Filmdienst 19 2017

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14. september 2017 | € 5,50 | 70. Jahrgang

FILM DIenst Das Magazin für Kino und Filmkultur

19 2017

www.filmdienst.de

Kö r pe r un d Se e le

Mit der bezaubernden Liebesgeschichte »Körper und Seele« gewann die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi den »Goldenen Bären« bei der »Berlinale« 2017. Im Interview spricht sie über die Entstehung des Films.

Stephen king

audiodeSkription

zukunft deS kinoS

Seit rund 40 Jahren lehren uns die Bücher des US-Autors und ihre Verfilmungen das Gruseln. Ein Blick hinter den alltäglichen Horror.

Filmfassungen für Sehbehinderte erfordern ein Gespür für das rechte Maß an Beschreibung. Über eine selten gewürdigte Kunst.

Teil V der Essayreihe untersucht den Wandel in der Wahrnehmung von Kinostars seit der klassischen Hollywood-Ära.


FILMDIENST 19 | 2017 DIE nEUEn KInOFIlME NEU IM KINO ALLE STARTTERMINE

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Amelie rennt 21.9. Banana Pancakes and the Lonely Planet 7.9. Blind & Hässlich 21.9. High Society 14.9. Körper und Seele 21.9. Leanders letzte Reise 21.9. Logan Lucky 14.9. Das Löwenmädchen 14.9. Mr. Long 14.9. Norman 21.9. Porto 14.9. Radiance 14.9. Schloss aus Glas 21.9. Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel 21.9. Das System Milch 21.9. The Comedian 31.8. The End of Meat – Eine Welt ohne Fleisch 14.9. What Our Fathers Did: A Nazi Legacy 14.9. Wie die Mutter, so die Tochter 14.9. With His Feet on the Ground 17.9. Wolf Warrior 2 14.9. Die Wunde 14.9.

39 44 38 52 49 51 40 47 43 42 48 50 53 51 53 45 51 51 53 46

40 MR. LONG

51 BANANA PANCAKES AND THE LONELY PLANET

KINOTIPP

der katholischen Filmkritik

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KÖRPER UND SEELE Ildikó Enyedis außergewöhnlich subtile Geschichte über die unwahrscheinliche Liebe zweier kontaktscheuer Menschen.

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49 LOGAN LUCKY

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Fotos: TITEL: Alamode. S. 4–5: Alamode, Rapid Eye Movies, Kairos, Paramount, StudioCanal, Warner, Farbfilm, arte© Getty Images/Bettmann

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19 | 2017 DIE ARTIKEL INHALT KINO

AKTEURE

FILMKUNST

10 STEPHEN KING

24 TOBIAS WIEMANN

28 DIE ZUKUNFT DES KINOS

10 STEPHEN KING

22 ILDIKÓ ENYEDI

Seit Mitte der 1970er-Jahre prägt der USAutor die Horror- und Fantasyliteratur. Zahlreiche seiner Schreckensgeschichten wurden verfilmt. Über die Vorliebe des Kinos für die Gruselszenarios von Stephen King.

Die ungarische Regisseurin gewann für ihren Film »Körper und Seele« Anfang 2017 den »Goldenen Bären«. Ein Gespräch über die Entstehung und die Figurendramaturgie ihrer sanften Liebesgeschichte.

Von Adrian Daub

Von Barbara Wurm

16 AUDIODESKRIPTION

24 TOBIAS WIEMANN

Filme auch Sehbehinderten zugänglich zu machen, bringt besondere Herausforderungen mit sich. Eine Reflexion über das Verhältnis von Audiodeskription und Filmkunst und ein Interview mit dem Medienunternehmer Martin Irnich.

In »Amelie rennt« erzählt der Regisseur eine anspruchsvolle Geschichte über eine asthmakranke Jugendliche, die aus einer Klinik in die Südtiroler Berge flieht. Ein Gespräch über die Umsetzung des Filmstoffs und die Wichtigkeit von Humor.

Von Holger Twele

Von Holger Twele

20 UNTERTITEL

36 IN MEMORIAM

Die Untertitelung von Filmen erfordert besondere Sorgfalt. Der häufige Zeitdruck bei der Produktion macht die Aufgabe nicht leichter. Ein Gespräch mit der Filmübersetzerin Andrea Kirchhartz.

Nachrufe auf die US-Komiker-Legende Jerry Lewis, die spanische Schauspielerin Terele Pávez und den »Anti-Dokumentaristen« Basilio Martín Patino. Von Thomas Brandlmeier und Wolfgang Hamdorf

Von Michael Ranze

26 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Das Sommergeschäft der Kinos ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Ein Vorgeschmack auf eine Zukunft, in der die traditionelle Filmauswertung immer stärker von der Konkurrenz durch Streaming-Plattformen bedroht werden wird. Von Franz Everschor

28 DIE ZUKUNFT DES KINOS

Was unterscheidet Chris Pratt von Clark Gable? Im fünften Teil der Essay-Reihe betrachtet Patrick Holzapfel, wie sich die Wahrnehmung und (Selbst-)Inszenierung von Stars vom klassischen Hollywood bis heute verändert hat. Von Patrick Holzapfel

32 MAX RICHTER

Der in Hameln geborene Komponist gehört zu den Stars der Neo-Klassik. Auch das Kino schätzt den musikalischen Grenzgänger, wie aktuell eine neue CD mit einer Auswahl seiner Soundtrack-Arbeiten zeigt. Von Ulrich Kriest

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RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD/BLU-RAY TV-TIPPS FILMKLISCHEES VORSCHAU / IMPRESSUM

FERNSEH-TIPPS

57 VIETNAM

56 Das Erste strahlt den Spielfilm »Das Leben danach« über die traumatischen Folgen des Loveparade-Unglücks aus. Auf 3sat porträtiert der Dokumentarfilm »Inschallah« den Arbeitsalltag eines Imams in Neukölln. Arte zeigt eine neue, neunteilige Reihe zum Vietnamkrieg.

