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film Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

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franzÖsische KomÖDien SEIT „ZIEMLICH BESTE FREUNDE“ BOOMT IN FRANKREICH DIE SOZIALKOMÖDIE. WARUM?

roBert gWisDeK SCHAUSPIELER, SÄNGER & SCHRIFTSTELLER: ROBERT GWISDEK IST EIN „GANZHEITLICHER“ KÜNSTLER.

„monsieur grimace“ STAR-KOMIKER LOUIS DE FUNÈS WÄRE 100 GEWORDEN. EINE HOMMAGE.

louis

DE FUNES 14

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3. Juli 2014 € 4,50 67. Jahrgang

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BrenDan Gleeson

franZÖsisCHe komÖDien Der Gott des Humors muss ein Franzose sein. Zumindest was die bürgerlichen Sozialkomödien angeht, die aus unserem cinephilen Nachbarland kommen, sich aber nicht immer als Exportschlager erweisen. Von Andrea Dittgen

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CHristian ClaVier

Ziemlich beste Freunde 7.7. Das Erste Herr Zwilling und Frau Zuckermann 15.7. rbb Fernsehen Schlafkrankheit 18.7. zdf.kultur

Zwischen Konzentration und der nächsten Wutattacke: Louis de Funès in einer frühen Rolle als Sittenwächter in „Die Knallschote“ (1955)

Der französische Schauspiel-Star im Interview über regional-spezifischen Humor, kultur-übergreifende Ehen und den Erdrutschsieg des „Front National“. Von Wolfgang Hamdorf

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louis De funÈs Wie auf Sprungfedern geschnallt, tobte sich der französische „Monsieur Grimace“ auch ins Herz der deutschen Kinogänger. Vom Publikum geliebt, von der Kritik misstrauisch beäugt, genießt sein Slapstick bis heute Kultstatus. Von Nils Daniel Peiler

Mit seinem ausgeprägten Körper und Akzent stand er auf den Besetzungslisten nicht immer ganz oben. Nun hat der Ire mit „Die große Versuchung“ ein wahres Pfund in die Waagschale geworfen. Von Jörg Gerle

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literatur Der Schauspieler Armin Mueller-Stahl erinnert sich in seinem autobiografischen Buch „Dreimal Deutschland und zurück“.

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in memoriam Thilo Graf Rothkirch entzückte Kinder mit seinen Animationsfilmen. Karlheinz Böhm setzte seine Popularität seit „Sissi“ für soziale Projekte ein. Zwei Nachrufe.

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roBert GWisDek sPielt Als misanthropischer Rollstuhl-Fahrer in „Renn, wenn du kannst“ trumpft das MultiTalent ebenso auf wie als Musiker und Literat. Ein wahrhaft „Spielwütiger“ in unserer Porträt-Reihe. Von Alexandra Wach

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roBert GWisDek sCHreiBt Und das mit viel Verständnis für Sprache und den Schmerz seiner Hauptfigur. Mit seinem Erstlingsroman „Der unsichtbare Apfel“ überzeugt Gwisdek auch abseits von Kamera und Mikrofon. Von Horst Peter Koll

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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„The Guard“

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Fotos: TITEL: arte. S. 4/5: Neue Visionen, MGM, Pallas, Arsenal, DCM, Fox, Camino

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Alle Filme im tV vom 5.7. bis 18.7. Das extraheft

Akteure

Kino


Neue Filme

Film-Kunst

+ alle starttermine

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stanDfotoGrafie Am Set fangen sie Filmszenen in eindrücklichen Tableaus ein, den so genannten Filmstills: die Standfotografen, deren Beruf bedroht ist. Ein Plädoyer für die Kamera neben der Kamera. Von Jens Hinrichsen

„Blow-Up“

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stePHan raBolD

Fotos: TITEL: arte. S. 4/5: Neue Visionen, MGM, Pallas, Arsenal, DCM, Fox, Camino.

