Filmdienst 18 2014

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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GLÜCK IM KINO Was hat das Kino über den kostbarsten aller Zustände zu erzählen? Eine Passage durch Film-Glücksformeln.

SIMON PEGG Der britische Schauspieler und Drehbuchautor hat aus der Neurose eine Kunstform gemacht. Ein Porträt.

www.filmdienst.de

FILM IN DER UKRAINE Die politische Krise des Landes lässt auch die Kinokultur nicht unberührt. Ein Lagebericht.

MUSIK MACHT

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28. August 2014 € 4,50 67. Jahrgang

Der irische Regisseur John Carney hat früher selbst in einer Band gespielt. Nun zelebriert er in „Can a Song Save Your Life“ die Magie des gemeinsamen Musikmachens.

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ALLE STARTTERMINE

49 Amma & Appa – Eine bayerisch-indische Liebe 4.9. 43 Another me – Mein zweites Ich 4.9. 42 Can a Song Save Your Life? 28.8. 48 Diplomatie 28.8. 47 Doktorspiele 28.8. 51 Erlöse uns von dem Bösen 4.9.

S. 29 IN MEMORIAM: ROBIN WILLIAMS

S. 32 FILMFESTIVAL LOCARNO

KINOTIPP der katholischen Filmkritik

38 Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit 4.9. Tragikomödie von Uberto Pasolini

FERNSEH-TIPPS Serien-Fans dürfen sich auf die zweite Staffel von „House of Cards“ sowie auf die vielgelobte Serie „Ray Donovan“ freuen. arte widmet Léos Carax zwei Filmabende. Weitere Fernseh-Tipps ab S. 55

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RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD/BLU-RAY TV-TIPPS DVD-PERLEN VORSCHAU IMPRESSUM

S. 16 SIMON PEGG

S. 34 FILM NOIR UND NEO NOIR

S. 37 KINOKRITIKEN

S. 11 FILMKULTUR IN DER UKRAINE

Fotos: fd-Archiv, TASCHEN Verlag, Walt Disney, UIP, Filmfestival Locarno. TITEL: StudioCanal

Guardians of the Galaxy 28.8. Hercules 4.9. Lola auf der Erbse 4.9. Mit ganzer Kraft 4.9. No Pasaran 4.9. Ohne Dich 4.9. Sto spiti – At Home 4.9. Storm Hunters 21.8. Who Cares? Du machst den Unterschied 4.9. 40 Wolfskinder 28.8. 44 50 46 45 51 41 39 51 51

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INHALT KINO

AKTEURE

FILM-KUNST

S. 10 WHAT A GLORIOUS FEELING...

S. 20 JOHN CARNEY

10 GLÜCKSFORMELN IM KINO

20 JOHN CARNEY

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Ratgeber, wie man glücklich wird, stehen hoch im Kurs. Wir raten: Ab ins Kino! Auch das Medium Film ringt um Erkenntnisse und Ausdrucksmittel, die sich dem seligsten aller Daseinszustände annähern. Eine Passage durch beschwingte Kino-Rezepturen fürs Glücklichsein.

Mit „Once“ begeisterte der irische Filmemacher John Carney Publikum wie Kritik. Auch in seinem aktuellen Film „Can a Song Save Your Life“ spielte das gemeinsame Musikmachen als Lebenselexier eine Schlüsselrolle.

Friedhof Traumfabrik: Eifrige Websites listen jeden Toten des US-Mainstreamkinos auf. Ein Blick auf eine abseitige Leidenschaft.

Von Stefan Stiletto

16 FILMKULTUR IN DER UKRAINE Die aktuelle Krise in der Ukraine fordert auch die Filmemacher und Cineasten des Landes heraus. Unter schwierigen materiellen und politischen Bedingungen ringen sie um die Identität ihres Landes und dessen Rolle in Osteuropa. Eine Reise in den Osten und zum Festival nach Odessa. Von Hans Haus

S. 30 AGNES VARDA

Von Tim Slagman

22 HENRIETTE CONFURIUS In Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ eroberte sie als Charlotte von Lengefeld soeben das Herz von Friedrich Schiller. Ein „spielwütig“-Porträt über die talentierte deutsche Nachwuchsschauspielerin.