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kino Stephen King

DerSc h r e c k en desAl l t ä gl i c h en 10

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Vier Jahrzehnte Stephen-KingVerfilmungen haben unser Verständnis von horror geprägt Der Schriftsteller Stephen King gehört zum Mobiliar, und das schon seit 40 Jahren. in den 1980er-Jahren stapelten sich seine Bücher überall. in den ambitionierten Filmfassungen seiner Stoffe entpuppt sich die alltägliche Welt als hort des Unheimlichen, ohne dass man den Umschlagspunkt ins Bedrohlich-Abseitige exakt fixieren könnte. Von Adrian Daub

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kino Stephen King Am 28. September kommt eine neue Fassung von »ES« (Kritik in der nächsten Ausgabe) in die Kinos, die stark am Look der Netflix-Serie »Stranger Things« orientiert ist. Die Serie arbeitet ihrerseits neben vielen Spielberg-Zitaten auffällig gern mit der Optik von King-Verfilmungen, unter anderem der Fernsehadaption von »ES« (1990), aber auch den Filmen »Der Feuerteufel« (1984), »Shining« (1980) und »Stand By Me« (1986). Das legt nahe, dass es eine King-Ästhetik gibt, die wir wiedererkennen: Holzgetäfelte Wohnzimmer, in denen der Fernseher flimmert; das Wunder und der Schrecken unbeaufsichtigter Jugend; Kleinstädte mit bunt bemalten Fassaden, hinter denen Unheimliches lauert; Außenseiter mit Asthma-Inhalator; Pausenhof-Sadisten auf BMX-Fahrrädern. Leser der Romane und Kurzgeschichten von Stephen King wissen aber, dass die Ästhetik der King-Filme und die ihrer Romanvorlagen nicht deckungsgleich ist. So sind Kings Bücher unverblümt körperbezogen: alles rülpst, furzt, kotzt. Homophobie, Misogynie und Rassismus spuken in den Gedanken und im Diskurs der Figuren umher. In den Filmen wird die DiE VErbiNDuNg VoN horror uND KiNDhEiT ziEhT Sich Durch KiNgS wErK: SzENE AuS DEr KiNo-NEuVErFiLmuNg »ES«

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Bandbreite des mal infantilen, mal pubertären Schreckens jedoch oft reduziert, auf das vergleichsweise zahme Asthma, und immer wieder aufs Blut. Die Blutwelle, die sich in der berühmten Szene in Stanley Kubricks »Shining« aus dem Aufzug wälzt, schwappt nicht durch Kings Roman; dort ist Blut immer mit den Personen und ihren Taten verbunden: Schläge ins Gesicht, Zipperlein, um die die Eltern sich nicht kümmern. Kubrick ist ein Meister der Abstraktion. King dagegen ist konkret bis zur Schmerzgrenze. Vor so viel Unmittelbarkeit zieht sich das Kino instinktiv zurück. Wenn es doch einmal versucht, mit Kings Romanen gleichzuziehen, läuft es auf Grund. Lawrence Kasdans Verfilmung »Dreamcatcher« (2003) bleibt der Logik des zugrundeliegenden King-Romans treu. Die vier telepathisch verbundenen Freunde unterhalten sich selbst als Mittdreißiger noch immer kindisch-infantil: lauter Schulgefasel über Geschlechtsteile und Ausscheidungen. Der Film folgt ihrer Logik: außerirdische Fürze und Rülpser, Angst vorm Klo, Aliens, die einem aus dem Anus kriechen. Das ist nicht überhöht freudianisch, sondern bewegt

sich auf der Ebene karnevalesker Ängste der Kindheit. Auf der Leinwand wirkt das peinlich. Kings Alchemie vermag es, auf ganz eigene Weise Peinliches und Unheimliches zu verbinden. Filme haben mit dieser Verbindung Probleme. An »Dreamcatcher« kann man ablesen, was passiert, wenn das Infantile überbetont wird. Stanley Kubricks »Shining«, der King-Film, den alle mögen außer King selbst, zeigt, wie ein Film King in die gegensätzliche Richtung verbiegt. Kubrick schickt Kings Plot ins Schneelabyrinth, kühlt die Geschichte radikal herunter und nimmt der Story die kreatürlich-alltäglichen Aspekte: Jack Torrances Alkoholismus, Danny Torrances Fantasie-Freund Tony, Wendys Verhältnis zu ihren Eltern und zum Elternsein generell: all das bleibt auf der Strecke.

Echte Menschen, keine Archetypen Im Roman bemächtigen sich ein Hüttenkoller und die Geister des Overlook Hotels Jacks Erinnerungen an seinen Vater. Die Frage, ob er seinen Hang zur Gewalt an seinen Sohn weitergeben wird, steht im Raum. Dank Kubrick und Nicholson ist Jack


Stephen King kino

DEr AuFTAKT zu »ES« : EiN PAPiErSchiFF wEiST DEN wEg zum KiLLEr-cLowN...

Fotos: S. 10-13: Warner Bros. S. 14/15: Warner Bros., Sony.

... bEVor Er Sich gEwALTSAm mANiFESTiErT: DEr cLowN PENNywiSE ALS VErKörPEruNg DES PurEN böSEN

Torrance in der Filmversion von der ersten Szene an suspekt. Das Grauen vollzieht sich ähnlich wie in »Friedhof der Kuscheltiere« mit einer fast algorithmischen Kühle. Das Tolle bei King aber liegt gerade darin, dass er sich so viel Zeit für die Sympathie mit seinen Figuren lässt – und dass seine Figuren immer wieder zu Überraschungen fähig sind. Archetypen sind sie fast nie. Es sind echte, wiedererkennbare Menschen, keine Schablonen, die King malträtiert; und er behandelt sie nie mit Sadismus, selbst wenn sie von einer Wäschemangel verschlungen werden. Stephen King dürfte der am meisten verfilmte Autor der Gegenwart sein. Von seinen 56 Romanen sind die meisten auch verfilmt worden. Allein die Kurzgeschichten in »Night Shift« standen für 13 (!) Filme Pate, die sieben Fortsetzungen zu »Children of the Corn« (»Kinder des Zorns«) nicht mitgezählt. Ein paar andere, wie zum Beispiel »Gerald’s Game« (1991), werden ewig versprochen. Andererseits gelten viele der von Fans besonders geschätzten King-Werke (»The Stand«, »ES«) als nicht verfilmbar. Regisseur Nikolaj Arcel hat sich soeben an eine

Adaption der ausufernden »Dark Tower«Serie gewagt, die ein Rahmenuniversum für Stephen-King-Stories entwirft – und sich daran ziemlich verhoben. Das dürfte den Ruf der Serie einmal mehr bestätigt haben. Auch die kanonischen King-Filme, allen voran »Shining« und die Fernsehversion von »ES« mit Tim Curry, entfernen sich ziemlich weit von den literarischen Vorlagen. Soweit, dass King selbst schon mehrfach FernsehMehrteiler nachgeschoben hat, die seiner ursprünglichen Idee gerechter werden. Das Fernsehen scheint seiner Art des Geschichtenerzählens offener gegenüberzustehen. Neuere Romane, wie etwa die Dystopie »Under the Dome«, der Zeitreisethriller »11/22/63« oder der Detektivroman »Mr. Mercedes« werden deshalb gleich zu Fernsehserien verarbeitet.