Der Set-Fotograf spricht über die Zukunft der Standfotografie, die Bilder-Fundgrube von „Der Medicus“ und seine Arbeit mit den kleinen Darstellern von „Rico, Oskar und die Tieferschatten“. Von Jens Hinrichsen

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s. Die karte meiner trÄume

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s. riCo, oskar unD Die tiefersCHatten

KinotiPP

maGisCHe momente In seinem Ménage-à-trois-Film „Die Träumer“ blickte Bernardo Bertolucci ins Herz der Jugendrevolte von 1968 und schuf eine magische Metapher. Von Rainer Gansera

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die Flut belangloser Filme, die über Amerikas Arthouse-Kinos hereinbricht (S. 27).

39 2 automnes 3 hivers [3.7.] 45 Art’s Home Is My Castle [10.7.] 45 Begegnungen nach Mitternacht [10.7.] 43 Ferner schöner Schein [10.7.] 45 Eine ganz ruhige Kugel [3.7.] 47 Goal of the Dead [19.6.] 45 Grosse Jungs [3.7.] 47 Die große Versuchung [10.7.] 41 Jack und das Kuckucksuhrherz [3.7.] 37 Die Karte meiner Träume [10.7.] 47 Die Mamba [3.7.] 44 Millionen [3.7.] 47 Mistaken for Strangers [10.7.] 46 Nebenwege [3.7.] 42 Qissa - Der Geist ist ein einsamer Wanderer [10.7.] 40 Rico, Oskar und die Tieferschatten [10.7.] 47 The Kings of Summer [12.6.] 45 The Signal [10.7.] 38 The Unknown Known [3.7.] 47 Umsonst [10.7.] 44 Verführt und verlassen [10.7.] 47 Von der Beraubung der Zeit [3.7.] 42 Wara No Tate Die Gejagten [10.7.] 45 Wüstentänzer [3.7.] as Wüstentänzer [3.7.]

großartige junge Darsteller sind in drei neuen Filmen voller Fantasie und erzählfreude zu entdecken: Auf die Spuren von hoch- und etwas weniger hochbegabten Jungen begeben sich Jean-Pierre Jeunets „Die Karte meiner träume“ und „Rico, oskar und die tieferschatten“. im indischen gesellschaftsdrama „Qissa“ wiederum wird ein Mädchen im glauben aufgezogen, dass es ein Junge sei.

der katholischen Filmkritik

36 Der wundersame Katzenfisch [10.7.] Debütfilm von Claudia Sainte-Luce

Kritiker schwimmen gegen den Strom

Kritiken und Anregungen?

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s. Qissa Der Geist ist ein einsamer WanDerer

ruBriken Editorial Inhalt Magazin DVD-Kritiken DVD-Perlen Vorschau Impressum

Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf Facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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Der gott Des humors in Frankreich eilt das neue genre der bürgerlichen Sozialkomödie von erfolg zu erfolg. Doch warum ist das so?

