Filmdienst 18/2013

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film dienst

animierte wahrheit

nEuE wEgE, DiE wiRKLiCHKEiT ABZuBiLDEn

Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 28. August 2013

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FILM & MUSIK

Frank Zappa und das Kino Die Rock-Legende hinterließ auch auf der Leinwand markante Spuren

40 Seiten Extra-Heft

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Alle Filme im TV vom 31.8. bis 13.9.

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Akteure

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Wir mögen nicht allzu viele Stars haben. Dennoch kann der deutsche Film seit zehn Jahren auf einen ungewöhnlich großen und vielfältigen Talent-Pool voller hochbegabter Jungschauspieler zurückgreifen. Ein Überblick zum Auftakt einer neuen Porträt-Serie. Von Alexandra Wach

„Postergirl der Nouvelle Vague“ und Muse von Jean-Luc Godard. In seinem Science-Fiction-Film „Alphaville“ brillierte Anna Karina 1965 im Paris einer genialen Zukunfts-Dystopie. Von Rainer Gansera

magische momente

die spielWÜtigen

Was du nicht siehst 31.8. WDR Der große Crash - Margin Call 7.9. ARD Joe Strummer 11.9. EinsFestival

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die erste ihrer art Den Auftakt unserer Entdeckungsreise durch die Garde deutscher Nachwuchsschauspieler macht eine feingliedrig androgyne Vertreterin. Anne Müller überzeugt als eiskalte Sonni in „Die Besucher“ und lässt auf zukünftige Rollen abseits der Norm hoffen. Von Alexandra Wach

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fast Wie fliegen Es ist eines der schönsten Motive des Kinderfilms: Das Fahrradfahren. Die Zweiräder, ihre kleinen Besitzer und deren Erlebnisse gehen im Kino eine magisch-dynamische Symbiose ein. Ein Streifzug durch berührende Versuche des „Freistrampelns“. Von Felicitas Kleiner + Lese-Tipp „Kindheiten“

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on the road Frank Zappa war kein Cineast, aber Filmfan. Mit Soundtracks und zwei Regie-Projekten lässt sich eine feine Filmspur durch sein Lebenswerk rekonstruieren, der es nachzugehen lohnt. Von Claus Löser + Konzert-DVDs, Filme & Bücher

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ein faible fÜr den zWiespalt Zwischen perfekter Familienidylle und heiklem Einsatz als Stasi-Agentin. In „Zwei Leben“ wird Juliane Köhler im September im Kino zu sehen sein. Mit Margret Köhler hat sie über Filme als „Leckerbissen“ und den Schutz der Privatsphäre gesprochen.

Der Engel Cassiel in misslicher Lage: Otto Sander in Wim Wenders „In weiter Ferne, so nah!“

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Fotos: TITEL: Fabian Schellhorn. S. 4/5: farbfilm verleih; Arthaus; DEAG Music; Koch Media; Böller und Brot; fugu; Sony

Alle Filme im TV vom 31.8. bis 13.9. Das Extraheft

Juliane Köhler als Stasi-Agentin im neuen Kinofilm „Zwei Leben“ von georg maas Filmdienst

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Neue Filme + alle starttermine

39 Chennai Express [15.8.] 44 Chroniken der Unterwelt City of Bones [29.8.] ZeichentrickKonterfei aus Marten Persiels „This Ain`t California“ über die DDR-Skaterszene der 80er.

Das Kino zieht seine Figuren aus dem Schatten: „where’s the Beer“ folgt einem ehemaligen Schlagzeuger von Frank Zappa. in „Shadow Dancer“ wird eine iRA-Aktivistin ans Licht gezerrt, während sich die „white House Down“-Terroristen in die Präsidentenvilla bomben.

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s. Where`s the beer and When do We get paid?

