf der Saga immer stärker und heroischer werden, während die Kräfte des Helden durch die Belastung des Rings schwinden. Für Tolkien war dies eine Verbeugung vor den Männern der britischen Arbeiterschicht und ihrer Tapferkeit, die er als Soldat im Ersten Weltkrieg bewundert hatte. Besonders nötig ist diese Egalisierung, wenn die dienende Figur ein »Ethno-Sidekick« neben einem weißen Helden und damit das rassistische Klischee nicht weit sind: Eine Figur wie die schwarze Mammy aus »Vom Winde verweht«, die als treue Seele neben Scarlett O’Hara augenrollend ihren Dienst tut, oder auch wie der lustige chinesische Koch Hop Sing in »Bonanza« könnte man heute kaum noch aufs Publikum loslassen, ohne Empörung zu riskieren. Zwar verrichten Ethno-Sidekicks immer noch ihren Dienst im populären Mainstream, immerhin aber mit mehr persönlicher Würde und weniger ethnischen Stereotypen. Man denke etwa an die afroamerikanischen Sidekicks »Rhodey« Rhodes aka War Machine und Sam Wilson aka The Falcon, die im MarvelUniversum Iron Man und Captain America zur Seite stehen. Ob es The Falcon und War Machine irgendwann einmal zu Titelhelden in eigenen Filmen bringen? Entsprechende Pläne bei Marvel gibt es derzeit noch nicht, allerdings bietet das Marvel Cinematic Universe aufgrund seiner stetigen »Ausdehnung« gute Aufstiegschancen für nebenfiguren – wenn sogar aus einem vergleichsweise »kleinen« Sidekick wie Agent Coulson der Star einer eigenen Serie (»Agents of S.H.I.E.L.D.«) werden kann, dann kann es jeder schaffen! Gleich von einer »Revolution« der Sidekicks zu sprechen, ist wohl übertrieben, wenn man sich den Gros des populären Erzählkinos ansieht, aber immerhin: Die »gläserne Decke« über den Sidekicks, unter der Ron Weasley so leidet, kann durchaus geknackt werden. #

Fotos: Universal/Warner/Walt Disney/FD-Archiv/Paramount/Studiocanal/Sony

D r . Watso n, sam G amDsc hie u n D h o p s inG

in »Herr der ringe«

" in serie tonto und "lone ranger ankensteins" igor Bela lugosi (l.) als "fr

Jedi Luke, dem coolen Han Solo und der taffen Leia so etwas wie der Stellvertreter aller höflich-korrekten, gänzlich unheroischen Büroangestellten.

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away«: wilson stiller zuhörer in »cast

s i d e k i c k­ (ste r eo ­ ) ty p e n der nerd: Jerry lewis er nahm im duo mit dean martin schon vorweg, was später Johnny depp in der »pirates of the caribbean«-reihe tat: eigentlich war der gut aussehende, überlegene martin prädestiniert für den »lead«, doch lewis als durchgeknallter sidekick stahl ihm regelmäßig die show. schließlich trennte sich das dream-team und startete erfolgreiche solokarrieren. rnet« in aktion kato und »the green Ho