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Knapp zehn Millionen Franzosen begeisterten sich seit April für die Komödie „Monsieur Claude und seine Töchter“, die im Original „Qu’est-ce qu’on a fait au Bon Dieu?“ heißt: „Was haben wir dem guten Gott getan?“ Und täglich werden es mehr Zuschauer. Das Phänomen erinnert an die Erfolgsgeschichte von „Willkommen bei den Sch’tis“ (2008), den ebenfalls Woche für Woche immer mehr Franzosen sahen, bis am Ende mit 20,5 Mio. Zuschauern ein neuer Allzeitrekord aufgestellt war. Geboren wurde damals ein neues Subgenre, das es in Frankreich zuvor nicht gab: die bürgerliche Sozialkomödie, in der ein gesellschaftliches Tabu ebenso gnadenlos wie liebevoll ausgereizt wird. In „Willkommen bei den Sch’tis“ macht man sich über die rückständigen Provinzler im Norden Frankreichs lustig, wo niemand freiwillig hinzieht. Außerdem reden die Menschen dort so komisch, und ein bisschen verrückt sind sie obendrein. Aber das sagt man nicht, das ist politisch unkorrekt, gerade vor dem Hintergrund, dass die Zentralregierung in Paris sich so krampfhaft bemüht, die Regionen zu stärken. Genau deshalb trafen die „Sch’tis“ den Nerv der Zeit. Bei „Ziemlich beste Freunde“ (19,5 Mio. Zuschauer) funktionierte es ganz ähnlich. Über einen Schwerbehinderten macht man keine Witze, erst recht setzt man ihn keinem schwarzen Pfleger wider Willen aus, der überdies ein Krimineller ist, zumal sich die Regierung so heftig um die Integration des Millionenheers der Einwanderer bemüht. Mit „Monsieur Claude und seine Töchter“ (dt. Kinostart: 24.7.) erreicht die Entwicklung der bürgerlichen Sozialkomödie nun einen neuen Höhepunkt, geht es doch gleich um fünf Ethnien. Welcher gutbürgerliche, katholische Franzose wünschte sich denn nicht, dass seine Kinder in der eigenen „Kaste“ verbleiben? Wenn die Töchter stattdessen einen Chinesen, einen Muslim, Juden und gar einen Schwarzen heiraten, dann sind nicht nur Konflikte mit den Eltern vorprogrammiert. Wie in „Sch’tis“ und „Ziemlich beste Freunde“ werden auch in „Monsieur Claude und seine Töchter“ gnadenlos alle Vorurteile im Angesicht der Betroffenen ausgesprochen, nachdem man sich zuvor

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krampfhaft bemüht hat, genau das zu vermeiden. Wie das eben guterzogene Franzosen so tun.

Die Komödien sind im französischen Alltag verwurzelt. Das Geheimnis dieser drei Kassenschlager liegt in ihrer gewissen Eleganz und Leichtigkeit. Plumpe Witze unter die Gürtellinie, wie sie derzeit in Hollywood üblich sind, sucht man hier vergeblich. In den Louis-de-Funès-Komödien der 1970er- und 1980er-Jahre gab es das durchaus, auch bei den „Asterix“Komödien mit Christian Clavier und Gérard Depardieu um die Jahrtausendwende. Parodien (wie in Deutschland bei Bully Herbig) oder Filmzitate, die unabhängig von der Handlung auf Lacher zielen, tauchen ebenfalls nicht auf. Das haben die neuen Sozialkomödien nicht nötig: Sie sind im französischen Alltag verwurzelt. An die Grenzen des Erträglichen stoßen sie dort, wo Selbstverliebtheit und Manierismen überhandnehmen. Was angesichts der Tatsache, dass Autor, Regisseur und Hauptdarsteller häufig ein und dieselbe Person sind, dann aber recht häufig passiert. Besonders überkandidelt gab sich Guillaume Gallienne in „Maman und ich“ (2,8 Mio. Zuschauer), was daher rührt, dass der Film auf einem Theaterstück fußt. Auf der Bühne sorgte die autobiografische One-Man-Show über ein Muttersöhnchen, das sich der Mama zuliebe wie ein Mädchen kleidet und verhält, ehe es mit 30 seine Männlichkeit entdeckt, durchaus für Lacher. Auch Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Dany Boon ist nicht frei davon, sich als ÜberIch zu inszenieren. Die beiden Komödien, die Boon nach seinem phänomenalen Erfolg mit „Willkommen bei den Sch’tis“ drehte, waren dennoch erfolgreich: „Nichts zu verzollen“ (8 Mio.) und „Super-Hypochonder“ (5 Mio.) sind freilich klassische Situationskomödien. Immerhin hat Boon erkannt, wann ein Thema ausgereizt ist. Auch das zeichnet die neue französische Sozialkomödie aus: Obwohl die Zuschauerzahlen hoch sind, werden keine Fortsetzungen gedreht. Auch wird Hollywood nicht imitiert. Die Komödien-Spezialisten setzen lieber auf

