Filmdienst 13 2016

Page 1

Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

13 2016

www.filmdienst.de

Höhenrausch

IDRIS ELBA

FILM

Nicht nur »High-Rise« zeigt: Wie Wolkenkratzer möchten auch Kinofilme oft etwas höher hinaus. Selbst wenn sie an die Grenzen des Möglichen stoßen.

Übers überleben

Der georgische Regisseur Dito Tsintsadze erzählt auch in seinem neuen Film »God of Happiness« von einer widersprüchlichen und unübersichtlichen Welt im Umbruch.

Weite Welten

Die Erfindung des Weltraums: Einladung zu einer filmhistorischen Reise durch Raum und Zeit, und das nicht nur im Science-Fiction-Kino.

23. Juni 2016 € 5,50 69. Jahrgang

Der britische Schauspieler ist ein Shakespeare-erprobter Charakterdarsteller. In der Serie »Luther« spielt er den harten Cop, zudem wurde er als James Bond gehandelt. Nun spielt er in »Bastille Day«.


filmdienst 13 | 2016 DIE NEUEN KINOFILME Neu im Kino Alle Starttermine

43 90 Minuten - Bei Abpfiff Frieden 30.6. 45 Athos 23.6. 48 Bastille Day 23.6. 46 Café Belgica 23.6. 36 Caracas, eine Liebe  30.6. 45 Central Intelligence 16.6. 49 Conjuring 2 16.6. 44 Die Frau mit der Kamera – Abisag Tüllmann 23.6. 49 Ein ganzes halbes Jahr 23.6. 49 Gayby Baby 23.6. 37 God of Happiness 23.6. 50 High-Rise 30.6. 49 Innsaei – Die Kraft der Intuition 30.6. 45 Kill Billy 23.6. 40 Lou Andreas-Salomé 30.6. 41 Ma Ma 30.6. 47 Meier Müller Schmidt 30.6. 41 Mittagssonne 30.6. 42 Nur wir drei gemeinsam 30.6. 41 Paraiso 30.6. 45 Solness 23.6. 41 Sworn Virgin 23.6. 39 The Assassin 30.6. 45 The Lobster 23.6. 38 The Neon Demon 23.6. 49 Treppe aufwärts 23.6. 49 Väter und Töchter 30.6. 45 Wer ist Oda Jaune? 23.6.

37 god of happiness

40 lou andreas-salomé

Kinotipp  der katholischen Filmkritik

42 nur wir drei gemeinsam

50 high-rise

Mit viel Humor erzähltes, autobiogra­ phisches Drama aus Frankreich über einen iranischen Migranten und seine Familie

fernseh-Tipps 56 Mit herausragenden Spielfilmen von Ang Lee, Takeshi Kitano und Wong ­Kar-wai würdigt arte das asiatische Filmschaffen. Außerdem strahlt der Sender erstmals den »Caligari-Filmpreisträger« von 2012, »Hinter dem Berg«, aus. 3sat zeigt eine Hitchcock-Reihe mit sieben Filmen.

4

Filmdienst 13 | 2016

46 café belgica

39 the assassin

Fotos: TITEL: StudioCanal. S. 4/5: NFP, Kinostar, Wild Bunch, DCM, Delphi, Pandora, Warner Home, Universum

+


13 | 2016 DIE ARTIKEL Inhalt Kino

Akteure

FilmKunst

10 wolkenkratzer

22 idris elba

28 erfindung des weltraums

10 wolkenkratzer

22 idris elba

Das Kino schätzt Hochhäuser als spekta­ kuläre Sets und Sinnbilder für die Moderne. Doch neben der Faszination finden sich auch die Warnung vor Hybris und sozial­ kritische Ansätze. Eine Passage durchs Wolkenkratzer-Kino.

Der britische Schauspieler mit afrikanischen Wurzeln hat Shakespeare-Erfahrungen und wurde mit den Fernsehserien »The Wire« und »Luther« zum Star. Im Kino glänzt er als Nelson Mandela, aber auch als agiler Actionstar. Ein Porträt.

Von Felicitas Kleiner und Marius Nobach

Von Michael Ranze

16 ben wheatley

25 literatur

Der britische Regisseur stellt in seinem neuen Film »High-Rise« einen Wolkenkrat­ zer als hierarchisch gegliederte Gesellschaft dar. Ein Gespräch über das Hochhaus als Gesellschaftsbild. Von Thomas Klein

18 dito tsintsadze

Der georgisch-stämmige Regisseur wird seit mehr als 20 Jahren auf Festivals ­gefeiert. Im Kino laufen seine Filme nur vereinzelt. Loblied auf einen Kosmopoliten. Von Ulrich Kriest

Von Horst Peter Koll, Michael Ranze und Ralf Schenk

Von Franz Everschor

Das Kino war der realen Raumfahrt oft einen Schritt voraus. In mehr als 100 Jahren hat es sich zu zahllosen spannenden Welt­ raumtrips aufgemacht. Eine filmhistorische Reise durch Raum und Zeit. Von Jens Hinrichsen

Der Franzose Alexandre Astruc galt als Vordenker der Nouvelle Vague, fühlte sich als Regisseur aber eher traditionelleren Formen verpflichtet. Ein Nachruf. Von Stephan Ahrens

Der Internet-Milliardär Sean Parker will mit dem Video-on-Demand-Service »Screening Room« die Kinoauswertung revolutionieren. In Hollywood hat er damit eine kontroverse Debatte ausgelöst.

28 erfindung des weltraums

Neue Filmbücher würdigen die Kino­ geschichte von Köln, Hamburg und Südtirol. Drei Lesetipps.

26 in memoriam

27 e-mail aus hollywood

32 kino & köln

Heute erinnert nur noch wenig daran, dass Köln Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kinometropole war. Als kreativer Kino­bauer tat sich damals der jüdische Architekt ­Georg Falck hervor. Eine Spurensuche. Von Horst Peter Koll

20 nicolas steiner

Der junge Regisseur aus der Schweiz gewann den Deutschen Filmpreis für sein dokumentarisches Experiment »Above and Below«. Ein Gespräch über Kreativität und Einschränkungen. Von Josef Lederle

S i eg f r

i

ed kracauer s

tip

endium

Rubriken 3 Editorial 4 Inhalt 6 Magazin 34 DVD-klassik 52 DVD/Blu-ray 56 TV-Tipps 66 P.S. Kolumne 67 Vorschau / Impressum

Der Autor Sven von Reden hat 2015 das Siegfried-Kracauer-Stipendium gewonnen. Der FILMDIENST veröffentlicht Texte, die er im Rahmen dieses Stipendiums verfasst. In dieser Ausgabe: seine Kritik zu »High-Rise« (S. 50). Eine Initiative zur Förderung der Filmkritik.

