Filmdienst 14/2013

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+ + + R O B E R T B R E S S O N + + + M I C H A E L K L I E R + + + E S T H E R W I L L I A M S + + + JAC Q U E S R I V E T T E + + +

FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

A N I M AT I O N S F I L M

Europa animiert!

US-STUDIOS DOMINIEREN UNSER BILD VOM ANIMATIONSFILM. ZU UNRECHT.

€ 4,50 | www.filmdienst.de 66. Jahrgang | 4. Juli 2013

14|2013 DE

Mark Ruffalo

Hinter dem grünen „Hulk“-Monster steckt ein vielschichtiger Darsteller

MUSIK

Neue Filmscores

SCHIFFBRUCH MIT ZUSCHAUER

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Seiten Fernsehbeilage

Allein auf dem Meer, bedroht vom ewigen Eis, gefangen in der Felsspalte: Das Kino liebt existenzielle Grenzerfahrungen

14 4 194963 604507


FilmDienSt 14 | 2013 Ruffalo bei den Dreharbeiten zu seinem neuen Film „Die Unfassbaren“

Alle Filme im TV vom 6.7. bis 19.7. Das Extraheft 44 Seiten

e im TV Extra-Heft: Alle Film

Kritike 80.000 Film-

.filmdie n unter www

nst.de

einfach zu haBen 11.7. ProSieben die weisse rose 9.7. Bayern3

der ölprinz 13.7. Bayern3

ice age 7.7. RTL

Ständige Beilage

FiLm

im TV

die schwarze windmühle 14.7. rbb

6.7.–19.7.2013

die zeit ohne grace 15.7. hr Bis zum letzten mann 6.7. WDR

cloverfield 18.7. Kabeleins

a Neo-Western des melquiades Estrad Die drei Begräbnisse sdrama eines Depressiven lisch-poetisches Ausbruch Winterreise Melancho Charme und Herz Logopädie-Biografie mit The King’s Speech

[10.7. [12.7.

HR ]

aRte ]

[15.7. aRD ]

Die drei Begräbnisse des Melquiades Estrada 10.7. HR Winterreise Drama von Hans Steinbichler 12.7. arte The King’s Speech Colin Firth als King Georg VI. 15.7. ARD

Pixars europäische Konkurrenten treiben es bunt: Hommage ans EU-Animationskino

Kino

Mr. Nice Guy kann auch anders: der Schauspieler Mark Ruffalo

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Akteure

EIN LEBEN AUF DER KIPPE Das Kino liebt Abenteuer und Grenzgänge jenseits der Komfortzone der Zivilisation. Einige Filme gehen in der Darstellung von tödlichen Gefahrensituationen stilistisch so weit, dass auch das Kinoerlebnis zum Grenzgang wird. Ein Überblick über existenzialistische Vertreter des Survival-Films. Von Kathrin Häger + Robert Redford in „All Is Lost“

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„...TURN OUT THE LIGHTS“ Die Proteste in der Türkei entzündeten sich nicht nur am Schicksal des GeziParks. Der Abriss des historisch prachtvollen Emek-Kinos im Zentrum Istanbuls führte ebenfalls zu gewalttätigen Zusammenstößen mit Polizei und Behörden. Von Emine Yildirim

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DAS ICH UND DER ANDERE Wie beim Wutmonster „Hulk“ haben die Figuren von Mark Ruffallo immer mehr als ein Gesicht. Wie ein Independent-Schauspieler in Hollywood die Doppelbödigkeit salonfähig macht. Von Tim Slagman

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IN MEMORIAM Als Wassernixe in leuchtendem Technicolor eroberte Esther Williams Hollywood, während Eddi Arent in vielen deutschen Kino- und Fernsehfilmen sein Komik-Talent unter Beweis stellte. Zwei Nachrufe.

