Filmdienst 14 2015

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fIlM DIenST

„DEN MENSCHEN SO FERN“

e rzählt vom krieg, vom kre islauf der gew alt, von h öch st fra gi len grenzen.

REGISSEUR DAVID OELHOFFEN sch u f e in e n e x ist e n zia listischen western, d e r im ge dächtnis bleibt.

Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de

B E N S TI LLE R in seinem neuen film „gefühlt mitte zwanzig“ kokett iert der fast 50-jährige star-schauspieler mit dem „life style“ der Jugend.

M I C H A E L K LI E R er ist ein großer unbekannte r des deutschen kinos. dabei erzählt michael klier mit einer betöre nden leichtigkeit. auch in seinen kurzfilmen.

Z E IT/K LOS TE R immer öfter entdecken filme klöster, mönche und nonnen. neugierig erkunden sie stille und abgeschiedenheit, das einfache und das elementare.

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9. Juli 2015 € 5,50 68. Jahrgang

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filmdienst 14 | 2015 kinotipp

der katholischen Filmkritik

18 Ben stiller 36 den menschen so fern david oelhoffens humanistische erzählung vor der folie des algerien-kriegs

neu im kino + 37 48 51 36 51 51 46 49 42 41 51 40 47 44 39 45 51 43 38 50

Alle STARTTeRmiNe Am grünen rand der Welt 16.7. Amy 16.7. Big Business - Außer Spesen nichts gewesen 9.7. Den menschen so fern 9.7. Duff - hast du keine, bist du eine 9.7. entourage 9.7. escobar - paradise lost 9.7. Fallwurf Böhme 2.7. Für immer Adaline 9.7. heil 16.7. it follows 9.7. Kafkas Der Bau 9.7. mama gegen papa - Wer hier verliert, gewinnt 9.7. mollath 9.7. Señor Kaplan 16.7. Station to Station 16.7. Strange magic 25.6. Ted 2 25.6. Tokyo Tribe 16.7. Unknown User 16.7.

32 fliegenpapier

28 michael klier

fernseh-tipps Was könnte schöner sein, als sich mit den meistern des Kinos in kühle Sommernächte zu begeben? Während zdf_neo zum Suspense mit Alfred Hitchcock und der mdr zum leisen Horror von Nicolas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ lädt, ehrt arte ingmar Bergman mit drei Filmen. 4

21 Bakhtiar khudojnazarov

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inhalt kino

akteure

filmkunst

10 kloster im film

22 david oelhoffen

34 die reise nach tokio

10 Kino & Kloster

21 BaKhtiar KhuDojnazarov

Der Film hat das Kloster als einen Ort der inneren einkehr entdeckt, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint. ein Streifzug durch die visualisierte Stille. + ein Gespräch mit Carmen Tartarotti über ihren Film „Wir können nicht den hellen Himmel träumen“. Von Josef lederle

16 Deutscher Filmpreis

Fotos: TiTel: Arsenal. S. 4/5: Arsenal, Squareone/Universum, avant-verlag, Filmgalerie 451, X Verleih, nfp, trigon-film, Warner Home

mit sechs Deutschen Filmpreisen überstrahlte „Victoria“ die Konkurrenz. Über großartige „Verlierer“, einen ausgewogenen Wettbewerb und einen lakonischen laudator. Von Horst Peter Koll

18 stiller & BaumBach

mit fast 50 ist US-Schauspieler Ben Stiller immer noch „Gefühlt mitte Zwanzig“ - zumindest in der HipsterKomödie von Noah Baumbach. ein Porträt des multitalents, das im Klamauk-mainstream ebenso glänzt wie in cleveren indie-Komödien. Von ulrich Kriest

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27 e-mail aus hollywooD

Regisseur Achim von Borries erinnert sich an den Berliner Weggefährten aus Tadschikistan, der seine Filmerzählungen („luna Papa“) in treibende musik und surreal-magische Bewegungsbilder tauchte.

22 DaviD oelhoFFen

Sein Film „Den menschen so fern“ ist ein unkonventionell leiser Western geworden. ein Gespräch über Viggo mortensen, den Algerien-Krieg und den marokko-Dreh. Von margret Köhler

24 peter BeneDix

Seine Chronik „BrückenJahre“ dreht sich um drei vom Braunkohleabbau bedrohte Dörfer in der lausitz. ein Gespräch über die langzeitbeobachtung und die Förderung. Von ralf schenk

26 in memoriam

mit dem Selfmade-milliardär und mGm-Boss Kirk Kerkorian starb einer der umstrittensten mogule in Hollywood. Film war ihm mittel zum Zweck. Von franz everschor

28 michael Klier

Das von Reduktion und intuition bestimmte Werk des Regisseurs ist ein Solitär deutscher Filmkunst. Nun lädt eine DVD-edition zur Wiederentdeckung seiner Kurzfilme ein. Von fabian tietke

32 literatur

Vorgestellt werden Hans Hillmanns Graphic Novel „Fliegenpapier“, „69 Hotelzimmer“ von michael Glawogger und Thomas Koebners edgar-Reitz-Biografie.