Filmdienst 13 | 2016

5


kino Wolkenkratzer

10

Filmdienst 13 | 2016


Wolkenkratzer kino

Höhenrausch Wolkenkratzer im kino

Hochhäuser boten schon zu Zeiten des Stummfilms spektakuläre Sets als architektonische Verkörperung eines modernen, urbanen Lebensgefühls. Der schiere ästhetische Reiz der aufstrebenden Haus-Giganten war freilich nie der einzige Grund für die Liebe des Kinos zu den Wolkenkratzern. Ihre metaphorisch-symbolischen Qualitäten waren mindestens genauso wichtig. Das gilt auch für »High-Rise«, einen neuen Hochhaus-Film des Briten Ben Wheatley (vgl. Interview, S. 16). Von Marius Nobach

Filmdienst 13 | 2016

11


kino Wolkenkratzer Mit zaghaften Strahlen lugt die Sonne hinter den Titanen aus Stahlbeton und Glas hervor. Vorsichtig streicht sie an den massigen, hoch emporragenden Fassaden entlang und taucht die Szenerie in überirdisches Licht: Ein betörend schönes Bild aus »High-Rise«, Ben Wheatleys Verfilmung des 1975 erschienenen Romans von J.G. Ballard (1930-2009; dt. »Der Block«, 1982; »Hochhaus«, 1992). Gebieterisch scheinen die Hochhäuser über die Stadt zu wachen, so wie es der visionäre Geist ihres Architekten Royal geplant hat. Doch diesem ist bei seinem utopischen Entwurf ein Fehler unterlaufen: Je mehr er dem Himmel zustrebt, desto größer wird auch der Abstand zwischen der Luxuswelt der Privilegierten und den einfachen Behausungen der sozial Schwachen – ein schwelender Konfliktherd, der das gesamte Gebäude bedroht.

Stilbildend: Fritz Langs »Metropolis« »High-Rise« ist die Warnung vor der menschlichen Hybris eingeschrieben, die der Wahrnehmung von Wolkenkratzern schon immer zu eigen war. Und das, obwohl sie als Embleme dessen, was mit Geld und Ingenieurkunst möglich ist, seit Beginn des 20. Jahrhunderts die moderne Großstadt repräsentiert haben. Im Kino hat es diese ambivalente Sichtweise auf Hochhäuser und ihre Erbauer von Anfang an gegeben. Stilbildend wirkte dabei Fritz Lang mit »Metropolis« (1926): Seine futuristische Großstadt, vor deren gigantischen Gebäuden die Menschen auf Ameisenformat schrumpfen, kann die soziale Ungerechtigkeit nicht verdecken. Lang zieht deshalb mit mahnendem Zeigefinger Parallelen zur biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel: So wie die Menschen darin zum Himmel vorstoßen wollen und dafür die göttliche Strafe erhalten, kann sich auch das Metropolis-Stadtoberhaupt Joh Fredersen nicht lange ungestraft Gottgleichheit anmaßen. Ähnlich wie ihm ergeht es späteren Möchtegern-Herrschern, etwa dem Großindustriellen Tyrell in »Blade Runner« (1982) oder dem einflussreichen Kolumnisten Hunsecker in »Dein Schicksal in meiner Hand« (1957), denen der besitzergreifende Blick von der Wolkenkratzerspitze aus gründlich ausgetrieben wird. Zu einem solchen moralischen Impetus passt es, dass auch das Kino selbst mit Hochhäusern oft nicht gerade zimperlich umgeht. Ob Feuer

unter dem eindruck der new yorker skyline entstanden: »metropolis« (1926)

12

Filmdienst 13 | 2016

wie in »Flammendes Inferno« (1974), Terroranschläge wie in »Stirb langsam« (1988), Meteoriten wie in »Armageddon« (1998) oder gleich der komplette Weltuntergang wie in »2012« (2009): Wolkenkratzer gehören bei jeder inszenierten Katastrophe zu den ersten architektonischen Opfern. Ganz so, als wolle das Kino davor warnen, die Vergänglichkeit der scheinbar unerschütterlichen Monumente des Fortschritts nicht zu vergessen – eine Haltung, die sich nach dem Schock der 9/11-Anschläge nur noch weiter ausgebreitet hat.

Wolkenkratzer als VerheiSSungen der Moderne Freilich hat eine solche Skepsis nie verhindert, dass Filme der Wolkenkratzer-Architektur immer wieder auch mit höchster Faszination begegnen. Dies zum Teil mit bizarren Auswüchsen wie in »Ein Mann wie Sprengstoff« (1949), einem von der ÜbermenschIdeologie seiner Autorin Ayn Rand überquellenden Kuriosum. Ein kreatives Genie (Gary Cooper), das dem Star-Architekten Frank Lloyd Wright (1867-1959) nachempfunden wurde, setzt sich darin mit revolutionären Hochhaus-Ideen gegen eine Gesellschaft durch, die ihn zum Bau schnöder Mietwohnungen zwingen will. Doch auch in weniger extremen Filmen haben Wolkenkratzer als Verheißungen der Moderne die Fantasie von Filmemachern beflügelt. Das Empire State Building etwa diente schon im ersten Jahrzehnt seines Bestehens gleich zwei Filmklassikern als denkwürdige Kulisse: zum einen als adäquate Kletterwand für den Riesenaffen in »King Kong und die weiße Frau« (1933), zum anderen als romantischer Treffpunkt im oft kopierten Melodram »Ruhelose Liebe« (1939). An »Gastauftritten« wie diesen hat sich das Kino bis heute berauschen können und in dieser Tradition erst kürzlich WolkenkratzerNeulingen wie dem Burj Khalifa in »Mission Impossible – Phantom Protokoll« (2011) und der Skyline von Shanghai in »Skyfall« (2012) zu Filmehren verholfen. Diese konstante Liebe zum Wolkenkratzer dürfte auch vom Bewusstsein einer Wesensverwandtschaft herrühren: Wie diese wollen auch Filme stets noch etwas höher hinaus, selbst wenn sie dabei riskieren, an die Grenzen des Möglichen zu stoßen.

