Filmdienst 16/2013

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

REGISSEUR G EORG E CU KOR

Glamour mit Köpfchen WIEDERENTDECKUNG DES MANNES, FÜR DEN HOLLYWOODS LEADING LADYS ZUR HÖCHSTFORM AUFLIEFEN

€ 4,50 | www.filmdienst.de 66. Jahrgang | 1. August 2013

16|2013

Drehe lieber ungewöhnlich Die Filmwelten des britischen Regisseurs Danny Boyle

CITYGUIDE

Filmstadt

Madrid

ER REITET WIEDER!

„Lone Ranger“: Das Original stammt aus den 1930er-Jahren. Nun katapultieren Hauptdarsteller Johnny Depp und Regisseur Gore Verbinski den klassischen Western von gestern ins aktuelle Blockbuster-Zeitalter.

48

Seiten Fernsehbeilage

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FilmDienSt 16 | 2013

Alle Filme im TV vom 3.8. bis 16.8. Das Extraheft 48 Seiten

e im TV Extra-Heft: Alle Film

Kritike 80.000 FilmDIE JUNGS VON SPINAL 3.8. zdf.kultur

.filmdie n unter www

nst.de

TAP

RAMMBOCK 4.8. zdf.kultur

DIE UNBESTECHLICHEN 7.8. kabeleins

Ständige Beilage

FILM FÜNF TAGE VOLLMOND 8.8. Bayern3

IM TV

DAS WIRTSHAUS IM SPESSART 10.8. Bayern3

3.8.–16.8.2013

„My Fair Lady“: George Cukor bringt Audrey Hepburn zum Strahlen

Kino 10

Akteure

GLAMOUR MIT KÖPFCHEN Er gilt als der „Woman‘s Director“ des Hollywood-Kinos. George Cukor setzte Filmstars wie Katharine Hepburn, Judy Garland oder Audrey Hepburn groß in Szene. Grund genug, dem Meisterregisseur eine Retrospektive zu widmen, wie es im August das Internationale Filmfestival in Locarno macht. Von Michael Ranze + Cukors Werk in Locarno + Cukor fürs Heimkino

Zwei neu erschienene Filmbücher präsentieren einen perfektionistischen Regisseur und eine sprachlich virtuose Filmkritikerin - das eine als Interviewband, das andere als Essay-Sammlung. + weitere Literatur-Tipps

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ZUM LESEN: MICHAEL HANEKE UND MARLI FELDVOSS

YORKSHIRE KILLER 1980 15.8. SF 1 MÄNNER IM WASSER 11.8. ARD

DIE REGENSCHIRME VON 12.8. arte

CHERBOURG

omödie mit Wolken Walser-Adaption als Sommerk Ein fliehendes Pferd -Tragikomödie Sensibel ausgelotete Holocaust Das Leben ist schön Sog-Kraft Psycho-Studie mit visueller Mother Südkoreanische

[4.8.

3SAT]

ZDF_NEO]

[9.8.

[15.8. WDR]

HI-YO, SILVER! Ein fliehendes Pferd Martin-Walser-Adaption 4.8. 3sat Das Leben ist schön von Roberto Benigni 9.8. zdf_neo Mother Psycho-Studie aus Südkorea 15.8. WDR

Mit „Lone Ranger“ versucht sich „Fluch der Karibik“-Regisseur Gore Verbinski an der Neuinterpretation eines 80 Jahre alten „Western von gestern“. Schützenhilfe gibt es dabei von Johnny Depp. Von Thomas Klein

DREHE LIEBER UNGEWÖHNLICH Danny Boyles Filme sind Grenzgänger zwischen Arthaus und Kommerz, Spiritualität und Grausamkeit. Aktuell lässt sich mit „Trance“ sein Kino der Grenzerfahrungen neu erleben. Einblicke ins Werk des britischen KultRegisseurs. Von Jens Hinrichsen

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FD-CITYGUIDE (III): MADRID

Frankophile Verneigung vor einem Meister: Die „Cines Jean Renoir“ liegen gegenüber der Filmbuchhandlung „Ocho y medio“ in Madrid.