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NICHT NACH PLAN Dokumentarfilme wider die Tendenz zum „Mainstream“: Menschen, die ein Leben abseits der Karrierespur führen, sind nicht erst seit „Unplugged: Leben Guaia Guaia“ die „Helden“ neuer Dokumentarfilme. Von Josef Lederle + Interview mit Regisseur Sobo Swobodnik

So schön war Schwimmunterricht nie wieder: Esther Williams und Van Johnson in „Flitterwochen zu dritt“ (1945)

S. 30

„Le tableau“

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Neue Filme auf DVD/Blu-ray

S. 48


Auch in „Ich - Einfach unverbesserlich 2“ strapazieren die Minions die Lachmuskeln

Film-Kunst 21

FILMMUSIK

Titel: picture alliance/dpa. S. 4/5: Concorde, fd-Archiv, Gébéka Films, Universal, Real Fiction, Camino, W-film

Aufwühlend radikal: der Soundtrack von „The Place Beyond the Pines“. Die Musik zu Terrence Malicks „To the Wonder“ besticht durch ein betörendes Leitmotiv. Unser Autor Jörg Gerle hat sich eingehört.

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MAGISCHE MOMENTE In der Georges-Bernanos-Adaption „Tagebuch eines Landpfarrers“ von Robert Bresson begegnen sich eine Comtesse und ein Priester in der Krise. Von Rainer Gansera

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SPIEL OHNE REGELN? EIN ABENTEUERFILM! Nur einmal wurde Jacques Rivettes 13-stündiger Film „Out 1“ (1971) uraufgeführt. Nun ist er in einer spektakulären DVD-Edition wieder aufgetaucht. Von Ulrich Kriest

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EUROPA ANIMIERT Mal poetisch, mal anarchisch, aber immer fantasievoll bunt, verzaubern Animationsfilme aus Europa große und kleine Kinobesucher. Von Stefan Stiletto

Neue Filme + ALLE STARTTERMINE

41 41 44 42 47 47 41

7 Tage in Havanna [11.7.] 21 & Over [11.7.] Adieu Paris [11.7.] An ihrer Stelle [11.7.] Appassionata [4.7.] Feu [11.7.] First Position - Ballett ist ihr Leben

[4.7.] 41 Fliegende Liebende [4.7.] 37 Ein Freitag in Barcelona [11.7.] 47 Das Glück der großen Dinge [11.7.] 38 His & Hers [4.7.]

Die Zielgruppe zu jung, die Konzepte zu veraltet: Der kommerzielle deutsche Animationsfilm steckt in der Krise. Von Rolf Giesen

Kritiken und Anregungen?

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s. LAYLA FOURIE

kinotipp der katholischen Filmkritik

S. 36 LAYLA FOURIE [4.7.] Drama von Pia Marais

40 47 45 41 46

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s. UNPLUGGED: LEBEN GUAIA GUAIA

Ich - Einfach unverbesserlich 2 [4.7.] Systemfehler - Wenn Inge tanzt [11.7.] Taffe Mädels [4.7.] The Call - Leg nicht auf! [11.7.] Die Unfassbaren - Now You See Me

[11.7.] 43 Unplugged: Leben Guaia Guaia [11.7.] 47 Vom Kiez zum Kap [11.7.] 39 We Steal Secrets [11.7.]

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FEUERZANGENBOWLE ON THE ROCKS

Grenzüberschreitungen deutscher Filmemacher in vielen Schattierungen: Pia Marais kehrt mit „Layla Fourie“ nach Südafrika zurück. Sobo Swobodnik schaut mit „Unplugged: Leben“ über den Tellerrand bürgerlicher Daseinsformen. Schauspielerin Jessica Schwarz flirtet in „Adieu Paris“ mit Frankreich.