30 AGNES VARDA Die „Grande Dame“ des französischen Autorenfilms wurde beim Filmfestival Locarno für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Eine Hommage an eine grandiose Bildersucherin. Von Wilfried Reichart

32 LOCARNO FESTIVAL Das 67. „Festival del film“ in Locarno erprobt mit seiner Mischung aus Publikumsnähe und rigoroser Weltkino-Vieltfalt eine zukunftsfähige Formel.

Von Alexandra Wach

24 SIMON PEGG

Kino als Bildung, Lebensart und Denkform: Der Band „Kino“ präsentiert die gesammelten Schriften des französischen Kulturphilosophen Alain Badiou zur Siebten Kunst.

Hollywood schätzt das britische Energie- und Nervenbündel als komischen Sidekick in Blockbustern wie „Mission: Impossible“ oder „Star Trek“. Die Fans lieben Simon Pegg aber auch als Star schwarzhumoriger Komödien. Seine besten Rollen schreibt er sich als Drehbuchautor aber selbst auf den Leib.

Von Ulrich Kriest

Von Kathrin Häger

16 FILMOSOPHIE

Von Franz Everschor

Von Günter H. Jekubzik

34 DIE SCHWARZMALER Ein oppulenter Bildband huldigt der Ästhetik des klassischen Film noir und des Neo Noir. Von Marius Nobach

28 IN MEMORIAM Der Selbstmord des Komikers Robin Williams hat die Filmwelt schockiert. Außerdem gestorben sind die einzigartige Lauren Bacall und James Garner. Von Rainer Dick, Marius Nobach und Thomas Klein

„Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“

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What a glorious feeling

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I’m happy again

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XXX KINO

Glücksformeln im Kino In den USA ist das Streben nach Glück ein verfassungsmäßiges Recht. In Bhutan gibt es ein Bruttonationalglück, in Deutschland füllen Glücksratgeber ganze Regalmeter. Glück ist das am meisten begehrte, gleichwohl aber auch das diffuseste Gut, um das sich Menschen bemühen. Worin besteht es eigentlich? Und wie lässt es sich finden und festhalten? Auch das Kino ringt um Antworten auf diese Fragen. Notizen zu den Filmbildern, die das Höchste der Gefühle beschwören. Von Stefan Stiletto FILMDIENST 18 | 2014

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KINO GLÜCK IM KINO

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GLÜC K BRAU CHT U N GLÜ CK

DAS G LÜ C K DER KLEI NEN DI NG E

Das anfängliche Idyll des Auenlandes, aus dem die Helden in Peter Jacksons „Hobbit“ (Foto) sowie in „Der Herr der Ringe“ aufbrechen, scheint umso paradiesischer, je gefährlicher die weiteren Abenteuer werden. Glück braucht (nicht nur) im Kino eine Kontrastfolie, um erfahrbar zu werden.

...zelebriert die Titelheldin in Jean-Pierre Jeunets „Die fabelhafte Welt der Amélie“: Jenseits der großen Höhepunkte geht es hier um die alltäglichen Glücksmöglichkeiten. Die sind nicht zuletzt eine Frage der Haltung: Amélie ist ein Don Quijote des Optimismus und setzt sich mit Fantasie gegen die Tristesse durch.

S PIELRÄUME DE S GLÜ CKS

DAS G LÜ C K ALS F EST

... sind im Kino Landschaften und Orte, die besonders geeignet scheinen, um Glückserfahrungen zu visualisieren. Einer der Favoriten ist dafür die Meeresküste mit ihrem offenen Horizont. Kein Wunder also, dass sich der Psychologe Irvin D. Yalom in „Yaloms Anleitung zum Glücklichsein“ auch am Wasser filmen lässt.