Die gute alte Zeit prall gefüllter Kinosäle scheint nach der Wirtschaftskrise in Spaniens Hauptstadt vorüber zu sein. Doch die vielfältig-lebendige Kinokultur der Stadt lässt sich nicht unterkriegen. Ein cinephiler Spaziergang von Don Quijote in Bronze bis zum alten Schlachthof. Von Wolfgang Hamdorf

Danny Boyle als Liftboy für Kinderdarsteller Alex Etel bei den Dreharbeiten zu „Millions“

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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„Carmen“: Carlos Saura bannte die Leidenschaft des Flamenco auf die Kinoleinwand

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Film-Kunst 28

FILM. PLAKAT. HILLMANN

Titel: Walt Disney. S. 4/5: Filmfestival Locarno/ Collection Cinémathèque suisse; Twentieth Century Fox; Wolfgang Hamdorf; Studiocanal; Walt Disney; MFA; Alamode

Ein Blick. Ein Bild. Und möglichst viel Aufsehen. Den Filmplakaten des Grafikkünstlers Hans Hillmann hat das Folkwang Museum Essen eine Ausstellung gewidmet. Sechs seiner Kunstwerke sind auch bei uns zu bestaunen.

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AMERICAN INDIES Greta Gerwig ist das derzeitige „It“-Girl des amerikanischen Independent-Kinos. Irgendwo zwischen Generationsund Anti-Hipster-Porträt erzählen ihre Filme nicht zuletzt vom Altern der „Generation X“. Assoziationen rund ums US-Independent-Kino der letzten 20 Jahre. Von Ulrich Kriest

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DVD-PERLEN Miklós Jancsós „Die große Orgie“ packt die Intrigen rund um Kronprinz Rudolf in farbprächtige Tableaus und ist nun endlich in der 104 Minuten langen Originalfassung auf DVD erschienen. Von Ralf Schenk

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Neue Filme + ALLE STARTTERMINE

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42 [8.8.] Conjuring - Die Heimsuchung [1.8.] Dampfnudelblues [1.8.] Das ist das Ende [8.8.] Frances Ha [1.8.]

Kritiken und Anregungen?

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s. LONE RANGER

kinotipp der katholischen Filmkritik

S. 42 GLORIA [8.8.] Dramödie von Sebastián Lelio

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Halbschatten [1.8.] Jaurès [8.8.] Kindsköpfe 2 [18.7.]

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s. FRANCES HA

Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel [8.8.]

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Kuma [8.8.] Lone Ranger [8.8.] Die Möbius-Affäre [1.8.] Die Schlümpfe 2 [1.8.] Trance - Gefährliche Erinnerung [8.8.] What Happiness Is [1.8.] Wochenendkrieger [8.8.]

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s. GLORIA

Wolverine: Weg des Kriegers [25.7.]

MAGISCHE MOMENTE Mit verhängnisvoller Leidenschaft und einigen der erregendsten Tanzszenen des Kinos entfachte Carlos Sauras „Carmen“ vor 30 Jahren eine Welle der Flamenco-Begeisterung. Von Rainer Gansera

Enge Straßenschluchten und die Weite der Prärie: Während sich in „Frances Ha“ und „Gloria“ zwei ungewöhnliche Frauenfiguren durch ihr Großstadt- und Liebesleben schlagen, schickt „Fluch der Karibik“-Regisseur Gore Verbinski im knallbunten Action-Gewitter von „Lone Ranger“ zwei Männer in den „Wilden Westen“.

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die CBS-Mini-Serie „Under the Dome“ (S. 27)

Die Wand – nach Stephen King

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Greta, Elisa, Chloë und die anderen In den 1990er-Jahren erlebte die US-amerikanische Independent-Szene ihren Hype als Identifikationsfläche der „Generation X“. Seitdem hat sich viel getan. Nicht nur, was Produktionsbedingungen und Verbreitungsmöglichkeiten der Filme angeht: Auch das Lebensgefühl, das sie spiegeln, hat sich verändert. Nicht zuletzt zeichnet sich dies an den Heldinnen ab, die die „Indies“, die unabhängig produzierten Filme, den „Leading Ladies“ des Mainstream-Kinos entgegenhalten. Deren aktuell interessanteste Protagonistin ist Greta Gerwig. Von Ulrich Kriest