Vor sechs Jahren griff Dany Boon in seiner Erfolgskomödie „Willkommen bei den Sch’tis“ die Vorurteile gegenüber dem angeblich rückständigen Norden Frankreichs auf und schuf daraus eine amüsante Groteske über eingefahrene Klischees. Seitdem boomt in Frankreich ein neues Subgenre: die bürgerliche Sozialkomödie. In ihr verbinden sich Leichtigkeit und Eleganz mit einer soliden Verwurzelung im französischen Alltag. Ein Erfolgsrezept – zumindest in unserem cinephilen Nachbarland. Von Andrea Dittgen

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franzÖsische KomÖDien in Deutschen Kinos: „eine ganz ruhige Kugel“ von Frédéric Berthe (Start: 3.7.2014, Kritik in dieser Ausgabe) „grosse Jungs“ von Anthony Marciano (Start: 3.7.2014, Kritik in dieser Ausgabe)

„eyJafJallaJÖKull – Der unaussPrechliche VulKanfilm“ von Alexandre Coffre (Start: 31.7.2014)

„gemma BoVery“ von Anne Fontaine (Start: 18.9.2014)

„Der Kleine nicK macht ferien“ von Laurent Tirard (Start: 2.10.2014)

„JacKy im KÖnigreich Der frauen“ von Riad Sattouf (Start: 2.10.2014)

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„samBa“ von Eric Toledano und Olivier Nakache (Start: 8.1.2015)

Fotos: S. 10/11: Senator. S. 12/13: Universum/nfp/Frenetic/Prokino/Wild Bunch/Pandastorm/Senator/Arsenal/UPI/StudioCanal/Camino/Tobis. S. 15: Frenetic.

„monsieur clauDe unD seine tÖchter“ von Philippe de Chauveron (Start: 24.7.2014, Kritik in FD 15/14)

typisch französische Themen und Vorlieben, etwa aufs Kochen wie in „Die Köchin und der Präsident“ (2012) von Christian Vincent, auf einen verklärenden Retro-Blick wie in „Camille – verliebt nochmal“ (2012) von Noémie Lvovsky oder auf lange philosophierende Diskussionen, etwa in „Der Vorname“ (2010) von Matthieu Delaporte oder „Molière auf dem Fahrrad“ (2013) von Philippe Le Guay. Überraschend viele Regisseure verließen sich in den letzten Jahren auf die Stärke von Frauen, die über sich hinauswachsen wie in den Gangstergeschichten „Le vilain“ (2009) und „9 mois ferme“ (2013) von Albert Dupontel, der Rentnerinnenkomödie „Paulette“ (2012) von Jérôme Enrico, im Liebesmärchen „Unter dem Regenbogen“ (2013) von Agnès Jaoui, in „La liste de mes envies“ (2014) von Didier Le Pêcheur oder „Sous les jupes des filles“ (2014) von Audrey Dana. Selbst in Paarkomödien wie „Eyjafjallajökull“ (2013) von Alexandre Coffre oder „Beziehungsweise New York“ (2013) von Cédric Klapisch liegt der Fokus auf Frauen, die Männer zu tragischen Figuren machen.

Mehr als die Hälfte aller französischen Filme gibt sich komödiantisch. In Frankreich kommt das gut an, auch wenn die anspruchsvolleren Komödien an der Kasse immer wieder von derberen Späßen geschlagen werden. Vier Millionen Besucher für die blödelnde Schulklamotte „Les profs“ (2013) – das ist ein Schlag in die Magengrube. In diesen Regionen bewegen sich mit schöner Regelmäßigkeit auch die Proll-Komödien von Eric und Ramzy. Dass in Frankreich nach wie vor auch noch die dümmlichste Komödie den Weg ins Kino findet, liegt daran, dass man im Zweifelsfall aus finanziellen Gründen (nur jeder zehnte Film spielt seine Kosten wieder ein) lieber auf Komödien setzt. Von den 270 französischen Produktionen des Jahres 2013 (darunter 236 Spielfilme) war knapp ein Viertel Komödien. Rechnet man die „comédies dramatiques“, Filme mit humoristischen Elementen wie etwa Michel Hazanavicius’ „The Artist“ (2011) sowie die neuen Sozialkomödien dazu, ist man schnell bei einem Anteil von mehr als 50 Pro-