34 magische momente

Wunderschöne, meditative Bildkompositionen bestimmen die Filme von Yasujiro Ozu, so auch „Die Reise nach Tokio“. Von rainer Gansera

Der schon zu lebzeiten legendäre Akteur Christopher lee schrieb sich u.a. als Dracula und Saruman in die Filmgeschichte ein. Von rainer dick

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rUBriKen eDiTORiAl iNHAlT mAGAZiN DVD/BlU-RAY DVD-PeRleN TV-TiPPS ABCiNemA VORSCHAU / imPReSSUm

christopher lee in „frankensteins fluch“ (1957)

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Warum es Filmemacher immer Wieder ins Kloster zieht. und Was ihre ann채herungen ans monastische leben 체ber unsere zeit erz채hlen.

l ange vor dir, l ange nach dir

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kloster & kino

von einem „boom“ kann man nicht gerade sprechen. doch die zahl der (meist dokumentarischen) Filme, die sich mit Klöstern, mönchen und nonnen beschäftigen, nimmt zu. auffällig sind dabei die neugier und die sensibilität, mit der die Filmemacher sich auf die regeln und rituale des lebens hinter den Klostermauern einlassen. die stille und abgeschiedenheit, das einfache und elementare, aber auch die atmosphäre und der „geist“ dieser scheinbar aus der zeit gefallenen orte stoßen auf neue resonanz. gerade auch im Kino. Von Josef lederle

Wenn der dunkle Klang der Glocke durch die Flure des Kartäuserklosters hallt, kommt jede Tätigkeit zum erliegen. Wo auch immer die mönche sich gerade aufhalten – in der Küche, im Garten oder in ihrer Klause –, lassen sie alles fahren und sinken zu Boden, um in Stille und Gebet zu verharren. Sieben mal am Tag jeder für sich, drei mal gemeinsam in der Klosterkirche. Bei der Suche nach einem Kloster für seinen Film „Die große Stille“ (2005) hat Regisseur Philip Gröning sehr bewusst auf die „Grande Chartreuse“ gesetzt, obwohl ihm das eine Wartezeit von insgesamt 19 Jahren abverlangte; erst nach dieser ewigkeit gestatteten ihm die mönche, ihrem stillen leben mit der Kamera beizuwohnen. Gröning vermutete zu Recht, dass hier, in dem unzugänglichen Felsmassiv nahe Grenoble, der Ursprungsimpuls des mönchtums noch immer am radikalsten zu spüren ist: in kontemplativer Abgeschiedenheit ausschließlich für Gott da zu sein. Was sich für den unvertrauten Beobachter zunächst ziemlich kurios ausnimmt, wenn ein gestandener mann neben seiner Handkarre das Knie beugt und im Gebet zur Salzsäule erstarrt.

die öffentliche meinung wandelt sich im öffentlichen Bewusstsein haben Klöster in den letzten Jahren eine Art Renaissance erlebt, als Rückzugsraum für gestresste mitteleuropäer, die eine Auszeit nehmen und den leiseren Regungen ihrer Seele nachspüren wollen. Dieser Wandel in der Wahrnehmung lässt sich auch an der wachsenden Zahl von Filmen ablesen, die sich mit dem Thema Kloster beschäftigen. ein Zulauf an Novizen aber, die das leben der mönche und Nonnen teilen wollen, ist daraus bislang nicht entstanden; es macht auch weiterhin einen Unterschied aus, ob man sich für eine Weile als Gast in einem

Kloster einquartiert – oder den Habit, die strenge Ordenskleidung, für sich und sein leben wählt. Sehr pointiert reflektiert dies Anne Wilds Komödie „Schwestern“ (2012), in der die jüngste Tochter einer recht „weltlichen“ Familie einem Orden beitritt. Die Anverwandten reagieren mit einer mischung aus Unverständnis und Gleichgültigkeit, reisen zur „einkleidung“ aber dennoch in die oberschwäbische Provinz, wobei familiäre Spannungen und Zwistigkeiten schnell für turbulente momente sorgen. es geht dem Film aber nicht um Konfrontation oder ideologische Scharmützel; vielmehr entfaltet „Schwestern“ einen lichten Zauber, der die dezent gebrochenen Figuren mit ihrem Dasein versöhnt. Das Kloster fungiert dabei ganz im Sinne des neueren „Kloster“-Trends als magischmärchenhaftes Symbol des Gelingens. Die Stärke und der innere Friede, nach denen sich die Protagonisten insgeheim sehnen, scheinen hinter den Klostermauern zu existieren und von dort aus „heilend“ in die Welt auszustrahlen. Was diese poetischmetaphorische Vision trägt oder was der inhaltliche Grund für die Chiffre von Glück und Bei-sich-sein sein könnte, umspielt „Schwestern“ bezaubernd auratisch, ohne es näher zu entfalten.