Das Fest ist eines der ältesten und zugleich unsterblichsten Glücksszenarien: Gemeinsam feiern, tafeln, tanzen und singen ist eine immer wieder lustvoll beschworene Standardsituation, wenn es darum geht, vom Glück zu erzählen. So wie in Terrence Malicks „Tree of Life“.

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GLÜCK IM KINO KINO

Eines Tages hat der Londoner Psychiater Hector die Nase voll von seinem aufgeräumten, aber langweiligen Leben und von den immergleichen jammernden Patienten, die meist gar keinen Grund dazu haben. Warum nur sind sie nicht glücklich? Und warum ist er selbst es auch nicht und flüchtet sich stets in aufregende Traumwelten, die einem Tim-und-Struppi-Comic entsprungen sein könnten? Für Hector ist es höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen und hautnah in der großen weiten Welt zu erforschen, wie man glücklich wird. Peter Chelsoms Literaturverfilmung „Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück“ nach dem gleichnamigen Roman von François Lelord kommt zur rechten Zeit, sind Glücksratgeber doch so populär wie nie und das Kino ein wunderbarer Ort, um vom Glück zu träumen. Mit „Yaloms Anleitung zum Glücklichsein“ von Sabine Gisiger, einem sehr persönlichen Porträt des 83-jährigen Psychiaters und Bestsellerautors Irvin D. Yalom, läuft in wenigen Wochen sogar ein zweiter Film an, der das Glücksversprechen explizit im Titel trägt. Beide Filme schlagen ganz unterschiedliche Wege ein, um von ihrem Thema zu erzählen. Während „Yalom“ vom Charisma des Protagonisten lebt und durch dessen unaufdringliche, aus dem Berufsalltag wie aus der Lebenserfahrung gewonnene Weisheiten zum Nachdenken anregt, folgt „Hectors Reise“ der Dramaturgie eines Road Movies. Geradezu exemplarisch greift die Komödie einige jener immer wiederkehrenden Muster und Motive auf, mit denen das Kino das Gefühl des Glücks so schön in Bilder und Töne zu fassen weiß. Ein Streifzug durch vier dieser beliebten Glücksformeln – von Hector über Amélie bis zu Antoine Doinel, vom Kinofilm zum Musikvideo.

1. Die Kehrseite des Glücks „Die Vermeidung von Unglück macht nicht glücklich“, stellt Hector einmal fest. Und man kann ergänzen: Erst das Unglück und widrige Umstände lassen Momente des Glücks umso heller erstrahlen. Nach diesem Muster des Kontrasts funktioniert auch die „Herr der Ringe“-Trilogie. Im Auenland setzt die epische Geschichte ein, und Peter Jackson nimmt sich die Zeit, diese Szenen als Postkartenidylle zu inszenieren. Goldgelbes Licht liegt über Mittelerde, die Musik

ist fröhlich, ein Fest wird vorbereitet. Mit jedem Schritt aber, mit dem sich der Hobbit Frodo wenig später von seinem Heimatort entfernt, nimmt das Gefühl der Bedrohung zu, und die Erinnerung an die glückselige Zeit wirkt umso intensiver, bis zum düsteren Finale in Mordor. Was Glück bedeutet, wird erst deutlich, wenn es verloren zu gehen droht oder in weiter Ferne liegt. Ganz ähnlich verhält es sich in „Mein Nachbar Totoro“ von Hayao Miyazaki. Erst kürzlich musste Satsuki mit ihrem vielbeschäftigten Vater und ihrer jüngeren Schwester Mei aufs Land ziehen. Große Sorgen bereitet den Kindern die Erkrankung ihrer Mutter, die weit entfernt in einem Krankenhaus in der Stadt liegt. Doch dann treffen erst Mei und später auch ihre ältere Schwester den liebenswerten Waldgeist Totoro. In einer wunderbaren Sequenz lässt dieser eines Nachts in Windeseile einen prächtigen Baum in ihrem Garten heranwachsen und fliegt mit den beiden Kindern schließlich auf einem Zauberkreisel durch die Nacht. Sie jubeln, sie schreien, sie machen zusammen Musik. Dank Totoro können die Schwestern ihre Nöte für einen kurzen Augenblick vergessen. Ohnehin ist das Fliegen an sich bei Miyazaki oft ein Ausdruck puren Glücks. Weil er zu schlechte Augen hatte, konnte Miyazaki selbst kein Pilot werden. Seine Figuren jedoch schickt er immer wieder stellvertretend in die Lüfte.