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über neue Animationsfilmprojekte des Erfolgsstudios (S. 27)

Disney in San Fransokyo

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s. ADIEU PARIS

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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F

riss mich nicht“, fleht die Maus den Bären an, der sie aus einer Mülltonne gefischt hat. „Aber ich habe Hunger“, antwortet der Bär trotzig. Den ganzen Morgen schon hat er nach Nahrung gesucht. Doch als er noch einmal versucht, die Maus zu verschlingen, überrascht sie ihn mit einer ebenso einfachen wie kecken Frage: „Wie heißt du?“ Der Bär hält inne – und so beginnt in dem bezaubernden französischen Zeichentrickfilm „Ernest et Célestine“ eine wunderbare Freundschaft zwischen zwei Figuren, die eigentlich nicht zueinanderfinden dürften. Schließlich weiß jeder, dass Bären und Mäuse keine Freunde sein können. Der handgezeichnete Film von Stéphane Aubier, Vincent Patar und Benjamin Renner ist aktuell eine der großen Entdeckungen des europäischen Animationsfilms. Dabei wird ihm die Aufmerksamkeit nicht nur durch die beliebte Bilderbuchreihe der Belgierin Gabrielle Vincent zuteil, auf der er beruht, sondern auch durch seinen Stil: Mit feinen, fließenden Strichen und ohne feste Konturen wurden die Figuren gezeichnet, die Bilder verlieren sich oft

Europa Film-noir-Ästhetik im tschechischen Meisterwerk „Alois Nebel“ (2011) von Tomáš Luňák. Der Film beruht auf einer Graphic Novel von Jaroslav Rudiš und Jaromír Švejdík und wurde im „Rotoskopie-Verfahren“ hergestellt, bei dem ein Animator auf eine Glasfläche projizierte Szenen Bild für Bild „abpaust“.

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Animationsfilm

in weißen Flächen oder unscharfen Hintergründen und wirken auf angenehme Weise unfertig. Kein Zweifel: Diese Ästhetik ist ein regelrechter Affront, wenn man den überwältigenden Hyperrealismus der Computeranimationen von Pixar, Blue Sky oder Dreamworks gewöhnt ist, der das Bild der Animationskunst im Kino prägt. Und sie macht bewusst, wie uninspiriert, konventionell und mutlos viele deutsche animierte Bilder- und Kinderbuchverfilmungen wie „Komm, wir finden einen Schatz“ oder „Der kleine Rabe Socke“ in ihrer Gestaltung sind. Vielleicht wirkt „Ernest et Célestine“ deshalb so überraschend, weil man von Aubier und Patar nach dem Stop-Motion-Film „Panique

kunst- und kulturgeschichte verbinden sich au Village“ einen solch luftig-leichten und poetischen Stil nicht erwartet hätte. Verspielt und aberwitzig wild sieht „Panique“ aus, der von drei Plastik-Spielzeugen erzählt: einem Cowboy, einem Indianer und ihrem Pferd. Detaillierte Bewegungen lassen die Figuren gar nicht zu, und doch zeigen die liebevoll gestalteten Sets, dass hinter der groben Oberfläche mehr steckt als nur Improvisation und

anarchischer Spaß. Ein Film, der Mut beweist, eigene Wege zu gehen – auch an der Kinokasse vorbei. Ein ganz anderes Wagnis gingen JeanFrançois Laguionie und Tomm Moore ein. Sie verbinden fantasievolle Geschichten mit Verweisen auf die Kunst- und Kulturgeschichte und wirken dabei weder anstrengend noch bemüht oder elitär. Im Gegenteil: Es gelingt ihnen, durch liebenswerte Figuren und klassische Comingof-Age-Themen wie Aufbruch und Rebellion ein junges Publikum zu erreichen. In „Le Tableau“ schickt Laguionie die Protagonisten eines unvollendeten Gemäldes auf die Suche nach dem Maler hinaus in die Welt. In Anlehnung an Werke von Matisse, Modigliani und Picasso gestaltet Laguionie seine Figuren, macht Kunst erlebbar – und verbirgt die digitale Animation unter dem Deckmantel des klassischen Zeichentricks. Moores Film „Das Geheimnis von Kells“ wiederum führt ins 9. Jahrhundert und stellt einen jungen Mönch in den Mittelpunkt, der gegen den Willen seines Onkels Buchmaler werden möchte und in dessen kunstvoll verzierten Illustrationen die irisch-keltische

animiert

FilmkunSt

Oben: Der irische Film „Das Geheimnis von Kells“ (2009) von Tomm Moore und Nora Twomey nimmt Bezug auf die mittelalterliche Buchmalerei und Sakralkunst. Im Filmbild lassen Aufbau und Lichtstimmung die Annäherung an alte Kirchenfenster erahnen. Unten: Der bezaubernde französische Animationsfilm „Ernest et Célestine“ erzählt von einer unmöglichen, gleichwohl wunderbaren Freundschaft.