klöster sind tore in eine andere dimension Über Klöster als zweitausendjährige Grundpfeiler der abendländischen Kultur ist damit so wenig gesagt wie über den spirituellen erfahrungsraum des monastischen. im internet lässt sich über die Orden, ihre Geschichte und entwicklung zwar eine menge nachlesen, doch verstellen diese informationen allzu leicht den Blick auf das, was Filme wie „Die große Stille“ oder aktuellere Beispiele wie „Silentium – Vom leben im Kloster“ (2015) von Sobo Swobodnik oder

„Wir können nicht den hellen Himmel träumen“ (2015) von Carmen Tartarotti jetzt so eindringlich herausarbeiten: dass Klöster in Wirklichkeit ein Tor in eine andere Dimension sind, eine Art Wurmloch, in dem die Uhren anders ticken, weil hier – bildlich gesprochen – der Glockenschlag den Takt vorgibt. Jeder der drei Filme tastet sich auf seine Weise in diese „andere“ Welt vor, in der das „normale“, alltägliche Raum-Zeit-Kontinuum aufgebrochen ist. Das beginnt schon bei den Gebäuden, Jahrhunderte alten Gemäuern aus handbehauenen Steinquadern, deren Architektur sich an trutziger Größe und Dauer ausrichtet. Klöster haben nichts Heimeliges, erst recht nichts BürgerlichFamiliäres. Selbst das Südtiroler ZweiNonnen-Refugium maria Steinach, dessen rüstigen Schwestern Carmen Tartarotti ein berührendes Porträt widmet, wurde für zwei Dutzend von ihnen erbaut; lange Gänge, Hallen, ein Kreuzgang und das Kirchenschiff definieren den umbauten Raum, der jeden Tag unzählige male durchschritten wird; Klostermenschen sind viel zu Fuß unterwegs. Zur räumlichen Weitläufigkeit gesellt sich eine gewisse Kargheit: Bilder, Ornamente oder andere Verzierungen sind auf ein minimum reduziert, selbst in den Zellen findet sich kaum etwas Persönliches. Bei den Schwesterzimmern in „Silentium“ fühlt man sich bisweilen an anonyme Abteile erinnert; die einzelkartausen in „Die große Stille“ gleichen eher Bienenwaben als individuellen lebensräumen. Hinzu kommt das Alter des interieurs: Der lebenszyklus klösterlicher einrichtungen misst in Jahrzehnten. Dies verleiht den Dingen Patina, aber auch Würde. Die Steinstufen sind ausgetreten, Türgriffe und Geländer wurden in Jahrhunderten glatt poliert, Tischkanten oder Stühle handschmeichelnd abgegriffen. Jedes Ding, jeder Gegenstand, erst recht die ganze Klosteranlage scheinen sagen zu

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kino & kloster

stille ist mehr als die abwesenheit von lärm Zur erfahrung eines „anderen“ Zustandes trägt in den Klosterfilmen aber auch ein wesentlich filmisches element bei: jene Form von gefühlter Stille, die mehr ist als die Abwesenheit von lärm. mit ausgefeilten Geräuschcollagen vergegenwärtigt die Tonspur den „Sound“ der Klosteranlage, eine spezifische „Gestimmtheit“ aus Baumaterial, Halleffekten und der wohltuenden Reduktion aller Arten von Zerstreuung. Das „Silentium“ im Titel von Sobo Swobodniks filmischer einkehr im Kloster Halbsthal meint nicht nur den schweigenden Umgang der Nonnen untereinander. Das Wort zielt vielmehr auf einen eigenwilligen Zustand, den man als hellwach, gegenwärtig, konzentriert und doch gelassen beschreiben könnte. in der dokumentarischen Transformation der klösterlichen Welt verschiebt sich bei Gröning und Swobodnik, in Abstri-

s i l e n ti u m – vo m l e b e n i m k lo s t e r deutschland 2015. regie: sobo swobodnik. 87 min. anbieter: mindjazz.

kontemplatives porträt von vier nonnen und ihrem spiritual aus dem kloster halbsthal auf der schwäbischen alb. dabei überlässt sich der film dem rhythmus der klosterfrauen und übersetzt den frommen alltag in visuell raffinierte filmbilder.

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chen auch bei Tartarotti, die Wahrnehmung in Richtung einer intensiveren Präsenz, wie sie meditative Praxis kennzeichnet. Die Kombination aus ruhigen einstellungen und der wohldosierten „Stille“, einer „schweigenden“ Atmosphäre aus knarzenden Dielen, Naturgeräuschen oder den lang nachklingenden Glockenschlägen lockt den Betrachter unwillkürlich in eine größere Gegenwärtigkeit. man schwingt mit ein in den steten und doch so unaufgeregten Fluss des klösterlichen Tagesablaufs, der keine Hetze kennt, obwohl er mit seinen unzähligen Gebets-, essens-, Arbeits- und Stille-Zeiten minutiöser als der Terminplan eines CeO durchorganisiert ist. im Gegensatz zur Sekundentaktung des digitalen Zeitalters aber scheint hier die ewigkeit den Rhythmus vorzugeben, die kein Früher und Später, sondern nur den Augenblick kennt. Dieser spürbar andere Umgang mit der Zeit ist das eigentliche Faszinosum der neueren Klosterfilme. in der Begegnung mit lebensformen, die sich so unverständlichen idealen wie Armut, ehelosigkeit und Gehorsam verschrieben haben, tauchen die Filmemacher in ein Paralleluniversum ein, das die Segnungen der moderne bis zum internet zwar in sich aufgenommen hat, aber weiterhin nach uralten Regeln Kurs hält. Die inszenierungen verwenden viel

