FILMDIENST 15/2013

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Beim diesjährigen Festival in Cannes wurde Paolo Sorrentinos Film „La Grande Bellezza“ wegen seiner Opulenz gefeiert. Das Filmfest München widmete dem 43-Jährigen eine Retrospektive. Ein Gespräch über Fellini, die Kirche, Dekadenz und kulturfeindliche Politiker.

„Weiter so“ geht nicht! Ihr Film weckt Assoziationen an Federico Fellini. Könnte man ihn als eine Art modernes „La Dolce Vita“ bezeichnen? Sorrentino: Dieser Vergleich ist mir unangenehm. „La Dolce Vita“ war das ultimative Meisterwerk eines unvergesslichen Regisseurs, mit dessen Filmkunst ich aufgewachsen bin. „La Grande Bellezza“ ist nur ein Film. Fellini ist einzigartig, niemand kommt an ihn heran. Es gibt vielleicht eine Ähnlichkeit in Thema und Atmosphäre, aber mehr nicht. Ihr Film ist für mich mehr als eine Liebeserklärung an die ewige Stadt: Er ist eine Hymne an die Schönheit, aber auch an die Kraft des Kinos. Sorrentino: Ich stamme aus Neapel und lebe in Rom, einer Stadt, von der ich jeden Tag aufs Neue fasziniert bin. Deshalb wollte ich einen Film über Rom realisieren, über ihr Charisma und ihre Bewohner. Ein Porträt, das die Schönheit feiert, auch in der Vulgarität und der Erbärmlichkeit der Menschen.

Schönheit kann sich in verschiedenen Formen ausdrücken. Schönheit hindert uns vor dem Absturz ins Chaos und macht das Leben erträglich. Wichtig ist mir die Filmsprache: Ich möchte aus dem Korsett traditioneller Narration ausbrechen. Im Gegensatz zu Fernsehserien kann sich das Kino noch eine umfassende Erzählweise erlauben. Die Kirche ist sehr präsent im Film. Sorrentino: In Rom kommt man am Kirchenthema kaum vorbei. Diese geheimnisvolle Welt interessiert mich und weckt meine Neugier. Aber ich mache mich nicht über die Kirche lustig, schaue nur kritisch auf ihre Repräsentanten. Wer ist denn die Hauptfigur? Dieser etwas aus der Zeit gefallene Mann? Sorrentino: Jep Gambardella ist eine desillusionierte Persönlichkeit mit Herz, die sich in Zynismus flüchtet, wie so viele. Trotz Alter und Erfahrung sucht er immer noch die Schönheit in einer dekadenten Welt. Er steht auch für eine bestimmte Art von Neapolitaner, zwischen Dandy und englischem Gentleman mit Eleganz, aber kein Snob. Dieser Typus von Mann mit ausgeprägtem Hang zur Selbstironie verschwindet heute – leider. Sie feiern maßlosen Hedonismus und Dekadenz. Sorrentino: In der Geschichte gab es immer lange Epochen der Dekadenz. Ich zeige einen müden Hedonismus, der seinen Zenit überschritten hat. Die

Hauptfigur hat jahrzehntelang die Nächte auf rauschenden Festen verbracht, jetzt fehlt ihm die Lust, sich weiter zu amüsieren. Er reflektiert sein Leben und fragt sich, was wäre, wenn ich anders gehandelt hätte. Diese Frage betrifft jeden und treibt auch mich um. Ihre Protagonisten tanzen auf dem Vulkan, sind innerlich aber verzweifelt. Ist das ein Reflex auf die Politik in Italien oder den weltweiten Werteverlust? Sorrentino: Darauf zu antworten, würde zu weit führen. Ich bin kein Politiker. Gibt es denn ein Rezept gegen die Krise? Sorrentino: Natürlich dürfen wir nicht die Augen vor den Fakten verschließen. Aber die Krise ist nicht das einzige, was uns bestimmt. Alles driftet auseinander. Die oberen Zehntausend interessieren sich nicht für kreative Prozesse, und unsere Politiker pfeifen auf Verantwortung, halten Kultur und jeden Cent dafür für überflüssig. Die Schuld sollten wir aber nicht immer anderen in die Schuhe schieben. Auch wir Künstler müssen Verantwortung übernehmen. Mein Film handelt von Italien als Land der verschenkten Möglichkeiten – und von uns Italienern, die ihre Chancen verpasst haben. Das ist auch einer der Gründe für das Dilemma. Wir Filmemacher hätten manchmal überlegen sollen, was wir da überhaupt auf die Leinwand bringen. Alle müssen sich den unangenehmen Themen stellen. „Weiter so“ geht nicht. Das Gespräch führte Margret Köhler.

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