2. Die Poesie des Augenblicks Durch das Happy End wurde das Glück im Kino quasi zur festen Größe: Finale Bilder von Paaren, die endlich zueinander finden, oder von strahlenden Siegern zählen zum Standard-Repertoire der Glücksformeln, mit denen das Kino seine Zuschauer erfreut – ohne freilich damit tiefsinnige oder zumindest lebenspraktische Erkenntnisse zur Natur des Glücks zu liefern. Vielleicht sind es statt der großen, offensichtlichen Erfolgsmomente, die im Happy End gleichsam eingefroren werden, ja jene unscheinbaren, beiläufigen Beobachtungen, die plötzlich eine seltsame Poesie ausstrahlen und das Gefühl des Glücks viel treffender – und alltagsnäher – einfangen können? In „Hectors Reise“ fängt die Kamera einmal bunte Gebetsfahnen in einem abgelegenen buddhistischen Kloster irgendwo im HimalayaGebiet ein, die auf einmal im Wind zu tan-

DAS STREBEN NACH GLÜCK:

SPIELFILME

DAS GLÜCKSPRINZIP USA 2000. Regie: Mimi Leder. 123 Min. - Ab 14.

Von seinem Sozialkundelehrer zu einem Projekt zur Verbesserung der Welt aufgefordert, ersinnt ein elfjähriger Schüler (Haley Joel Osment) einen Plan, nach dem Vorbild des Kettenbriefs drei anderen Menschen Gutes zu tun und diese aufzufordern, Ähnliches drei weiteren Personen angedeihen zu lassen. Beglückung also, die sich exponentiell vermehrt. Der Film schafft es zwar nicht, das Sujet ganz am Kitsch vorbei zu manövrieren, umkreist aber sehr schön die Erkenntnis, dass das Streben nach dem Glück anderer letztlich erfüllender sein kann als die Fokussierung auf sich selbst.

SHRINK – NUR NICHT DIE NERVEN VERLIEREN USA 2009. Regie: Jonas Pate. 100 Min. - Ab 16.

Ähnlich wie in „Hectors Reise“ geht es auch hier um einen Psychologen (Kevin Spacey), der anderen helfen soll, ein glücklicheres Leben zu führen, selbst aber die Fähigkeit zum Glücklichsein verloren zu haben scheint. Anstatt mit gutgemeinten FeelgoodRatschlägen zu nerven, übt der virtuos zwischen schwarzer Komödie und Drama balancierende Film Kritik an einer Gesellschaft, deren Fixierung auf gute Laune und Erfolg Trauer und Tiefschläge nicht mehr zuzulassen scheint, die sich damit aber auch die Fähigkeit zu wahrem Glück zu verscherzen droht .

HAPPY-GO-LUCKY Großbritannien 2007. Regie: Mike Leigh. 118 Min. - Sehenswert ab 14.

Eine Londoner Grundschullehrerin (Sally Hawkins) schlägt sich mit unverbesserlichem Optimismus durch ihren Alltag als berufstätige Frau, obwohl ihre gutgelaunte Lebenshaltung immer wieder an diversen Hindernissen zu scheitern droht. Mit einer brillanten Hauptdarstellerin, die die mitunter schrille, notorische Heiterkeit ihrer Figur subtil als schwierigen Balanceakt spürbar macht, entwirft Mike Leigh ein „Feel-Good-Movie“ der abgründigen Art über die Möglichkeit, in einer von Ängsten und privaten und politischen Krisen gebeutelten Zeit glücklich zu sein und nicht den Lebensmut zu verlieren. (Ebenfalls sehenswert: Mike Leighs „Another Year“; siehe TV-Tipps S. 58)

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KINO GLÜCK IM KINO

DAS STREBEN NACH GLÜCK:

WHAT HAPPINESS IS – AUF DER SUCHE NACH DEM GLÜCK Österreich 2012. Regie: Harald Friedl. 91 Min. - Ab 14.