energie und hohe Kunstfertigkeit darauf, den „Spin“ dieser Welt sicht- und spürbar zu machen – bis zu dem Punkt, wo „Die große Stille“ in den Augen seines Regisseurs Gröning selbst „Kloster werden“ will. Der unvoreingenommenen Neugier enthüllt sich dabei eine geradezu taktile Ursprünglichkeit, ein elementarer Raum jenseits aller Zwecksetzungen, in dem alles seinen Platz und sein Recht hat, ohne durch Funktionen legitimiert zu werden. mehr noch: im Umgang mit der äußeren wie der inneren Welt scheint eine natürliche Schönheit auf, als wäre alles schon immer so und überdies für ewig. in der scheinbar widersprüchlichen Kombination aus ritualisiertem Rhythmus und kontemplativer Hingabe eröffnet sich der filmischen Teilhabe so eine Sphäre reiner Gegenwart, die Vergangenheit wie Zukunft wirklich aufzuheben scheint.

mit der zeit entfalten sich stimmigkeit und plau sibilität Dass diese strengen Dokumentarfilme meist auf interviews oder vertiefende Gespräche mit den mönchen und Nonnen verzichten, passt dabei so sehr ins künstlerische Konzept wie in das des klösterlichen Denkens, das keinerlei Aufsehen ums individuelle ich macht, wie ja schon

s p o n s a e c h r i s ti

d i e g r o s s e s ti l l e

deutschland 1991. regie: thomas riedelsheimer. 62 min.

deutschland 2005. regie: philip gröning. 167 min. anbieter: Warner home.

nonnen des zisterzienserklosters lichtenthal sprechen über sich und warum sie ihr leben gott und dem gebet geweiht haben. mit stillen Bildern beobachtet thomas riedelsheimer, wie die frauen durch schweigen, tätigsein und kontemplation zu innerer fröhlichkeit reifen.

philip gröning will dem strengen leben der karthäuser nahe grenoble durch die filmische form gerecht werden. mit ähnlicher kargheit und strenge lässt er sich auf das leben der mönche ein, auf ihr Beten und alleinsein, ihre arbeit, auf die momente der gemeinschaft.

d i e g e lü b d e meines bruders deutschland/kanada 2013. regie: stephanie Weimar. 92 min.

die atheistische filmemacherin stephanie weimar begleitet ihren bruder ein Jahr lang auf dem weg zu den styler missionaren. auf der suche nach seinen motiven durchkämmt sie die familienbiografie, kreist aber auch um ihr religiöses unverständnis.

Fotos: S. 10/11: nfp. S. 12/13: mindjazz, Verleih der Filmemacher, nfp, arte, Carmen Tartarotti, Peggy und Thomas Henke/Kunstmuseum Thurgau

wollen: Wir waren schon lange vor Dir, und werden auch lange nach Dir noch sein. Wen wundert es, dass die mönche und Nonnen in diesen Filmen ebenfalls auf ein langes, scheinbar auch erfülltes leben zurückblicken, wenn man die stille Zufriedenheit ihrer Physiognomien so deuten darf?

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Fotos: S. 10/11: nfp. S. 12/13: mindjazz, Verleih der Filmemacher, nfp, arte, Carmen Tartarotti, Peggy und Thomas Henke/Kunstmuseum Thurgau

Das „Kloster“ ist in Wirklichkeit das Tor in eine andere Dimension, eine Art Wurmloch.

fi l m d e r a n t wo r te n deutschland 2012. regie: peggy und thomas henke. 242 min. kunstinstallation.

fünf Jahre lang unterhielt sich thomas henke intensiv mit benediktinerinnen der abtei mariendonk am niederrhein über ihr leben, denken und glauben. aus dem umfangreichen filmmaterial entstand eine beeindruckende vierstündige videoinstallation, in der die antworten der schwestern und unspektakuläre Bilder ihres klosteralltags in einer art endlosschleife aneinandergefügt sind.

w i r kö n n e n n i c ht d e n h e l l e n h i m m e l tr äu m e n deutschland 2015. regie: carmen tartarotti. 91 min. anbieter: tartarotti filmprod. kinostart: sept. 2015.

im südtiroler kloster maria steinach leben nur noch zwei schwestern, die es sich aber zum ziel gemacht haben, das volle klosterprogramm aufrechtzuerhalten. das einfühlsame porträt zweier eigenwilliger klosterfrauen, die mit viel Witz, humor und einer großen Bodenständigkeit ihre vorstellungen vom klösterlichen leben verwirklichen.

vo n m e n s c h e n u n d g öt te r n frankreich 2010. regie: xavier Beauvois. 123 min. anbieter: Warner home.

das spirituelle drama zeichnet das leben der trappistenmönche aus dem atlasgebirge nach, die 1996 mutmaßlich von islamisten ermordet wurden. mit hohem ästhetischem gespür ordnet sich der film dem rhythmus des klösterlichen lebens unter und schafft es, die christlich-theologischen dimensionen ihres ringens mit der situation deutlich zu machen.