Es gibt sie aus Frankreich, Spanien, Irland oder auch aus Estland: Poetische, anarchische und politische Animationfilme aus Europa haben eine künstlerisch wie thematisch beeindruckende Bandbreite. Doch in hiesigen Kinos spielen sie kaum eine Rolle.

Von Stefan Stiletto

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FilmkunSt

Kunstwerke auf der Leinwand sind sinnlich, „atmend“, berührend. Das gilt in „Le tableau“ für die Werke der Malerei, um die sich die fantasievolle Geschichte dreht, aber auch für das Filmerlebnis selbst.

Animationsfilm

Mythologie zum Leben erwacht. Wie Laguonie erzählt Moore nicht nur über sein Thema: Sein Film ist so flächig angelegt wie eine jener kostbaren Buchmale-

die Filme leben von Ideenreichtum und enthusiasmus reien und greift auf typische Gestaltungsmuster des realen Buchs von Kells zurück. Lebendiger, fließender und schöner lassen sich Kunst und Kultur nicht vermitteln. Dass der 73-jährige Laguionie und der 36-jährige Moore Idealisten sind, die das zeichnen und erzählen, woran sie glauben, zeigt ein Blick auf die Filme, die gerade produziert werden: Moores „Song of the Sea“ greift erneut auf die irische Mythologie zurück und erzählt von zwei Geschwistern, die es in die Unterwasserwelt der Selkies führt – Fabelwesen, teils Robbe, teils Mensch. Laguionies „Louise en hiver“ wird ein poetischer Film übers Altwerden – schon das erste veröffentlichte Bild, das eine Frau zeigt, die am Meer steht und dem Betrachter den Rücken zuwendet, erinnert in seiner Komposition an ein impressionistisches Gemälde.

Die britsch-französische Produktion „L‘illusioniste“ von Silvain Chomet huldigt mit leiser Melancholie der Film-Ikone Jacques Tati. Rechte Seite: Der PixarKurzfilm „The Blue Umbrella“ von Saschka Unseld

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Es ist das alte Problem, dass Animationsfilme gemeinhin als Kinderfilme wahrgenommen werden, wenn sie nicht gerade in düsterer SchwarzWeiß-Ästhetik daherkommen wie „Persepolis“. Ähnlich sind Ästhetik und Stimmung in „Alois Nebel“ von Tomáš Luňák, der tschechischen Verfilmung der Graphic Novel von Jaromír Švejdík und Jaroslav Rudiš, der in die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion zurückführt. Darin wird ein Fahrdienstleiter an einem Bahnhof an der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Polen mit der Geschichte jener Region im einstigen Sudetenland, mit Flucht und Vertreibung, Gewalt und Rache konfrontiert – eine historische Geschichte mit Bezug zur Gegenwart im Stil eines Film Noir – und ebenso pessimistisch. Wie fließend, schwungvoll und sinnlich ist dagegen der spanische Zeichentrickfilm „Chico & Rita“ von Fernando Trueba und Javier Mariscal, der wie „Alois Nebel“ in Rotoscoping-Technik animiert wurde. Über fast fünf Jahrzehnte erstreckt sich die bittersüße Liebesgeschichte eines kubanischen Jazzpianisten und einer Sängerin zwischen Kuba und den USA, die beiläufig Musik- mit Weltgeschichte verbindet. Während die groben und doch anmutigen Zeichnungen die Ästhetik der 1950er- und 1960er-Jahre zitieren und zu einer verspielten Zeitreise einladen, erzählt der Film davon, wie der Jazz durch seine Regelverstöße und seine Wildheit die Musikwelt durcheinanderbringt. Experimente, Ideenreichtum, Enthusiasmus und der Mut, Konventionen zu ignorieren: Das ist es, was Animationsfilme aus Europa auszeichnet. Wobei sie doch oft nur Geheimtipps auf Festivals bleiben.