ann den »oscar« »Mammy« McDaniel gew

sidekicks kino

s id ekic k­dar st e l l e r i m k lassi sche n ho l lywo o d ­ k i n o nick cravat (1912­1994) zu klein, zu unscheinbar, zu proletenhaft sein slang – dabei kann man sich burt lancaster ohne nick cravat einfach nicht vorstellen: zunächst gemeinsam als zirkus-attraktion, dann virtuos und physisch präsent in abenteuerfilmen wie »der rote korsar“. gerne als stummer (!) kumpel oder auch mit maske wirbelte er als ojo, piccolo oder Jacopo durch hollywood. ward bond (1903­1960) es gibt so einige gesichter des klassischen westerns – ward bond ist das markanteste von ihnen. er punktete aus der zweiten reihe, direkt neben John wayne, dessen bester freund er war. er verkörperte den wackeren westerner, der auch als geistlicher (»der schwarze falke«) oder als ehrlicher und handfester ehemann durch die prärie ritt. auf seine sympathische, stets integre art konnten sich die helden stets verlassen. edward everett horton (1886­1970) es waren die dezidierte nase, die haarwichse und die eigentlich zu stechenden augen, die in kombination eine heldenfigur unmöglich machten. ohne seine »ernsthaftigkeit« sind die screwball comedies der 1930erJahre nicht denkbar – genauso wenig wie »arsen mit spitzenhäubchen« ohne hortons mr. witherspoon. niemand schaute so ungläubig und distinguiert – und war dabei so amüsant. thelma ritter (1902­1969) sechs »oscar«-nominierungen in der kategorie »beste nebenrolle«: niemand sonst hat dies geschafft. sie war so etwas wie die mutter der amerikanischen nation. verschmitztheit und geist sprühten aus ihrem spiel, das sie erst als 45-Jährige forciert ins kino einbrachte. sie war es, die in »das fenster zum hof« sagen durfte: »intelligenz? nichts hat der menschheit mehr probleme bereitet als intelligenz!«

das logische rückgrat: mr. spock impulsive helden brauchen dringend einen wie ihn an der seite, der sie ab und an auf den boden der tatsachen zurückholt. in der serie »raumschiff enterprise« war spock als logisch brillanter, emotional unterbelichteter alien-sidekick des »all american hero« kirk angelegt. trotz oder gerade wegen spocks eigenartigkeit liebten ihn die zuschauer aber mindestens ebenso wie kirk, wenn nicht gar mehr. der treue vierbeiner: gromit dass tiere oft die besseren menschen sind, bekommen helden zu spüren, denen ihre tierischen sidekicks die show zu stehlen, sei es »mein partner mit der kalten schnauze« oder »kommissar rex«. hund gromit muss sich zwar den platz im titel »wallace & gromit« mit dem menschen teilen, aber es steht außer frage, wer die hosen anhat: nicht der mit den hosen, sondern der mit dem fell. die schulter zum ausheulen: wilson man muss noch nicht mal lebendig sein, um einen tollen sidekick abzugeben, solange man nur ein guter zuhörer ist. der wahrscheinlich schrägste sidekick der filmgeschichte ist der volleyball, den sich der einsam gestrandete tom hanks in »cast away« zum gesprächspartner macht. ohne ein gegenüber kommt eben kein held aus. freund fürs grobe: chewbacca nicht alle helden sind so stark wie hulk. müssen sie auch nicht, wenn sie schlagkräftige, körperlich imponierende unterstützung haben. han solo (»star wars«) weiß das: mit einem wookie im schlepptau wird man auch in den zwielichtigsten raumfahrerkaschemmen nicht so schnell blöd angemacht. moralischer anker: James gordon ein held wie batman operiert im moralischen zwielicht. da braucht es jemand, der ihm hilft, moralisch auf dem richtigen kurs zu bleiben. prädestiniert dafür ist neben butler alfred der gesetzeshüter James gordon: sein glaube an batman hilft bruce wayne immer wieder, an sich und seine mission zu glauben. der klotz am bein: »toto« kuhlmann milan peschel gab in matthias schweighöfers »schlussmacher« ein paradebeispiel jener sidekick-spezies, die sich wie eine klette an den helden hängen und von ihm als störender ballast wahrgenommen werden, bis sie ihm beibringen, über sich hinauszuwachsen und verantwortung für andere zu übernehmen. die rolle wird oft von kindern oder hilflosen frauen übernommen, peschel füllt sie mit besonders irrem charme.