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zent – womit sich die Vielfalt an Themen und die Suche nach neuen GenreMischformen fast automatisch erklärt. Meistens reicht es, wenn ein oder zwei bekannte Darsteller mitspielen, um eine Million oder mehr Zuschauer anzuziehen (was etwa ein Dutzend Komödien pro Jahr schaffen). Auffällig ist, dass die Hälfte der Komödien-Darsteller und -Regisseure einen migranten Hintergrund haben, zumeist kommen sie aus dem Maghreb. Doch es müssen nicht einmal Komiker wie Dany Boon, Alain Chabat, Christian Clavier oder Kad Merad sein: Komödien-Darsteller/innen wie Gérard Jugnot, Jean Dujardin, Jamel Debbouze, Denis Podalydès, Franck Dubosc, Fabrice Luchini, Vincent Lindon, Gad Elmaleh, Pascal Légitimus, Michèle Laroque, Josiane Balasko oder Catherine Frot drehen auch Dramen, Thriller und Historienfilme. Das macht sie einem großen Publikumskreis bekannt. Der Komödien-Regisseur Pierre Salvadori („Bezaubernde Lügen“, „Dans la cour“) behauptet sogar: „Die größten Schauspieler in französischen Komödien sind keine reinen Komödiendarsteller. Ich denke an Gérard Depardieu, einen der komischsten Darsteller der letzten Jahre. Als ich ,Alle lieben Blanche‘ drehte, hat mich das komische Talent von Daniel Auteuil sprachlos gemacht.“ Fragt man nach den Chancen französischer Komödien im Ausland, stößt man an Grenzen. Unifrance-Präsident Jean-Paul Salomé mutmaßt als das große Problem dieser Filme gar nicht ihre Themen oder ihren spezifisch französischen Humor: „Die Schauspielergeneration nach Belmondo, de Funès, Deneuve, Pierre Richard und Alain Delon ist in Europa nicht bekannt, nur einige Frauen wie Juliette Binoche, Sophie Marceau oder Audrey Tautou. Es ist schwer, Schauspieler nach Deutschland zu bringen, um einen französischen Film zu promoten.“ Das gilt erst recht für Regisseure: Wer kennt hierzulande schon Namen wie Michel Hazanavicius, Dany Boon und Nakache? Oder auch Jean-Pierre Mocky? Diesem mittlerweile 80-jährigen Anarchisten der französischen Komödie und einsamen Rekordhalter widmet die Cinémathèque française derzeit eine große Retrospektive – immerhin drehte Mocky seit 1959 mehr als 60 Komödien als Autor, Regisseur und Darsteller.

Komödien aus Frankreich

kino

aKtuelle KomÖDien-stars: Dany Boon (* 26.6.1966): „Micmacs – Uns gehört Paris!“ (2009) „Nichts zu verzollen“ (2010), „Eyjafjallajökull“ (Dt. Kinostart: 31.7.2014)

KaD meraD (* 27.3.1964): „Willkommen bei den Sch’tis“ (2008), „Fasten auf italienisch“ (2010), „Super-Hypochonder“ (2013)

PatricK Bruel (* 14.5.1959): „Affären à la Carte“ (2009), „Paris Manhattan“ (2012), „Der Vorname“ (2012)

catherine frot (* 1.5.1956): „Odette Toulemonde“ (2007), „Willkommen in der Bretagne“ (2012), „Die Köchin und der Präsident“ (2012)

omar sy (* 20.1.1978):, „Ziemlich beste Freunde“ (2011), „Ein Mordsteam“ (2012), „Samba“ (Dt. Kinostart: 8.1.2015)

gÉrarD Jugnot (* 4.5.1951): „Boudu“ (2005), „Paris, Paris – Monsieur Pigoil auf dem Weg zum Glück“ (2008), „Väter und andere Katastrophen“ (2011)

ValÉrie lemercier (* 9.3.1964): „Die Besucher“ (1993), „Das verflixte 3. Jahr“ (2012), „Der kleine Nick macht Ferien“ (Dt. Kinostart: 2.10.2014)

