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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

Die Schauspielerin kondensiert das Lebensgefühl einer ganzen Generation

Das Kino und Hieronymus Bosch Spielwütig: Louis Hofmann Wiederentdeckt: Douglas Sirk

4. August 2016 € 5,50 69. Jahrgang


inHALt Die neuen KinOFilme neU iM kinO + 51 44 46 38 49 45 50 43 47 41 36 40 51 37 42 39 48

ALLE STArTTErMInE 1001 Nacht: Volume 2: Der Verzweifelte 11.08. Ab ans Meer 11.8. Comrade, where are you today? 18.8. Collide 4.8. El Viaje – Ein Musikfilm mit Rodrigo Gonzalez 4.8. Julieta 4.8. Fieber 11.8. Genius 11.8. Ghostbusters 4.8. Jason Bourne 11.8. La Isla minima – Mörderland 4.8. Legend of Tarzan 28.7. Lights Out 4.8. Maggies Plan 4.8. Schweinskopf al dente 11.8. Star Trek Beyond 21.7. Willkommen im Hotel Mama 11.8.

kinOtiPP

38 Collide

der katholischen Filmkritik

45 JulieTa Eindringliches Mutter-Tochter-Drama von Pedro Almodóvar, in dem sich eine Frau Anfang 50 ihren Erinnerungen stellt.

FernSeH-tiPPS

45 JulieTa 41 Jason Bourne Robert Redford wird am 18. August 80 Jahre alt. Längst hat sich der Star auch hinter der Kamera unter den ganz Großen der US-Filmbranche etabliert. 3sat widmet ihm ab dem 12.8. eine Filmreihe, die seine schauspielerischen Qualitäten revue passieren lässt. Zudem erinert arte an die Stummfilmpioniere Pathé und Gaumont sowie an Bernard natan (18.8.) 4

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Fotos: TITEL: MFA+. S. 4: Tobis, Universum, Wild Bunch, Universal. S. 5: Universum, Eckhart Schmidt

43 Genius


16 | 2016 DIE arTIkEL inHALt kinO

10 Hieronymus BosCH 10 Hieronymus BoscH

Höllenvisionen und der „Garten der Lüste“: Das Werk des niederländischen Künstlers, der im August vor 500 Jahren verstarb, ist nach wie vor ein Faszinosum. Auch fürs Medium Film, in dem sich immer wieder Spuren von Boschs Bildwelten finden. Von Daniel Kothenschulte

16 Videos Go dokfilm

Ereignisse, die man miterlebt, per HandyVideo zu dokumentieren und „online“ zu stellen: Das ist längst ein Massenphänomen. Auch professionelle Dokumentarfilme reagieren darauf. Einige Beispiele einer neuen Genre-Spielart. Von Thomas Klein

19 neue filmBücHer

Ein umfangreiches „illustriertes Werkverzeichnis“ zu den Filmen von rainer Werner Fassbinder ist erschienen. Eine On-Demand-Publikation würdigt den österreichischen nebenrollen-König Oskar Sima. Von Jörg Marsilius & Rainer Dick

AkteUre

FiLMkUnSt

20 louis Hofmann

28 douGlas sirk

20 louis Hofmann

27 e-mail aus Hollywood

Wenn er demnächst in der Filmadaption von Andreas Steinhöfels „Die Mitte der Welt“ zu sehen ist, dürfte er auch im Zentrum der Zuschauer-Aufmerksamkeit ankommen. Ein Porträt unserer reihe „Spielwütig“.

Hollywood, das Land der Giganten: Auf dem heißt umkämpften Spielfeld der Filmbranche haben die ganz Großen die besten Überlebenschancen. Also heißt es: Fusionieren.

Von Alexandra Wach

Von Franz Everschor

22 Greta GerwiG

28 douGlas sirk

Von der blonden Durchschnittsschönheit unterscheidet sich die Schauspielerin nicht nur durch ihre ganz besondere Körpersprache, sondern auch durch ihr rollenprofil im Independent-Kino. Eine Hommage anlässlich des Kinostarts ihres Films „Maggies Plan“.

In den 1930er-Jahren emigrierte der regisseur und erlangte in Hollywood als Meister des Melodrams Weltruhm. Was weniger bekannt ist: Später kehrte er nach Deutschland zurück und unterrichtete den nachwuchs.

Von Esther Buss

Von Fabian Tietke

25 setsuko Hara

32 PutscH, Panik und medien

Ihr Lächeln gehört zum japanischen Kulturerbe: Die Schauspielerin Setsuko Hara profilierte sich in den 1940er- und 1950erJahren als Ikone. Das Kino Arsenal widmet ihr eine Werkschau. Von Lukas Foerster

26 in memoriam

Unsere Türkei-Korrespondentin Emine Yildirim berichtet über Themen der türkischen Filmszene. Der Putschversuch Mitte Juli ist auch an ihr nicht spurlos vorübergangen. rekapitulation eines realen und medialen Schocks. Von Emine Yildirim

nachrufe auf drei regisseure: Héctor Babenco, Jacques ruffio und Garry Marshall

3 4 6 34 52 56 66 67

RuBRIkEN EDITOrIAL InHALT MAGAZIn DVD-KLASSIK DVD/BLU-rAY TV-TIPPS P.S. VOrScHAU / IMPrESSUM

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Magazin

Cineasten-Timeline VOM 4.8. BIS 17.8. 6.8. 1946

Geburtstag des österreichischen Schauspielers Peter Simonischek (u.a. „Toni Erdmann“, „Oktober November“, „Rubinrot“)

7.8. 1936

Geburtstag des deutschen Fernsehredakteurs und Produzenten Joachim von Mengershausen (u.a. „Die Reise nach Wien“, „Der scharlachrote uchstabe“, „Oi! Warning“)

9.8. 2016

Bis 11.8.: Die 10. Film-Messe Köln stellt kommende Filme und Zusatzpräsentationen von Verleihen vor

11.8. 2016

Bis 21.8.: Die 11. Stummfilmtage Bonn zeigen herausragende Stummfilme mit Live-Musikbegleitung

12.8. 2016

Bis 20.8.: Auf dem 22. Sarajevo Film Festival sind im Wettbewerb neue Filme aus Südosteuropa zu sehen