Filmkonform und zugleich unverfilmbar King stellt einen vor das Rätsel, dass ein Text anscheinend gleichzeitig filmkonform und komplett unverfilmbar sein kann. Die erste Szene von »ES« ist im Grunde genommen schon eine Kamerafahrt: man

muss sie im herkömmlichen Sinne gar nicht verfilmen: Das Papierschiff des kleinen Georgie Denbrough hat jeder Leser vor seinem inneren Auge schon gesehen, wie es an den Rinnsteinen vorbeischwimmt und schließlich im Gully verschwindet, wo Georgie zum ersten Mal dem Killer-Clown Pennywise begegnet. Und nach der Lektüre von »Children of the Corn« wird man das Rascheln eines Maisfeldes für immer mit etwas Dämonischem assoziieren, das hinter den Pflanzenstengeln lauert. Aber King ist kein besonders disziplinierter Schriftsteller. Seine Werke sind häufig unfokussiert; es gibt viele erzählerische Schwenks und wenig motivierte Wendungen; fast jeder Roman enthält eine Szene, die bis zur Schmerzgrenze peinlich ist. Paradoxerweise macht das aber einen Teil ihrer Wucht aus – was für ein auf Effizienz getrimmtes Hollywood immer mehr zum Problem wird. King lässt sich Zeit, und er lässt sich von seinem Instinkt gerne über die Grenzen des guten Geschmacks hinauskatapultieren. Von den zahllosen KingVerfilmungen der letzten vier Jahrzehnte sind erstaunlich viele misslungen, und zwar äußerst spezifisch: irgendwie sind sie gleichzeitig zu lang und zu kompakt, zu eigenwillig und zu klischeebelastet.

Der Horror geht von den Dingen aus King ist ein begnadeter Beobachter des Alltags. Seine Skizzen neuenglischer Vorstädte sind deshalb so dicht, weil er sich Zeit lässt, um Belangloses anzuhäufen und Banalitäten aufzutischen, bis diese plötzlich ihre ganz eigene Fliehkraft entwickeln. Im komprimierteren Format des Kinos kann das schnell banal wirken. Bei King werden Alltagsgegenstände und -situationen mit latentem Schrecken aufgeladen: Klos, Autos, LKWs, Telefone, Kofferräume, aber auch Hunde, Katzen oder eine Wäschemangel (in »The Mangler«) sind stinknormal, bis sie es auf einmal nicht mehr sind. Horror geht bei King von den Dingen aus, mit denen wir täglich leben. Zu spät erkennt man, dass sie eigentlich latent schon immer dämonisch waren, wenn sie sich gegen ihre Besitzer wenden. Dasselbe gilt für zwischenmenschliche Beziehungen. Wann hört Jack Torrance auf, ein »normaler« Alkoholiker mit einer Neigung zur Gewalt zu sein? Welche der Alltagssadismen, die die Bürger von Derry,

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kino Stephen King Maine einander laufend antun, sind dem Wesen namens »ES« anzulasten? Wann schlägt Annie Wilkes’ mütterliches Kümmern in »Misery« in Folter um? Dieses graduelle Umkippen ins Unheimliche lässt sich im Kino, zumal im Horrorkino, viel schwerer darstellen als auf den Seiten eines Romans. Wir verlangen vom Horrorkino eine gewisse Erhabenheit, oder zumindest eine diabolische Raffiniertheit; mordende Wäschemangeln werden dem bewusst nicht gerecht. King will nicht auf die Bosheit der Banalität hinaus, sondern er zeigt, dass Bosheit und Banalität strukturell schlicht nicht zu unterscheiden sind. Das Unheimliche ist nach Freud das Heimelige, das sich gegen uns kehrt – vertraut und doch immer schon fremd. Die hypnotische Wiederholung, die Schreibwut, mittels derer King seine Welten im Alltag verankert, weichen im Film zwangsweise plumpen Vorahnungen und verwirrenden Tonwechseln. Im Roman steigern die LKWs, die ständig durch den

KiNDhEiTSDrAmA: »STAND by mE« (1986)

Hintergrund von »Friedhof der Kuscheltiere« fahren, konstant die Beklemmung. Im Film hingegen sieht man einen Truck und weiß, dass irgendwann einer unter die Räder kommt. Spätestens bei der dritten Einstellung eines Trucks gähnt man. Kings Horror entzieht sich der Erzählökonomie, er tischt so viel auf, dass man nie genau weiß, wo das Gift lauert. Der Film ist seinem Wesen nach aber ein knauseriges Medium. Das Kino funktioniert nach dem Prinzip von Tschechows Gewehr; wenn Stephen King aber ein Gewehr braucht, erfindet er es auf den letzten 50 Seiten. Kings Romane sind lang, episodenhaft und gerade deshalb so effektiv. Die Anhäufung unscheinbarer Details zwingt uns, alles zunächst hinzunehmen, wohl wissend, dass

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irgendwo das Grauen lauert. Unsere Gedankenlosigkeit, wenn wir vor dem Zubettgehen noch schnell eine zwanzigseitige Stippvisite nach Derry, Maine unternehmen, gleicht der Gedankenlosigkeit, mit der die Bewohner von Derry dem überall um sie greifenden Unheil begegnen. Unsere achtlose Strandlektüre entspricht der Achtlosigkeit einer Kindheit, mit der Kings junge Protagonisten den alltäglichen wie übernatürlichen Horror schulterzuckend hinnehmen. Und auch die Momente grellen Erinnerns kennen Kings Figuren wie Kings Leser, wenn nach 40 Seiten Gerede und Flashbacks sich plötzlich ein Detail aus der Masse löst und der Schrecken seinen Lauf nimmt.