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kritiken neue filme

underdog

märchenhaft-düstere Parabel gegen rassismus und Ausgrenzung im august 1904 schreibt der Dichter rainer Maria rilke einen tröstenden Brief an seinen von unsagbarer trauer befallenen Bekannten franz Xaver kappus. »Wie sollten wir«, so heißt es darin, »jener alten Mythen vergessen können, die am Anfange aller Völker stehen, der Mythen von den Drachen, die sich im äußersten Augenblick in Prinzessinnen verwandeln; vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will.« Kornél Mundruczó, einer der ganz wenigen Regisseure, die den Kahlschlag des ungarischen Kinos unter der rechtskonservativen OrbánRegierung bislang noch einigermaßen unbeschadet überstanden haben, nutzt den letzten Satz dieses Zitats als Motto für seinen Film »Underdog«: Tatsächlich geht es hier um eine märchenhafte Parabel,

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deren Hauptfiguren – ein Kind und ein Hund – durch ein Tal der Verzweiflung, ein modernes Höllenfeuer, gehen müssen, um am Ende, vielleicht, gemeinsam das Tor zu einer geläuterten Welt aufstoßen zu können. Die hilfsbedürftige Kreatur, die eine solche Läuterung erzwingt, ist ein Hund mit dem aus dem nibelungenlied entlehnten namen Hagen: freilich kein reinrassiger ungarischer Hirtenhund, sondern ein Mischling – oder ein »Bastard«, wie der Vater der 13-jährigen Lili abschätzig betont. Lili, deren Mutter für einige Monate nach Australien verreist, lässt die Tochter mit Hagen in der Obhut des Ex-Ehemannes zurück. Das ist der Beginn der Katastrophe. Was folgt, ist ein erregendes, nicht zuletzt durch die »Ungarische Rhapsodie« von Franz Liszt auch musikalisch aufgeladenes, emotionales Gleichnis von Dogmatismus, Hass, Verrat und Rache – und von einer vagen, aber dennoch möglichen Rettung. Der Vater, aus

der Perspektive von Lili wie nahezu alle erwachsenen Figuren als überforderter Dauerhysteriker gesehen, setzt den Hund, der ihn nervt, kurzerhand auf die Straße. Hagen wird zum Opfer, zum Outlaw, gejagt und in Tierheime gepfercht. Ein brutaler Hundekampftrainer macht ihn mit einer Peitsche scharf. Konditionstraining auf dem Laufband, die Zähne geschliffen und gefletscht: Filmisch ist das als Tour de force erzählt, die schlimmste Befürchtungen aufkommen lässt. Tatsächlich mutiert die gepeinigte Kreatur zur Bestie, sammelt Schicksalsgenossen um sich, führt eine Hundearmee an: ein wohl organisierter Kampftrupp, ein tierischer Tsunami mitten in der Großstadt, vor dem kein Mensch sicher sein kann. Mundruczós Dystopie jongliert mit Elementen des Melodrams und des Horrorfilms, setzt dabei allerdings weniger Wert auf psychologische Glaubwürdigkeit als auf den zornigen

Effekt. Dass mit den Ausgegrenzten und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten nicht unbedingt (nur) Hunde gemeint sind, sondern alle, die von der aktuellen Politik um ihre Würde gebracht werden – angefangen von Obdachlosen und Asylanten bis zu den in Ungarn nicht eben freundlich behandelten Sinti und Roma –, versteht sich von selbst. Mundruczó verzichtet weitgehend auf digitale Tricks, sondern ließ seine tierische Hauptfigur – gespielt von zwei verschiedenen Hunden – durch Tiertrainer ausrichten. Das verschafft dem Film eine durchaus sympathische note von analoger Klassizität. Dass die Suche Lilis nach Hagen und die von Hagen nach Lili in Parallelmontagen erzählt ist, trägt zur Spannung wesentlich bei. nur im Schlussbild verlässt Mundruczó diese subjektive Doppelperspektive und objektiviert das Geschehen. In einer Totale schwenkt die Kamera nach oben und nimmt gleichsam

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neue filme kritiken einen überirdischen Blick ein, den Blick des Weltgeistes oder den Blick Gottes, wenn man so will. Eine beklemmende Stille tritt ein, Hunde und Menschen liegen sich am Boden gegenüber, niemand weiß, was dieser unruhigen Ruhestellung folgen wird. Das erinnert an das Finale von Hitchcocks »Die Vögel«. Wer weiß: Vielleicht ist »Underdog« bei aller Kritik an Rassismus und Ausgrenzung ja auch ein Film über das noch größere, globale und existentielle Problem des gestörten Gleichgewichts von Mensch und natur? Die ins Gewand einer Rilkeschen Drachensaga gekleidete Aufforderung, wieder zueinander zurückzufinden, bei Strafe des Untergangs, falls die Menschheit nicht zur Besinnung kommt. ralf schenk