Sie jagen das Glück im staatlichen Auftrag: zwei Beamte, die im Königreich Bhutan das „Bruttoinlandsglück“ ermitteln. Dafür führen sie Interviews mit zahlreichen Bewohnern des Landes im Himalaya. Geglückt ist der Film nicht nur als Einblick in eine fremde Kultur, sondern auch dank herrlicher Landschaftsaufnahmen.

ANLEITUNG ZUM GLÜCKLICHSEIN Norwegen 2003. Regie: Line Hatland. 52 Min. - Ab 16.

Der Film geht der Frage nach, warum einige Menschen offenkundig glücklicher sind als andere, und sucht nach einer Maßeinheit für Glück. Hierbei finden wissenschaftlich Erkenntnisse ebenso Berücksichtigung wie persönliche Erfahrungen der Filmemacherin. Ein subjektiver, leicht ironischer und doch kritischer Film über einen labilen Gefühlszustand.

GLÜCKSFORMELN – VOM SUCHEN UND FINDEN EINES LEBENSGEFÜHLS Deutschland 2011. Regie: Larissa Trüby. 96 Min. - Ab 16.

Der Film spürt der Frage nach, was ein glückliches Leben ausmacht. Die Gespräche mit Protagonisten verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Hintergründen werden durch Erläuterungen wissenschaftlicher Experten ergänzt. Ein interessanter Einblick in charakterliche und äußerliche Voraussetzungen, die das Glücklichsein beeinflussen.

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zen beginnen und die Gesichter der Mönche zum Strahlen bringen. Ein kurzer, aber auch erhabener Moment, der erst durch die Reaktion der Figuren an Bedeutung gewinnt. In Sam Mendes‘ „American Beauty“ ist es sogar eine profane Plastiktüte, die zum überraschenden Inbegriff von beglückender Schönheit und Anmut wird. Die Regie bestimmt, was als Glück zu gelten hat. Jean-Pierre Jeunet wiederum lenkt den Blick in „Die fabelhafte Welt der Amélie“ durch seine augenzwinkernde, manieristische Inszenierung stets auf die kleinen Dinge. Eine Hand, die tief in einen Getreidesack greift, das Geräusch eines Kaffeelöffels, der die Kruste einer Crème brûlée knackt, Steine, die übers Wasser springen. Jeunet bricht durch seinen Stil die normale Wahrnehmung auf, imitiert ein kindliches Staunen und macht tatsächlich ein wenig glücklich, weil er zeigt, dass der Zauber in ganz gewöhnlichen Dingen liegen kann. Mit den Augen von Amélie wird der Alltag für das Publikum magisch, und das in grünes Licht getauchte Paris zu einem märchenhaften Schauplatz.

3. Orte des Glücks Gegen das Meer aber kommt auch Paris nicht an. Gibt es einen Ort, der derart glücksversprechend ist wie das Meer? An einem Strand in Kalifornien wird Hector seine Jugendliebe wiedertreffen, die ihm noch immer viel bedeutet. An diesen Sehnsuchtsort schlechthin aber verschlägt es auch Antoine Doinel in Truffauts „Sie küssten und sie schlugen ihn“. Nach einer