King-Filme, die ihren Vorlagen auf Augenhöhe begegnen Gerade deshalb funktionieren wohl jene King-Filme am besten, die sich von der ersten Einstellung an eingestehen, dass sie zwar der Vorlage nicht gerecht werden können, wohl aber dem Leseerlebnis der Vorlage. Es gibt Filme, die King auf Augenhöhe begegnen, weil sie genau auf diese Effekte aus sind. Man denke etwa an die erste Szene von Rob Reiners »Misery« (die im Roman fehlt!). Die Kamera zeigt Paul Sheldons Zigaretten, seinen Champagner, das effiziente Klappern seiner Schreibmaschine – auf den ersten Blick scheint der Regisseur in ziemlich genretypischer Manier seine Hauptfigur zu skizzieren: Einzelgänger, ungesund, Trinker. Aber in Wahrheit stellt er subtil die Waffen für den zweistündigen Showdown zwischen Paul und seiner »Retterin« Annie vor. Reiner komprimiert, wo King auffächert, aber die Wirkung ist dieselbe. Der Film hat bereits die Folterinstrumente gezeigt, bevor der Vorspann vorbei ist – wir wissen es nur noch nicht. Den King-Verfilmungen von Frank Darabont gelingt es dank Qualitätsoptik, meditativer Schnitte und toller Schauspieler, die besondere Mischung der Vorlagen aus epischer Breite und Kleinheit einzufangen. Darabonts »Die Verurteilten« (1994), Reiners »Stand By Me« und Bryan Singers »Der Musterschüler« (1998), drei der besten King-Adaptionen, basieren auf King-Novellen – Werke, die er lange nicht veröffentlichte, weil sie »zu lang waren, um kurz zu sein, und zu kurz, um wirklich lang zu sein«. Die Regisseure reagieren darauf, indem sie gleichzeitig komprimieren

und strecken. Sie reduzieren die HorrorKlischees und erhöhen gerade dadurch den Horror. Reiner macht aus Kings brutaler Kleinstadtnovelle ein Nostalgiestück, Singer reduziert eine Novelle über die Faszination des Bösen auf eine fiese Fabel über Homoerotik und Faschismus. In beiden Fällen ist das Ergebnis unblutiger, aber eigentlich weitaus drastischer als Kings Vorlage. Auch »Carrie«, in Romanform eine vielstimmige Montage aus Zeugenaussagen und offiziellen Verlautbarungen, wird in der Adaption durch Brian De Palma (1976) konsequent komprimiert und thematisch zugespitzt. Schon durch die Softpornoästhetik der Eingangsszene, mit High-SchoolMädchen unter der Dusche, die vom

DEr SchrEcKEN NimmT ViELErLEi gESTALT AN: iN »DEr muSTErSchüLEr« (1998) wirD EiN 16-JährigEr zum wiLLigEN LEhrLiNg EiNES ALT-NAziS ... ... iN »DrEAmcATchEr« (2003) muSS ES EiNE gruPPE VoN FrEuNDEN miT PArASiTärEN ALiENS AuFNEhmEN.


Stephen King kino Periodenblut gestört wird, macht De Palma den Voyeurismus und den Sadismus des Zuschauers zum Thema. »Stand By Me« zeigt, dass sich Schrecken und Schönheit der Kindheit nie trennen lassen; De Palma will wissen, ob Mädchen im Kino, ja der amerikanischen Gesellschaft generell, immer nur als Problem, als Objekt banger Faszination sichtbar werden können. Das steht beides so nicht in den Romanen, trifft aber den Geist Kings perfekt.

Grusel für Unaufmerksame Viele von Kings Kurzgeschichten sind reine Vignetten in der Tradition der »Twilight Zone«, organisiert um narrative Tricks, die man als Zuschauer auch dann kommen sieht, wenn man neben dem Fernsehschauen noch das Abendbrot isst und sich mit dem kleinen Bruder kabbelt. Grusel für Unaufmerksame, für Schnellleser, die die Story noch zu Ende lesen wollen, ehe das Licht ausgemacht wird. Wenn Darabont und Reiner am einen Ende der Prestigeskala stehen, markieren Anthologie-Filme wie »Creep Show«

(1982) und »Katzen-Auge« (1985) das andere. Und doch verstehen auch sie Kings Taschenspielerei perfekt: Sie behandeln den Zuschauer wie einen King-Leser. King sagt, er schreibe literarische »Big Macs«; die Anthologie-Filme servieren gleich drei Burger und ein paar blutige Fritten noch obendrauf. Eines hat das Kino allerdings nie ganz replizieren können. Stephen Kings Amerika bleibt in den Filmen immer unschärfer als in den Romanen. Nicht nur, weil sie neuenglische Städtchen unter kalifornischer Sonne nachstellen, oder im steuerbegünstigten Vancouver. Sondern vor allem deshalb, weil King sein Spiel mit Aufmerksamkeit und Vergesslichkeit, mit Wunder und Schrecken der Kindheit, mit Banalität und Bösem auch als Porträt Amerikas versteht. Das alltägliche Leben mit dem Schrecken, die Tatsache, dass man trotzdem erstaunt, wenn der eigentlich immer vorhandene Horror sich plötzlich gewalttätig Bahn bricht, hat etwas Uramerikanisches. Hollywood entflieht dem in Richtung Universalität. Auch wenn wir in der neuen »ES«-Adaption von Andrés Muschietti einmal mehr in die Kanalisation unter Derry, Maine entführt werden, droht wohl erneut die Konfrontation mit archetypischen Schrecken – und nicht mit uramerikanischen, die für King direkt unter Georgies Papierschiff lauern.

*

Adrian Daub ist Professor of comparative Literature and german Studies an der Stanford university in Kalifornien und leitet dort das Programm für genderstudien. Neben Artikeln zu deutschsprachiger Literatur und der deutschen musikkultur des 19. Jahrhunderts hat er über die werke von Filmkünstlern wie Alexander Kluge und hans-Jürgen Syberberg, aber auch zu Terrence malick und Quentin Tarantino geschrieben. zu seinen kulturkritischen Veröffentlichungen zählen die bücher »The James bond Songs: Pop Anthems of Late capitalism« sowie »Pop-up Nation« über das Silicon Valley. Seine Artikel zu kulturellen Themen erscheinen regelmäßig in deutschen zeitungen wie auf amerikanischen online-Plattformen.