Laurel and Hardy in »Liberty« (1929)


Wolkenkratzer kino

Ausgerechnet Wolkenkratzer

Das Medium Film und die Hochhäuser sind beides Kinder der Moderne. Das sich ersteres für letztere interessieren würde, lag auf der Hand! Fürs frühe US-SlapstickKino waren Hochhäuser eine Steilvorlage für verwegene Filmtricks, die gleichzeitig hintergründig den Kampf des Individuums mit den »modernen Zeiten« auf die Leinwand brachten. Der Klassiker unter ihnen: »Ausgerechnet Wolkenkratzer« (1923), in dem der Produzent Hal Roach seinen Star Harold Lloyd als strebsamen Kaufhausangestellten sich auf der Karriereleiter abstrampeln und eine halsbrecherische Hochhaus-Fassadenkletterei absolvieren lässt, bis er schließlich an den Zeigern einer großen Uhr baumelt.

Dach des Chrysler Building in »Men in Black 3« (2012) aus, bei dem ein BackZoom das ganze Ausmaß des bevorstehenden Falls deutlich macht. J springt selbst­redend dennoch, immerhin kann er nur so seine unumgängliche ZeitreisenMission ausführen. Mit ganz anderen ­Proble-men ringen dagegen Laurel & Hardy in »Liberty« (1929): Oben auf einer Hochhausbaustelle wollen ein Krebs in der Hose, ein Kleidungswechsel und diverse Schwindelgefühle erst einmal bewältigt werden.

»Like Christmas, but with more…me«: So charakterisiert Tony Stark/Iron Man (Robert Downey Jr.) den erleuchteten Stark Tower in Joss Whedons »Avengers«-Film (2012). Ein Hochhaus als Phallussymbol? Klar! Einen auf dicke Hose macht Stark gern, wenn auch selbstironisch gebrochen. Wenn er am Ende gelernt hat, sich selbst zurückzunehmen und im Team zu arbeiten, ist passenderweise der »Stark«-Schriftzug an seinem Hochhaus zerschossen. Zurück bleibt das A – wie Avengers.

Stunts mit spiderMan & Co.

Das Spiel mit der Überwindung der Schwerkraft und mit dem drohenden Fall als Nervenkitzel sind im Actionkino fest gebucht – und lassen sich bestens verbinden mit den schwindelnden Höhen der Wolkenkratzer-Architektur. Undenkbar, dass Spider-Man in einer Stadt ohne Wolkenkratzer Verbrecher jagt – an was sollte er seine Fäden festmachen? Auch Sprünge von einem zum anderem Hochhaus sind möglich, sogar mit Auto, wie es »Fast & Furious 7« (2015) vormacht. Spektakulär nimmt sich auch der (Zeit-) Sprung von Will Smiths Agent J vom

erfindungen des Kinos, ein Sich-Messen von Natur und Technik. Die Natur hat (leider) keine Chance.

The RaiD

Ein monolithischer Wohnblock inmitten der Slums der indonesischen Hauptstadt, bewohnt vom Paten des organisierten Verbrechens, ist der Schauplatz in Gareth Huw Evans’ Actionthriller »The Raid« (2011): Eine Truppe von Elitepolizisten versucht, den Gangstern das Handwerk zu legen, und dringt Etage um Etage in das Hochhaus vor. Dieses entpuppt sich als ebenso klaustrophobisch wie sinnfällig: eine räumliche Entsprechung für organisierte Kriminalität als »Parallelgesellschaft«; eine ganz eigene Welt mitten in der Stadtlandschaft.

King Kong

Der Riesenaffe King Kong, der in »King Kong und die weiße Frau« (1933) das Licht der Leinwand erblickte, hat sich seit Peter Jacksons Neuverfilmung (2005) vom Monster zum tragischen Helden gewandelt – ein Naturkind, verschleppt in eine ausbeuterische Zivilisation. Die Sequenz, in der der Affe aufs Empire State Building klettert und dort zur Zielscheibe von Kampffliegern wird, verwenden beide Filme. Sie gehört zu den mythischen Bild-

The Hudsucker Punch

Filmdienst 13 | 2016

13


filmkunst Kino & Köln

Kinos sind nicht einfach nur Gebäude, sondern stets auch Teil einer mal mehr, mal weniger vitalen architektonischen Stadtkultur. Sie repräsentieren urbane Befindlichkeiten, stehen für in Stein gefasste Versprechen, Träume und Visionen. Köln war einst eine Kinometropole, von der heute nicht viel geblieben ist. Der jüdische Architekt Georg Falck spielte vor 100 Jahren virtuos auf der damaligen Kino-Klaviatur. Von Horst Peter Koll

S r e sig

s n e onn

! n i che

r e n öl k K c l S a F s DE g ü N r F l ie Spure ten Geo d k e e i t i W h c r A ) n e o r n i h ü (K f A S U e in di 32

Filmdienst 13 | 2016


Foto: Die Vorhalle der Agrippina-Lichtspiele in Köln. Aus der Zeitschrift Kino-Woche Nr. 25 (1914), entnommen dem Band »Kino in Köln«, 2016