bewertung der filmkommission

Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe

eine 13-Jährige wird von ihrem vater gezwungen, sich von ihrem gemischt-rassigen hund zu trennen. der vierbeiner landet in einem tierheim und wird zum kampfhund abgerichtet, bis er ausbricht und sich mit anderen schicksalsgenossen zu einer hundearmee gegen die menschen verbündet. die märchenhafte dystopie über die rache der geschundenen natur verbindet elemente des horrorfilms und des melodrams, wobei die inszenierung weniger durch psychologische glaubwürdigkeit als durch zorniges pathos überzeugt. ein vehementes plädoyer gegen jede form von rassismus und ahumane ausgrenzungstendenzen. – sehenswert ab 16.

fehér isten. ungarn 2014 regie: kornél mundruczó darsteller: zsófia psotta (lili), sándor zsótér (dániel), lili horváth (elza), szabolcs thuróczy, lili monori länge: 121 min. | kinostart: 25.6.2015 verleih: delphi | fsk: ab 12; f fd­kritik: 43 164

das fehlende grau Beeindruckender debütfilm grau gilt als unscheinbare farbe. ein wenig langweilig, aber zugleich auch als signal dezenten understatements, des Anstands und der Vermeidung jedweden Exzesses. Ein solches Untertreiben kennzeichnet auch den Debütfilm von nadine Heinze und Marc Dietschreit, der sich nie zu groß macht, nie auftrumpfen will, obwohl er doch über ein Sujet und eine Hauptdarstellerin verfügt, die zum filmischen Auftrumpfen geradezu einladen. Das Fehlen der Grautöne in ihrem Leben ist genau das Problem der jungen Goldschmiedin, die hier im Zentrum steht. An ihrem Verhalten spürt man schnell, dass irgendetwas nicht stimmt, dass der Anschein gewaltig trügt. Sie, deren name nie enthüllt wird, scheint souverän über alle möglichen Register weiblichen Verhaltens und der Kunst der Verführung zu verfügen. Sie liebt und braucht es offenkundig, Aufmerksamkeit zu erregen und mit dem Risiko zu spielen, wobei sie zu wissen scheint, was sie tut; Angst jedenfalls scheint sie keine zu haben. Zugleich aber ist ihre Verletzlichkeit deutlich zu sehen. Man könnte sogar von einem Selbstzerstörungstrieb sprechen. Denn die blonde Frau provoziert die Männer bis aufs Blut. Zunächst bietet sie sich als Projektionsfläche für heimliches Begehren und schnellen Sex an, doch im entscheidenden

Moment versteht sie es, die fremden Männer hinzuhalten und zurückzuweisen, zunächst spielerisch, dann immer entschiedener, bis sie selbst Grenzen überschreitet, die Männer provoziert, demütigt und ihrerseits Aggressionen entfesselt. Dieses Schema variiert die Inszenierung souverän und in vier sehr unterschiedlichen Varianten, die miteinander verschachtelt, zum Teil aber auch parallel erzählt werden. Der Blick der Kamera ist dabei grundsätzlich auf die junge Frau gerichtet, von der man mehr wissen will, insbesondere über die Vorgeschichte ihres bizarren Verhaltens. Doch der Film hält sich bewusst zurück, er will seine Figur nicht ausschlachten, ihr Verhalten bewerten oder pädagogische Schlüsse daraus ziehen. Oft lacht man mit der jungen Frau über die Männer, die zu ihrem Opfer werden, mitunter aber hat man auch Mitleid mit ihnen. Die Qualität des Films verdankt sich zu einem erheblichen Teil der großartigen Hauptdarstellerin Sina Ebell, die den Film im besten Sinne beherrscht und nahezu alleine trägt. Sie zeigt Einsamkeit und innere Zerrissenheit, Trauer und Unglück, aber auch Lust und Humor. Ihre namenlose Hauptfigur fügt sich in den aktuellen Boom großer Frauenfiguren im deutschen Kino, ob in „Victoria“ (fd 43 142), „Hedi Schneider steckt fest“ (fd