„Das Geheimnis von Kells“ kam hierzulande nie in die Kinos, sondern erschien als DVD/BD-Premiere.


Feuerzangenbowle on the Rocks Der kommerzielle deutsche Animationsfilm erlebt derzeit eine „Traumschmelze“: Die alten Konzepte gehen nicht mehr auf.

I

m Sommer 2012 besuchte eine ranghohe chinesische Delegation das Animationsfilmfestival in Annecy. Anschließend traf sie in Deutschland ein, um sich über den Stand der hiesigen Trickfilm-Produktion zu informieren. „In China haben wir 4.000 Studios, die sich mit der Herstellung von Animationsfilmen befassen“, eröffnete Herr Jin Delong von der State Administration for Radio, Film and Television in Beijing ein Gespräch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg. Die deutschen Ansprechpartner fühlten sich geehrt, waren aber fürs erste baff und sprachlos. Zumal die Impulse der mitunter auf Fe-

Betriebswirtschaftlich geht die Planung nicht auf

Die Ausstellung „Traumschmelze“ im Deutschen Institut für Animationsfilm in Dresden zeigt noch bis zum September u.a. das Schaffen von Gerhard Fieber (1916-2013), so auch seinen „Schneemann“. (Plakatausschnitt)

stivals hochdekorierten studentischen Arbeiten auf der kommerziellen Ebene nur eine geringe Rolle spielen. Das heißt nicht, dass die Absolventen nicht kommerziell orientiert wären: Unlängst erst hat Saschka Unseld, der an der Filmakademie Ludwigsburg studierte, bei Pixar den Kurzfilm „The Blue Umbrella“ vorgelegt, der als Beiprogramm zu „Die Monster Uni“ läuft. Doch was aus deutschen Landen animiert auf die große Kinoleinwand kommt, ist primär für Vorschulkinder konzipiert. Dass auch hierzulande kommerzielle Animationsspielfilme produziert werden, be-

Von Rolf Giesen

merken darum am ehesten die Eltern kleiner Kinder: „Prinzessin Lillifee“, „Der kleine Rabe Socke“, „Ritter Rost“, „Der Mondmann“. Auf der diesjährigen Cartoon Movie in Lyon, dem Finanzierungstreff der mittelständischen europäischen Animationsbranche, wurde nur wenig aus Deutschland angeboten. Darunter „Molly Monster“, die aus dem Sandmann bekannte kleine „Monsterin“, die nicht im Entferntesten mit Pixar und Co. konkurrieren kann. Das Vorhaben sieht nach einem Budget von etwa zwei Mio. Euro aus – für zweieinhalb Mio. leisten die Dänen bereits Wunder in 3D im Family Entertainment; doch die deutschen Anbieter kalkulieren mit etwa viereinhalb Mio. Euro. In der Regel bewegt sich der deutsche Animationsspielfilm sogar in Budget-Größen zwischen fünf und zehn Mio. Euro. Da die meisten Filme aufgrund der Besucherklientel fürs Nachmittagsprogramm der Kinos projektiert sind, geht das betriebswirtschaftlich aber nicht auf – es funktionierte nur kurze Zeit, als „Der kleine Eisbär“ auf 2,7 Mio. Besucher kam. Erfolgreich waren noch „Lauras Stern“ und „Eisbär 2“, die zwischen 1,3 und 1,5 Mio. Besucher in die Kinos lockten, überwiegend Mütter mit Kleinkindern.