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American Indies

G

Oben: Scheitert mit Stil auf ihrer Wohnungs-Odyssee: Greta Gerwig in „Frances Ha“ Unten links: „Greenberg“ Unten rechts: „Algebra in Love“

reta Gerwig spielt Frances Halladay. In „Frances Ha“ erkennt man sie auf der Straße an ihrem seltsamen, männlichen Gang. Einmal sagt jemand, dass Frances ihr Leben nicht auf die Reihe bekäme. Als ihr Freund sie fragt, ob man nicht endlich zusammenziehen solle, reagiert sie verwirrt, weil sie sich bei ihrer besten Freundin Sophie in der Pflicht sieht. Der Freund redet enttäuscht von Beziehungskrise und -ende. Wenig später teilt Sophie Frances mit, dass sie mit einer anderen Bekannten nach Tribeca ziehen werde – über die längst anstehende Verlängerung der Wohngemeinschaft habe man schließlich nie gesprochen. Bad Timing! Während sich die Welt um sie herum verändert, scheint Frances, die wenig erfolgreiche Tänzerin, auf der Stelle zu stehen – trotz ihrer zahlreichen Umzüge, die sie im Lauf des Films absolviert. „Frances Ha“ bringt dies auf den Punkt, wenn er seine Titelheldin zu den Klängen von David Bowies 83erHit „Modern Love“ durch Brooklyn tanzen lässt. Dabei geht es um „Modern Love“ nur am Rande, eher um Freundschaft und eine Seelenverwandtschaft, wie sie Frances einmal zu entwerfen versucht: dass es zwei Menschen gelingen könnte, sich inmitten einer Gesellschaft per Augenkontakt über die Existenz einer geheimen Welt zu verständigen. Diese kleine Utopie gönnt ihr der Film am Schluss, während er ansonsten eher vom Mangel an Solidarität, von oberflächlichen Freundschaften und prekären Lebensumständen erzählt und trotz aller romantischen Versponnenheit auch mit Häme nicht spart. Ist „Frances Ha“, gedreht in Schwarz-Weiß, ein Generationenporträt? Oder besser: ein HipsterPorträt? Also ein Porträt jener Bohème-Spezies, der man nachsagt, sie konzentriere sich mehr auf die Vervollkommnung ihrer eigenen Person als auf den Beruf und lehne bürgerliche Ideale von Rationalisierung und Professionalisierung ab? Auf die Titelheldin passt dieses Etikett nicht wirklich.

FilmkunSt

Einmal heißt es im Film, Künstler zu sein könnten sich in New York nur noch die Kinder reicher Eltern leisten. „Frances Ha“ lebt von der überwältigenden Präsenz und vom Charme seiner Hauptdarstellerin Greta Gerwig. Davon einmal abgesehen, ist das Schöne an dem Film die Unbekümmertheit, mit der Regisseur Noah Baumbach die Coming-of-Age-Geschichte in die richtigen Zusammenhänge rückt. Die Musik stammt zu weiten Teilen vom französischen Altmeister der Filmmusik Georges Delerue (19251992) und öffnet ein Tor hin zur „Nouvelle Vague“ – zumal manchmal Szenen oder Atmosphären aus „Jules und Jim“ oder „Die Außenseiterbande“ angespielt werden und Baumbach Greta Gerwig ähnlich verliebt inszeniert wie Jean-Luc Godard es einst mit Anna Karina tat. „Frances Ha“ ist der vorläufige Kulminationspunkt der Karriere von Greta Gerwig, die sich über zumindest teilweise improvisierte Low-Budget-Filme wie

die „Meryl streep des Mumblecore“ „Hannah Takes the Stairs“ (2007), „Baghead“ (2008) und „Nights and Weekends“ (2008) als „Meryl Streep of Mumblecore“ etablierte, bevor sie größeren und auch konventionelleren Produktionen wie „Freundschaft Plus“ oder „Arthur“ 2011 einen frischen IndieTouch injizierte. Ein Jahr zuvor spielte sie an der Seite von Ben Stiller eine Hauptrolle in Baumbachs „Greenberg“, dann besetzte sie Woody Allen in „To Rome With Love“ (2012). Ebenfalls 2012 entstand „Lola gegen den Rest der Welt“, der wie eine konventionellere, aber auch sehenswerte Variation von „Frances Ha“ erscheint. Darin spielt Greta Gerwig eine junge Frau, die ihre Dissertation in französischer Literatur mit der Heirat ihres Freundes zu kombinieren gedenkt. Als sich dieser von ihr trennt, kommt Lolas Lebensentwurf ins Trudeln. Auch hier geht es um das soziale Netz von Freunden und Familie, in das man sich im Krisenfall fallen lassen kann.