43 058) oder „Die geliebten Schwestern“ (fd 42 491). „Das fehlende Grau“ ist ein kleiner, interessanter, aber keineswegs perfekter Film. Ein inhaltliches Problem besteht darin, dass der Film das Verhalten der Figuren trotz aller Vorsicht doch pathologisiert, indem er die krankhaften Züge ihres Verhaltens betont. Das muss man nicht akzeptieren. Oder steckt hinter jeder Lust an Verführung oder der Manipulation von Mitmenschen bereits ein grundsätzlicher Defekt? Hinter dem Wunsch nach bloßem Sex notwendig ein krankhaftes Verhalten? Zudem wirft der Film eine ästhetische Frage auf. Denn so sehr Understatement ein gutes Rezept fürs Kino sein kann, so deutlich fragt man sich hier gelegentlich, ob bei einem solchen Sujet schrillere Töne oder visuelle Exzesse nicht angemessener gewesen wären. rüdiger suchsland

bewertung der filmkommission

eine junge goldschmiedin gefällt sich darin, fremde männer nach allen regeln der verführungskunst zu umgarnen, sie aber in dem moment brüsk zurückzuweisen, in dem sie ihr begehren geweckt hat. in vier sehr unterschiedlichen varianten, die teilweise miteinander verschachtelt, teilweise auch parallel erzählt werden, spielt das filmdebüt mit den fassaden einer zutiefst traumatisierten frau, ohne die großartig dargestellte hauptfigur zu diskreditieren oder zu pathologisieren. inszenatorisch setzt der film dabei eher auf understatement und leise töne. – ab 16.

deutschland 2014 regie: nadine heinze länge: 80 min. | kinostart: 25.6.2015 verleih: real fiction | fd­kritik: 43 165

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kritiken fernseh-tipps

13:25–15:05 hr fernsehen der veruntreute himmel r: ernst marischka dienstmagd wird von ihrem neffen betrogen brd 1958 sehenswert ab 10 15:00–16:30 uhr kika clara und das geheimnis der bären r: tobias ineichen atmosphärischer abenteuerfilm schweiz 2012 sehenswert ab 10 16:00–18:35 servus tv der krieger und die kaiserin r: tom tykwer krankenschwester sucht nach lebensretter deutschland 2000 sehenswert ab 14 20:15–22:50 sat1 real steel – stahlharte gegner r. shawn levy roboterspektakel meets vater-sohn-drama usa/indien 2011 ab 14 20:15–22:55 servus tv das kartell r: phillip noyce harrison ford nimmt es mit drogenbaronen auf usa 1993 ab 16 22:55–00:30 servus tv zwei cheyenne auf dem highway r: Jonathan wacks wehmütiges roadmovie usa 1989 sehenswert ab 14

samstag 27. Juni 23:00–00:55 zdf sieben r: david fincher effektvoll inszenierter detektivfilm usa 1995 23:20–01:10 prosieben 127 hours regie: danny boyle survival-thriller mit James franco usa/gb 2010 ab 14 01:25–03:05 rbb fernsehen sascha r: dennis todorovic sohn traditionsbewusster familie verliebt sich in lehrer deutschland 2010 ab 14 01:35–03:00 mdr good night, and good luck r: george clooney nachrichtenmoderator bekämpft Joseph mccarthy usa 2005 sehenswert ab 14 01:35–03:05 zdf_neo im land der raketenwürmer r: ron underwood genialer horror-trash aus nevada usa 1990 ab 16 04:40–06:00 tarantula r: Jack arnold spannender gruselfilm usa 1955

27. Juni, 15:00–16:30 uhr

clara und das geheimnis der bären

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ab 16

kika

ein 13­jähriges mädchen, das nach dem tod seines vaters mit der mutter und dem stiefvater auf einem berghof in den schweizer alpen lebt, stößt auf ein 200 Jahre zurückliegendes tragisches ereignis, um das legenden, aber auch vorurteile und aberglaube ranken. spannender, mit großem aufwand intensiv erzählter abenteuer- und mystery-film für kinder. rätsel, mystik und träume verbinden sich in der inszenierung von tobias ineichen glaubwürdig mit dem appell, menschen, landschaften und tieren respekt- und verantwortungsvoll zu begegnen.