14.8. 1966

Geburtstag der amerikanischen Schauspielerin Halle Berry (u.a. „Monster’s Ball“, „X-Men“, „Cloud Atlas“)

15.8. 1991

Eröffnung des Filmparks Babelsberg in Potsdam

17.8. 1941

Geburtstag des deutschen Schauspielers Fritz Wepper (u.a. „Cabaret“, „Die Brücke“, „Kennwort: Reiher“)

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Mit Sense und Sensibilität Auf Sony Entertainment TV feiert der britische Serienhit „Poldark“ Premiere

Wer hätte gedacht, dass Heumachen so hinreißend sein kann? Als die Serie „Poldark“ im Frühjahr 2015 in Großbritannien Premiere feierte, löste die „Scything Scene“, in der sich der Titelheld mit Sense, aber ohne Hemd an der Wiese hinter seinem Anwesen austobt, eine ähnliche Euphorie aus wie einst in den Neunzigern die „Wet Shirt Scene“ von Colin Firth in „Stolz und Vorurteil“. Was an der beeindruckenden Physis von Hauptdarsteller Aidan Turner lag, den sein Erfolg mit „Poldark“ prompt zum Anwärter auf eine 007-Nachfolge machte. Vielleicht aber auch am Appeal der Figur Ross Poldark. Bereits Winston Graham, der die zugrunde liegende Romanreihe in den 1940er-Jahren begann und 2002 abschloss, stattete seinen Helden mit einer unwiderstehlich romantischen Mischung aus Ritterlichkeit, Sensibilität und Draufgängertum aus: eine Art neuer Robin Hood, der als Sprössling eines verarmten Zweigs der „Gentry“ im Cornwall des ausgehenden 18. Jahrhunderts durch die Heirat mit seinem Dienstmädchen Demelza seine Standesgenossen vor den Kopf stößt und sich konsequent mit dem „Volk“ solidarisiert. Auf das Wiedersehen mit solch einem Helden – „Poldark“ war bereits in den 1970er-Jahren mit enormem Erfolg als Serie verfilmt worden – hatte Großbritannien offenbar gewartet, während der alles andere als noble Wahlkampf zwischen James Cameron und Ed

Miliband tobte. „Der perfekte Notausgang für alle, die genug hatten von der komplizierten Gegenwart“, urteilte Elmar Krekeler in der WELT im Mai 2015. Ein „Exit“ also für eben jene Sehnsucht nach einem „good old England“, die auch den Brexit befeuert hat? Showrunner Debbie Horsfield tut ihr Bestes, um aus „Poldark“ ein in goldenes Licht getauchtes „Period Piece“ zu machen. Allerdings leistet der Romanstoff einen gewissen Widerstand gegen das NostalgieFest: In den insgesamt zwölf Bänden, von denen Staffel 1 der Serie die ersten beiden adaptiert, bietet Winston Graham nicht nur eine epische Liebes- und Familiengeschichte mit „Suspense“-fördernden Abenteuerelementen, sondern auch das Porträt einer Epoche, die kaum weniger kompliziert ist als die Gegenwart: Wirtschaftskrise, Raubtier-Kapitalismus und soziale Unruhen, handlungsunfähige Staatsmänner, das konfliktreiche Verhältnis zum europäischen Festland, technologischer Wandel und religiöser Extremismus – all das gibt es da schon. Bleibt zu hoffen, dass Horsfields Serienadaption spätestens ab Staffel 2 diesen epochalen Verwerfungen noch etwas mehr Raum gibt. fkl Staffel 2 von „Poldark“ startet im britischen Fernsehen am 4.9. 2016. Eine dritte Staffel ist in Planung. Staffel 1 liegt hierzulande noch nicht als DVD/BD vor, kann aber in der Originalfassung als UK-Import bezogen werden. Außerdem gibt es beim Label KSM eine Komplettbox der „Poldark“-Serienverfilmung aus den 1970er-Jahren.


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»Deutschland. Dein Selbstporträt«

filme

leBe icH Wa s „Yo u T u b e “ -V i d e o s ü b e r u n s e r e W e lT V e r r aT e n

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Fotos: Warner Bros./Rien à Voir Prod./Third Films

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Kompilationsfilme kino »The Uprising«

Seit einiger Zeit werden wir Zeugen, wie sich eine neue filmische Form herauskristallisiert. Es handelt sich dabei um Filme, die viele Kriterien des „Dogma ’95“-Manifests erfüllen: Sie spielen im Hier und Jetzt, gehörem keinem bestimmten Genre an, sind an Originalschauplätzen gedreht und mit Handkameras aufgenommen. Allerdings handelt es sich nicht um 35 mm-Aufnahmen, wie seinerzeit von der „Dogma“-Gruppe um Lars von Trier gefordert. Diese Filme entstehen vielmehr digital, bevorzugt mit Smartphones. Es sind dokumentarische Amateurfilme. Im Englischen spricht man präziser von „vernacular video“, worunter man nicht einfach private Aufnahmen versteht, sondern Bewegtbilder, die zwar außerhalb des professionellen Filmemachens produziert werden, aber nichtsdestoweniger kulturell einflussreich sein können. Diese filmische Praxis gilt Internetforschern wie Howard Rheingold als Beispiel einer neueren Partizipationskultur. Aktuelles Beispiel: „Deutschland. Dein Selbstporträt“, der seit Juli in den Kinos zu sehen ist. Darin nutzen Menschen das Medium Film, um über sich selbst und ihre Perspektiven auf das Land, in dem sie leben, zu erzählen. Andere Filme dieser Art entstehen, weil Menschen ihre Handys nutzen, um Geschehnisse, in die sie involviert sind, filmisch festzuhalten. Diese neue, „partizipatorische“ Mediennutzung von Nicht-Profis führt zur Frage, welche Veränderungen des Dokumentarischen damit einhergehen.