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wie die schwalben gespräch mit carmen tartarotti über ihren Film „Wir können nicht den hellen himmel träumen“

die uniformierende Kutte oder Schleier vor Augen führen. Die Abwesenheit einer innenperspektive markiert zugleich aber die Grenze, die das Alltagsbewusstsein vom religiösen Bewusstsein trennt. Denn wie „weltlich“ diese respektvollen, bisweilen fast demütigen Filme sind, wird schlagartig klar, wenn man der installation „Film der Antworten“ (2012) von Peggy und Thomas Henke begegnet. Darin kommen zwölf Benediktinerinnen zu Wort, die in einer vierstündigen endlosschleife ausführlich darüber reflektieren, was ihr leben ausmacht. Als Betrachter sieht und hört man den Nonnen dabei zu, wie sie ihr Dasein als einen fortgesetzten Dialog mit Gott beschreiben, mit allen Freuden und Prüfungen einer klösterlichen existenz, in frommen Worten und Sätzen, die anfangs befremdlich klingen, mit der Zeit aber eine beeindruckende Stimmigkeit und Plausibilität entfalten.

„gott allein genügt“ man kann diese glühenden Bekenntnisse so wenig beiseite schieben wie etwa einen Vortrag von michel Foucault oder die Ausführungen eines experimentalphysikers – auch wenn man mit seinem latein dabei schnell zu ende sein mag. Denn mehr als beim Philosophen oder Physiker versteht oder erahnt man hier, dass hinter der religiösen Sprache wie auch hinter dem lebensraum „Kloster“ eine existenzielle Orientierung steht, die sich vom „Weltlichen“ weitgehend gelöst hat und nach spirituell-religiösen Dimensionen ausstreckt. Um es mit den Worten der großen Ordenmystikerin Teresa von Avila zu sagen: Im Kloster genügt „Gott allein“. •

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Die Dominikanerinnen Schwester Angelika (83) und Schwester Benvenuta (72) sind die beiden einzig verbliebenen nonnen im Kloster maria Steinach nahe meran. mit viel Humor und noch mehr Arbeit halten die beiden vitalen, ansteckend lebenslustigen Südtirolerinnen das Kloster am leben. ihnen widmet die Regisseurin Carmen Tartarotti („Das Schreiben und das Schweigen“, 2009) mit ihrem neuen Dokumentarfilm „Wir können nicht den hellen Himmel träumen“ ein einfühlsames dokumentarisches Porträt. das gespräch führte Josef lederle.

Wie sind Sie auf die idee gekommen, einen Film über ein Kloster zu machen? Tartarotti: ich hatte nie die Absicht, einen Film über dieses oder ein anderes Kloster zu machen. Doch dann bin ich diesen beiden Frauen in einem moment des Umbruchs begegnet, als sie von drei mitschwestern verlassen wurden und allein zurückblieben. Die allererste Aufnahme entstand just in dem moment, als sie nach einem mittagessen ihrem Frust luft gemacht haben. Wie sie da loslegen und aufzählen, was sie alles für das Kloster getan haben, renoviert und geschuftet wie männer, das hat mich gepackt. Zugleich kam zum Ausdruck, dass die Weiterexistenz des Klosters am seidenen Faden hängt. Aber die beiden waren entschlossen, es am leben zu erhalten. Das war aber nicht ihre erste Begegnung mit den Schwestern? Tartarotti: ich wurde mit ihnen bekannt, weil ich frisches Obst und Gemüse im Kloster kaufte, wenn ich in meran war. Darüber entstand mit

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kloster & kino

Schwester Benvenuta ein Kontakt, aus dem sich ein echtes Vertrauensverhältnis entwickelte. So bin ich ihnen Stück für Stück nähergekommen. Anfangs habe ich Situationen mit einer ganz einfachen Kamera festgehalten, nur für mich und die Schwestern. Doch dann fand ich die Aufnahmen so interessant, dass ich immer mehr machen wollte. Auch weil das Filmen eine Gelegenheit war, mit den beiden zusammen zu sein. Ohne die Kamera wäre es nie möglich gewesen, so viel Zeit miteinander zu verbringen. Normalerweise macht man für einen solchen Film ein paar interviews, und dann hat es sich. ich hingegen war viel und lange da. Sie wurden meine besten Freundinnen in meran, und als solche habe ich an allem, was passiert ist, Anteil genommen.