ab 27. Juni

br fernsehen

filmfest münchen

aus anlass des filmfest münchen (25.6.– 4.7.) räumt das br fernsehen in den nächsten tagen anspruchsvollerer cineastischer kost einen teil seines programms ein. so strahlt der sender am 27. Juni eine aufzeichnung des »sound of cinema«-konzerts aus dem circus krone aus, bei dem in diesem Jahr bully herbig seine persönlichen filmmusik-highlights präsentiert. unter dem titel »sounds of bully’s cinema« (20:15–21:45) erklingen neben klassischen filmmusiken von John williams, John barry oder ennio morricone auch scores von herbigs »hauskomponisten« ralf wengenmayr (u.a. »der schuh des manitu«). wengenmayr vertonte auch die tragikomödie »hotel lux« (22:00–23:35), die im anschluss zu sehen ist. um 23:35 uhr wiederholt der sender den zweiten hanns-von-meuffels-»polizeiruf 110«, der wegen seiner drastischen darstellung eines terroranschlags bei der erstausstrahlung 2011 aus jugendschutzrechtlichen gründen ins spätprogramm geschoben wurde. tags darauf wendet sich ein »kino kino extra« dem thema »fuck you goethe – her mit der filmbildung« (28.6., 22:25–22:55) zu, das den stand der filmbildung in deutschland mit den bemühungen der europäischen nachbarn abgleicht. eine weitere »kino kino«-sondersendung fasst am 5. Juli »das beste vom filmfest münchen« (5.7., 22:10–22:40) zusammen. 27. Juni, 16:00 –18:35

servus tv

der krieger und die kaiserin

einen wahren bildersog entfaltet das märchenhafte drama von tom tykwer, in dem klänge und bilder ineinander geschachtelt werden und die figuren nicht ohne grund eine große skepsis gegenüber dem »draußen« an den tag legen. als die junge psychiatrie-krankenschwester sissi (franka potente) von einem lkw angefahren wird, begegnet ihr bodo (benno fürmann), den ein schwerer schicksalsschlag aus der bahn geworfen hat. für sissi wird er zum schutzengel, der ebenso schnell wieder verschwunden ist, wie er den lebensrettenden luftröhrenschnitt vollführte. bodo befindet sich gerade auf der schiefen bahn, als sich sein leben mit dem von sissi zu verzahnen beginnt. das drama ist eine filmische entdeckung der langsamkeit, betörend auch in der verbindung einer »baukunst der gefühle« mit der eigenwilligen architektur der stadt wuppertal.

Fotos S. 56-65: Jeweilige Sender.

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fernseh-tipps kritiken

so

12:00–13:00 der froschkönig r: franziska buch deutschland 2008

sonntag 28. Juni kika ab 8

13:00–14:00 kika Jorinde und Joringel r: bodo fürneisen melancholische liebesgeschichte nach grimms märchen deutschland 2011 ab 8