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FilmkunSt Stationen deS deutSchen aniMationSFiLMS 1909/10: Kameramann Guido Seeber gestaltet die erste deutsche Animation: „Die geheimnisvolle Streichholzdose“ ist ein Legetrickfilm mit Streichhölzern 1926: Lotte Reinigers abendfüllender Silhouettenfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ wird in Berlin uraufgeführt 1935: Oskar Fischingers Kurzfilm „Komposition in Blau“ in Gasparcolor 1937: 66-minütiger Puppentrickfilm „Die sieben Raben“, hergestellt von den Brüdern Diehl 1941: Gründung der Deutschen Zeichenfilm GmbH 1944: „Der Schneemann“, ein Agfacolor-Kurzfilm aus dem Fischerkoesen-Studio 1949/50: Gerhard Fiebers „Tobias Knopp, Abenteuer eines Junggesellen“, ein abendfüllender Zeichenfilm nach Wilhelm Busch 1950: Deutsche Premiere des Disney-Films „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ 1955: Gründung des DEFA-Trickfilmstudios in Dresden 1957: Bruno, das HB-Männchen, aus dem Studio Kruse-Film 1958: Onkel Otto, der erste animierte Werbetrenner des westdeutschen Fernsehens (HR), produziert von Fischerkoesen 1959: „Unser Sandmännchen“, Stop-MotionKlassiker des Deutschen Fernsehfunks der DDR 1963: Beim ZDF gehen die Mainzelmännchen, geschaffen von Wolf Gerlach, auf Sendung 1967: Erste „Cartoon“-Sendung von Loriot 1971: „Die Sendung mit der Maus“ 1982: Erstes Internationales Trickfilm-Festival Stuttgart 1986: Ausstellung „Asterix, Mickey Mouse & Co.“ in Berlin (Kaufhaus Wertheim am Kurfürstendamm) und Frankfurt/Main (Deutsches Filmmuseum) 1990: „Oscar“ für den Stop-Motion-Kurzfilm „Balance“ der Brüder Lauenstein. Im Kino: „Werner – Beinhart!“ 1991: Gründung der Filmakademie BadenWürttemberg, zu der auch ein Animationsinstitut gehört 1993: Gründung des Deutschen Instituts für Animationsfilm in Dresden 1994: Jürgen Wohlrabe und Gerhard Hahn produzieren „Asterix in Amerika“ in Berlin 1996: „Oscar“ für den deutschen Stop-MotionKurzfilm: „Quest“ von Tyron Montgomery und Thomas Stellmach 1997: Im Kino: „Kleines Arschloch“ 2001: Im Kino: „Der kleine Eisbär“ 2003: In Berlin stirbt Manfred Durniok. Er war der erste, der mit dem Shanghai Animation Studio konsequent sino-deutsche Trickfilme produzierte 2005: Deutscher Filmpreis für „Lauras Stern“ 2006: Im Internet erscheint „Der Bonker“ von Walter Moers und Felix Gönnert 2010: Unter dem Export-Titel „Animals United“ wird die „Konferenz der Tiere“ von Holger Tappe und Reinhard Klooss zum weltweit erfolgreichsten deutschen Animations-Spielfilm

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Animationsfilm Sprechen mit markanten Animationen die jüngsten Kinozuschauer an: „Der Mondmann“ und „Ritter Rost“

Inzwischen haben sich die Besucherzahlen deutscher Animationsspielfilme aber halbiert – auf 600.000 Besucher und weniger. Das Kinobrutto bleibt oft unter fünf Mio. Euro. Ökonomisch macht es da kaum noch Sinn, animierte Filme zu fördern, die den Rest der Familie ausgrenzen, sich dem älteren Publikum verschließen und im internationalen Wettbewerb auf der Strecke bleiben. Trotzdem setzen Produzenten (die oft vom Kinderfernsehen kommen), Verleiher und Förderer weiter auf das „Gesetz der Serie“. Was heißt: Unter keinen Umständen formal herausragende Leistungen, dafür alles schön brav, bieder und in der Trickfilm-Tradition, die hierzulande seit Jahrzehnten gepflegt wird. Am 6. Januar 2013 starb im Alter von 96 Jahren Gerhard Fieber. In Dresden ist eine Ausstellung des Deutschen Instituts für Animationsfilm un-