Können Sie das leben verstehen, das die beiden führen? Tartarotti: ich habe sie als Gesamtpersönlichkeiten kennengelernt, als sehr interessante und stimmige Personen. Sie sind eigenwillig, von einem ganz besonderen Schlag. Am meisten hat mich fasziniert, dass sie sich nicht verbiegen lassen und in allem, was sie tun, bei sich sind.

hat das auch mit ihren religiösen Überzeugungen zu tun? Tartarotti: Das Schöne an ihnen ist, dass sie nicht weltfremd sind. Sie haben den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verloren. Als die Ordnung des Klosters in eine Schieflage geraten war, hätten sie ja alles an eine höhere macht delegieren können. Sie hätten sagen können: Wie’s kommt, so kommt’s; wir lehnen uns zurück, beten und schauen, was der Herrgott mit uns vorhat. Doch nein, sie haben die Situation selbst in die Hand genommen. Das hat auch mit ihrer bäuerlichen Herkunft zu tun, das Wirtschaften liegt ihnen. Sie sind keine vergeistigten Klosterfrauen, sondern verrichten weibliche, männliche und geistliche Arbeit. Sie packen an und tragen Verantwortung wie männer und haben trotzdem etwas Warmes, Zartes. Vor allem aber besitzen sie unglaublich viel Humor. Da ich selbst aus dieser Gegend stamme, verstehe ich ihren Witz sehr gut, der sich primär über die Südtiroler Sprache ausdrückt, etwa in so einer Bemerkung von Schwester Benvenuta beim Kochen, dass sie nicht in die Hölle kommen darf, da sie die Hitze nicht vertrage. ein solcher Kommentar unterwandert die Strenge des Klosters; das macht einem ihre Religion aber erst richtig sympathisch.

Schwalben sind im Kloster maria Steinach aber gerne gelitten? Tartarotti: Die Schwalben haben in maria Steinach einen festen Platz. Das ist inzwischen selten geworden, weil sie so viel Dreck machen. Die Klosterfrauen haben die Bilder im Kreuzgang deshalb mit Plastik verhängt, damit durch den Schwalbenkot kein Schaden entsteht; zudem putzen sie die exkremente täglich weg. Wie diese Tiere ihre Nester bauen und ihre Jungen aufziehen, bestimmt akustisch den Tageslauf im Kloster mit. es ist fast so, als übernähmen die Schwalben das Kloster. Das leben dieser Wandervögel, die jedes Jahr wiederkommen und hier eine Heimat finden, das gehört zu diesem Kloster. • „Wir können nicht den hellen himmel träumen“ startet am 10. September im Eigenverleih in ausgewählten Kinos. Weitere Infos, auch darüber, wo und wann der Film zu sehen sein wird, gibt es auf: www.carmen-tartarotti.de.

Fotos: Carmen Tartarotti

Der Film betont den Arbeitsaspekt im leben der nonnen; da geht es bisweilen wie am Fließband zu. Deutet sich darin eine klosterkritische haltung des Films an? Tartarotti: Die beiden Nonnen leisten enormes. man sieht im Film ja nur einen Bruchteil von dem, was diese Alltagsheldinnen alles bewältigen. Aber ich habe ihnen gegenüber oder ihrem Kloster keine kritische Haltung eingenommen, ganz im Gegenteil. ich dokumentiere, was sich mir darbietet. Die üblichen Kloster-Klischees wollte ich auf keinen Fall bedienen. Wenn derzeit von Klöstern die Rede ist, dann geht es ausschließlich um Rückzug und Stille, um eine Auszeit von der zerstörerischen Hektik

draußen. Das ist völlig eindimensional. Natürlich ist das Kloster eine Form der Konzentration und der Selbstbestimmung; auch eine der Ordnung und des Aufgehobenseins. Aber die Stille ist nur das eine. Kloster bedeutet genauso Hierarchie; es kommt nicht ohne machtstrukturen und Unterwerfung aus. ein wahres Klosterleben verlangt Beschränkung, Selbstlosigkeit, Fügung, Verzicht. Die Stille kann auch quälend sein, so durften die beiden leiblichen Schwestern fünf Jahre lang nicht miteinander sprechen. Das wird alles weggelassen, wenn man heute vom Rückzug ins Kloster spricht. Das meint reines Wellness-Programm. mit Religion oder einer Öffnung zu etwas Transzendentem hat das oft gar nichts zu tun.

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kritiken neue filme

Der erste Blick führt ins leere. Die Panorama-Schwenks, mit denen David Oelhoffen seinen Film eröffnet, gleiten über die kahle Wüstenlandschaft Algeriens, eine grandiose, nicht allein scheinbar unberührte, sondern gleichsam von menschen entleerte Kulisse. Bis die Kamera schließlich auf jenes Zeichen stößt, das auch schon im Western des klassischen Hollywood-Kinos verlässlich den Sieg der Zivilisation über die Wildnis markierte: ein Schulhaus. Umrahmt von den Gipfeln des Atlas-Gebirges steht das massive Steingebäude für sich allein in der Wüste, und allenfalls der Wind, der nachts ums Haus weht und an den Fenstern rüttelt, lässt erkennen, dass die Natur diesen eingriff noch nicht endgültig hingenommen hat. Oelhoffen zeigt in seiner exposition, wie die Kinder aus den Dörfern der Umgebung wie an jedem Tag an diesem zentralen Ort zusammenkommen. Daru, der lehrer, erscheint als halbherziger Vertreter der Kolonialmacht. Zwar behandelt er auch die Geografie Frankreichs im Unterricht, legt aber deutlich mehr Gewicht auf das erlernen von lesen und Schreiben oder ein gelegentliches Fußballspiel. mit dem Rest der kolonialen Gesellschaft verkehrt Daru nur wenig, bis die Geschichte in Gestalt des algerischen Unabhängigkeitskriegs auch in sein leben dringt: ein Polizist bringt einen Algerier, der seinen Cousin getötet hat, ins Schulhaus und befiehlt dem lehrer, diesen in die nächste Stadt zu schaffen. Auch Zivilisten müssten im Krieg ihren Beitrag leisten. Daru kann sich dem Auftrag nicht entziehen, wohl aber der kolonialen Überheblichkeit. Als sie sich auf den Weg machen, hat er dem Gefangenen bereits die Fesseln abgenommen; im lauf ihrer Odyssee durch das von