FilmkunSt

American Indies

Oder eben nicht. Begreift man Schauspieler als „Intertexte“, als Persönlichkeiten, deren Rollenprofil in jeder neuen Rolle mitschwingt und ihrer aktuellen Figur zu einer Art biografischem Hintergrundrauschen verhilft, dann ergibt sich rund um Greta Gerwig und ihre Mitspieler auf dem Feld der „American Indies“ ein interessantes Profil des sich verändernden „Lebensgefühls“, das darin kondensiert wird. Über die Figur des von Ben Stiller gespielten männlichen Gegenübers Gerwigs in „Greenberg“ kommt man zudem zu einem Schlüsselfilm der „Generation X“: „Reality Bites – Voll das Leben“ (1994). Damals, vor 20 Jahren schien es in der Szene noch aktuell, nicht „denen ihr Spiel zu spielen“: Die Twentysomethings in „Reality Bites“ fragten nach den „richtigen Werten“ im Zei„Frances ist eine romantische chen von AuthentiziFigur. Teil ihrer Herausfordetät. Dass darin Ben Stillers Figur als Merung im Film ist es, sich dien-Yuppie für die gewissen Realitäten zu stellen. von Winona Ryder geIch hingegen hatte das Gefühl, spielte weibliche dass es meine Herausforderung Hauptfigur durchaus attraktiv ist, war den als Regisseur ist, ihren rigorosen Vertretern romantischen Blick auf die Welt der „reinen Lehre“ der intellektuellen Selbstzu belohnen.“ verwirklichungs-BoNoah Baumbach hème ein Dorn im Auge. 16 Jahre danach erzählt „Greenberg“ vom Altern der „Generation X“ – und davon, wie schwierig es geworden ist, den Anspruch der Selbstverwirklichung zu leben: Greta Gerwig als Haushälterin Florence fehlt das DurchLinks und Mitte: setzungsvermögen, sich einen Job zu suChloë Sevigny in chen, der ihren Qualifikationen ent„Last Days of Disco“ spräche. Vielleicht aber fehlt es gar nicht Rechts: Greta Gerwig in „Lola gegen den Rest der Welt“

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an Durchsetzungsvermögen, sondern einfach an adäquaten Jobs. In „Frances Ha“ fragt Frances einmal nach der Dauer der Anstellung von Sophies Freund Patch in Japan. Sie staunt nicht schlecht, als sie hört: „Unbefristet!“ Da klingt ein radikal veränderter Zeitgeist heraus, in dem sich nicht mehr unbedingt die Bohème dem bürgerlichen Mainstream verweigert, sondern umgekehrt: Eine gesicherte bürgerliche Existenz lässt sich nur noch schwer ergattern. Man könnte angesichts von Gerwigs Figuren auch an die Frauen in Woody Allens Meisterwerken der späten 1970erJahre denken, an die Studentin Tracy in „Manhattan“ oder die Gelegenheitssängerin Annie Hall in „Der Stadtneurotiker“, die sich auf mehr oder weniger freiwillige Art von den von Allen gespielten Protagonisten emanzipierten. Schließlich öffnet Greta Gerwig durch eine andere aktuelle Hauptrolle einen weiteren Gedächtnisraum: In Whit Stillmans CollegeMusical-Komödie „Damsels in Distress“ (2011) spielt sie die Anführerin einer elitären Mädchen-Clique, die von der Erfindung eines „International Dance Craze“ träumt. Dass Stillman Greta Gerwig besetzt hat, die auch hier mit ihrer ungewöhnlichen Körperlichkeit irgendwie quer steht, zeugt von Geschmack und intaktem Hipster-Instinkt. In Stillmans „The Last Days of Disco“ (1999) hatte die Hauptrolle noch Chloë Sevigny gespielt, das It-Girl des besseren Teils der 1990er-Jahre. Stillman porträtierte darin eine Gruppe urbaner Twentysomethings, die eine bürgerliche Berufstätigkeit mit hedonistischen Clubnächten zu verbinden suchen. Irgendwann ist Disco aber tot – und das Erwachsenwerden beginnt. Aber selbst im Augenblick der Ernüchterung bleibt