Film-Kunst Kinotipp

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der katholischen Filmkritik

s. 36 das mÄdchen WadJda

filmbÜcher In poetischen Miniaturen entführt der Filmkritiker Peter Nau in die Filmstadt Berlin; eine aufmerksame Analyse widmet sich dem Phänomen des „neuen Realismus“ im US- Kino. + Weitere Literatur-Tipps

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mehr als eine krÜcke Sie ergänzen und bereichern den Dokumentarfilm: Animationsbilder sind mittlerweile ein beliebtes Mittel, um ästhetisch packend von Erlebnissen zu berichten, die sich der dokumentarischen Abbildung enziehen. Von Christian Meyer + Doku-Comics

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Drama von Haifaa Al Mansour

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Der Fall Wilhelm Reich [5.9.] Hans Dampf [29.8.] ¡Hasta la Vista, Sister! [29.8.] König von Deutschland [5.9.] Planes [29.8.] Portugal, mon amour [29.8.] Shadow Dancer [5.9.] The Look of Love [29.8.] Vijay und ich - Meine Frau geht fremd mit mir [5.9.] Voll und ganz und mittendrin [5.9.] Where’s the Beer and when do we get paid? [29.8.] White House Down [5.9.] Wir die Wand [5.9.] Wir sind die Millers [29.8.]

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s. shadoW dancer

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s. White house doWn

rubriken Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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in Weiter ferne, so nah Die restaurierten Blu-ray-Fassungen von drei Wim-Wenders-Klassikern laden dazu ein, sein Werk neu zu bewerten. Wie hat sein poetisch-assoziatives Erzählkino die Zeit überdauert? Von Rainer Gansera

Kritiken und Anregungen?

Eine amerikanische Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über John Fords AmerikaMythos und eine Publikation, die ihn zurechtstutzt. (S. 27)

Legende

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Die Spiel w deutschland ist keine star-nation. idole, deren name ausreicht, um die massen ins kino zu ziehen, findet man nur wenige. dafür gibt es viele gute schauspieler: akteure und aktricen, die wandlungsfähig ihre rollen zum leben erwecken und selbst in blasse Filme Farbe bringen. in der nachfolge der arrivierten „großschauspieler“ haben in den letzten zehn Jahren neue talente auf sich aufmerksam gemacht. ihnen huldigen wir in einer neuen porträt-serie. Von Alexandra Wach

Ein Teenager aus der Provinz hat es nach einer furchteinflößenden Charakterrolle in dem Jugendfilm „Knallhart“ auf Anhieb vor die Kamera eines Steven Spielberg und Stephen Daldry geschafft. Das ungläubige Staunen über den märchenhaften Aufstieg von David Kross war groß, als er es mit seinem entwaffnend natürlichen Spiel in schwindelerregendem Tempo auf Augenhöhe mit Kate Winslet brachte. Inzwischen ist in der Karriere des 23-Jährigen wieder die Normalität eingekehrt. Nach dem Abbruch eines Schauspielstudiums in London folgte ein erneutes Engagement durch seinen Entdecker Detlev Buck und die Rolle von Ludwig XIV. in einer französischen „Angelique“-Neuverfilmung. Also doch nur ein Ausnahmephänomen, das schon bei Daniel Brühl in einer eher enttäuschenden Mischkalkulation aus viel internationaler Routine und wenig Überraschendem endete? Nein, eher ein Gesetz der Serie. Seit den Nullerjahren baut sich in Deutschland kontinuierlich eine neue Garde kraftstrotzender Schauspielbegabungen auf, die cinephile Nationen wie Frankreich längst in den Olymp gehoben hätten, wie

zuletzt etwa in der Juli/August-Ausgabe der „Cahiers du Cinéma“, deren Cover die Liebeserklärung „L’amour des acteurs“ zierte.

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„Staub auf unseren Herzen“ Filmdienst 18 | 2013

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bis zu Devid Striesow. Auch eine Susanne Wolff hätte man in dieser Runde verorten können. Sie schaffte es über die Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover bis zu den Salzburger Festspielen. Ins Kino oder gar Fernsehen verirrt sie sich nur selten. Und wenn doch, dann dreht sie gleich mit Dominik Graf oder sucht sich die Rolle einer Mutter mit einer postnatalen

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Die Namen der jüngsten Absolventen der ErnstBusch-Schule lesen sich wie ein „Who’s Who“ des deutschen Gegenwartsfilms , von Sandra Hüller über August Diehl