Menschen filmen sich und ihre Umwelt: Seit es möglich ist, Videos im Handumdrehen selbst zu machen und sie über Plattformen wie YouTube der Welt zu zeigen, fluten Unmengen bewegter Bilder ins Netz. Seit einiger Zeit finden solche Video-„Selfies“ ihren Weg auch ins Kino oder ins Fernsehen, etwa als Kompilations- Selbstporträts und oder Omnibusfilme, wie aktuell in nationale Rückversicherung Dein Selbstporträt“ lehnt „Deutschland. Dein Selbstporträt“ „Deutschland. sich an das „Life in a Day“-Projekt an, das YouTube 2010 anlässlich seines fünfjähri(vgl. auch FD 14/2016). Nicht gen Bestehens initiierte. Menschen auf der immer ist dabei sofort einsichtig, ganzen Welt wurden aufgerufen, über einen Tag in ihrem Leben, den 24. Juli 2010, einen welche Bedeutung mit diesen Film zu machen. Eingesendet wurden 4.500 „Selbst“-Bildern verbunden ist. Stunden Filmmaterial aus 192 Ländern, aus dem Regisseur Kevin MacDonald zusammen Überlegungen zu einer neuen mit Ridley Scott und dem Cutter Joe Walker Form des Dokumentarischen. einen anderthalbstündigen Film fertigte. Von Thomas Klein

„Life in a Day“ (2011) lebt von der kulturellen Vielfalt, die auch all den Alltäglichkeiten eine Bedeutsamkeit verleiht, deren dokumentarische Relevanz sonst fraglich wäre. In der Verknüpfung landläufiger Praktiken und Situationen sowie spezieller Sichtweisen und Perspektiven entsteht eine transkul-

turelle Erzählung, die dazu geeignet ist, die Menschheit in einer audiovisuellen und imaginären Community zu vereinen – und damit auch Geld zu verdienen. Die Idee, die Welt audiovisuell näher zusammenrücken zu lassen, wandelte sich in den Nachfolge-Filmen allerdings in eine Art Rückversicherung nationaler Identitäten. Es folgten „Britain in a Day“, „Japan in a Day“, „Italy in a Day“ und „Spain in a Day“ (alle 2012). Und jetzt: Germany in a Day bzw. „Deutschland. Dein Selbstporträt“: Menschen in Deutschland wurden aufgerufen, einen Film darüber zu machen, wie sie den 20. Juni 2015 erleben. Wie bei den Vorgängerprojekten wurden ihnen ein paar Fragen gestellt, etwa, was sie glücklich macht oder was ihnen Angst bereitet. Die Akteure präsentieren sich hierfür in teilweise stark fingierten Situationen. Die meisten erklären vor der Kamera, froh darüber zu sein, in Deutschland zu leben. Ein junger Mann äußert sich bedeckt nationalistisch; eine junge Frau dagegen hebt positiv hervor , dass in ihrer Nähe untergebrachte Geflüchtete aus Syrien gute Nachbarn wären. Ansonsten werden das Reizthema „Flüchtlingskrise“ und die Ressentiments gegen Flüchtlinge allerdings völlig ausgeblendet. Wie repräsentativ ist dieses „Selbstporträt“? Ist es durch Selektion und Montage des Regisseurs Sönke Wortmann nicht eher ein Porträt seines eigenen Deutschlandbildes?

Erzeugt der Film nicht ein allzu imaginäres Stimmungsbild, das unangenehme Themen unter den Tisch kehrt? Problematisch ist dabei weniger die Glaubwürdigkeit der einzelnen Beiträge als vielmehr der Anspruch, dem sie durch die Zusammenfassung und Betitelung unterworfen werden: nämlich in der Summe ein überindividuelles Stimmungsbild zu erzeugen, das zu einer nationalen Identität beiträgt. Im Gegensatz dazu ist in den „vernacular

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Literatur kino

Fassbinder, abschließend Sima, biografisch

44 Filme aus 37 Jahren auf 328 großformatigen Seiten mit 1.414 Abbildungen, die laut Lothar Schirmer aus einem „Gerücht“ (der Erinnerung an einen gesehenen Film) ein „gedrucktes, zitierfähiges Faktum“ machen sollen. Kann das gut gehen? Ausgerechnet bei den Filmen eines Regisseurs, dessen Geschichten vor Energie nur so strotzen, die sich nur in der Zeit und in der Bewegung (oder, ihrem Gegenteil, der bewusst eingesetzten Statik) entfalten können? Und was wäre ein Film von Rainer Werner Fassbinder etwa ohne die Musik von Peer Raben? Szenenbilder aus Filmen sind also beileibe kein „Faktum“, jedenfalls nicht im Hinblick auf den Film als audiovisuelles Medium in Raum und Zeit. Man kann sie bestenfalls als Katalysator für individuelle Erinnerungs- und Vergegenwärtigungsprozesse betrachten. Zugegeben: Auch die Kunst der Kadrierung, der Komposition, der Verdichtung von psychologischen und gesellschaftlichen Zuständen ist an ihnen schön zu erkennen, kontemplativer als beim Bewegtbild. Mehr noch als bei der großen Ausstellung „Fassbinder – JETZT“, die im musealen Rahmen auch Filmmaterial einsetzen konnte (vgl. FD 11/2015), fragt man sich beim illustrierten Werkverzeichnis, was man damit anfangen möchte. Zumal heutzutage, auch dank der Arbeit der Fassbinder-Foundation unter Leitung von Juliane Lorenz, fast alle Filme des rastlosen Regisseurs in HD, zumindest aber SD-Qualität vorliegen und keinerlei Abhängigkeit von Kinovorführungen oder Fernsehausstrahlungen besteht. Unwei-