langen Odyssee durch die rigide, abweisende Welt der Erwachsenen erreicht der Junge einen Strand. Hier wirkt die Welt viel offener, viel freier. Das letzte, berühmte Bild des Films friert seine Bewegung in einer Nahaufnahme ein. Ein echtes Happy End ist das sicher nicht. Aber es macht Hoffnung. Das Glück möglicherweise? Ebenfalls auf sich allein gestellt, aber definitiv glücklich ist Christopher McCandless. Nach dem Abschluss seines Studiums hat der junge Mann seine gesamten Ersparnisse gespendet, seinen Pass verbrannt und seinen Rucksack gepackt. Er hat genug von all den Zwängen, die sein Leben bestimmen. Sein Ziel ist Alaska. Und wenn er auf dem weiten Weg dorthin einzelne Gipfel erklimmt und die schwerelose Kamera in triumphalen Kreisbewegungen um ihn herumfliegt, während er in Gebetshaltung die Arme zum Himmel streckt, dann ist er ganz bei sich. „Into the Wild“ von Sean Penn feiert die stille Rebellion gegen die einengende Zivilisation, ist kontemplativ und melancholisch – und so realistisch, auch das brutale Scheitern des jungen Mannes zu zeigen. Weil Sean Penn das Glück der Freiheit, das Christopher inmitten der rauen, unberührten Natur empfindet, so spürbar werden lässt, trauert man am Ende noch mehr um ihn.

4. Gemeinsam feiern, tanzen, singen Während die einen ihr Glück in der Ruhe und der Einsamkeit finden, feiert das Kino aber auch das Glück der Geselligkeit, wenn ein besonderer Moment mit anderen geteilt

Foto S. 10-15: fd-Archiv, Universal Home Ent.; Warner Bros.; Alamode, Concorde, Tobis, Rapid Eye Movies

DOKUMENTARFILME

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GLÜCK IM KINO KINO GLÜCK ZUM HÖREN:

SOUNDTRACKS IT’S A WONDERFUL LIFE (1947) Komponist: Dimitri Tiomkin Anbieter: Kritzerland

Foto S. 10-15: fd-Archiv, Universal Home Ent.; Warner Bros.; Alamode, Concorde, Tobis, Rapid Eye Movies

Dass für die „laufenden Bilder“ Glück nicht zuletzt in der Bewegung liegt, versteht sich von selbst: Es darf getanzt, gesprungen, gerannt werden. links: Sally Hawkins in „Happy-Go-Lucky“; rechts: Shah Rukh Khan in „Solang ich lebe“

wird. Hector etwa entdeckt das große Glück eines Süßkartoffeleintopfs in einem afrikanischen Dorf, in dem das gemeinsame Essen zelebriert wird. Hier braucht es keine hochtrabenden philosophischen Konzepte, sondern einfach nur den Moment und die Bereitschaft, über seinen eigenen Schatten zu springen und aus sich heraus zu gehen. Die Befreiung von den inneren Zwängen und von falscher Scham – auch das kann ein kleines Glück sein. Keine Filmkultur hat diese Freude an der Bewegung und am ausgelassenen Tanz in sämtliche Filmgenres so konsequent integriert wie das Bollywood-Kino. Ob in einer klassischen Romanze oder in einem Terrorismus-Drama wie „Dil Se“ von Mani Ratnam: Es darf getanzt werden! Auf fahrenden Zügen, auf Bergrücken, überall. Und dass mit Musik alles leichter geht und das

Leben in anderem Licht erscheint, spürt sogar der einst so grummelige Gru, der in „Ich – Einfach unverbesserlich“ noch der größte Schurke der Welt sein wollte und in der Fortsetzung nicht mehr wiederzuerkennen ist. Beschwingt tanzt er durch die Straßen, während im Hintergrund „Happy“ von Pharrell Williams zu hören ist. Seine Rolle als Ersatzvater für drei niedliche Waisenkinder hat ihn glücklich und – das ist die schlechte Nachricht – damit auch zu einer ziemlich uninteressanten Filmfigur gemacht. Der eingängige Williams-Song hingegen hat sich längst vollständig von dem Animationsfilm-Soundtrack emanzipiert. Das 24-stündige Musikvideo, dem eine eigene Website gewidmet ist, zeigt Glück in der Endlosschleife und ist dabei im Grunde überaus simpel: Wir sehen tanzende, sich rhythmisch bewegende und strahlende Menschen auf der Straße, am Strand, in Geschäften. Glück bedeutet hier Bewegungsdrang und Ausdrucksfreude, ganz ohne komplexe dramaturgische Behauptungen, ohne Kontrasterfahrungen und visuelle Klischees. Glück im Alltag, hier und jetzt, rund um die Uhr, für jeden nachvollziehbar und erlebbar. Kein Wunder, dass dieses ausufernde Musikvideo so ansteckend wirkt. „Happy“ hat mittlerweile unzählige Spin-Offs hervorgebracht, in denen Filmprofis und -amateure ebenso wie Tanzprofis und -amateure rund um die Welt ihre Stadt oder einfach nur ihre Freude an der Bewegung zeigen. Im Vergleich zu dieser Unmittelbarkeit wirkt das Glücksrezept, das Hector von seiner Reise mitbringt, ziemlich konstruiert. •