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Die neuen Gesichter lassen ihre Vorgänger mehr als blass aussehen. Was ist schon die piepsstimmige Männlichkeit eines Til Schweiger gegen die postmaskuline Grandezza eines Ronald Zehrfeld oder Mišel Matičević? Der immer gleiche Rollen- und Outfit-Zuschnitt einer Maria Schrader oder Katja Riemann gegen die ätherisch bodenständige Vielseitigkeit einer Brigitte Hobmeier, deren Spektrum auf der Bühne von der Buhlschaft bis zu Fassbinders Maria Braun reicht? „Endlich erobern junge Schauspieler mit einer Mischung aus Mut und Melancholie das deutsche Kino, statt mit Albernheit zu nerven“, resümierte das ZEITmagazin in seinem Special zur diesjährigen „Berlinale“ und packte gleich ein ganzes Klassenquartett der Ernst-Busch-Hochschule in einen Erste-Liga-Umhang: mit dabei Nina Hoss, Fritzi Haberlandt, Lars Eidinger und Mark Waschke. Auffällig viele der durch ihre fundierte Professionalität glänzenden Novizen kommen von der Berliner Lehranstalt, die 1905 von Max Reinhardt gegründet wurde und bis zur Wende das Aushängeschild der elitären Theaterausbildung in der DDR war.

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Denn natürlich hat die wunderliche Vermehrung atemberaubender Jungakteure auch mit der längst fälligen Ausdifferenzierung der deutschen Filmbranche zu tun. Diese lässt neben ver-

meintlich sicheren Publikumsgaranten und den teuren Großproduktionen verdienter „Neuer Deutscher Film“-Heroen verstärkt auch einer nachwachsenden Generation den Vortritt. Die jungen Filmemacher orientieren sich wieder an den Traditionen des europäischen Autorenfilms und irritieren lieber, als sich mit der geforderten Kompatibilität für eine nachfolgende Fernsehverwertung zufriedenzugeben. Es

wird endlich wieder mehr gewagt im deutschen Film, wenn auch, je

weiter die Lebensläufe der Jungregisseure fortschreiten, meist immer noch in homöopathischen Dosierungen. Selbst bei den Bedenkenträgern des Fernsehens scheint sich das Bedürfnis nach Figuren herumgesprochen zu haben, die über mehr als nur eine Dimension verfügen. Schade ist freilich, dass

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Fotos: Movienet, Zorro/Good!Movies, fd-Arhciv

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Depression aus, die über „Das Fremde in mir“ wahnsinnig zu werden droht. Oder Valery Tscheplanowa, auch sie eine Abgängerin der Ernst-Busch-Schule und neben Mehdi Nebbou, Stipe Erceg, Irina Potapenko oder Daniel Brühl eines jener zwischen den Kulturen aufgewachsenen Nomadenkinder, die ihre Auftritte mit betörender Uneindeutigkeit bereichern. Was wäre Andreas Dresens Klamaukdrama „Whisky mit Wodka“ ohne Tscheplanowas schläfrig abgeklärte Präsenz. Alina Levshin, Absolventin der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam, ist am fiebrig emotionalen Gegenpol der Skala zu verorten. Sie startete schon im Studium bei Dominik Graf in der kinoreifen Fernsehserie „Im Angesicht des Verbrechens“ durch, wenn auch in einer Rolle, die sie wohl ihrer Herkunft aus der Ukraine verdankte. Umso respektabler ihr Auftritt als wütendes Skinhead-Girl in „Die Kriegerin“. Dass dieser vielprämierten Leistung, bis auf eine „romantische Komödie“ unter der Regie von Matthias Schweighöfer, bisher ausschließlich Fernsehengagements folgten, verärgert und macht stutzig.

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Talent-Pool: Dietrich Brüggemanns Studentenkomödie „3 Zimmer/Küche/Bad“


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letzten Rolle als herrschsüchtige Mutter die junge Stefanie Stremler zur Gegenwehr an. Passenderweise gehörte die durch eine widerspenstige Technik auffallende Stremler just zu jener Gruppe von Schauspielschülern, deren Studienjahre auf der ErnstBusch-Schule ernüchternden Stoff für Andres Veiels Schauspielschüler-Doku „Die Spielwütigen“ bot.