Stephen king auf Blu-Ray & DVD im Schlepptau der Kinostarts von »es« und »Der dunkle turm« erfahren auch ältere Stephen-KingAdaptionen vermehrt eine neuveröffentlichung fürs heimkino:

Der Werwolf von Tarker Mills USA 1986. Regie: Daniel Attias Der tricktechnisch für seine Zeit recht beachtliche horrorfilm um einen Werwolf, der eine Kleinstadt im mittleren Westen der USA terrorisiert, bis ihm Jugendliche den garaus machen, erscheint erstmals auf BD. Begleitet wird der gute Filmtransfer durch einen Audiokommentar des Regisseurs. Anbieter: Koch Media katzenauge USA 1985. Regie: Lewis teague Der erhellende Regiekommentar von Lewis teague ist nicht das einzige highlight dieser Blu-ray-premiere des episodenfilms »Katzenauge« über radikale Zigarettengegner, eine perfide Wette in luftiger höhe und einen troll, der es auf Jugendliche abgesehen hat. Auch die Kameraarbeit von Altmeister Jack Cardiff ist noch heute ein genuss. Anbieter: Koch Media Friedhof der kuscheltiere USA 1989. Regie: Mary Lambert Mary Lamberts Verfilmung des grimmigen Bestsellers um einen verzweifelten Familienvater, der das Lieblingstier der Familie aus dem Reich der toten zurückholt und damit einen indianischen Fluch heraufbeschwört, zählt zu den erfolgreichsten Kinoadaptionen eines Romans von Stephen King. im Audiokommentar beschreibt die Regisseurin den Weg dahin und Kurzdokumentationen beleuchten den einfluss des Autors, der am Drehbuch beteiligt war. Anbieter: paramount Es USA 1990. R: tommy Lee Wallace Auch wenn der Audiokommentar von Regisseur tommy Lee Wallace sowie der Darsteller Dennis Christopher, tim Reid, John Ritter und Richard thomas etwa dröge wirkt und der tV-Zweiteiler für die Blu-ray-Veröffentlichung leicht gekürzt in einen Dreistundenfilm »umformatiert« wurde, bleibt »es« aus dem Jahr 1990 eine der besseren Stephen-King-Verfilmungen. Anbieter: Warner jög

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FiLmKunSt ZUKUNFT DES KINOS V

»Die ZuKunFt DeS KinoS« teiL 5

Männliche Helden gestern und heute: Clark Gable in »Comrade X« (l.) und Chris Pratt in »Jurassic World« (r.)

ZUR ERSTAUNLICHEN ENTWICKLUNG DER FILMSTARS 28

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ZUKUNFT DES KINOS V FiLmKunSt

In seiner sechsteiligen Essay-Reihe zur Zukunft des Kinos blickt Patrick Holzapfel zurück in die Vergangenheit, um zu ergründen, was Film und Kino in Zukunft helfen kann. In Teil 5 geht es um die Rolle der Filmstars. Schon im frühen Kino entwickelten sich populäre Schauspieler zu einer zentralen Attraktion des Mediums; das Studiosystem des klassischen Hollywoods beruhte unter anderem auf dem gezielten Aufbau von Stars und der Kontrolle ihrer Images. Was ist daraus im Blockbuster- und Multimedia-Zeitalter geworden? In »Jurassic World« wird Schauspieler Chris Pratt beispielsweise mit allen gängigen Mitteln des Hollywood-Kinos als Held inszeniert; trotzdem ist seine Rolle als Filmstar des Blockbuster-Zeitalters eine ganz andere, als sie es etwa für »Klassiker« wie Clark Gable oder John Wayne war. Chris Pratt dient als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Bedeutung der Stars fürs vergangene, aber auch fürs gegenwärtige Kino. Von Patrick Holzapfel

In »Jurassic World« (2015) von Colin Trevorrow wird der Held, gespielt von Chris Pratt, durchgehend als solcher präsentiert. Die Kamera fährt auf ihn zu, blickt von unten entlang seines Körpers steil nach oben oder lässt ihn als Silhouette im Gegenlicht der Sonne erscheinen. Vor allem die Zufahrten vergessen nie, darauf zu verweisen, dass sie fabriziert sind. In ihnen erscheinen der Körper und der Gesichtsausdruck des Schauspielers wie ein in Zeit gemeißelter Endpunkt. Es ist, als wäre die Fahrt eine Frage, die an ihrem Ende, im Gesicht des Protagonisten, eine Antwort erhält. Dem Zuschauer macht das unmissverständlich klar, dass Pratt ein außergewöhnli-

cher Charakter sein soll. Man soll die Luft anhalten und dann auf ihn reagieren. Diese Strategie des amerikanischen Kinos kennt man seit einem Jahrhundert. Pratt selbst dagegen legt nicht nur diese Rolle mit einer Nonchalance an, die immerzu sagt: Ich bin nicht bereit für eine Nahaufnahme. Aber es ist mir egal, wenn ihr sie trotzdem macht. Pratt will nie wie ein Filmstar wirken. Er sieht auch nicht so aus. Vielmehr ist er ein netter Kumpel, ein cooler Typ; etwas gemein könnte man sagen, dass er völlig aussagelos daherkommt. Womöglich lässt sich aus ihm etwas für die Frage nach den Filmstars gewinnen. Seit der gewerblich orientierten Professionalisierung des Filmschauspiels in den 1910erJahren sind Filmstars ein wichtiger Faktor des Kinos. Das gilt auf der einen Seite für die Zuschauer, die sich mit ihnen identifizieren. Man blickt auf zu den ins Licht getauchten Gesichtern, die selbst schlechte Filme transzendieren. Ein ganzer Filmdiskurs entzündet sich um Fragen der Stars. Es geht dabei um Projektionen, die von Liebe, Abstoßung oder Bewunderung bis hin zu Imitation reichen. Das gilt auf der anderen Seite auch für die Produktionsfirmen, die nicht nur in Hollywood Systeme entwickelten, um Stars zu kreieren und aufzubauen. Denn in erster Linie ist der Filmstar ein materieller Wert, eine »Marke« auf einem unübersichtlichen Markt. Von den ersten Stars über Koryphäen wie Greta Garbo, Gary Cooper, Marlene Dietrich oder Humphrey Bogart über die Rebellen der 1950er- und 1960er-Jahre wie Marlon Brando hat sich das, was als Star wahrgenommen wird, inzwischen extrem ausdifferenziert. Die größte Veränderung – und das gilt auch für Pratt – besteht darin, dass die Bekanntheit eines Stars immer weniger an den Filmen hängt, in denen er oder sie spielt.