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unklaren Fronten durchzogene land werden sie immer mehr zu Verbündeten. 1957, drei Jahre nach Beginn des Kriegs, schrieb der in Algerien geborene, französische Schriftsteller Albert Camus die kurze erzählung „l’hôte“ über zwei männer, die entgegen der Zeitumstände keine Feinde werden, sondern sich auf Augenhöhe begegnen, was bereits in der unübersetzbaren Doppeldeutigkeit des Titels anklingt, der sowohl „Gast“ als auch „Gastgeber“ bedeutet. Der französische Regisseur David Oelhoffen bleibt Camus’ Vorgaben weitgehend treu, hat das überschaubare Ausgangsmaterial allerdings klug auf mehreren ebenen erweitert: Auf der Bildebene wagt er sich aus dem engen Handlungsraum der erzählung, die fast nur im innern des Schulhauses spielt, ins Freie und entfaltet den Plot im Wechsel zwischen bildge-

waltigen Totalen und hautengen Nahaufnahmen. Neben der Kameraarbeit finden sich durch shootout-artige intermezzi und den Anschein eines rechtsfreien Niemandslands weitere Western-Anleihen, die durch die energetische musik von Nick Cave und Warren ellis stilgerecht untermalt werden. Doch am eindrucksvollsten gelingt Oelhoffen die erweiterung bei den Charaktereigenschaften seiner Hauptfiguren. Waren diese bei Camus noch recht grob skizziert, enthüllt sich im Film mehr und mehr ihre Vielschichtigkeit, wenn Daru und der Gefangene mohamed sich einander allmählich offenbaren. Darus eremitisches Wesen erweist sich als Rückzug aus der Gesellschaft nach seinen erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und dem Tod seiner Frau. mohameds Bereitwilligkeit, sich dem drohenden Tod unter der Guillotine auszuliefern, wird

als Bestreben kenntlich, seine Familie vor dem archaischen Prinzip der Blutrache für seine – durchaus nachvollziehbare – Gewalttat zu bewahren. es gibt fulminante Dialogszenen, doch Oelhoffen vertraut in erster linie auf die Ausstrahlung seiner Darsteller, um die motive der Figuren zu offenbaren: Viggo mortensen in seiner bewährten, ruhigen Souveränität als mann der Tat ebenso wie der Reflexion und der nicht weniger charismatische Reda Kateb als sein gleichwertiges Gegenüber. Die Annäherung von Daru und mohamed vollzieht sich in der Abgrenzung zu den anderen Gruppierungen, die ihren Weg kreuzen: aufgebrachte Siedler, rachedürstende männer aus mohameds Dorf, wild entschlossene Rebellen, französische Soldaten, die mit ihren Gegnern kein Pardon kennen. Die beiden männer bleiben dabei auf geradezu exemplarische Weise

den menschen so fern bildgewaltiges drama mit Western-anklängen

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neue filme kritiken

ihren Prinzipien treu, wobei ihre unterschiedliche Sozialisierung und ihr immer wieder aufscheinender christlicher und muslimischer Hintergrund auf einem gemeinsamen humanistischen level zusammentreffen. Oelhoffen beweist seinen filmischen instinkt, indem er die Versöhnungsbotschaft des Films konsequent, aber nicht aufdringlich entwickelt. in einem Szenario, in dem friedliebende menschen keinen Platz mehr zum leben finden, kann Optimismus logischerweise nur verhalten sein. An der eindringlichkeit von Oelhoffens Film ändert diese einschränkung aber nichts. marius nobach bewertung der filmkommission

Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe

ein französischer lehrer im atlasgebirge gerät bei ausbruch des algerien-kriegs 1954 zwischen die fronten. Widerwillig übernimmt er den auftrag, einen algerier, der einen verwandten getötet hat, in die nächste stadt zu bringen. der gefährliche Weg bringt die männer einander jedoch näher und lässt sie allmählich verständnis füreinander entwickeln. das ruhig erzählte, eindrucksvoll gespielte drama entwickelt eine erzählung von albert camus schlüssig zur exemplarischen geschichte einer verständigung über nationale und religiöse grenzen hinweg. die versöhnliche Botschaft wird konsequent aus den charakteren entwickelt und in visuell teilweise überwältigende Bilder eingebunden. – sehenswert ab 14.