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Historisch verankerte Filme von Nachwuchsregisseuren wie die DDR-Romanze „Westwind“ oder das Stasi-Drama „Wir wollten aufs Meer“ überzeugten bisher zwar nicht immer durch eine stimmige Auseinandersetzung mit dem sensiblen Sujet, boten aber immerhin eine anspruchsvolle Kulisse für das Aufeinandertreffen mit Wucht und Inbrunst aufspielender Generationsgenossen, die sich untereinander messen konnten.

Die Anerkennung, die ihre Leistung verdienen, finden die jungen Talente nicht immer - oft bleibt die Zahl der Kinozuschauer, die sie zur Kenntnis nehmen, allzu überschaubar. Dass eine

auf unserem Herzen“ der 1979 geborenen Hanna Doose war beispielsweise so ein Musterexemplar einer ungewohnt aus dem Ruder laufenden Familiendystopie. Susanne Lothar stachelte darin in ihrer

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Es bleibt zu hoffen, dass solchen Talenten bei neuen Projekten die Aufmerksamkeit zuteil wird, die sie verdienen. Wie kürzlich dem Nachwuchstalent Carla Juri bei dem Funken sprühenden Kamikaze-Auftritt in „Feuchtgebiete“. Spannend dürfte es werden, ob Juri in dem mehr als vielversprechenden Ensemble von „Finsterworld“ besteht. Die Gesellschaftssatire aus der Feder des Dandyzynikers Christian Kracht verspricht zum Starttermin im Oktober ein Festessen neuer deutscher Schauspielkunst: Neben Altstars wie Margit Carstensen und Corinna Harfouch liefern sich Ronald Zehrfeld, Sandra Hüller und Christoph Bach in diesem Heimatfilm der absurd komischen Art einen hoffentlich beißenden Ritt durch die bundesrepublikanische Parallelwelt.

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Verlass ist dagegen immer noch auf die große Anzahl herausragender Debüts, in denen Schauspiel-Newcomer neben Profis ihr Können beweisen können oder miteinander um die Gunst der Kamera konkurrieren. „Staub

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die Angst vor dem eigenen Mut (bis auf das Nischen-terrain des „Kleinen Fernsehspiels“) oft noch jedes Risko ausbremst, wenn es ernst wird. Wie in der ZDF-Prestige-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ zu besichtigen war, in der ein fulminantes Ensemble, allen voran die großen Hoffnungsträger Volker Bruch, Tom Schilling, Katharina Schüttler und Ludwig Trepte, eine sich hoffnungslos verheddernde Kriegssaga-Dramaturgie über deren vermeidbare Unzulänglichkeiten hinwegretten musste.

schwarz-weiße, mit Jazz unterlegte Low-BudgetKuriosität wie das Spielfilmdebüt „Oh Boy“ von JanOle Gerster vom Deutschen Filmpreis nicht nur nicht übergangen, sondern gleich mehrfach ausgezeichnet wurde, stimmt immerhin hoffnungsvoll. Der Film war nicht nur hervorragend inszeniert, sondern auch ein dankbares Solo-Vehikel für einen Tom Schilling in Hochform, der das Lebensgefühl der von der Verschieberitis geplagten Thirtysomethings mit minimalem Aufwand auf die Leinwand brachte. Weniger Glück hatte dagegen Regisseur Dietrich Brüggemann mit seiner Studentenkomödie „3 Zimmer/Küche/ Bad“: Das Medien- und Publikumsecho blieb überschaubar, obwohl er ebenfalls mit einer präzise selbstironischen Beobachtung seiner Jahrgänge aufwartete und in dem Ensemble aus seiner Schwester Anna Brüggemann, Jacob Matschenz, Alice Dwyer und Robert Gwisdek gleich mehrere hochbegabte Jungschauspieler versammelte.