gemacht, die nicht nur über Soziale Medien, sondern eben auch in TV-Formaten zur Bewerbung des Films eingesetzt werden. Es geht nicht mehr darum, dass ein Bild auf der Leinwand jene des Films übersteigt, sondern darum, dass das Bild jenseits der Leinwand den Film vergrößert. Das hat auch damit zu tun, dass es nicht mehr die Studios sind, die in den USA ihre Stars wie Haustiere und Namensschilder zugleich halten, sondern die Darsteller deutlich größere Freiheiten beim Aufbau ihrer Star-Persona haben. Es ist deshalb nicht mehr unbedingt das Studio, das mit Pratt Werbung für einen Film macht, sondern Pratt und sein Management überlegen sich, wie er mit sich selbst Werbung für seine Filme (und gleichzeitig für sich selbst) machen kann. Dadurch bauen sich Darsteller einen Wert auf, der sie für viele Produktionen unabdingbar macht. In dieser Verschiebung liegen viele Probleme begründet. Blickt man zum Beispiel auf viele unabhängige Produzenten in den USA, scheint ihre einzige Finanzierungsstrategie darin zu bestehen, die immer gleichen Darsteller in ihren Filmen zu besetzen. Auf diese Weise standardisiert sich ihr Kino, und es verarmt auch in vielerlei Hinsicht. Die Bilder vor und hinter der Leinwand sind beide hochgradig konstruiert und ergänzen sich bestenfalls. Durch ihre Persona vermitteln Stars auch eine Ideologie, die im Erfolgsfall mit dominanten gesellschaftliAmazonen: Ingrid Bergman als Jeanne d’Arc (l.), Jennifer Lawrence als Katniss Everdeen (r.)

VON ANFANG AN WAR ES IM STARDISKURS WICHTIG, DIE PERSONEN HINTER DEN SCHAUSPIELERN KENNENZULERNEN. Inzwischen hat das persönliche Image jenes auf der Leinwand abgelöst. Darsteller wie Jamie Foxx, Emma Stone oder Will Ferrell geben ihre zum Teil besten Perfomances in Talkshows, Comedy-Formaten und Fernsehserien. Chris Pratt hat sich beispielsweise einen Namen mit mehr oder weniger humorvollen Behind-the-Scenes-Fotografien

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Tänzer: Fred Astaire (l.) und Ryan Gosling (r.)

damit weitergearbeitet. Heute ist es für den Darsteller hingegen wichtig, öffentlich mit diesen Implikationen zu spielen. So trat Neeson in einer Talkshow auf und las mit seiner Rächerstimme Kindermärchen vor. Es geht um eine Komplizenschaft zwischen dem augenzwinkernden Darsteller und seinen Fans oder besser: seinen Followern. Der Star kommuniziert, dass er eigentlich einer von uns ist, egal wie viele Menschen er in seinen Filmen tötet.

chen Werten der jeweiligen Zeit harmoniert. Auch darin gab es in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen. Vor allem gilt das für weibliche Stars, die nicht mehr auf männliches Begehren ausgelegt sind. Es darf bezweifelt werden, ob Joan Crawford heute noch als »schwierig« und als Ausnahme gelten würde. Die politischen Neuordnungen bedingen aber auch eine Änderung von Werten in unterschiedlichen Gebieten der Welt. So kann man trotz des besorgniserregenden Revivals der 1980er-Jahre den amerikanischen Actionstar dieses Jahrzehnts heute oftmals nur mit einer Portion Ironie ertragen. Diese Ironie ist es womöglich, die in Pratt aufgeht. In ihr liegt eine Distanz zur eigenen Rolle, die die Figur für ein großes Publikum wieder glaubhaft macht. Pratt gibt sich fast als jemand, der seine eigene Rolle beobachtet. HATTE MAN MIT DARSTELLERN WIE GARY COOPER IMMER DAS GEFÜHL, DASS MAN NEBEN DER ROLLE AUCH DIE PERSONA DES SCHAUSPIELERS DAHINTER SIEHT, SO SIEHT MAN BEI PRATT EIGENTLICH FAST KEINE ROLLE MEHR. Chris Pratt spielt Chris Pratt, den Filmstar, der in kuriosen Welten landet. Manchmal sind diese kuriosen Welten das Weltall, manchmal lebt er mit Dinosauriern und manchmal sitzt er bei Jimmy Fallon in der Tonight Show. Es macht keinen Unterschied. Er ist immer derselbe Pratt, so wie Jennifer Lawrence, die eine talentiertere

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Schauspielerin ist, sich darauf eingelassen hat, immer Lawrence zu sein. Wichtiger als das tatsächliche Schauspiel ist die Glaubwürdigkeit der Person hinter dem Schauspiel. Polemisch könnte man fragen, ob die Fähigkeit, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, überhaupt keine Bedeutung mehr besitzt und man streng genommen auch Musik- oder Sportstars in Hauptrollen besetzen könnte. Aber hier besitzt das Kino dann doch noch einige Argumente gegen die Marktorientierung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, über die Eigenschaften und Werte nachzudenken, die ein Filmstar vertritt. Sie werden letztlich verkauft. Wenn Zuschauer heute in einen Liam-Neeson-Film gehen, dann haben sie bestimmte Erwartungen. Neeson spielt häufig den harten, kompromisslosen Rächer. Eine Rolle, in die er erst spät in seiner Karriere hineingewachsen ist. In den 1930er-Jahren hätte es nicht so lange gedauert. Potenzielle Stars wurden von den Studios in unterschiedlichen Rollen ausprobiert, und sobald das Publikum auf eine Rolle besonders ansprang, wurde

ES STELLT SICH ABER AUCH EINE ANDERE FRAGE: WER IST EIGENTLICH DIESER CHRIS PRATT? IST ER NICHT UNENDLICH AUSTAUSCHBAR? BRAUCHT DAS KINO NOCH EINE WIRKLICHE PERSON, ODER GEHT ES NUR UM LEERE PROJEKTIONSFLÄCHEN, IN DIE MAN SEIN EIGENES GESICHT EINSETZEN KANN? Virtual Reality könnte einen Schritt in diese Richtung bedeuten. Die Annäherung an Gaming-Technologien, in denen man seine Helden nach eigenen Vorzügen gestalten kann, ist für die auf Identifikation schielende Form des Kinos ein logischer Schritt. Die Erfolgswelle der Superheldenfilme handelt auch von dieser Tendenz. Schließlich hat der Blick hinter die Maske in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung

Stilkonen: Audrey Hepburn (l.) und Cara Delevingne (r.)