Kino & Köln filmkunst er Architekt Georg Falck wurde 1878 in einem westpreußischen D Nest namens Landeck geboren. Schon als junger Mann soll er in Köln ein begnadeter Kaufmann und Unternehmer gewesen sein, der sich erfolgreich an zahlreichen Firmengründungen beteiligte. Vor allem aber war Georg Falck ein vielseitiger Architekt, der mit seinen Gebäuden dem Köln des frühen 20. Jahrhunderts seinen Stempel aufdrückte. Ob Villen, Mehrfamilienhäuser, Siedlungen, ein Hotel oder ein Waisenhaus, ob Geschäfts- und Warenhäuser oder die Handels- und Kontorhausstätte »Mauritius«: Falck prägte das Kölner Stadtbild und hätte ein Denkmal auch schon wegen eines seiner verführerischsten und öffentlichkeitswirksamsten Arbeitsgebiete verdient – Kinopaläste! Im Jahr 1913 eröffnete der letzte Kinoneubau vor dem Ersten Weltkrieg in der Kölner Innenstadt, Georg Falcks »Agrippina-Lichtspiele«. Selbst historisch bewanderte Kölner müssen heute grübeln, wo genau einst an der Breite Straße dieses prachtvolle Premierenhaus stand (heute befindet sich dort ein profanes WDR-Gebäude). Das Kino war Teil des wuchtig-monumentalen Büro- und Geschäftsgebäudes Agrippina­haus, das zudem noch Ausstellungsräume, Ladenlokale und ein Café beherbergte; ins Kino gelangte man durch eine fünf Meter breite und 20 Meter lange Passage, ausgelegt mit roten Teppichen, verkleidet mit edlem griechischem Marmor, die in eine große Wandel­ halle sowie ein Foyer mündete, von wo aus man ins Parkett sowie in die Logen kam. Der Kinosaal selbst erstrahlte unter grandioser Beleuchtung, die den Saal mit 900 Plätzen ins rechte Licht rückte. In unmittelbarer Nachbarschaft entstand nach dem Krieg das Lichtspieltheater Schauburg (1921/22), das Falck analog zu seiner Architektur fürs Agrippinahaus konzipierte, zugleich dem ­aktuellen Zeit­geschmack der Weimarer Jahre anpasste – und mit ­sagenhaften 1.868 Plätzen ausstattete. »Ein breiter, weiter Saal mit einer Galerie ­darüber«, schrieb der »Stadt-Anzeiger« am 13.4.1922, »keine ­vertäfelten Logen mehr, alles offen dastehend, Klappsitze unten, bequeme Sessel oben.« Der »Film-Kurier« schwärmte: »Ein gewaltiger Prachtbau, wohl eines der größten und schönsten Licht­ spielhäuser Deutschlands.« Blickfang war das von einem aufwändigen ­expressionistischen Bildhauerschmuck geprägte Entree: kunst­­vollverführerisches Versprechen für die Magie der bewegten Bilder. Der Eröffnungsfilm im Jahr 1922: »Hamlet« mit Asta Nielsen. Mit der Machtübernahme durch die Nazis brach auch für den jüdischen Architekten Falck die Welt zusammen. Von Köln aus siedelten er und seine Familie nach Amsterdam über; nach der Besatzung der Niederlande begann ein Leben in Verstecken, während sich seine Zwillingstöchter Ellen und Ruth im Widerstand engagierten. Erst zur Jahreswende 1946/47 verließ die Familie Europa und immigrierte nach New York, wo Georg Falck schwer erkrankte. Fünf Monate später starb er mit 68 Jahren. Was bleibt, sind Erinnerungen an eine gänzlich andere Welt, einige Fotografien von nicht mehr existierenden Gebäuden, Aufnahmen eines unbeschwerten Familienlebens: Ellen und Ruth mit ihrem Bruder am Strand, unterwegs zu Pferd. Von der erwachsenen Ellen gibt es ein vergleichbares Familienbild aus den frühen 1950er-Jahren in Beverly Hills; glücklich lächelt sie neben ihren beiden eigenen Töchtern und ihrem Ehemann, dem Exilanten William Schloss. Der hatte sich inzwischen in William Castle umbenannt und sorgte mit ebenso schnell wie leidenschaftlich hergestellten Grusel- und Horrorfilmen in Hollywood für Furore; später produzierte er u.a. Roman Polanskis »Rosemaries Baby«. Ellen und William Castles Tochter Terry erinnert sich an ihre Kindheit als eine Zeit des unbeschwerten Glücks, ermöglicht durch Eltern, die

ihrem von Flucht, Vertreibung und Entwurzelung geprägten Schicksal stets mit Würde und Hoffnung begegnet seien, um in einer ihnen fremden Welt Fuß zu fassen. »Jeden Morgen«, erzählt Terry Castle, »schnitt Mutter frische Orangen auf, und ich wurde vom Geräusch des Entsafters geweckt. Stets lächelte sie, wenn sie unsere Gläser mit flüssigem Sonnenschein füllte.« Unwillkürlich muss man an eine Szene aus Maria Schraders »Vor der Morgenröte« denken: Der Schriftsteller Stefan Zweig blickt im brasilianischen Petrópolis auf den satt-grünen Urwald, schwärmt von der tropischen Vegetation und stellt gegenüber dem Journalisten Ernst Feder fest: »Wir haben nichts zu beklagen.« Worauf Feder antwortet: »Nein, wir nicht«, und Zweig fragt: »Wie sollen wir das nur aushalten?« Intensiv spürt man die Hilflosigkeit und Trauer fern der Heimat, angesichts der Zerstörung von Menschen und ihrer Kultur. In Köln gibt es heute kaum noch Spuren von Georg Falck (einige der wenigen Ausnahmen ist das wieder aufgebaute Geschäftshaus Salomon in der Innenstadt). Die Agrippina-Lichtspiele wurden 1943 von Bomben zerstört. Die Schauburg wurde 1942 von Bomben beschädigt, 1948 als 350-Plätze-Kino wiederöffnet und am 31. März 1963 endgültig abgerissen. ×

»GROSSES KINO!« Ausstellung iM KÖLNISCHEN Stadtmuseum. www.museenkoeln.de/ksm Es begann am 20.4.1896 in Köln: An diesem Tag vor 120 Jahren wurde erstmals in Deutschland in einem eigens eingerichteten Saal eine Filmvorstellung für ein zahlendes Publikum gegeben. Und es ging – für Köln fast selbstverständlich – weiter mit dem Schokoladenfabrikanten Stollwerck, der schnell den gewerblichen Nutzen des neuen Mediums erkannte und die Filme in einem eigenen Automaten­magazin präsentierte. Von diesen Ausgangspunkten aus flaniert die kleine, aber sehr feine Ausstellung »Großes Kino!« im Kölnischen Stadtmuseum (bis 6.11.) durch die 120-jährige Kinogeschichte der Stadt. Mehr als 150 Originalobjekte, Fotografien, Plakate sowie Film-/Wochenschau-Ausschnitte werden präsentiert, wobei sich in mancher stimmungsvoll eingerichteten Vitrine, aber auch in der Präsentation von Kinosesseln viel vom Zeitgeist der Epochen vermittelt. Über Kölns große Zeit der Kinopaläste führt der Weg über die »rebellischen« Jahre des Xscreen (Underground-)Kinos sowie die deprimierenden Jahre der »Schuhschachtelkinos« bis in die Gegenwart, deren wenige noch verbliebene Kinos in vorzüglichen Fotografien dokumentiert sind. Deutlich wird dabei indirekt auch, dass der Niedergang der Kino- (und Film-)kultur in Köln nicht nur eine Geschichte der durch Krieg und Geschäftsgebahren erzwungenen Katastrophen ist; viel hat der Kino-Aderlass auch mit kulturpolitischem sowie mit städtebaulichem Desinteresse zu tun. Insofern kommt die Ausstellung gerade zur rechten Zeit: Mit großer Zuneigung und viel Liebe zum Detail regt sie zur Bestandsaufnahme an und könnte helfen, Köln als Kino-Stadt aus seinem Dornröschen-Schlaf zu erwecken. (Vgl. auch Rezension »Kino in Köln« in dieser Ausgabe, Seite 22.)  HPK Mehr über die Geschichte der Kölner Kinos: www.koeln-im-film.de