Karin ViarD (* 24.1.1966): „So ist Paris“ (2008), „Das Schmuckstück“ (2010), „Mein Stück vom Kuchen“ (2011)

alain chaBat (* 24.11.1958) : „Lust auf Anderes“ (2000), „Asterix & Obelix: Mission Cleopatra“ (2001), „Große Jungs“ (2013)

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Der wundersame Katzenfisch Optimistisches Drama über Krankheit und Lebensfreude

Man hat sich im Kino daran gewöhnt, dass die mexikanische Jugend in einem wirtschaftlich instabilen und sozial heruntergekommenen Land wenig Zukunft hat. Die Filmemacherin Claudia Sainte-Luce hält sich in ihrem optimistischen Debüt jedoch nicht allzu lange mit der Misere auf, sondern hilft ihrer Heldin aus trüber Schwere heraus. Die 22-jährige Claudia ist ganz auf sich selbst gestellt. Ihren Vater kennt sie nicht, und ihre Mutter hat sie im zarten Alter von zwei Jahren im Stich gelassen. Gleich dem enervierend leckenden Wasserhahn tropft die Zeit in Claudias Leben schwer dahin und verkündet zugleich ihr erbarmungsloses Verstreichen. Offenbar hat Claudia kaum eine Wahl. So muss es schon als kleine Freiheit betrachtet werden, wenn sie morgens die ungeliebten lilafarbenen Pops aus den Frühstücksflocken aussortieren kann. Es ist ein schmaler Grat, auf dem Claudia balanciert. Sie arbeitet in einem Supermarkt auf Provisionsbasis, aber das Geschäft geht schlecht; erfolglos dient sie den

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Kunden an einem Stand Würstchen an. Doch ihr Schicksal wendet sich zum Guten, als sie mit einer Blinddarmentzündung ins Hospital kommt und dort die an AIDS erkrankte Martha mit ihren drei Töchtern und ihrem kleinen Sohn kennenlernt. Fortan nimmt der Film den kleinen sozialen Verband in den Blick und beobachtet sorgfältig, wie er sich gegenüber der einsamen jungen Frau verhält. Denn obwohl Claudia von der todkranken, aber sehr lebensbejahenden Martha ganz selbstverständlich im Kreis ihrer Familie willkommen geheißen wird, sieht sie sich bald mit dem Argwohn und Neid der Töchter konfrontiert. Immerhin ist sie eine weitere Konkurrentin um die Gunst der Mutter, die durch ihre Krankheit nicht mehr so viel Raum für die Sorgen ihrer Kinder hat. Die Inszenierung zeichnet ein eindrückliches Bild davon, wie Marthas Krankheit die Familie ständigem Stress aussetzt, wie sie ihr keine Ruhe und Sicherheit gönnt. Gleichwohl tritt bei den Kindern nach und nach auch Erleichterung ein, da sie das neue

Familienmitglied entlastet und überdies in die Rolle einer fürsorglichen Mutter schlüpft. So kann sich Claudia den Respekt und die Zuneigung der Kinder erwerben und dadurch auch die sonnigen Seiten eines Familienlebens genießen. Die von der Kamerafrau Agnès Godard komponierten Bilder sind sprechend, intensiv und präzise. Virtuos imitiert die bewegte Kamera, wie Claudia zunächst irritiert, befremdet, ja überwältigt auf einen Haushalt reagiert, in dem es offensichtlich drunter und drüber geht, in dem Lärm und Stille unter einem Dach hausen. Zumeist bewegt sich die Kamera dabei in den Innenräumen; die Weite verheißt alles andere als Selbstbestimmung; draußen lauert die Gefahr. Wenn die Familie mit Martha doch einmal an die See fährt, treiben sie Quallen, Insektenstiche und ein Sonnenbrand schnell wieder in den Schutz ihrer Behausung zurück. Die Kamera versteht es vorzüglich, die Stimmungen der Figuren einzufangen und die Dynamik in deren Beziehungen aufzunehmen. Ungeschönt