noch Zeit für eine Apologie des Erlebten: „Disco wird immer existieren. Disco wird für immer in unseren Herzen sein, denn etwas, was so toll und wichtig und wunderbar war, kann nicht so einfach untergehen.“ Das mag sich 1998, als „The Last Days of Disco“ in die Kinos kam, nostalgisch angehört haben, nimmt aber die gegenwärtige Stimmung im Zeichen der „Retromania“ prophetisch vorweg. Und vielleicht auch die eigentümliche „Karriere“ Whit Stillmans selbst: Dessen überraschendes Comeback erinnert an jene Hoch-Zeit der US-Indies, in der Stillman ganz en vogue war und die von den Kassenerfolgen von Tarantino, Rodriguez und Kevin Smith und der „Mainstreamisierung des Independent-Sektors“ (Andreas Jahn-Sudmann) schmerzhaft beendet wurde. Fast vergessen sind heute die Filme dieser Phase: Werke von Hal Hartley, Nick Gomez oder Allison Anders, die Intelligenz mit Originalität paarten und sich zugunsten eines Mentalitätsporträts wenig um „Realismus“ scherten. In den vergangenen Jahren konzentrierten sich US-Indies wie „Old Joy“, „Winter‘s Bone“ oder „Shotgun Stories“ dagegen eher auf realistische Erkundungen des US-Hinterlandes. Wenn Greta Gerwig in „Frances Ha“ beschwingt zu David Bowies „Modern Love“ durch Brooklyn tanzt, scheint die urbane „Zeitgeist“-Komödie mit Tiefgang nun endlich zurück zu sein. Man fühlt sich an Hal Hartleys „Simple Man“ erinnert, wo in einer Kneipe zur Musik von Sonic Youths „Kool Thing“ getanzt wurde. Das war im Jahr 1992, und damals hieß das „coolste Ding“ Elina Löwensohn. 1998 war es dann Chloë Sevigny, und 2013 ist es mit ziemlicher Sicherheit Greta Gerwig.


8 0 . 0 0 0 F i l m - K r i t i k e n u n t e r w w w. f i l m d i e n s t . d e

FILM DIENST

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Baseball-Drama

[start 8.8.]

ALLE NEUEN FILME

Kuma

Familiendrama

[start 8.8.]

SO WERTET FILMDIENST HANDWERK

Die Qualität von Regie, Schnitt, Kamera, Musik.

INHALT

Thema und Gehalt der erzählten Geschichte.

DARSTELLER

Die Leistungen der Schauspieler.

Je Kategorie vergibt die Redaktion von FILMDIENST max. 5 Punkte

Trance - Gefährliche Erinnerung Thriller

[start 8.8.]

Frances Ha von Noah Baumbach [stARt 1.8.] Lone Ranger von Gore Verbinski [stARt 8.8.] Gloria von Sebastián Lelio [stARt 8.8.]

Halbschatten Berliner Schule

[start 1.8.]

S. 41 S. 36 S. 42

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Gegen die Vermesser der Welt Ein widerständiger, aber auch faszinierender Genre-Hybrid von Gore Verbinski

Der Krähenvogel, den Johnny Depp alias Tonto als skurrilen Federschmuck auf dem Kopf trägt, ist programmatisch für die „Verbinskisierung“ des „Lone Ranger“-Stoffes: Auch wenn ein Genre scheintot ist, kann man es als schrägen Wiedergänger noch einmal groß in Szene setzen. Vielleicht lässt es sich ja sogar noch einmal zum Fliegen bringen! Bei den „Pirates of the Caribbean“ war dieses Konzept zumindest kommerziell voll aufgegangen; bei „Lone Ranger“ aber scheint es – zumindest in den USA – gescheitert zu sein. An der Kinokasse war der Film ein Flop, und von den Kritikern hagelte es fast einhellig Verrisse. Das Aus-