gerlich fragt man sich, wie Fassbinder sich mit dieser (wie immer) widersprüchlichen Zeit künstlerisch auseinander gesetzt hätte. Er wäre nötiger denn je, möchte man meinen – an Stoffen hätte es ihm wahrlich nicht gemangelt. Allein diese Gedanken zeigen: Fassbinder ist nicht in Vergessenheit geraten. Sogar in den USA ist sein Einfluss in den Filmen von Richard Linklater oder Todd Haynes spürbar, wie Laurence Kardish, langjähriger Filmkurator des MoMA in New York, im Begleittext hervorhebt. Das liebevoll, aber doch auch formal nüchtern editierte Buch enthält neben den überbordenden Filmszenen drei einordnende Texte von Schirmer, Lorenz und Kardish, Inhaltsbeschreibungen von Wilhelm Roth (übernommen aus einem der blauen Hanser-Filmbände) sowie neun unterschiedlich lange Texte von Fassbinder. Die Fotosequenzen bleiben unkommentiert und ohne jede Bildlegende. Sie stehen für sich selbst, was einen gewissen Reiz hat, ihre Würdigung aber erschwert, wenn die Filme nicht mehr ganz präsent sind. Die Ausstellung „Fassbinder – JETZT“ wollte die Wirkung des Regisseurs über seinen Tod hinaus darstellen, eine Bewegung in die Zukunft. Der aufwändig hergestellte Bildband dagegen hat etwas Abschließendes, Konstatierendes, ja Nostalgisches. Und das bei Fassbinder! Jörg Marsilius R.W. Fassbinder: Die Filme: illustriertes Werkverzeichnis 1969-1982. Hrsg. von Juliane Lorenz und Lothar Schirmer. Verlag Schirmer Mosel, München 2016, 328 S., 49,80 eur.

Eine Biografie Oskar Simas war längst überfällig. Der österreichische „König der Nebenrollen“, seit Stummfilmtagen in gut 230 Rollen omnipräsent, war ein ZweiZentner-Mann mit melodiösem Bariton, Halbglatze, respektgebietendem Schnauzbart und durchaus zwielichtigem Wiener Schmäh – ein komischer Unsympath, der die heurigenselige Walzer-Gemütlichkeit Hans Mosers und Paul Hörbigers wirkungsvoll kontrastierte. Selbst den plattesten Karikaturen verlieh er eine beängstigende Authentizität. Der rheinische Entertainer und KomikTherapeut Detlef Romey zeichnet den Lebensweg des 1969 verstorbenen Schauspielers nach, dem angesichts seiner Dauerbeschäftigung die Parole nachgesagt wird: „Kein Film ohne Sima.“ Es ist ein Buch der Liebe und des Respekts, solide recherchiert, voll gepackt mit Informationen über das persönliche und zeitgeschichtliche Umfeld des Komödianten. Romey schreibt assoziativ und geizt nicht mit ironischen Kommentaren, sodass sein flüssiger Stil nicht nur gefällig, sondern im Fall des notorisch „raunzenden“ Schlawi(e)ners auch besonders passend wirkt. Leider weist das schöne Buch die typischen Ärgernisse eines „Books-on-Demand“-Produkts auf, neben Interpunktionsfehlern vor allem ein unbeholfenes Layout samt unübersichtlichem Quellenapparat und das Unterbleiben jeglichen Lektorats. Rainer Dick oskar Sima. könig der nebenrollen. Von Detlef romey. Buchdruck epubli, Berlin 2016. 540 S., 34,99 eur (geb.) bzw. 15,99 eur (Paperback).

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La isla minima – mörderland Meisterhafter Krimi aus Andalusien

In Andalusien ist es im September noch heiß. Seltene Gewitter sorgen für drückende Schwüle. Im Marschland an der Mündung des Guadalquivir leben nur wenigen Menschen, und die wollen alle weg. Kaum einer hat Arbeit, und wenn, dann hat sie etwas mit Fischen zu tun. Aus der Vogelperspektive sehen die mäandernden Adern des Flusses wie Gehirnwindungen aus. Wie die Windung eines kranken Hirns. Denn so schön die Landschaft von oben auch aussieht: unten modert es, wenn auch in bunten Farben. Zwei Mädchen sind verschwunden. Minderjährige, kaum 17 die eine, 16 die andere. Niemand wundert sich darüber, denn die beiden waren immer schon umtriebig. Vergnügt haben sie sich gerne, heißt es. Doch als sie Ende September 1980 tot im sumpfigen Marsch gefunden werden, missbraucht und verstümmelt, da halten die Menschen kurz inne. Um das Verbrechen aufzuklären, sind Pedro und Juan aus Madrid in die andalusische Einöde gekommen. Beide sind zwar Kollegen, doch nicht sonderlich vertraut miteinander. Pedro ist der jüngere, aber auch kein junger Draufgänger mehr. Seine Frau erwartet ein Kind, das die kleine Familie festigen

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und dem Grübler endlich Halt geben soll. Juan ist älter, gesetzter, scheinbar ruhiger. Während des wenigen Schlafs, den er findet, plagen ihn seltsame Gedanken und Visionen. Beide sind sich nicht grün, aber der Job verlangt, dass sie ein Team bilden – und das tun sie. „Sie wissen, dass wir jetzt in einer Demokratie leben?“ Der örtliche Vorgesetzte von Pedro und Juan kann mit den mitunter rüden Ermittlungsmethoden der beiden nicht sonderlich viel anfangen. Den schönen Jesús Carroza müssen sie wieder frei lassen, auch wenn der einfältige Junge wohl mit allen Mädchen der Gegend schon eine Affäre hatte. Je länger die Cops in der Hitze des Marschlands ermitteln, desto unübersichtlicher wird die Lage und desto blanker liegen die Nerven. Zwei Leichen, eine verschworene Dorfgemeinschaft, organisierter Kindesmissbrauch, Drogenschmuggel und Polizisten, die ebenfalls Leichen im Keller liegen haben. Der Krimi von Alberto Rodríguez avancierte 2014 zu einem der erfolgreichsten und am häufigsten ausgezeichneten Filme des Jahres. Woran das liegt, erahnt man nach den ersten Minuten des Films. Es ist nicht allein die Vogelperspektive auf die bizarr strukturierte Marschlandschaft,

es ist vor allem das sparsame Zupfen der Gitarre, das sich sanft in die Schreie der Zugvögel mischt und sich langsam zur musikalische Fratze wandelt, die die Schönheit der Landschaft ganz hässlich macht. Dazu kommt das Kreischen der Gänse, die ganz kurz wie die Todesschreie von Kindern klingen. Oder war das nur eine akustische Täuschung? All das passiert im Vorspann, noch bevor die beiden Protagonisten wortlos auf der Bildfläche erscheinen und den Blick auf eine morbide Szenerie frei geben, in der das Böse haust. Es ist das audiovisuelle Einfühlungsvermögen des 45-jährigen Regisseurs, das sein solides Drehbuch in etwas Meisterhaftes verwandelt. Er besitzt die Gabe, Handlung in Stimmung zu übersetzen. Eine kurze Geste, eine geschickte Montage, ein Ton oder ein Blick ersparen lange, umständliche Dialoge und fokussiert den Blick auf das Wesentliche. Da auch die Darsteller wissen, dass ihre Sätze nur ein Teil des Gesamtkunstwerks Film sind, entsteht hier so viel mehr als nur ein Krimi. „La Isla Minima“ zeichnet fast nebenbei das Sittenbild eines Landes, das sich gerade erst (und längst nicht erfolgreich) aus den Fängen der Diktatur befreit hat; der