zeigt sie Marthas Symptome, hält sich aber zugleich auch respektvoll zurück. Man kann die behutsame Darstellung vom Finden einer Familie und davon, wie sich Krankheit auf das Leben einer Familie auswirkt, durchaus als Sinnbild für die kränkelnden sozialen Verhältnisse in Mexiko lesen. Mit AIDS ist Martha von einer Krankheit befallen, die in dem katholischen Land als Zeichen des Sittenverfalls gilt, da sie angeblich auf einen promiskuitiven Lebensstil oder auf homosexuelle Beziehungen hinweise. Man duldet dies zwar, aber man spricht nicht darüber, und so reicht man die Krankheit ungeschützt weiter. Andererseits verkörpert Martha mit ihrer Lebensfreude, ihrer Wärme, Großzügigkeit und Leichtigkeit all jene Eigenschaften, die der Film als förderlich für die gesellschaftliche Gesundung herauskehrt. Denn es ist Martha, die eine stabile soziale Formation ermöglicht, mit ihrer Familie als Keimzelle einer solidarischen Gesellschaft. Zwar klammert diese Familie auch, und man muss sich buchstäblich

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im Kino den beengten Raum eines gelben VW-Käfers miteinander teilen, doch dafür kann man sich auch auf ihre Wohlfahrt und Zuwendung verlassen. Allerdings wird hier wieder einmal das Vermögen, Gemeinschaft und Beziehung zu stiften, an die Frauen delegiert. Schade ist, dass die Filmemacherin am Ende doch noch zu einer sentimentalen Deutlichkeit greift, wenn Martha im Voice-Over ihr Vermächtnis an die Kinder weitergibt. Da macht sie es den Männern dann doch allzu leicht, sich weiter aus der Verantwortung zu stehlen. Heidi Strobel

BeweRtung DeR FiLMKoMMiSSion

Eine vereinsamte 22-jährige Mexikanerin lernt bei einem Krankenhausaufenthalt eine an AIDS erkrankte Mutter mit drei Töchtern und ihrem Sohn kennen. Sie wird in die Familie aufgenommen, was ihre unerfüllte Sehnsucht nach Liebe und Fürsorge etwas stillt. Als sie die Aufgaben der Mutter übernimmt, gewinnt sie das Vertrauen der zunächst misstrauischen Kinder. Ein optimistisches Filmdebüt, das präzise und mit meisterhaften Bildkompositionen die Auswirkungen einer Krankheit auf einen Familienverband registriert. Erst ganz am Ende kippt der ernste und gleichzeitig leichtfüßige Ton zu sehr ins Sentimentale. – Ab 14.

LOS INSÓLITOS PECES GATO. Mexiko/Frankreich 2013 Regie, Buch: Claudia Sainte-Luce

Die Karte meiner Träume Überbordende Jugendbuch-Adaption in 3D

Frédéric Beigbeder, Roy Andersson, Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro: der Weg von der Werbung zur Filmregie ist in gewissem Sinne eine Rückkehr des Kinos der Attraktionen. In diese Reihe passt der jüngste Film von Jean-Pierre Jeunet. „Die Karte meiner Träume“ ist in 3D konzipiert, ohne die üblichen Spielereien, dafür aber als Tor zur Welt eines zehnjährigen Nerds. Kyle Catlett spielt den Jungen, der sich mehr für Ballistik als für wirkliche Winchester-Gewehre interessiert. Er wächst in Montana auf einer Ranch in einer ziemlich schrägen Familie auf. Der Vater ist ein schweigsamer Rancher, die Mutter eine verbohrte Insektologin, die Schwester will Schönheitskönigin werden, und der Bruder schießt auf alles, was sich bewegt. Der hochbegabte Junge nervt den örtlichen Lehrer, gewinnt aber den Wissenschaftspreis des Smithsonian Instituts, mit einem magnetischen Perpetuum mobile, das 400 Jahre lang laufen soll. In der Welt der Werbung geht es schrill und plakativ zu, wie in den Träumen eines Zehnjährigen oder in unserer medial durchgestylten Welt. Daraus saugt der Film seine visuelle Kraft. Während das Leben auf der Ranch ein unwirklich-wirklicher Kindertraum ist, erscheint das Dasein in Washington wie eine