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bleiben der Zuschauer darauf zurückzuführen, dass der Stoff dem jungen Publikum kaum noch bekannt sei, ist als Erklärung ziemlich dürftig; schließlich konnte sich der erste „Pirates“-Film auch nur auf eine Themenpark-Attraktion berufen, nicht auf ein zugkräftiges Franchise. Was also stimmt nicht mit „Lone Ranger“? Tatsächlich dürfte er der sperrigste Genre-Hybrid sein, den sich das durchkalkulierte Blockbuster-Kino seit Langem geleistet hat. Regisseur Gore Verbinski mixt nicht nur Ingredienzien eines klassischen Genres, des Western, mit EffektkinoBombast und exzentrischem Klamauk, sondern unterspült das Ganze auch

noch mit erstaunlich galliger Bitterkeit hinsichtlich des Amerika-Bilds, das der Film entwirft. Ein US-Kritiker hat dessen Scheitern in den USA denn auch darauf zurückgeführt, dass „Lone Ranger“ der „vielleicht antiamerikanischste Blockbuster ist, der je gemacht wurde. Die betörend schönen Landschaften sind unmissverständlich die eines

USA 2013 Regie: Gore Verbinski Buch: Ted Elliott, Terry Rossio Kamera: Bojan Bazelli Musik: Hans Zimmer Schnitt: James Haygood, Craig Wood Darsteller: Johnny Depp (Tonto), Arnie Hammer (Lone Ranger), Handwerk

InHalt

William Fichtner (Butch Cavendish), Tom Wilkinson (Cole), Ruth Wilson (Rebecca Reid), Helena Bonham Carter (Red Harrington), James Badge Dale (Den Reid) Länge: 149 Min. Verleih: Walt Disney Kinostart: 8.8.2013 | FD-Kritik: 41 829 darsteller

Fotos: Jeweilige Verleiher

Lone RangeR [8.8.]

John Ford, doch die Nation von Dieben und Strolchen, die darin herumkriecht, ist purer Sergio Leone.“ Leone, so müsste man hinzufügen, dem Blake Edwards eine Dosis Lachgas verabreicht hat. Das Ergebnis taugt nicht als übersichtliche Unterhaltung und mag Genre-Puristen verzweifeln lassen. Doch gerade in seiner Widerständigkeit ist es auch faszinierend. Was die zentrale Handlung angeht, vereint der Film Elemente der „Lone Ranger“-Serie mit Erzählbausteinen, die ähnlich schon im ersten „Pirates“Teil auftauchten. John Reid, ein junger, naiv-aufrechter Anwalt – offenbar ein Seelenbruder von James Stewart aus „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ – will den Schurken Butch Cavendish dingfest machen, der seinen Bruder Dan auf dem Gewissen hat. Dafür tut er sich mit dem etwas wunderlichen, aber überlebenstüchtigen Komantschen Tonto zusammen und wächst im Rahmen dieser spannungsreichen Partnerschaft in die Rolle des „Lone Ranger“ hinein. Seine Hoffnung, den brutalen Caven-


Fotos: Jeweilige Verleiher

im Kino

neue Filme

kuma [8.8.]

BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION Eine Wiederauflage des klassischen „Lone Ranger“-Stoffs: Ein Mann, dessen Bruder von einem Banditen ermordet wurde, macht sich auf die Jagd nach dem Mörder. Unterstützung findet das Greenhorn bei einem seltsamen Indianer. Ein irritierender, zugleich aber auch spannender Genre-Hybrid: Elemente der alten Vorlage, Effektkino-Bombast und Klamauk werden bitter abgeschmeckt, indem hinter dem Spektakel ein höchst despektierliches Bild der USA aufscheint, das an kritische Spätwestern erinnert. Trotz einiger dramaturgischer Unebenheiten entsteht so ein fürs Blockbuster-Kino angenehm eigensinniges Kinoabenteuer. - Ab 14.

dish seinem verdienten Urteil zuzuführen und Frau und Sohn seines toten Bruders zu retten, droht sich zu zerschlagen, als deutlich wird, dass der mörderische Bandit Verbündete in höchsten Gesellschaftskreisen besitzt. Und denen geht es um ein Verbrechen im ganz großen Stil: um Völkermord an den Indianern, die dem so genannten Fortschritt, dem Eisenbahnbau, im Wege stehen. Motive, die in Verbinskis „Pirates“-Reihe schon schwelten, aber im Wust des Exotismus und der mythologischen Anleihen fast erstickt wurden, werden hier in Anlehnung an die kritischen Ableger des OutlawWestern zum Dreh- und