28. Juni, 20:15–21:45

polizeiruf 110: kreise

das erste

was für ein magisch geheimnisvoller und schöner film! er hat das schwebende und untergründig vibrierende von traumvisionen, wie das für filme von christian petzold (»wolfsburg«, »Jerichow«, »barbara«) charakteristisch ist. sein außergewöhnlicher br-polizeiruf 110 »kreise« prägt sich bild für bild, szene für szene ins gedächtnis ein, weil alles spielerisch klug und atmosphärisch intensiv komponiert ist: die story, die bilder, die figuren, die motiv-ketten. die handlung beginnt genregemäß mit dem leichenfund. zusammen mit ihrem schoßhündchen ist die eigentümerin einer möbelmanufaktur ermordet und auf einer waldlichtung im münchner umland nicht einfach verscharrt, sondern rituell beerdigt worden. faszinierend, wie bei petzold krimi-standardsituationen zum ereignis werden. wenn hauptkommissar hanns von meuffels (matthias brandt) den hauptverdächtigen, den ex-ehemann des opfers (Justus von dohnányi) verhört, schaut die neue kollegin constanze hermann (barbara auer) gebannt zu und bemerkt »das mäandern« seiner fragen. von meuffels erklärt ihr dann: »das lernt man nicht auf der polizeischule, sondern bei einem krimiautor wie garry disher!« die dialoge im auto – petzolds spezialität – haken nicht informationen ab, sondern gewinnen dramatische dichte. wenn die kollegin von ihrer früheren, mittlerweile bewältigten alkoholsucht erzählt, antwortet von meuffels, um sie aufzurichten und ihr seine wertschätzung zu zeigen, mit einer beschreibung der einsamen kneipenbesuche, die auch er genau kenne: dieses an-der-theke sitzen, das drücken der songs an der music-box... und dann findet sich – so werden die motive fortgesponnen – eine music-box im arbeitskeller des verdächtigen. petzold ist ein regisseur der intimen intensitäten. mit verfolgungsjagden und dem auslegen falscher fährten hält er sich nicht lange auf. er konzentriert sich vielmehr auf sein darsteller-trio, setzt brandt/auer/dohnányi brillant in szene und zeichnet mit ihnen drei varianten existenzieller einsamkeit. bewegend, wie sich zwischen von meuffels und seiner neuen kollegin in zarten andeutungen eine liebesgeschichte entspinnt, die keine werden darf. »es heißt ja«, erklärt petzold dazu, »dass die menschen polizisten und detektive im kino und im fernsehen so lieben, weil sie in alle privaträume, auch in die verschlossensten, in die der reichen und armen, der schönen und verblühten, hineingelangen und wir uns dort mit ihnen aufhalten und umschauen können. die polizisten und detektive finden hier die taten der gekränkten, der vernachlässigten, der neider, der leidenschaftlichen und erkalteten. ihr schicksal aber ist, dass sie selbst niemals verbrecherisch und leidenschaftlich sein dürfen. sie gehen herum in den tragödien anderer. ›kreise‹ erzählt von diesen ausgeschlossenen, erschöpften, versehrten, einsamen, aber auch großartig erwachsenen menschen.« rainer gansera

20:15–21:45 das erste polizeiruf 110: kreise r: christian petzold atmosphärischer krimi deutschland 2015 sehenswert ab 16 20:15–22:10 prosieben premium rush (free­tv­premiere) r: david koepp virtuose fahrrad-action in new york usa 2012 ab 14 22:45–00:20 mdr goldrausch – die geschichte der treuhand r: dirk laabs der skandal um die treuhandanstalt deutschland 2011 ab 16

28. Juni, 20:15–22:10

22:55–00:25 br fernsehen alles für meinen vater r: dror zahavi verhinderter selbstmordattentäter knüpft kontakte zu israelis israel 2008 ab 14 23:35–01:43 das erste die liebe in den zeiten der cholera r: mike newell opulente gabriel garcía márquezverfilmung mit Javier bardem usa 2007 ab 16 00:25–02:20 3sat der mann mit dem goldenen arm r: otto preminger erschütterndes porträt eines rauschgiftsüchtigen usa 1955 sehenswert ab 16 01:00–02:25 hr fernsehen der chefankläger r: marcus vetter, michele gentile der internationale strafgerichtshof in den haag deutschland 2012 ab 16 01:45–03:18 das erste applebaums großer auftritt r: Jeff hare älterer schauspieler will letzte dinge regeln ab 14 usa 2005

prosieben

premium rush

die handlung ist simpel: ein new yorker fahrradkurier (Joseph gordon­levitt) bekommt ein päckchen anvertraut, das ihn in fatale schwierigkeiten bringt; er gerät mit einer chinesischen untergrundorganisation aneinander und muss sich vor den nachstellungen eines korrupten polizisten (michael shannon) retten. toll an diesem film ist, wie er inszeniert und montiert ist und aus einem fahrrad, den straßenschluchten von new york und guten stuntleuten fulminante physische action zaubert, die mit wenig digitalen effekten auskommt. im wahrsten wortsinn temporeiche unterhaltung.