wirklich-unwirkliche Inszenierung. Während auf der Ranch niemand ahnt, womit sich der Junge beschäftigt, vermutet in Washington niemand, dass der Preisträger ein Zehnjähriger ist. Der Weg einmal quer bis zur Ostküste ist weniger ein Road Movie als eine Art Entwicklungsroman. Heimlich, mit einem Güterzug, flieht der Junge. Es ist auch eine Flucht vor der eigenen Schuld, da er glaubt, mit seinen ballistischen Experimenten seinen Bruder getötet zu haben. In Washington will er nicht nur den Preis abholen, sondern auch Vergebung erhalten. In der Hauptstadt ist dieser Parzival der Wissenschaft ein gefundenes Fressen für die PR des Smithsonian Instituts, für die Bildungspolitik und für die Medien. Der Film komprimiert die Ereignisse auf zwei Schlüsselszenen: Eine hysterische Museumsdirektorin und ein skrupelloser Talkmaster stehen stellvertretend für unsere Potemkinsche Demokratie. Die Art, wie beide eine Abfuhr erhalten, ist für einen französischen Regisseur ziemlich amerikanisch geraten, aber immerhin bekommt der Junge das, was er gesucht hat: nämlich eine Absolution. Man mag sich vielleicht daran stören, dass die Adaption des außergewöhnlichen Debütromans von

neue Filme

Reif Larsen etwas großzügig auf ein Happy End zuläuft. Reichlich schweres familiäres Konfliktpotential wird in den letzten Minuten mit leichter Hand weggeräumt. Andererseits ist es ein Film, der auch für Kinder zugelassen und ästhetisch zugänglich ist, ohne für Erwachsene langweilig zu werden. Diesen Spagat zu bewältigen, eine ordentliche Geschichte sauber zu erzählen und gleichzeitig die Schaueffekte nicht für Mätzchen zu missbrauchen, ist etwas, was man in der heutigen Kinolandschaft durchaus schätzen sollte. Thomas Brandlmeier BeweRtung DeR FiLMKoMMiSSion

Ein hochbegabter Junge, der in Montana auf einer Farm lebt, schlägt sich auf eigene Faust quer durch die halbe USA bis nach Washington durch, um einen Wissenschaftspreis in Empfang zu nehmen. Unterwegs muss er sich mit Schuldgefühlen herumschlagen, da er sich für den Tod seines Zwillingsbruders verantwortlich fühlt. Visuell überbordende, poetisch-verschrobene Adaption eines Jugendromans, in dem sich der Protagonist von seiner Herkunft emanzipieren muss. Die familiären Konflikte werden etwas zu leichtfertig gelöst, insgesamt aber gelingt ein komplexes Drama für Jung und Alt. – Ab 10.

L‘EXTRAVAGANT VOYAGE DU JEUNE ET PRODIGIEUX T.S. SPIVET Scope. Frankreich/Kanada 2013 Regie: Jean-Pierre Jeunet Buch: J.-P. Jeunet, Guillaume Laurant

Kamera: Agnès Godard

Kamera: Thomas Hardmeier

Musik: Madame Recamier

Musik: Denis Sanacore

Schnitt: Santiago Ricci

Schnitt: Hervé Schneid

Darsteller: Lisa Owen (Martha), Ximena Ayala (Claudia), Sonia Franco (Alejandra), Wendy Guillén (Wendy), Andrea Baeza (Mariana), Alejandro Ramírez-Muñoz (Armando)

Darsteller: Kyle Catlett (T.S. Spivet), Helena Bonham Carter (Dr. Clair), Callum Keith Rennie (Vater), Judy Davis, Niamh Wilson

Länge: 89 Min. | Kinostart: 10.7.2014

Verleih: DCM | Kinostart: 10.7.2014

Verleih: Arsenal | FD-Kritik: 42 446

FD-Kritik: 42 447

Länge: 105 Min. | FSK: ab 0; f

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