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Es ist nur ein Zettel mit ihrem Namen darauf. Trotzdem hat das Stück Papier für die zwölfjährige Wadjda Bedeutung. Auf einem Bild an der Wohnzimmerwand ihres Elternhauses in Riad ist ein Stammbaum ihrer Familie zu sehen. „Du stehst da nicht drauf, da sind nur die Männer“, sagt ihr ihre Mutter. Wadjda entgegnet nichts. Aber sie schreibt sich mittels des Zettels einfach selbst in die Familiengeschichte hinein, indem sie ihn an den „Ast“ ihres Vaters pinnt. Wenig später hat jemand das Papier wieder abgerissen. Der Film der Regisseurin Haifaa Al Mansour über das Mädchen, das sich auch von diesem deutlichen Platzverweis nicht den Schneid abkaufen lässt, ist selbst so etwas wie ein selbstbewusster weiblicher Zettel in einer Geschichte, in der Frauen bisher wenig zu melden hatten: ein Film von einer saudischen Frau, ganz fokussiert auf weibliche Figuren. „Wadjda“ ist zudem der erste Film, der komplett in Saudi-Arabien gedreht wurde – mit Hilfe der deutschen

BEwERTung DER FiLmKommiSSion Ein junges Mädchen, das mit seiner Mutter in Riad aufwächst, wünscht sich sehnlichst ein Fahrrad. Da das Radfahren in dem von strengen wahabitischen Traditionen geprägten Land für Mädchen aber als unschicklich gilt, weigert sich die Mutter, den Wunsch zu erfüllen. Doch das willensstarke Mädchen setzt alles daran, um das notwendige Geld selbst zu verdienen. Der erste komplett in Saudi-Arabien gedrehte Film vereint eine Genregeschichte vom Kampf eines Underdogs um seinen Lebenstraum, wie man ihn aus zahlreichen US-Filmen kennt, mit Einblicken in die Lebenswelt saudischer Frauen. So gelingt unterhaltsames Spannungskino, das zugleich ein kritisches Gesellschaftsporträt ist und dafür plädiert, mit erstarrten misogynen Traditionen zu brechen. - Sehenswert ab 12.

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das mädchen Wadjda [5.9.]

Ein grüner Traum ein saudisches mädchen lehnt sich gegen die Zwänge seiner gesellschaft auf WADJDA. Dt./Saudi-Arabien 2012 Regie, Buch: Haifaa Al Mansour Kamera: Lutz Reitemeier

Länge: 97 Min. | FSK: o.A.; f Verleih: Koch Media

musik: Max Richter

Kinostart: 5.9.2013

Schnitt: Andreas Wodraschke Darsteller: Reem Abdullah (Mutter), Waad Mohammed (Wadjda), Handwerk

Abdullrahman Al Gohani (Abdullah), Ahd (Hussa), Sultan Al Assaf (Vater)

InHalt

FD-Kritik: 41 870

darsteller

Razor Films Produktion und einer deutschen Crew, u.a. Kameramann Lutz Reitemeier, aber mit einem rein saudischen Cast. Das war der Regisseurin wichtig, um ihren Film „wirklich authentisch zu erzählen, ihm die korrekte lokale Tonalität“ zu verleihen. Tatsächlich kombiniert „Wadjda“ sehr geschickt die Beobachtung der saudischen Lebenswelt mit Erzählmustern, die sich die an der University of Sydney ausgebildete Regisseurin bei westlichen Vorbildern abgeschaut hat. Die dramaturgische Vorlage liefert der US-amerikanische Sportfilm: ein „Underdog“ verfolgt gegen alle Widerstände einen Traum, trainiert hart und triumphiert schließlich über alle Widerstände – das kennt man auch aus „Rocky“. Wobei der Traum, den die von Waad Mohammed grandios gespielte Wadjda verfolgt, grün ist, einen Lenker und zwei Räder hat: Es handelt sich um ein Fahrrad, mit dem sie sich gerne ein Rennen mit ihrem Freund, dem Nachbarsjungen Abdullah, liefern würde. Der Haken dabei ist: Fahrradfahren gehört sich nicht für saudische Mädchen, weswegen sich Wadjdas Mutter weigert, der Tochter das Rad zu kaufen. Wadjda aber ignoriert das Verbot souverän und macht sich daran, das Geld für das Rad selbst aufzutreiben. Als die gestrenge Rektorin ihrer Schule den kleinen Geschäften, die Wadjda auf dem Schulhof tätigt, einen Riegel vorschiebt, sieht sie nur einen Ausweg: Sie meldet sich für einen Koranwettbewerb an, da das Preisgeld locker für das Rad reichen würde. Doch weil ihr Rockmusik eigentlich näherliegt als die richtige Intonation von Koransuren, steht ihr ein hartes Stück Arbeit