Film ist aber auch ein epischer Abgesang auf die Unschuld. Monster sind in uns allen zu Hause. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie ans Tageslicht kommen, und ob wir sie bändigen können. Jörg Gerle

BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

Zwei Polizisten aus Madrid werden im Spätsommer 1980 in die andalusische Marschlandregion des Fluss Guadalquivir geschickt, um den Mord an zwei Mädchen aufzuklären. Sie geraten in einen Sumpf aus Ignoranz und organisiertem Verbrechen, erkennen aber auch, dass sie selbst mit sich und ihrer Vergangenheit nicht im Reinen sind. Der spannende Polizei-Thriller entwirft ein stimmig-morbides Sittenbild der 1980er-Jahre, vermittelt seine wortkarge Geschichte aber vor allem durch eine atemberaubende Bildund Tonsprache, die die Handlung in audiovisuelle Stimmungen übersetzt. – Sehenswert.

LA ISLA MINIMA. Spanien 2016 Regie: Alberto Rodriguez Darsteller: Javier Gutiérrez (Juan), Raúl Arévalo (Pedro), María Varod (Trinidad), Perico Cervantes (Padre Trinidad), Jesús Carroza, Salva Reina Länge: 104 Min. | Kinostart: 4.8.2016 Verleih: Drop-out | FSK: ab 16; f FD-Kritik: 44 068


NEuE FILME kritiken

maggies Plan Skurrile Beziehungskomödie Manche Frauen verspüren in der Schwangerschaft unbändige Lust auf saure Gurken. Die New Yorkerin Maggie sucht sich hingegen einen SaureGurken-Verkäufer aus, um überhaupt schwanger zu werden. Phallus-Analogien verbieten sich dabei. Schließlich geht es der Mittdreißigerin nicht um den Mann, sondern allein um dessen Sperma. Maggie hat keinen Mann, aber einen Kinderwunsch - und einen Plan. Damit besitzt der Film von Rebecca Miller eine prächtige Hauptfigur mit verspäteten Post-Adoleszenzproblemen, wie sie sonst gerne in den Komödien von Noah Baumbach gewältzt werden, häufig mit Greta Gerwig als Co-Autorin und in der Hauptrolle. Gerwig spielt auch hier das „It-Girl“ des Mumblecore, die Uni-Angestellte Maggie. Die ist gutherzig, vergleichsweise un-neurotisch, zielgerichtet, aber auch ein kleines bisschen doof. Zumindest wird ihr das von Menschen bescheinigt, die selbst in bildungsbürgerlichen Wolken stecken, die in der PostPostmoderne seltsame Formen annehmen können; so doziert der Mann, in den sich Maggie verliebt, „fikto-kritische Anthropologie“. John schreibt seit Ewigkeiten an einem Roman, fühlt sich aber von seiner noch viel klügeren Ehefrau Georgette, einer AnthropologieProfessorin (Juliane Moore), drangsaliert und ausgebremst.

Johns Charme ist überwältigend, die Lobhudelei der jüngeren Frau animierend. Und so landet Maggie mit John, kurz nach der manuellen Einführung des Gurkenmann-Spermas, im Bett. Es folgt ein Zeitsprung von drei Jahren, in denen eine Tochter geboren und Georgette verlassen wurde, mitten hinein in die neue Beziehung zwischen Maggie und John, die sich von einer Symbiose zum parasitären Verhältnis entwickelt hat. „Maggies Plan“ lebt von den schlagfertigen Dialogen und Kapriolen eines bis in die Nebenfiguren hinein wunderbar gezeichneten Figurenensembles. Da stehen sich Maggie und ihre Ex-College-Beziehung so nah, dass sie den jeweils anderen zum Mundgeruch-Test heranziehen. Georgette und John bekommen sich über die Occupy-Bewegung als Subplot der kapitalistischen Narrative in die Haare, und Maggie versucht für eine ihrer Studentinnen mittels einer Kinderpuppe mit entnehmbaren Organen den Abgrund zwischen Kunst und Kommerz zu überwinden. Wie Maggie und John beim Flanieren durch den Central Park über sein Buch fachsimpeln und Jahre später in ihrer shabbychic designten Wohnung aneinander vorbeireden, könnte aus der Feder von Woody Allen stammen. Ethan Hawke als selbstbezogener Intellektueller mit Jammertendenz wird hier

allerdings aus strikt weiblichem Blickwinkel zur sauren Gurke, in die Maggie irgendwann nicht mehr beißen will. John, der sein Buch nicht fertig bekommt, saugt Maggie aus, während sie Beruf, Haushalt und Johns Kinder aus erster Ehe zu managen versucht. Deshalb ändert Maggie ihre Strategie: Statt Rückhalt heißt die Devise fortan Rückgabe, was bei der gehörnten Georgette auf wenig Begeisterung stößt. Die (anti-)romantische Screwball-Komödie etabliert Maggie als Rettungsengel mit den besten Absichten und schlechtesten Lösungsansätzen. Was den Stoff neben den cleveren Wendungen und Seitenhieben auf einen blasierten Wissenschaftsbetrieb amüsant macht, ist eine Variation des BechdelTests. Dieser fragt nach der Existenz weiblicher Hauptfiguren, nach deren dialogischem Anteil und ob sich deren Inhalt nicht nur um das andere Geschlecht dreht. Auch Maggies Handeln ist auf Männer fokussiert. Aber zunächst geht es um deren Sperma und dann darum, wie man sie wieder loswird. Rebecca Miller hebt gegen die Egoismen der jüngeren „Generation beziehungsunfähig“ nicht den Zeigefinger, sondern bringt Verständnis für die Selbstoptimierer auf, denen Karriere und persönliches Glück über das ihrer Liebsten geht: Partner und Kinder werden zu Schach-