ZUKUNFT DES KINOS V FiLmKunSt

DIE ALLGEGENWÄRTIGE PRÄSENZ VON FILMSTARS NIMMT IHNEN BIS ZU EINEM GEWISSEN GRAD AUCH DAS MAGISCHE, ÜBERMENSCHLICHE.

Fotos: FD-Archiv, UPI, StudioCanal, Universum

In einer Welt, in der Begriffe wie Anonymität und Diversität zunehmend ihre Konturen verlieren, sind solche Entwicklungen nur allzu logisch. Die Superhelden sind stabiler, in gewisser Weise auch vertrauenswürdiger als die alternden Schauspieler. Unter der Spiderman-Maske sehen alle gleich aus. James Bond wird niemals sterben. Das Kino, das einmal dafür gerühmt wurde, dass es Zeit darstellbar mache, arbeitet daran, dass die Zeit stehenbleibt. Nichts soll sich verändern, die ewige Jugend in den Gesichtern, die gleichen Filme wie vor 20 Jahren, die

Der ideale Filmstar der Zukunft ist ein toter Star. Die zeitlosen Stars leben alle in der Vergangenheit, sie werden oft erst posthum geboren. Achtet man darauf, wie vor allem in den sozialen Medien in den letzten Jahren mit dem Tod von Schauspielern und berühmten Regisseuren umgegangen wird, erkennt man, dass hier die Starphänomene noch anhand einer differenzierenden Identifikation greifen, nicht in subjektiver Gleichschaltung. Beim Tod von Jeanne Moreau oder Jerry Lewis werden deren individuelle Qualitäten vor und hinter der Kamera betont; es setzt ein gemeinsames Feiern ihrer Fähigkeiten ein, indem Bilder, Videos und andere Materialien der Stars umhergehen. Es existieren bereits zahlreiche Kinos, die auf den Tod von Stars mit spontanen Screenings reagieren. Das Starsystem der Zukunft könnte diese posthume Auswertung des Werts eines Stars noch vorantreiben. Von Retrospektiven über Streaming-Reihen bis zu Fanartikeln scheint in dieser Form von Trauerkultur vieles möglich. Allerdings hält diese öffentliche

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Maske deutlich weniger interessant ist als die Identifikation mit der Maske. Die letzten James-Bond-Filme arbeiten im Gegensatz dazu fast anachronistisch, werden aber auch nicht müde zu betonen, wie kaputt und menschlich ihr Held doch ist. Die Faszination beruht allerdings nicht darauf, dass Daniel Craig erschöpft aussieht, sondern dass James Bond so aussehen kann. Auch hier ist es nicht der Filmstar, mit dem sich der Zuschauer identifiziert, sondern die Rolle.

Es ist verlockend, darüber nachzudenken, was passiert, wenn Chris Pratt einmal stirbt, und man versucht sich dagegen zu wehren, dass die Antwort »gar nichts« lauten könnte. Aber wissen wird man das erst, wenn es soweit ist. Denn wenn die Entwicklungen von allgemeinen und individuellen Filmstars in den vergangenen Jahrzehnten eines gezeigt haben, dann das, dass sie auf äußerst dynamischen, kulturell unterschiedlichen Kategorien basieren, die im Guten wie im Schlechten weit über das Kino hinausreichen.

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Frauen und Männer, die vom Himmel gefallen scheinen, werden rar. Das ist nicht unbedingt ohne Vorteile, doch da auf diese Weise auch die Verkörperung von Werten durch Vorbilder verloren geht und die Möglichkeit, zu den Sternen aufzublicken, büßt das Kino auch eine spirituelle Kategorie ein.

Aufmerksamkeitsspanne häufig nur einige Tage. Hier könnte das Kino einspringen und erneut beweisen, dass es keine fortschreitende Zeit mehr gibt; ein Filmstar wäre dann jemand, der ewig lebt. Im Tod wird die Relevanz eines Stars sichtbar – und dadurch auch sein oder ihr aktueller Wert. Selbst die transzendierende Ungreifbarkeit kehrt zurück, was sich schon darin zeigt, wie hoch bislang unbekannte Informationen über einen Filmstar plötzlich geschätzt werden und wie sehr in den Fokus rückt, dass dieser Star ein Mensch gewesen ist.

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Schönheiten auf der Leinwand: Rita Hayworth (r.) und Emma Stone (l.)

gleichen Helden immer wieder. Ein Filmstar ist in dieser Welt ein Risikofaktor, denn er könnte sich verändern. Darsteller wie Pratt oder auch Ryan Gosling passen perfekt in dieses Schema. Sie spielen fast ausdruckslos, immer so, dass man sich selbst in ihre Gesichter setzen kann. Dabei könnte durchaus eine Distanz entstehen oder ein spannender Verfremdungseffekt. Man denke an die Schauspieltechniken bei Robert Bresson. Aber die eingangs geschilderte Hollywood-Strategie und aller Hollywood nachahmenden Industrien verhindert dies. Kamera, Montage und Musik arbeiten immer noch so, als stände dort ein lebendiger Mensch. Letztlich aber gilt die Kamerafahrt auf den Schauspieler hin nur einem Spiegelbild, dem größten Helden unserer Zeit.