Filmdienst 13 | 2016

33


Kritiken neue Filme

Der Gewinner des »Goldenen Löwen« erzählt von einer sich auflösenden Gesellschaft Armando ist ein ruhiger, einsamer Mann um die 50. Er arbeitet in einem Labor, wo er mit penibler Konzentration Zahnprothesen herstellt. Er hat eine Schwester, die darauf wartet, mit ihrem Mann das Recht auf die Adoption eines Kindes eingeräumt zu bekommen. Während sie von einem normalen Familienleben träumt, blickt Armando nicht in die Zukunft. Er ist von der Vergangenheit besessen. Da ist ein älterer Herr, den er beobachtet, sein Vater, der ihm in der Kindheit Schreckliches angetan hat. Das Thema sexueller Missbrauch zieht sich von Anfang an latent durch den Film. ach der Arbeit treibt sich Armando in Kneipen herum, an Bushaltestellen oder in Parkanlagen. In den ärmeren Vierteln sucht er junge Männer, die er mit Geld lockt. Man sieht aber sogleich, dass der Mann nicht auf Sex aus ist. Er bezahlt die jungen Männer dafür, dass sie sich halb oder ganz ausziehen, während er sich in angemessener Distanz befriedigt. Das erinnert alles ein wenig an Pasolini, der grauhaarige, feingliedrige Mann, der um die

36

Filmdienst 13 | 2016

potenten Jugendlichen herumschleicht, doch Armandos Suche in den Vorstädten hat etwas Zwanghaftes, Neurotisches, wenig Erotisches. Dann lernt er Elder kennen, den Anführer einer Straßengang. Der 17-Jährige begleitet ihn in seine Wohnung, schlägt ihn bewusstlos und raubt ihn aus. Trotzdem entspinnt sich eine Beziehung zwischen den beiden, denn Elder braucht Armandos Geld für einen Gebrauchtwagen, Armando aber bewundert den Jungen wegen seiner Brutalität, die ihm im entscheidenden Moment seines Lebens vielleicht gefehlt hat und die er jetzt gegen das verhasste Gespenst seiner Vergangenheit nutzen kann. Regisseur Lorenzo Vigas erzählt dies alles sehr subtil und zurückhaltend, wobei er zugleich die sozialen Diskrepanzen der venezolanischen Gesellschaft im Blick hat. Die Zerrissenheit der Familien und die bis ins Mark gestörten Beziehungen sind das deutlichste Symptom des sozialen wie politischen Erosionsprozesses. Der Niedergang der venezolanischen Gesellschaft

spiegelt sich auch in der sozialen Topografie der Stadt, die sich von den Neubaublocks der Armen bis zu den grünen Vierteln der Reichen erstreckt; mittendrin liegt Armandos Candelaria-Quartier, das in seiner Gemengenlage aus Altstadt und Hochhäusern die verarmende Mittelschicht beherbergt. »Caracas, eine Liebe« besitzt viele Ebenen. Das soziale Drama ist auch ein psychologisches und kämpft gegen die Homophobie in Lateinamerika, wenngleich das plötzliche Coming out von Elder zu den dramaturgisch schwächsten Momenten der Geschichte gehört. Die homoerotische Dimension ist eine Metapher für Armandos gesellschaftliche Außenseiterposition, aber auch für die Beziehung zwischen Geld und Macht. Im Zentrum von Vigas’ Debütfilm steht jedoch das geradezu radiologische Bild eines Opfers und seiner Unfähigkeit zu lieben sowie seinem besinnungslosen Wunsch nach Rache, am Vater und letztlich auch an sich selbst. Die Bildgestaltung des Chilenen Sergio Armstrong ist langsam, aber in entscheidenden

Bewertung der Filmkommission

Ein Zahntechniker streift durch die verarmten Viertel der venezolanischen Hauptstadt Caracas, um Straßenjungen aufzugabeln. Als ihn ein rabiater 17-Jähriger bewusstlos schlägt und ausraubt, erwacht eine tiefe Zuneigung zu dem Jugendlichen. Der verhalten und subtil inszenierte Film nutzt das seltsame Verhältnis zwischen Freundschaft und Missbrauch als vielschichtiges Bild für eine zerfallende Gesellschaft, wobei er geschickt die soziale Topografie der Stadt einbezieht. Im Kern zeichnet das von einem überragenden Hauptdarsteller getragene Drama das Bild eines traumatisierten Charakters, der seine Unfähigkeit zu lieben durch Hass- und Rachegedanken kompensiert. – Sehenswert ab 16.

DESDE ALLÁ. Venezuela/Mexiko 2015 Regie: Lorenzo Vigas Darsteller: Alfredo Castro (Armando), Luis Silva (Elder), Jericó Montilla (Ameila), Catherine Cardozo (Maria), Marcos Moreno (Manuel) Länge: 93 Min. | Kinostart: 30.6.2016 Verleih: Weltkino | FSK: ab 16; f FD-Kritik: 43 977

Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe

Caracas, eine Liebe

Momenten auch bewegt. Die Kamera zieht sich mitunter in Unschärfen zurück und korrespondiert mit dem Charakter des Protagonisten. Getragen wird der Film von dem chilenischen Schauspieler Alfredo Castro, der Armandos Charakter überzeugend verkörpert: seine Verletzlichkeit wie seine tiefe Verletztheit, eine schlichte Eleganz, die bis zur Arroganz reicht, seine Leidensfähigkeit bis hin zum Masochismus, aber auch die stille, selbstzerstörerische Grausamkeit. Castro trägt eine enorme Spannung in den Film, denn er könnte alles sein, Vampir, Serienmörder, Vergewaltiger oder Vergewaltigungsopfer. Wolfgang Hamdorf


neue Filme Kritiken und gleicht Giorgis mangelnde väterliche Kompetenz aus. Der Film entwickelt die unterschiedlichen Beziehungsgeflechte in konzentrierten Szenen; er besticht durch ausgesuchte Motive und wohlkomponierte Bilder. Das Zurechtfrisieren der eigenen Existenz unterstreicht er bildlich durch verfremdende Mittel wie die Verzerrungseffekte unterschiedlicher Brennweiten, inszenatorisch durch Komik. Das maskenhafte Auftreten der Figuren und ihres Gestus des Vorzeigens korrespondieren mit der gestylten Inneneinrichtung der Villa und deren aufdringlich bunten Farbkontrasten. Wen wundert es da, dass auch die Tochter ein Geheimnis hütet?