figuren auf dem Spielfeld der Selbstverwirklichung. Doch egal, ob das nun Mutterschaft, Paarbeziehung oder Familie heißt: Irgendwann schleichen sich immer wieder die gleichen Fehler ein, die Maggie nicht hinnehmen will. Das fällt aber weniger unter Selbstoptimierung, als unter einen Selbstschutz, der sich von aufopfernden weiblichen Rollenbildern eklatant unterscheidet. Millers Film kehrt die GenderVerhältnisse um – und eröffnet in der letzten Szene dann doch einen wortwörtlichen „Augenblick“ klassischer Familienplanung. Das allerdings ohne Häme, sondern mit viel Herz. Kathrin Häger BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

Eine New Yorkerin Mitte 30 will auch ohne Partner ein Kind bekommen. Während der Inseminationsvorbereitungen verliebt sie sich in einen Universitätsdozenten, der in seiner Ehe mit einer tyrannischen Professorin nicht glücklich ist. Drei Jahre später ist aus der Beziehung zwar ein Kind entstanden, doch die Mutter würde den Erzeuger gerne wieder zurückgeben. Die antiromantische Screwball-Komödie sprüht in der Tradition von Woody Allen unter weiblichen Vorzeichen vor Dialogwitz und einem glänzend besetzten Darsteller-Ensemble. Die Generation der Selbstoptimierer wird mit Verständnis, aber ohne Häme seziert, während der dünkelhafte Wissenschaftsbetrieb heftige Seitenhiebe abbekommt. – Sehenswert ab 14.

MAGGIE’S PLAN. USA 2015 Regie: Rebecca Miller Darsteller: Greta Gerwig (Maggie), Ethan Hawke (John), Julianne Moore (Georgette), Bill Hader (Tony), Maya Rudolph (Felicia), Travis Fimmel, Ida Rohatyn Länge: 99 Min. | Kinostart: 4.8.2016 Verleih: MFA | FSK: ab 0; f FD-Kritik: 44 069

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NEuE FILME kritiken Julieta (Emma Suarez) ist eine attraktive blonde Frau um die 50. Man sieht ihr an, dass sie Schlimmes durchlebt hat. Seitdem sie zufällig die Kindheitsfreundin ihrer Tochter getroffen und von ihr erfahren hat, dass Antía noch lebt, hat sie alle Zukunftsprojekte über den Haufen geworfen. Stattdessen schreibt sie einen langen Brief, eine Lebensbeichte an ihre einzige Tochter, die sie seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat. Darin erzählt sie ihr von den frühen 1980er-Jahren, wie sie in den bonbonfarbenen Zeiten des Aufbruchs und der Lebensfreude nach Francos Tod Antías Vater kennenlernte. Im Nachtzug nach Madrid werden der galizische Fischer Xoan (Daniel Grao) und die Lehrerin für klassische Philologie (Adriana Ugarte) ein Paar, obwohl Xoans Frau, die seit Jahren im Wachkoma liegt, noch lebt. Die Fahrt ist allerdings vom mysteriösen Selbstmord eines Reisenden überschattet, an dessen Tod sich Julieta schuldig fühlt. Dann aber beginnen glückliche Zeiten. Julieta bekommt ein Baby, und nach dem Tod von Xoans Frau leben die drei an der Küste zusammen. Das kleine Mädchen Antía liebt seinen Vater heiß und innig, begleitet ihn auf dem Boot beim Fischen. Die Bildhauerin Ava (Inma Cuesta) wird Julietas beste Freundin, obwohl sie spürt, dass die Künstlerin früher die Geliebte ihres Mannes war. Als Antía zum ersten Mal ins Ferienlager fährt, gerät Julieta in einen heftigen Streit mit Xoan. Wütend besteigt der Fischer sein Boot und fährt trotz des aufziehenden Unwetters aufs Meer hinaus, wo er den Tod findet. Julieta ist verzweifelt und innerlich zerbrochen; sie zieht mit Antía nach Madrid. Doch sie kann ihre Trauer nicht überwinden – und verliert auch noch die Tochter, kurz nach deren 18. Geburtstag.

Julieta Mutter-Tochter-Drama von Pedro Almodóvar

das in die unterschiedlichen Viertel Madrids führt, nach Andalusien, an die galizische Küste, in die Pyrenäen bei Huesca und am Ende die Alpen. „Julieta“ steht damit in einer Linie mit Almodovars großen Mutterdramen wie „High Heels“ (1991) oder „Alles über meine Mutter“ (1999). Allerdings spart der Film die Begegnung von Mutter und Tochter aus, belässt sie im Dunkel. Erst mit dem offenen Ende, wenn der Titel „Julieta“ wieder die Leinwand füllt, wird klar, dass die Begegnung von Mutter und Tochter Stoff für einen zweiten Film abgeben könnte. Wolfgang Hamdorf

BeweRtung DeR FiLmKommiSSion

„Julieta“ ist Pedro Almodóvars 20. abendfüllender Film. Es ist ein Film über Frauen, aber der Ton ist ein anderer. Der Meister aus „La Mancha“ definiert seine Mutter-Tochter-Tragödie selbst als „trockenes Drama“. „Julieta“ ist kein Melodram und auch keine Genremischung, die sonst Almodovars ganz eigene Melange ausmacht. „Julieta“ erzählt vielmehr die Geschichte eines Lebens, einer Frau, die von zwei Schauspielerinnen verkörpert wird, von Emma Suarez, die als ältere Frau noch einmal den Kampf um die Liebe ihrer Tochter aufnimmt, und von Adriana Ugarte, die als junge Frau an den Tragödien ihres Lebens versteinert. Zwei Schauspielerinnen, eine Rolle, die wie ineinander gesteckte russische Babuschkas von den Wechselfällen eines Lebens erzählen. Denn das zentrale Thema des Films ist das Altern, der unaufhaltsame Fluss des Lebens und die Erinnerung an frühere Abschnitte auf dieser Reise. Mit dem unaufhaltsamen Verrinnen der Lebenszeit und