Angelpunkt der Neuinterpretation: Es geht gegen die Vermesser und Verordner, die die Wildheit der Welt in den Griff bekommen wollen – nicht um sie besser zu machen, sondern um sie umso besser ausbeuten zu können. Es geht gegen Institutionen wie das Militär, die nicht mehr moralischen Grundsätzen, sondern wirtschaftlichen Interessen dienen. Und es geht um eine Liebeserklärung an die reinen und an die unreinen Narren, die sich in die neue Weltordnung nicht einpassen wollen – sei das die von Helena Bonham Carter gespielte Hure, die aus einem mit Schnitzereien und einer eingebauten Flinte versehenen Holzbein auf die Honoratioren feuert, oder Tonto, dessen KopfschmuckVogel nicht nur Signum seiner Exzentrik ist, sondern auch zum Symbol für die Tragik der dem Untergang Geweihten wird. Verbinski mag dabei gelegentlich zwar dramaturgisch und inszenatorisch aus dem Tritt geraten, etwa wenn die „Pirates“-Selbstzitate mit ihm durchgehen oder der Affe „Action“ zu viel Zucker bekommt. Trotzdem ist sein „Lone Ranger“ so schön seltsam und schizophren nachdenklich in seiner Reflexion des Westerngenres, dass es nicht erst Rossinis schmissige „Wilhelm Tell“Klänge im Finale braucht (eine Hommage an die alte Serie), um einen mitzureißen. Felicitas Kleiner

Ausführliche Kritiken zu jedem Film Online unter www.filmdienst.de

In Anatolien wird eine junge Frau mit einem älteren Mann aus Wien, dessen Frau an Krebs erkrankt ist, zwangsverheiratet, um als Zweitfrau nach deren Tod für die Familie zu sorgen. Unter Schwierigkeiten nähern sich die neuen Familienmitglieder an. Erst der Fleiß und die Aufopferung der Neuen ebnen die Annäherung. Ein ebenso wuchtiges wie bewegendes Familiendrama. Durch die Neigung zur übergroßen Tragödie und unausgereifte Nebenhandlungen wird der Film der Intimität des Stoffs aber nicht ganz gerecht. – Ab 16. Österreich 2012 | R: Umut Dag | 93 Min. | FD-Kritik: 41 297

kinDSkÖpfe 2 [18.7.] Die Freunde aus „Kindsköpfe“ erleben allerlei neue Abenteuer. Im Zentrum steht ein Badesee, in dem die Familienväter schon als Studenten schwammen und den es jetzt gegen die prollige jüngere Generation zu verteidigen gilt. Ein Krieg der Peinlichkeiten entbrennt. Nur notdürftig zu einer Filmhandlung verzurrt, dümpeln die Episoden als Aneinanderreihung meist misslungener Pointen dahin. Ein Film zum Fremdschämen angesichts der Stars, die sich hier verheizen lassen. – Ab 14. USA 2013 | R: Dennis Dugan | 101 Min. | FD-Kritik 41 828

Wolverine: Weg des kriegers [25.7.] Big in Japan: Die Vorgeschichte des „X-Men“-Helden Logan/Wolverine führt den Mutanten mit den Klingenhänden ans Sterbebett eines Japaners, den er einst im Zweiten Weltkrieg rettete. Dort gerät er in ein Intrigennetz, als er die Tochter des Mannes vor der Verfolgung dubioser Feinde rettet. Dabei büßt er zwischenzeitlich seine Selbstheilungskräfte ein. Inkonsequenzen sowohl in der visuellen Umsetzung als auch in der Figurenkonzeption stören das Vergnügen an diesem Action-Bombast. - Ab 14. Scope. USA 2013 | R: James Mangold | 126 Min. | FD-Kritik: 41 830

Dampfnudelblues [1.8.] Das „Stirb du Sau“ an der Hauswand des Selbstmörders wirkt verdächtig, und der Kreis der möglichen Täter wird immer größer, als Provinzkommissar Eberhofer im bayerischen Kaff Niederkaltenkirchen entdeckt, dass sich der Verstorbene nicht nur als Gymnasialdirektor unbeliebt, sondern auch als Fetisch-Sklave beliebt machte. In der Verfilmung des Heimatkomödien-Krimis von Rita Falk wird kräftig bavarisiert. Den schrulligen Figuren und Situationen wird vor schrillen Pointen der Vorzug gegeben. - Ab 14. Deutschland 2013 | R: Ed Herzog | 87 Min. | FD-Kritik: 41 831

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