God of Happiness

Heidi Strobel

Satirisches Drama über Fremdsein in Deutschland von Dito Tsintsadze Tochter ante portas. Die bevorstehende Ankunft der Tochter löst bei Giorgi Panik aus. Zehn Jahre langen haben sie sich nicht mehr gesehen. Jetzt ist aus dem kleinen Mädchen ein hübscher Teenager geworden, der demnächst in Paris die Ballettschule besucht. Wie kann sich der Vater vor der erfolgreichen Tochter überhaupt angemessen präsentieren? Zwar lebt er in Stuttgart, doch vom Reichtum der prosperierenden Metropole hat er nichts abbekommen. Der Exil-Georgier schlägt sich als Filmkomparse durchs Leben. Überdies teilt er sein bescheidenes Heim am Rande eines Industrie-Schrottplatzes mit seinem afrikanischen Geschäftspartner Ngudu, der seinen Unterhalt mit Prostitution verdient. Doch der »Gott des Glücks« ist der Schicksalsgemeinschaft hold. Eine Kundin überlässt ihnen für ein paar Tage ihre Villa mit großartiger Aussicht. Dort spielen sie der Tochter mit Unterstützung einer angeheuerten, falschen Freundin das Leben einer reichen Familie vor.

Dito Tsintsadze setzt in seinem neuesten Film seine Erkundungen über das Fremdsein in Deutschland und über das Leben am Rande der Gesellschaft fort. Mit leichter Hand webt er mehrere Motive ineinander. Er nutzt sie, um die menschlichen Schwächen seiner Figuren, ihre Selbstbezogenheit und ihr Rollenspiel, aber auch die vielfältigen Mechanismen des sozialen Ausschlusses, sowohl in der angestammten Gesellschaft wie auch unter den Migranten, vorzuführen. Tsintsadzes Protagonist Giorgi ist ein granteliger Sonderling und zugleich ein Hochstapler, was seine Verbindung zu Ngudu, aber auch die Beziehung zu seiner Tochter empfindlich untergräbt. Der einstige Filmemacher ist in Deutschland gestrandet, während seine geschiedene Ehefrau in Kanada ihr Glück durch eine gute Partie machte. Giorgi verleugnet seinen sozialen Abstieg, so gut es geht; sein Selbstbewusstsein und seinen Stolz bezieht er aus

seiner Abstammung aus einer einstmals großbürgerlichen Familie, deren gute Manieren und Bildung er hochhält. Damit nervt er nicht nur die Kollegen auf dem Set, die ihm durch kleine Gesten beständig seinen wahren Rang vor Augen führen: Er ist nur noch eine »kleine Nummer« und mit seinen ästhetischen Vorstellungen nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Auch sein angeblicher Geschäftspartner Ngudu hat unter der ungleichen Partnerschaft zu leiden. Denn obgleich beide Männer in Deutschland fremd sind, behandelt Giorgi Ngudu nicht wie seinesgleichen. Als sein Zuhälter hält er den Afrikaner in einem Abhängigkeitsverhältnis und spielt sich in bester Kolonialmanier ihm gegenüber als Inhaber der überlegeneren Kultur auf. Beständig markiert er durch sein Verhalten Rangunterschiede und führt damit Distanz ein. Aber Ngudu hat in den sozialen Beziehungen nicht nur die Rolle des Opfers inne. Er pflegt seine spirituellen Rituale

Bewertung der Filmkommission

Zwei Migranten, der eine aus Georgien, der andere aus Afrika, schlagen sich mit einfachen Tätigkeiten am Rand eines Schrottplatzes in Stuttgart durch. Als die Tochter des Georgiers ihren Besuch ankündigt, droht der soziale Abstieg des früheren Filmemachers aufzufliegen, was mit einer pompösen Villa und einer als Schein-Ehefrau engagierten Varieté-Künstlerin vertuscht werden soll. Leichthändig inszenierte Komödie mit viel Witz und eigenwilligem Humor, die in konzentrierten Szenen und stilisierten Bildern ungleiche Freundschaften und eine schwierige Vater-TochterBeziehung beschreibt und dabei differenziert die Spannungen migranter Befindlichkeiten erkundet. – Ab 14.

Deutschland/Frankreich/Georgien 2015 Regie: Dito Tsintsadze Darsteller: Lasha Bakradze (Giorgi), Nadeshda Brennicke (Mia), Elie Blezes (Ngudu), Tina Meliava (Tina), Ufuk Bozkurt (Tina) Länge: 94 Min. | Kinostart: 23.6.2016 Verleih: Kinostar | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 43 978

Filmdienst 13 | 2016

37


neue filme auf dvd / blu–ray

Als künstlerischer Tausendsassa gehört Takeshi Kitano zu den produktiven Filmikonen aus Japan, deren Bekanntheitsgrad auch im Westen hoch ist. Dennoch gibt es noch einige Werke, des mittlerweile 69-Jährigen zu entdecken, so auch sein 2012 entstandenes Sequel »Outrage Beyond«. Eigentlich sind Mehrteiler nicht sein Ding, doch Kitano hatte den Eindruck, dass sein 2010 entstandener Yakuza-Thriller noch nicht auserzählt sei. Erneut als Regisseur, Autor, Cutter und Darsteller in einem nimmt er sich die verschachtelten Clan-Strukturen in und um Tokio vor, um von Intrigen, Rache und Gemetzeln zu erzählen. Dies tut er im zweiten Teil in fast schon kammerspielartigen Tableaus, in Hinterzimmern, in denen diskutiert, beschuldigt und geschossen wird. Das ist mitunter arg unübersichtlich: Der eigentlich tot geglaubte Boss Otomo (Kitano inszeniert sich selbst als stoischen, gealterten Kämpfer) bekommt es, gerade aus dem Gefängnis entlassen, gleich mit diversen »Familien« zu tun. Glücklich, wer da die Collector’s Edition sein Eigen nennt, denn hier findet sich im Booklet eine Übersicht über die einzelnen Stammbäume und Hierarchien der Protagonisten. In dieser 3-Disc-Edition entdeckt man, ein wenig versteckt als »Bonus«, noch eine andere Preziose: In »Achilles und die Schildkröte«, 2008 ebenfalls in »Vierfachfunktion« als Regisseur, Autor, Cutter und Darsteller erstellt, erzählt Kitano die originelle Tragikomödie von einem in den 1950er-Jahren in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsenden Jungen