den Erinnerungen an frühere Möglichkeiten der eigenen Biografie hat sich Almodóvar in vielen seiner jüngeren Filme auseinandergesetzt. Doch diesmal hat diese Reise nichts mit seiner eigenen Vergangenheit zu tun. „Julieta“ erzählt von normalen Menschen mit der grausamen Dynamik einer griechischen Tragödie. Der Film erzählt in einem trockenen, aber eindringlicher Ton. Das Leiden ist nicht mehr frisch, spontan und tränenreich, sondern zum festen Bestandteil von Körper und Seele geworden. Dabei spiegelt „Julieta“ nicht nur das individuelle Altern der Protagonistin, sondern auch das sich wandelnde Lebensgefühl der spanischen Gesellschaft, weg von der euphorisierten Energie der 1980er-Jahre, hin zur realistischeren Katerstimmung der 1990er-Jahre. Doch dieses Mal entfaltet Almodóvar keine Geschichte der „Movida“, er färbt die Geschichte nicht mit den schrillen, exotischen Farben der Subkultur. „Julieta“ ist ein eindringliches Familiendrama,

Eine Frau um die 50 wirft ihre Pläne um, als sie Neuigkeiten über ihrer Tochter erfährt, die seit ihrem 18. Geburtstag verschwunden ist. In einem schmerzhaften Prozess erinnert sie sich an ihre Familiengeschichte, die mit der Liebe zu einem galizischen Fischer begann und nach dessen Tod in Trauer und Depression versank. In seinem 20. Film entfaltet Pedro Almodóvar ein eindringliches Drama über das unaufhaltsame Verrinnen der Lebenszeit, deren Wunden nicht geheilt, aber mit Geduld und Ehrlichkeit gelindert werden können. Der zurückhaltend inszenierte Film wird von zwei überzeugenden Hauptdarstellerinnen getragen, die gemeinsam die Protagonistin verkörpern. – Sehenswert ab 14.

JULIETA. Spanien 2016 Regie: Pedro Almodóvar Darsteller: Emma Suárez (Julieta), Adriana Ugarte (junge Julieta), Daniel Grao (Xoan), Inma Cuesta (Ava), Darío Grandinett (Lorenzo), Rossy de Palma (Marian), Michelle Jenner, Pilar Castro Länge: 100 Min. | Kinostart: 4.8.2016 Verleih: Tobis | FSK: ab 6; f FD-Kritik: 44 077

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kritiken auf dvd/Blu-ray

the Double Jesse Eisenberg in einer stilistisch brillanten Dystopie nach Dostojewskis „Der Doppelgänger“

„Sie besetzen meinen Platz“, sagt ein unfreundlicher Mann in der U-Bahn zu Simon (Jesse Eisenberg), einem verhuschten Büroangestellten in einer schäbigen Großstadt. Simon ist irritiert, denn in dem menschenleeren Wagon gibt es mehr als genug freie Sitze. Trotzdem trollt er sich. Ein Menetekel für das was Simon bevorsteht. Denn von seinem Platz vertrieben wird er bald noch viel gründlicher und auf noch viel seltsamere Weise: von einem Mann, der ihm bis aufs Haar gleicht. Regisseur Richard Ayoade stützt sich für seinen Film „The Double“ auf Dostojewskis Erzählung „Der Doppelgänger“ (1864). Dort wird in einer beklemmenden Mischung aus Fantastik und eindringlicher Milieustudie die „Seelenangst“ eines kleinen Beamten geschildert, der auf drastische Weise merkt, wie wenig Kontrolle er über sich und sein Leben besitzt, als er peu à peu von einem erfolgreicheren Ebenbild verdrängt wird. Obwohl das Production Design der Verfilmung auf keine reale Epoche verweist, sondern von fern an die Retro-ScienceFiction-Dystopie in Terry Gilliams „Brazil“ (fd 25 074) erinnert, gelingt dem Film ein beachtliches Update des Stoffes in die Gegenwart der „Corporate Culture“, der hier der Schimmer ihrer Glasfassaden und Flachbildschirme gründlich ausgetrieben wird. Was bleibt, ist eine modrige, tages-

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lichtlose Tretmühle, in der Menschen nur einer Fahrstuhltür, an Buster Keaton und das noch als Datenlieferanten interessant sind. Slapstick-Kino denken. Doch das Lachen Etwa für die Selbstmordstatistik. bleibt einem im Halse stecken angesichts Sich von anderen ausnutzen zu lassen, dieses traurigen Clowns, der kaum eine ist Simon James gewöhnt. Im Konzern, in Chance hat, den Kampf zu gewinnen. Wie soll dem er mit Datenverarbeitung zu tun hat, man auch die Kraft zur Selbstbehauptung herrscht zwar oberflächlich ein geschäftsaufbringen, die Keaton oder Chaplin an den mäßig-freundlicher Tonfall, doch in WahrTag legten, wenn man nicht einmal seine heit unterliegt alles knallharter Effizienz. Einzigartigkeit bewahren kann? Oder sollte Zwischen seiner trostlosen Büroparzelle, etwa die Liebe Simon aus dem befreien, was dem Altersheim, wo seine griesgrämier selbst als Marionetten-Dasein empfindet? ge Mutter untergebracht ist, und einer Dostojewskis Vorlage, die auf das vorausMini-Wohnung in einem tristen weist, was Kafka zu Beginn des Hochhaus gibt es für Simon 20. Jahrhunderts als surreal nur einen Lichtblick: eine junge zugespitztes Stimmungsbild Kollegin (Mia Wasikowska), die der Moderne verdichtete, liefert im Block gegenüber wohnt und hier den Stoff für einen bedie Simon heimlich mit dem unruhigenden Abgesang auf Fernrohr beobachtet. Doch das Individuum in der Ära der auch dieser Lichtblick droht zu totalen Ökonomisierung. Die entgleiten, als mit James Simon klaustrophobisch-stimmungsvolein Doppelgänger in der Firma len Settings, die hervorragende auftaucht, der wesentlich besser THE dOuBlE schauspielerische Leistung als das Original seine Ellenbogen Großbritannien 2013 von Jesse Eisenberg und ein einzusetzen weiß, um sich nach mustergültiger Soundtrack, der regie: richard ayoade oben zu boxen oder eine Frau zu Elemente aus Schuberts „Der darsteller: Mia Waskibeeindrucken. Doppelgänger“ aufgreift und kowska, Jesse Eisenberg Bisweilen lassen Jesse Eisenbergs ironisch-kontrapunktierenden länge: 98 Min. melancholisch-unbewegte Mimik, Japan-Sixties-Pop einflicht, sorsein schlecht sitzender Anzug und fSK: ab 12 gen dafür, dass der Film einem anbieter: WvG der Kampf mit den Tücken der nachhaltig unter die Haut geht. -Ab 16. Felicitas Kleiner fd-Kritik: 44 084 Dingwelt und der Technik, etwa