loin des hommes. frankreich 2014 regie: david oelhoffen darsteller: viggo mortensen (daru), reda kateb (mohamed), angela molina (señorita martinez), djemel Barek (slimane), vincent martin (Balducci), nicolas giraud länge: 102 min. | kinostart: 9.7.2015 verleih: arsenal | fsk: ab 12; f fd-kritik: 43 193

am grünen rand der welt neuverfilmung des Klassikers von thomas hardy Bathsheba everdene ist, auf den ersten Blick zumindest, so etwas wie eine personifizierte Unabhängigkeitserklärung. Aus den Geschlechterkonventionen ihrer Zeit – es sind die 1870er-Jahre im Süden englands, in Wessex – macht sich die junge Frau vermeintlich nichts. Sie reitet wie ein mann, zumindest, wenn sie sich unbeobachtet glaubt. Heiraten mag sie nicht, mit der Begründung, sie könne niemandes Besitz sein. Stattdessen übernimmt sie nach einer erbschaft die Führung des großväterlichen Gutshofs. Den steilen proto-feministischen einstieg hielt Thomas Hardy in dem Roman „Far From the madding Crowd“ aus dem Jahr 1874, auf dem die Verfilmung des Dänen Thomas Vinterberg basiert, natürlich nicht durch. Bathsheba will gezähmt werden, irrt und wirrt und kehrt nach einem rücksichtslosen Flirt mit dem reichen, hoffnungslos verliebten William Boldwood und einer rasant gegen die Wand gefahrenen ehe mit dem verwegenen Offizier und Spieler Frank Troy zum ersten Kandidaten zurück: dem treuen und verlässlichen Schäfer Gabriel Oak. Vinterbergs Verfilmung ist bereits die vierte Adaption des Romans für die leinwand, unter

denen John Schlesingers „Die Herrin von Thornhill“ (1967) wohl die bekannteste ist. Wenn der grundsolide Film denn überhaupt so etwas wie eine revisionistische Spur verfolgt, dann ist sie am ehesten in der zeitgenössischen Ausstrahlung Carey mulligans zu finden: in ihrem ironischen lächeln, den offensiven Blicken, den nach vorne stürmenden Bewegungen. Ansonsten ist der Film von genau der Polarität bestimmt, die bereits Hardys Roman zu eigen war: zwischen Realismus und Romantik, progressiven Tönen und Konvention. Vinterbergs Blick auf die ehe als Tauschökonomie ist bei aller Ungeschminktheit nie wirklich ernüchternd. eher amüsiert als bissig betrachtet er den Heiratsantrag als eine Art Geschäftsbericht – so viele Hektar land, Kleider, ein Klavier, Blumen etc. Die Romantik hat im Film eindeutig Überhang, freilich in ihrer lichten, populären Variante. Farmarbeit ist hier auch immer ein Verbindungsglied zwischen Natur und Körpern, ein medium des physischen Kontakts. Wenn Gabriel und Bathsheba während eines nächtlichen Sturms gemeinsam die Strohballen abdecken oder bis zur Hüfte im dreckigen Wasser stehend die Schafe waschen, legt Vinterberg die Bausteine für die

zukünftige Paarkonstruktion. Vor allem der nicht sonderlich subtil choreografierte Blickaustausch zwischen den beiden arbeitet von Beginn an ihrer Zusammenführung entgegen. Die im Vergleich eigentlich interessanteren „episoden“ der Heldin mit Boldwood und Troy bekommen dadurch den Status von Übergangserfahrungen, die im Sinne des entwicklungsromans zu absolvieren sind. Dass sich Bathsheba tatsächlich in aller Konsequenz für ihre Unabhängigkeit und gegen die ehe entscheiden könnte, scheint in keinem moment eine Option. Nach einem offenen, luftigen Auftakt wird die Dramaturgie und mit ihr die Heldin zunehmend in klare, vorgegebene Bahnen gelenkt. esther Buss bewertung der filmkommission

im england des ausgehenden 19. jahrhunderts übernimmt eine junge frau nach einer erbschaft entgegen den konventionen ihrer zeit die führung des großväterlichen gutshofs. in der folge gerät ihr unabhängigkeitsdrang mit diversen eheoptionen in konflikt. die solide, geschmackvoll ausgestattete verfilmung des romans von thomas hardy bleibt dem romantischen grundton der vorlage treu und fügt dem stoff kene allzu neuen perspektiven hinzu. Wie bei hardy lösen sich die proto-feministischen ansätze der frauenfigur am ende in konformität auf. – ab 14.

far from the madding croWd scope. großbritannien/usa 2015 regie: thomas vinterberg darsteller: carey mulligan (Bathsheba everdene), matthias schoenaerts (gabriel oak), michael sheen (William Boldwood), tom sturridge (st. francis troy), juno temple (fanny), jessica Barden länge: 119 min. | kinostart: 16.7.2015 verleih: fox | fsk: ab 6; f fd-kritik: 43 194

Filmdienst 14 | 2015

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