52

Filmdienst 13 | 2016

mit einer künstlerischen Begabung. In lakonischen, wunderbar ausgestatteten Episoden begleitet Kitano den Jungen beim Erwachsenwerden und lässt keine Gelegenheit aus, seine eigene naive Malerei ins rechte Licht zu rücken. Während »Outrage Beyond« deutsch synchronisiert wurde, ist »Achilles und die Schildkröte« nur deutsch untertitelt vorhanden. Was nicht schlimm ist, weil Kitanos Filme ohnehin nur im grummelnden Original richtig wirken. – Ab 16. Jörg Gerle

Outrage Beyond (AUTOREIJI: BIYONDO) Japan 2012 Regie: Takeshi Kitano Darsteller: Takeshi Kitano, Toshiyuki Nishida, Tomokazu Miura, Ryô Kase Länge: 107 Min. FSK: ab 16 Anbieter: Capelight FD-Kritik: 44 004 Achilles und die Schildkröte (Akiresu to kame) Japan 2008 Regie: Takeshi Kitano Darsteller: Takeshi Kitano, Kanako Higuchi, Reikô Yoshioka, Yûrei Yanagi

Im Reich der Pflanzen 3D Bildgewaltige Dokumentation

Trotz des Hypes um die stereoskopische Kinoerfahrung: Richtiges »3D« ist immer noch ein allzu seltenes Gut. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet das Fernsehen Produktionsaufwand und -kosten mit 3D-Kameras nicht gescheut hat, um einen eindrücklichen plastischen Eindruck ins Reich exotischer Pflanzen zu gewähren. Mit Natur-Aficionado David Attenborough für den Pay-TV-Sender »Sky 3D« produziert, geht »Im Reich der Pflanzen« »lediglich« in die Londoner Kew (Royal Botanic) Gardens, wo sich aber trefflich studieren lässt, welche skurrile Eigenheiten die ein oder andere pflanzliche Rarität zu bieten hat. Bei zweieinhalb Stunden Länge ist schon mal Zeit, mit viel fundiertem Wissen ganz genau (in Zeitraffer und Superzeitlupe) hinzuschauen. Prächtige plastische Bilder gibt es neben Wissenswertem wie selbstverständlich dazu. Die 2012 entstandene Produktion ist auch heute noch State of the Art. – Sehenswert ab 8. jög Kingdom of Plants Großbritannien 2012 Regie: Martin Williams

Länge: 119 Min.

Länge: 150 Min.

FSK: ab 12

FSK: ab 0

Anbieter: Capelight

Anbieter: Polyband

FD-Kritik: 44 005

FD-Kritik: 44 006

Fotos: Jeweilige Anbieter

Outrage Beyond & mehr


Kritiken fernseh-Tipps

SA

SAMSTAG 25. juni

13.25 – 15.05 WDR Fernsehen Don Camillo und Peppone R: Julien Duvivier Erster Film um die legendären Streithähne Frankreich/Italien 1952 Ab 12 14.00 – 15.30 KiKA Lola auf der Erbse R: Thomas Heinemann Märchenhaft-poetischer Kinderfilm Deutschland 2014 Sehenswert ab 8

25. Juni, 23.35 – 01.10

BR FERNSEHEN

Des Hauses Hüterin Die alternde Haus-Sitterin Jean (Penelope Wilton) soll einen Sommer lang auf ein hochherrschaftliches Haus aufpassen. Aus heiterem Himmel taucht ein Pärchen (Daniel Mays, Sinead Matthews) auf, ein Gelegenheitsdieb und eine schwangere junge Frau, mit denen sie das Leben einer kleinen Familie lebt, bis finanzielle Probleme auftreten und man sich gemeinsam auf kriminelle Abwege begibt. Als der Dieb von seiner Vergangenheit eingeholt wird und man einen lästigen Zeugen beseitigt, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Ein psychologisch ausgereifter, hintergründiger Psychothriller nach einem Roman von Morag Joss.

15.05 – 16.45 WDR Fernsehen Ein großer und ein kleiner Gauner R: Claude Pinoteau Amüsante Ganovenkomödie Frankreich/Italien 1976 Ab 16 20.15 – 21.55 BR FERNSEHEN Das Spukschloss im Spessart R: Kurt Hoffmann Gespenster helfen Schlossherrin BRD 1960 Sehenswert ab 14 20.15 – 23.00 WDR Fernsehen Grzimek R: Roland Suso Richter Biopic mit ambivalenter Haltung Deutschland 2015 Ab 14 Servus TV

Ab 16

23.35 – 01.10 BR FERNSEHEN Des Hauses Hüterin R: Tim Fywell Psychologisch ausgereifter ­Psychothriller Großbritannien 2007 23.35 – 00.55 rbb Fernsehen Das Leben vor meinen Augen R: Vadim Perelman Intensive Trauma-Aufarbeitung USA 2007 Ab 14 00.10 – 01.50 Servus TV Five Easy Pieces R: Bob Rafelson Ein Mann sucht sich selbst USA 1970 01.00 – 02.45 ZDF Strangers R: Malgorzata Szumowska Drama um eine Schwangere auf Sinnsuche Polen 2005 Ab 16

56

Filmdienst 13 | 2016

25. Juni, 01.00 – 02.45 ZDF 25. Juni, 20.15 – 21.55

BR FERNSEHEN

Das Spukschloss im Spessart Genau genommen ist dies keine Fortsetzung von Kurt Hoffmanns »Das Wirtshaus im Spessart« aus dem Jahr 1957, sondern eine gänzlich eigenständige, sehr unterhaltsame Wirtschaftswunder-Satire im Gewand eines turbulent-überdrehten »Grusicals«, garniert mit Kabarett-Songs von Friedrich Hollaender, der hier zm letzten Mal für einen Film komponierte. Die hübsche Gräfin Charlotte von Sandau (Liselotte Pulver) begegnet 1960 in finanzieller Not den Räuber-Geistern von einst, die gute Taten begehen müssen und am Ende als US-Astronauten im Wettlauf zum Mond mit den Russen konkurrieren. So knallbunt, überdreht und auch albern die charmante Ausgelassenheit daherkommt: Immer wieder werden Erinnerungen an die große Zeit des deutschen Vorkriegskabaretts wach.