FERNSEH-TIPPS KRITIKEN

FR

18. August, 23.00-00.40

rbb Fernsehen

Welcome – Grenze der Hoffnung Angesichts der Tatsache, dass viele Flüchtlinge nach wie vor auf dem Weg nach Europa ertrinken, scheint das französische Flüchtlingsdrama von Philippe Lioret besonders aktuell: Ein Schwimmlehrer (Vincent Lindon) freundet sich in Calais mit einem Immigranten an, der vor dem Krieg im Irak geflohen ist. Der junge Mann will nach England und deshalb Schwimmen lernen, um den Ärmelkanal durchqueren zu können. Das Migrationsdrama entwirft das Porträt einer sich langsam entwickelnden Freundschaft, die sich in einem gesellschaftlichen Klima der Ausgrenzung und Angst behaupten muss. Mit ironischen Spitzen, aber ohne Zynismus entsteht ein berührender Blick auf persönliche Schicksale in einer Welt, in der das Wort „Willkommen“ angesichts immer größerer Unterschiede zwischen Arm und Reich zur inhaltslosen Floskel zu werden droht.

FREITAG 19. August, 23.45-00.40 19. August Kurzschluss:

„Erste Filme“

15.45-17.10 arte Zu gut für diese Welt R: Jean-Pierre Améris Präzise Gesellschaftsstudie nach Zola Frankreich 2011 Ab 16

23.15-00.45 BR FERNSEHEN La Bambolona, die große Puppe R: Franco Giraldi Beschwingt-frivole Komödie Italien 1968 Ab 16

19.30-21.00 KiKA Mister Twister – Eine Klasse macht Camping R: Barbara Bredero Zweiter Teil der Kinderfilm-Reihe Niederlande 2013 Sehenswert ab 8

23.15-00.50 zdf.kultur Dual – zu zweit R: Nejc Gazvoda Liebesfilm abseits der Stereotypen Deutschland 2013 Ab 16

20.15-22.00 Die verlorene Zeit R: Anna Justice Holocaust-Überlebende sucht totgeglaubte Liebe Deutschland 2009 20.15.22.25 I, Robot R: Alex Proyas Science-Fiction-Thriller USA 2004

arte

arte

Ab 14 ProSieben

22.10-00.05 Die drei Tage des Condor R: Sydney Pollack Spannender CIA-Thriller USA 1974

Ab 16 3sat

Ab 16

23.45-00.40 Kurzschluss – Das Magazin Schwerpunkt „Erste Filme“

arte

00.00-00.15 Kino Royal Filmmagazin

mdr

00.40-01.10 Blut unter der Haut R: Jennifer Reeder Preisgekrönter Kurzfilm USA 2015

arte

Ab 16

01.15-02.53 Das Erste OSS 117 – Er selbst ist sich genug R: Michel Hazanavicius Stilsichere Agentenparodie Frankreich 2009 Ab 14

Das arte-Kurzfilmmagazin widmet sich den Anfängen zweier außergewöhnlicher europäischer Filmemacher: Barbara Albert und Ruben Östlund. Die österreichische Regisseurin Albert debütierte 1999 mit „Nordrand“ und schaffte es damit auf Anhieb in den Wettbewerb von Venedig. Das wirkte als Startschuss für eine ganze Generation, die in der Wiener Produktionsfirma „coop99“ dann auch schnell zusammenfand. Der Schwede Östlund hingegen ist ein Einzelkämpfer, der sich in seinen Filmen interessanterweise mit der Struktur von Gruppen beschäftigt. „Wir sind alle Herdentiere“, sagt er im Interview. „Mein Interesse gilt dem Verhalten, insbesondere unter Druck, das von den Normen und Vorstellungen der Gesellschaft abweicht“. Im Anschluss zeigt arte den Kurzfilm „Blut unter der Haut“ (00.40-01.10) von Jennifer Reeder, die eine Woche im Leben dreier Teenager erzählt, die sich auf die „Prom Night“ an ihrer High School vorbereiten. Die US-amerikanische Kurzfilmerin porträtiert seit zwei Jahrzehnten Frauen mit komplexen Persönlichkeiten. oft geht es darin um das Lebensgefühl junger Mädchen, um die Neuauslotung von Körper und Gefühl oder die ständige Positionierung innerhalb wechselnder Gruppen. So fühlen sich zwei der Porträtierten in „Blut unter der Haut“ zueinander hingezogen, während die Dritte ganz von ihrer Mutter in Beschlag genommen wird, die gerade die Trennung von ihrem Mann verkraften muss.

Die bleierne Zeit

ONLINE-TIPP

Zwei Schwestern, Töchter eines evangelischen Pfarrers, engagieren sich politisch. Während die eine den Weg der kleinen Schritte geht, taucht die andere in Terror-Kreisen unter. Als die Jüngere im Gefängnis stirbt, versucht die Schwester, die Umstände ihres Todes zu ergründen. Margarethe von Trotta verbindet in ihrem Film (Dt. 1981) politischtheoretisches Planspiel und psychologisches Melodram, um das Problem des politischen Widerstands zu erörtern. Trotz der Parteilichkeit - die „andere Seite“ des Terrorismus, die der opfer, wird völlig ausgespart - ein thematisch ungebrochen wichtiger, diskussionswerter Beitrag zum Problem des Terrorismus. . – Ab 16. „Die bleierne Zeit“ sehen auf www.alleskino.de

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