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abcinema

B C D e

26 FILMDIENST-Ausgaben erscheinen in einem Jahr, 26 Buchstaben hat das Alphabet. Das bedeutet 26 Gelegenheiten, auffällige Kinophänomene durchzubuchstabieren. Diesmal:

M

m wie motorrad­gangs

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Plakat zu »Hell’s Belles« (»Die wilden Schläger von Rockers Town«, 1969)

Man stelle sich vor: ein normaler familienvater fährt 1954 mit seinen kindern, vielleicht an einem sonntag, ins autokino, um laszlo Benedeks »Der wilde» zuschauen, natürlich wegen Marlon Brando. Was für ein Schock: Eine Motorrad-Gang schikaniert an einem Wochenende die Bewohner einer friedlichen Kleinstadt, und als Brando von einem Mädchen gefragt wird, wogegen er rebelliere, antwortet er nur: »What have you got?» Lakonischer lässt sich die Frustration und Entfremdung der Jugend im nachkriegsamerika nicht auf den Punkt bringen. Der Beginn eines Genres: Für eine kurze Zeit röhrten in den 1960er- und 1970er-Jahren, jener Zeit des Protests und der Revolte, die Motoren über die Autokino-Leinwände Amerikas, irgendwie »bigger than life» und sehr bedrohlich. Schillernde Charaktere bevölkerten die Filme, saufend, streitend, hurend, immer auf der Suche nach dem Verbotenen und Aufregenden. Sex, Gewalt und Rebellion, schwarzes Leder und ein Schuss Gesellschaftskritik, dazu Mythen von Freiheit und Ungebundenheit, die unendliche Weite des Landes und sons-

tige Americana – es gibt nur wenige Genres, die von ihren ruppigen Themen, visuellen Mustern und eingeübten Ritualen so eng umrissen sind wie der Biker-Film. Der Western vielleicht, mit dem die Motorrad-Gang-Varianten so manchen Konflikt gemein haben. Und natürlich die Bewegung (statt auf dem Pferd auf dem Chopper). Der Erfolg von »Der Wilde» hat B-Film-Guru Samuel Z. Arkoff keine Ruhe gelassen, Biker-Filme ließen sich schnell und billig runterkurbeln. Darum schoss er 1957 den emblematisch betitelten »Motorcycle Gang», in Deutschland als »Lederjacken rechnen ab» gelaufen, hinterher. Es geht um ein illegales Straßenrennen: Ein »sexy» Troublemaker mit quer gestreiftem Helm und engem Wollpulli bringt die Kerle durcheinander – wie überhaupt die Frauen, ob als Beute oder als willige Sozia, immer ein erotisch aufgeladener Blickfang sind, gern in schwarzem Leder, so wie das Model Jocelyn Lane in Maury Dexters »Hell’s Belles» (1969). Es geht aber auch anders: In Herschell Gordon Lewis’ »She-Devils on Wheels» (1968) zeigen die Frauen den Kerlen, was eine Harke ist. Es gibt gute Biker-Filme, von Roger Cormans »The Wild Angels» (1966) über Richard Rushs »Hell’s Angels on Wheels» (1967) bis »Easy Rider», es gibt schlechte, einige kuriose (»Werewolves on Wheels», 1971), einige ärgerliche. Der deprimierendste von allen ist »The northville Cemetery Massacre» (1976). Da werden die Biker, konsequenter noch als in »Easy Rider», einer nach dem anderen von schießkundigen Spießern abgeknallt, bis keiner mehr übrig ist. Der Schlusspunkt eines Genres. Von jetzt an war es nicht mehr möglich, auf dem Chopper unbeschwert das Land zu durchqueren. Daran ändern auch einige nachklappfilme in den 1980er-Jahren, etwa Kathryn Bigelows »The Loveless», nichts. michael ranze

Foto: Archiv FD

A

lesetipps »mike seate, two wheels on two reels. a history of biker movies«. north conway 2000 John wooley, michael h. price: »the big book of biker flicks«. tulsa 2005

Filmdienst 13 | 2015

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