Hinter den kulissen tut sich einiges ter dem Titel „Traumschmelze“ auch seinem Werk gewidmet (noch bis 29.9.). Wie kein anderer verkörperte Fieber das Dilemma des kommerziellen deutschen Zeichen- und Animationsfilms: einer Mischung aus kinderfreundlicher Banalität, Ignoranz und erschreckender Gestrigkeit. Im Dritten Reich war Fieber Chefzeichner der von Goebbels und seinen Mitstreitern groß aufgezogenen Deutschen Zeichenfilm GmbH, die mit Personal und Mitteln üppig ausgestattet war, aber bis Kriegsende gerade mal einen Kurzfilm („Armer Hansi“) herausbrachte – herzlich wenig, um dem bewunderten Walt Disney Konkurrenz zu machen. 1949/50 scheiterten Fieber und sein Dialogregisseur Wolfgang Liebeneiner mit ihrer abendfüllenden Wilhelm-Busch-Adaption „Tobias Knopp, Abenteuer eines Junggesellen“. Fieber schob die Schuld auf Disney, dessen Märchen- und Fantasy-Filme damals in bonbonfarbigem Technicolor nach Westdeutschland kamen. Grund genug für Fieber, mit seinem Partner Franz Thies auf Nummer sicher und zum Fernsehen zu gehen, wo sie sich dem Protektionismus des neuen Mediums unterwarfen: Fieber war zwar nicht der Schöpfer, aber einer der Geburtshelfer und Produzenten der beliebten Mainzelmännchen. Während überall in Europa bald nach dem Krieg ambitionierte Farbfilm-

Projekte auf den Weg gebracht wurden (im Falle von Dänemarks animierter H.C. Andersen-Adaption „Das Feuerzeug“/„Fyrtøjet“ sogar noch vor 1945, begonnen unter den deutschen Besatzern mit Ufa-Geldern) und die franko-belgische Comic- und Animationsszene gezeichnete Stars wie Asterix, die Schlümpfe, Marsupilami und Lucky Luke hervorbrachte, hatten wir gerade mal das HBMännchen (Kruse-Film) oder das Tele-Bärchen des Senders Freies Berlin. Die alten Konzepte sind „ausgelutscht“, es kann nur aufwärts gehen. Hinter den Kulissen tut sich einiges: Martin Moszkowicz und Reinhard Klooss wollen mit „Tarzan 3D“ an ihren 3D-animierten Film „Konferenz der Tiere“ anschließen, der international reüssierte, weil er solides Family Entertainment bot: wenig Erich Kästner, dafür viel „Madagascar“. Walter Moers und David Groenewold planen den abendfüllenden Animationsfilm „Adolf – Der Film“. 22 Mio. Zuschauer sahen den Kurzfilm „Der Bonker“ von Moers und HFFDozent Felix Gönnert. Alt-Produzent Hanns Eckelkamp denkt mit Partnern darüber nach, zwei der größten deutschen Filmerfolge zu reanimieren: „Die Feuerzangenbowle“ und „Nosferatu“.


Fotos: Jeweilige Verleiher

unpLugged: Leben guaia guaia [11.7.]

Frei & hoch hinaus

Unterwegs mit den Straßenmusiker Elias & Luis So sehen Verlierer aus. Die Haare zerzaust, die Garderobe aus der AltkleiderSammlung, keine Wohnung, keinen Job, keine Krankenversicherung, kein Geld. Elias Gottstein und Carl Luis Zielke, beide Anfang 20, haben nichts von dem, was die meisten ihrer Altersgenossen für erstrebenswert halten. Doch als Loser sehen sich die beiden jungen Männer deshalb keineswegs. Ihre asketische Lebensform ist frei gewählt und – unter den gegebenen Verhältnissen – Ausdruck größtmöglicher Freiheit. Nach der zehnten Klasse haben sie gemeinsam die Schule geschmissen und beschlossen, fortan nur noch das zu tun, wozu sie Lust haben: Musik machen. Nicht in Konzertsälen oder Clubs, sondern auf der Straße. Jedenfalls vorwiegend. Seitdem tingeln die beiden Freunde unter dem Künstlernamen „Guaia Guaia“ kreuz und quer durch die Republik, spielen in Fußgängerzonen und wo sonst noch die Aussicht auf ein paar Zuhörer besteht. Wo andere Musiker zu Be-