Frank Capras Klassiker fürs Weihnachtsgemüt wird durch Dimitri Tiomkins wunderschön schmachtende Orchestermusik zum sentimentalen Harmoniefilm schlechthin.

SINGIN’ IN THE RAIN (1952) Komponist: Nacio Herb Brown Anbieter: Rhino Records

Allein jene titelgebende Nummer mit dem in den Pfützen tanzenden Gene Kelley vertreibt jede dunkle Wolke aus dem Gemüt.

THE PARTY (1968) Komponist: Henry Mancini Anbieter: RCA

Eine der besten Komödien wird nicht nur durch durch die Inszenierung von Peter Sellers zur Sternstunde; dank Henry Mancinis „Cocktail-Jazz“ schwingt der Film ewig in den Hüften nach.

ARIZONA DREAM (1993) Komponist: Goran Bregovic Anbieter: Mercury

Johnny Depps Traum vom Fliegen wird mit Goran Bregovics Rock-Pop-Chorälen aus der Taiga und Iggy Pop zu einer bewusstseinserweiternden Erfahrung.

MOULIN ROUGE (2001) Komponist: Craig Armstrong Anbieter: Interscope

Wenn Nicole Kidman und Ewan McGregor in ihrem Liebesnest hoch über Paris „Elephant Love Medley“ singen, möchte man glauben, dass die Liebe sogar den Tod besiegt.

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KRITIKEN NEUE FILME

Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit Liebevolle Tragikomödie um einen Mann, der sich um Verstorbene kümmert John May ist kein Mann der großen Taten. Aber er hat ein großes Herz, auch für Menschen, die bereits das Zeitliche gesegnet haben. Mit ihnen beschäftigt er sich als Angestellter der Londoner Sozialbehörde von Berufs wegen. Insbesondere mit den ganz armen Teufeln, die ohne einen geliebten Menschen allein aus dem Leben scheiden. Nachdem May sich in deren Wohnungen umgesehen und alles, was als Hinweis dienen könnte, eingesteckt hat, legt er eine Akte an. Eine Weile sucht er Hinterbliebene: Familienmitglieder, ehemalige Lebenspartner, alte Freunde, einstige Schulkameraden, Kinder, die nicht selten im Zwist von den Eltern weggezogen sind. Manchmal wird May fündig. Oft allerdings bleiben seine Bemühungen ohne Erfolg. Dann ist May neben Pfarrer, Rabbi oder Imam der Einzige, der am Grab steht. Mehr noch: Er ist - und da führt er seinen Job dann doch weit über dessen Beschreibung hinaus aus - derjenige, der die Beerdigung organisiert, gestaltet und die Grabreden schreibt: Wer zum Ende seines Lebens bei John May landet, dem geht es in diesem Film richtig gut. Dementsprechend echt britisch und liebenswürdig humorvoll beginnt der zweite Film (nach „Spiel der Träume“ ) von Uberto Pasolini. Mit einer im Stakkato gehaltenen Reihe von Bestattungen reiht er sich schon eingangs in einen Kanon einschlägiger britischer Komödien ein, die wie etwa in „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, „Sterben für Anfänger“, „Lang lebe Ned Devine!“ oder „Grasgeflüster“ ein