Strangers Der zweite Film der polnischen Regisseurin Malgorzata Szumowska aus dem Jahr 2004 kam bei der Filmkritik nicht gut weg. Mancher rieb sich am ästhetischen Bruch zwischen der bedrückenden Realität und den auch visuell umgesetzten Fantasien einer jungen Frau, die ungewollt schwanger ist. Als es mit der Abtreibung nicht klappt, führt das zu einem Umdenken, und sie beginnt, dem Fötus die Welt in hoffnungsvollen Farben auszumalen. Eingebettet ist dieser intime Brückenschlag in eine ebenfalls von großer Fremdheit bestimmte Annäherung zwischen der Protagonistin und einer Prostituierten, die sich nach einer bürgerlichen Existenz sehnt. Inszenatorisch oszilliert »Strangers« zwischen Traum, Vision und Wirklichkeit; die authentischen Schauplätze sind zugleich Spiegelungen von Seelenzuständen; das Innere der von dem polnischen Top-Model Malgosia Bela gespielten Figur drückt sich in metaphorischen Verdichtungen aus. Im Rückblick lässt sich darin unschwer die Ausbildung der »Handschrift« von Szumowska erkennen.

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

22.00 – 00.10 Auf kurze Distanz R: James Foley Intensiver Thriller und Vater-Sohn-Drama USA 1985


fernseh-Tipps Kritiken 26. Juni, 23.55 – 01.45 3sat

Du kannst anfangen zu beten Im Original heißt der Einbrecher-Thriller von Jean Herman »Adieu l’Ami«, was zunächst mit »Bei Bullen ›singen‹ Freunde nicht« eingedeutscht wurde, später dann mit »Du kannst anfangen zu beten« einen Italo-WesternBeiklang verpasst bekam. Obwohl zwei Fassungen des Films existieren und er überdies auch zwei Mal gedreht wurde, mit vielen szenischen Abweichungen, gilt das 1968 entstandene »Heist-Movie« als kleine Genre-Perle. Alain Delon soll darin für eine hübsche Auftraggeberin während der Weihnachtstage ein Schriftstück in einen Firmentresor schmuggeln, den Charles Bronson zur gleichen Zeit ausrauben will. Natürlich geht alles schief. Beide Männer zappeln bald im Netz einer Intrige, bei der die Polizei überdies einen Mord aufzuklären hat. Doch dank ihrer Erfahrung im Algerien-Krieg, einer großen Portion Cleverness und männerbündischer Anklänge wissen sich die beiden Ex-Soldaten zur Wehr zu setzen.

SO

sonntag 26. juni

14.00 – 15.30 rbb Fernsehen Verzauberte Emma R: Oliver Dommenget Turbulente Körpertausch-Fabel Deutschland 2000 Sehenswert ab 10 18.00 – 18.30 3sat Filmfest München 2016 – Auftakt kinokino-Extra 20.15 – 21.35 arte Denkmäler der Ewigkeit (III) R: Olivier Julien, Gary Glassman Petra, Schönheit im Felsmassiv Frankreich 2015 Ab 14 20.15 – 21.55 zdf.kultur Be My Baby R: Christina Schiewe Engagiertes Sozialdrama Deutschland 2014 Ab 16 21.35 – 23.05 arte Denkmäler der Ewigkeit (IV) R: Olivier Julien, Gary Glassman Die Hagia Sophia Frankreich 2015 Ab 14 23.00 – 01.10 Servus TV Happy People R: Dmitri Vasjukov, Werner Herzog Ein Jahr in der Taiga Deutschland 2012 Ab 14

26. Juni, 23.05 – 01.30 arte

Accattone Mit seiner modernen Passionsgeschichte über den Leidensweg des Zuhälters und Diebs Accattone drehte Pier Paolo Pasolini 1961 sein unvergessliches Kinodebüt. Für die Theaterbearbeitung des Stoffs für die Ruhrtriennale 2015 fand ihr niederländischer Neu-Intendant Johan Simons eine gewaltige Bühne: Eine frühere Zechenhalle in Dinslaken-Lohberg, 210 Meter lang, 65 Meter breit. Nicht allein das aber macht die Adaption zu einer außergewöhnlichen Erfahrung, sondern mehr noch die bemerkenswerte Verbindung von Schauspiel, Film, Literatur und Chorkonzert. Wie Pasolini setzt auch Simons Musik von Johann Sebastian Bach ein, die von hervorragenden Sängern interpretiert wird und eine fesselnde zweite Ebene zum Theaterspiel bietet. Hierfür vertraute Simons, langjähriger Intendant der Münchner Kammerspiele, auf seine erprobten Lieblingsschauspieler wie Steven Scharf als Accattone und Sandra Hüller als seine Hure Maddalena.

23.55 – 01.45 3sat Du kannst anfangen zu beten R: Jean Herman Krimiunterhaltung mit Alain Delon & Charles Bronson Frankreich 1968 Ab 16 01.40 – 03.28 Das Erste Leaving Las Vegas R: Mike Figgis Kompromisslose Trinkertragödie USA 1995 Sehenswert ab 16

26. Juni, 23.00  – 01.10 Servus TV

Happy People Vier Jahreszeiten in der sibirischen Taiga, vom Aufbrechen der Eisschollen auf dem Fluss Jenissei im Frühjahr bis zur Rückkehr des harten, langen Winters. Werner Herzog verdichtet in »Happy People« eine vierstündige Fernsehdokumentation des russischen Dokumentaristen Dmitri Vasjukov zum filmischen Essay über das Verhältnis von Mensch und Umwelt. Hingebungsvoll beobachtet die Kamera archaisch anmutende Arbeitsvorgänge, etwa das Herstellen von Skiern oder den Bau eines Kanus vom Aushöhlen des Baumstamms bis zum Weiten des Bootskörpers. Die Porträts der Jäger und Fallensteller, die als große Einzelgänger allen Gefahren trotzen, geraten dabei mitunter etwas schwärmerisch, doch in all dem erliegt der Dokumentarfilm keiner Romantisierung: Die Menschen leben mit der Natur, wollen sie aber nicht nach einem naiven Bild (ver-)formen.

Filmdienst 13 | 2016

57


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.