ginn „Seid ihr alle gut drauf?“ oder ähnlich sinnfreie Stimmungs-Floskeln ins Publikum brüllen, fragen Elias und Carl Luis erst mal höflich, ob jemand unter den Zuhörern vielleicht einen Schlafplatz für sie hätte. Und meistens findet sich eine bescheidene Bleibe für die Nacht. Ein Jahr lang hat der Autor und Regisseur Sobo Swobodnik das Duo mit der Kamera begleitet. Herausgekommen ist dabei ein unterhaltsames, unkommentiertes Roadmovie, das die Musiker bei ihren Auftritten, ihren ständigen Auseinandersetzungen mit den örtlichen Ordnungshütern, im Kreise ihrer nächtlichen Gastgeber und auf Reisen zeigt. Hinzu kommen Sequenzen, die wie (preiswerte) Video-Clips anmuten,

und ein paar Strich-Animationen. In erster Linie lebt die Langzeitbeobachtung jedoch von ihren grundsympathischen Protagonisten, deren Lieder keine schlichten Klagen über die Schlechtigkeit der Welt, sondern durchaus originelle Popsongs sind. Schon ihr Equipment, das sie in zwei umgebauten Mülltonnen mit sich führen, ist für Straßenmusiker ungewöhnlich. Elias spielt E-Gitarre, Carl Luis Posaune. Dazu kommen gesampelte Sounds und Rhythmen vom Laptop und ihr Sprechgesang. Ein kleiner Dieselgenerator sorgt für den Strom und steckt ebenfalls in einer der fahrbaren Mülltonnen (weshalb das „Unplugged“ im Titel des Films zumindest in dieser Hinsicht irreführend ist). Bei aller Konsumkritik ihrer

Deutschland 2012

Länge: 96 Min.

Regie, Buch: Sobo Swobodnik Kamera: Bernhard Kübel, Lars Lenski, Jakob Wassermann Musik: Guaia Guaia Schnitt: Stefanie Kosik

Verleih: W-film Kinostart: 11.7.2013 FD-Kritik: 41 798

Handwerk

InHalt

Texte geht „Guaia Guaia“ jeder missionarische Erlösungseifer ab. Problematisch sind eher jene Sequenzen, in denen der Film die Entbehrungen ihrer Lebensform ins Bild setzt. Wenn die beiden Freunde nicht unterwegs sind, hausen sie in Berlin in leerstehenden Häusern, in denen, wenn es gut läuft, der Strom noch nicht abgeschaltet ist, und ernähren sich von dem, was Supermärkte so alles wegwerfen. Doch selbst in solch unwirtlichen Lagen sieht man Elias mit der Gitarre Melodien suchen und Carl Luis bei Kerzenschein an Songtexten werkeln. Das hat dann doch etwas arg viel von romantischer Verklärung à la Spitzwegs „Der arme Poet“ oder Eichendorffs „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Reinhard Lüke

BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION Dokumentarfilm über zwei junge Straßenmusiker: Die Protagonisten, die als „Guaia Guaia“ durch Deutschland touren, haben sich bewusst für ein Leben jenseits „normaler“ Karrierewege und jenseits von Konsumzusammenhängen entschieden. Der Film begleitet sie beim Musizieren sowie bei der Suche nach Schlafplätzen und Essen. Mit Videoclip-artigen Sequenzen und animierten Szenen angereichert, lebt er vor allem vom Charisma seiner Protagonisten, verklärt allerdings auch deren Aussteigertum. – Ab 14.

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