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Flair für schwarzen Humor, aber auch für die unabdingbaren britischen Seiten des Seins offenbaren. Gleichzeitig erinnert er auch an Yôjirô Takitas „Nokan - Die Kunst des Ausklangs“. Angestoßen wird die Handlung, als auch bei der Sozialbehörde der Gürtel enger geschnallt werden muss. Das Amt wird reorganisiert. Ein jung-dynamischer Mr. Pratchett taucht in Mays Büro auf und führt aus, dass bei fehlenden Hinterbliebenen Bestattungen eigentlich überflüssig seien. In solchen Fällen soll die Asche fortan formlos auf einem Friedhof verstreut werden. Dass es eventuell eine zweite Wahrheit gibt und Menschen eine Seele haben, die es schätzt, anständig verabschiedet zu werden, steht auf einem anderen Blatt. Aber es geht hier ja auch gar nicht um die Toten, sondern um May, authentisch gespielt vom bisher eher auf Nebenrollen spezialisierten Eddie Marsan.

May ist ein typischer Engländer: Stets korrekt in Auftreten und Erscheinung, verlässt er Tag für Tag zur gleichen Zeit seine winzige Sozialwohnung, geht den immer gleichen Weg zur Arbeit und verschwindet, die Kollegen freundlich grüßend, im Keller zwischen riesigen Archivregalen. Das hat um so mehr etwas Kafkaeskes, als May nach Arbeitsschluss zuhause die Fotos seiner „Kunden“ in ein Album klebt, was ihn als ebenso einsamen Zeitgenossen ausweist wie diejenigen, um die er sich kümmert. Doch dann erhält May die Kündigung. Unverzüglich und nicht anzufechten; seinen Job erledigt fortan eine Kollegin. Nur drei Tage werden ihm gewährt, um seine letzten Fälle abzuschließen und das Büro aufzuräumen. Darunter geht ihm der Fall eines Mannes ungefähr seines Alters besonders ans Herz, der in einer Wohnung direkt gegenüber von John May

wohnte, mit dem er aber sein ganzes Leben lang kein einziges Wort gewechselt hat. Also macht er sich auf die Suche nach dessen Angehörigen, um dem Toten zu einer gebührenden Beerdigung zu verhelfen. Und findet tatsächlich Saufkumpane, eine ehemalige Liebe und eine von Joanne Froggatt ganz wunderbar gespielte Tochter. Es ist ein einzigartiges Universum, in das Uberto Pasolini entführt. Auch wenn es auf den ersten Blick etwas abwegig erscheinen mag: Die Vereinsamung, auf welche der Film in liebenswürdig-verschmitzter Weise aufmerksam macht, ist ein topaktuelles gesellschaftliches Thema. Irene Genhart BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION

Ein Angestellter des Londoner Sozialamtes widmet sich hingebungsvoll seiner Aufgabe, Angehörige und Bekannte von Menschen aufzuspüren, die einsam gestorben sind. Als seine Abteilung aufgelöst wird, bleibt ein letzter Fall, in den er sich mit aller Energie stürzt. Je mehr er den Spuren des fremden Lebens folgt, desto mehr Distanz bekommt er zu seinem eigenen. Eine liebevolle, hervorragend gespielte Komödie, die dem ernsten Thema gesellschaftlicher Vereinsamung mit britischem Humor, vor allem aber mit großer Einfühlsamkeit begegnet. – Sehenswert ab 14.

STILL LIFE. Großbritannien/Italien 2014 Regie, Buch: Uberto Pasolini Kamera: Stefano Falivene Musik: Rachel Portman Schnitt: Tracy Granger, Gavin Buckley Darsteller: Eddie Marsan (John May), Joanne Froggatt (Kelly), Karen Drury (Mary), Neil D’Souza (Shakti), Andrew Buchan (Council Manager), Michael Elkin Länge: 92 Min. | FSK: ab 12; f Verleih: Piffl | Kinostart: 4.9.2014 FD-Kritik: 42 534

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