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im Kino bevor. Die Innenansichten, die Al Mansour von ihrem Heimatland liefert, zeichnen eine zutiefst paradoxe Gesellschaft, bei der Tradition und moderne Lebensansprüche schon lange nicht mehr zusammenpassen: Die strengen Verhaltensregeln, die die wahabitische Richtung des Islam den Bewohnern (und vor allem den Bewohnerinnen) auferlegt, lässt der Film so „aufgesetzt“, verlogen und unpraktisch-unzeitgemäß wirken wie die Abaya bzw. der Hijab, den die Frauen über ihre Jeans und andere moderne Kleider stülpen, sobald sie das Haus verlassen. Al Mansour vermeidet es aber konsequent, die Frauen als „Opfer“ einer Männergesellschaft darzustellen; sie zeigt sie vielmehr als Mitverantwortliche. Die Rolle des gestrengen Sittenwächters, gegen den Wadjda sich behaupten muss, übernimmt ausgerechnet die erzkonservative Schuldirektorin: Sie, die für die Bildung verantwortlich ist und damit eine wichtige Rolle bei der Stärkung der jungen Frauen spielen könnte, tut alles, um Freiheitsbestrebungen im Keim zu ersticken; sogar lautes Lachen gilt bei ihr als unangemessen. Wadjdas Mutter, die zweite weibliche Autoritätsperson, mit der das Mädchen zu tun hat, ist dagegen als komplexe Figur angelegt, die ihrerseits zwischen der Unterordnung unter das traditionelle Frauenbild und der Unzufriedenheit mit ihrer Situation schwankt. Sie muss im Laufe des Films erst lernen, sich selbst zu behaupten und ihre Tochter zu unterstützen, anstatt sie zu maßregeln. Gerade diese sehr interessante Figur, verkörpert von der saudischen Star-Schauspielerin

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neue Filme

Reem Abdullah, sorgt dafür, dass der Film die Balance zwischen unterhaltsamem Spannungskino und klugem Gesellschaftsporträt schafft. Dem weiblichen „Rocky“ Wadjda steht diese erwachsene Frau entgegen, die zwar durchaus auch innere Stärke erahnen lässt, aber sich ständig „herunterdimmt“, um ihrer Rolle als Ehefrau gerecht zu werden. Sie ist zwar berufstätig – was in Saudi Arabien, wo nicht einmal 20 Prozent der Frauen arbeiten, durchaus fortschrittlich ist –, doch dafür muss sie viele Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. Die Anfahrt zu ihrem Job kann sie nur mit Hilfe eines Fahrers bewältigen, da Frauen das Autofahren verboten ist; mit dem Chauffeur gibt es aber ständig Querelen. Die weite Strecke ist andererseits notwendig, weil es in der Nähe keinen Arbeitsplatz gibt, an dem die Trennung der Geschlechter garantiert ist. Diese will die Mutter aber unbedingt gewahrt wissen, um ihren Ehemann nicht eifersüchtig zu machen. Denn das Verhältnis zu ihm ist problematisch; er taucht nur noch selten bei ihr und der kleinen Tochter auf und denkt darüber nach, eine Zweitfrau zu nehmen, weil seine Frau seit Wadjdas Geburt keine weiteren Kinder bekommen kann. Mit all diesen „Ausbremsungen“ liefert das Schicksal dieser Frau sozusagen die realitätsnahe Folie, vor der die Willensstärke, der Bewegungsdrang und die Energie der Tochter, die der Film feiert, umso imposanter wirken. „Wadjda“ ist nicht zuletzt ein Plädoyer dafür, dass es sich Saudi-Arabien nicht mehr länger erlauben kann, diese Energiequelle weiter so sinnlos zu vergeuden.

Felicitas Kleiner

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