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verloren. Es sind die Kostüme und Masken, die sich verkaufen. Niemand spricht von einem neuen Film mit Christian Bale oder Ben Affleck, wenn es um eine Rolle wie Batman geht, alle sprechen von einem neuen Batman-Film. Man hat das Gefühl, dass das Geheimnis des Gesichts unter der

Patrick Holzapfel ist Preisträger des »Siegfried-Kracauer-Stipendiums«, mit dem der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit der MFG Filmförderung Baden-Württemberg und der Film- und Medienstiftung NRW jährlich einen Filmkritiker fördert. In diesem Rahmen erscheint im FILMDIENST die sechsteilige Essay-Reihe »Die Zukunft des Kinos«. Die einzelnen Kapitel: 2016–2000: Die Chancen der Digitalisierung (in: FD 07/17) 1999–1977: Distribution und Ideologie (in: FD 10/17) 1976–1968: Revolution und Freiheit (in: FD 13/17) 1967–1946: Cinephilie und Kultur (in: FD 16/17) 1945–1916: Stars und Massen (Artikel in dieser Ausgabe) 1915–1895: Erfindergeist und Unschuld

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Körper und Seele

»Goldener Bär« bei der »Berlinale«: Ein meisterhafter Liebesfilm von Ildikó Enyedi

Sie sehen sich an und wissen, dass sie füreinander bestimmt sind. Der stattliche Hirsch und seine zarte Artgenossin treffen in einem winterlichen Wald aufei­ nander, der ganz allein ihnen zu gehören scheint. Unbehelligt von Menschen und anderen Tieren streifen sie zwischen den Bäu­ men umher, suchen unter der Schneedecke nach essbaren Pflanzen oder trinken neben­ einander aus einem Bach. Die Kamera hebt immer wieder die Augen der beiden Paarhufer her­ vor, die gegenseitiges Vertrauen und Verantwortungsgefühl aus­ zudrücken scheinen – Bilder einer wahren Liebe und eines weltent­ rückten Friedenszustands, mit denen die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi ihren Film »Körper und Seele« beginnt und zu denen sie wiederholt zurückkehrt; zudem auch rätselhafte Bilder, die realistisch und zugleich unwirklich erscheinen. Dieses sensible Spiel mit Kontrasten prägt auch die Sphäre, in der sich die Hand­ lung entfaltet. Der harmo­ nischen Zweisamkeit der Hirsche stellt Enyedi die Tiere in einem Schlachthof gegen­

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über: Rinder, die in Verschlägen einen letzten Sonnenstrahl genießen, bevor sie einzeln in die Halle treten, wo sie durch ein Bolzenschussgerät den Tod finden und danach zerteilt wer­ den. Alltag für die abgebrühten Schlachter, den der Film mit durchaus drastischer Detail­ genauigkeit präsentiert, um zu zeigen, wie sich auch vor die­ sem Hintergrund Empathie ent­ wickeln kann. Bei dem Finanz­ direktor des Schlachthofs etwa, dem schon etwas älteren Endre, der die Schlachthalle meidet und sich meist in sei­ nem Büro verkriecht. Trotzdem hat er sich ein Interesse an sei­ nen Mitmenschen bewahrt; er ist der einzige im Betrieb, der die neue Qualitätsprüferin Mária nicht sofort unter »einge­ bildet und seltsam« abheftet. Die junge Frau zeigt deutliche Anzeichen von Autismus und kann mit sozialen Beziehungen nichts anfangen, woran auch Endre bei ersten Annäherungs­ versuchen nicht rütteln kann; zudem erscheint ihm Márias Beharren auf den Vorschriften selbst für seine Begriffe recht übertrieben.

Von ihrem Naturell her scheint es undenkbar, dass ausgerech­ net zwischen diesen Menschen eine Beziehung entstehen könnte. Doch Enyedi deutet von Anfang an das besondere Verhältnis der beiden an. Die Aufmerksamkeit des introver­ tierten Endre spiegelt sich in der Lebendigkeit von Márias Augen, mit denen die Frau mit der engelhaften Blässe ihre scheinbare Unterkühltheit Lügen straft. Es liegt nahe, sich angesichts dieses sensiblen Mienenspiels an die Hirsche erinnert zu fühlen, und wird durch den Fortgang auch bestätigt. Bei einer psycholo­ gischen Untersuchung der Belegschaft steht die Frage nach Träumen im Raum, die Endre und Mária identisch beantworten: Beide beschrei­ ben, wie sie sich als Hirsch mit ihrem Partner durch den Wald bewegten, und auch ihre Empfindungen sind – abgese­ hen von der Identifikation mit ihrem jeweiligen Geschlechts­ genossen – offenbar dieselben gewesen. Damit konfrontiert, trifft die beiden Einzelgänger ihre Seelenverwandtschaft

gänzlich unverhofft. Doch sie können diese offensichtliche Fügung nicht einfach abtun. So unwahrscheinlich ihre Vereini­ gung auch sein mag, geht das Traumpaar nun auch im wirk­ lichen Leben immer mehr aufei­ nander zu. Die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi breitet diese Lie­ besgeschichte mit bezau­ bernden Details aus. Während es für Endre vor allem darum geht, vergessene Gefühls­ regungen wieder wachzurufen, macht sich Mária akribisch daran, der selbstauferlegten Verpflichtung zur Liebe gerecht zu werden. Das führt zu einigen herrlich komischen Momenten: So hört sich Mária bergeweise durch CDs mit »Liebesmusik«, studiert aufmerksam Pornos und bringt ihren Therapeuten aus Kindertagen, den sie noch immer aufsucht, mit ihren neuen Fragen in Verlegenheit. Vor allem aber beobachtet der Film subtil eine langsam wach­ sende Leidenschaft. Dafür braucht es keine heftigen Gefühlsausbrüche. Dass die Fortschritte sich in erster Linie in Gesicht­ und Körpersprache der Hauptdarsteller Géza Morcsányi und Alexandra Borbély abzeichnen, lässt an Vorbilder wie David Leans »Begegnung« und Wong Kar­ wais »In the Mood for Love« denken, auch wenn Enyedi deren melancholischen Tonfall nicht teilt. Die 1955 geborene Filmemacherin, die zum ersten Mal seit »Simon Magus« (1999) wieder einen Spielfilm insze­ nierte, lässt neben einem sanft skurrilen, teilweise aber auch mal herben Humor wie schon in früheren Werken auch wunder­ same Aspekte in den Plot ein­ fließen. In ihrem Regiedebüt »Mein 20. Jahrhundert« (1989) waren es die Sterne, die sich ins Geschehen einmischten, und auch diesmal haben surreale neben den realistischen Ein­

Fotos S. 38–53: Jeweilige Filmverleihe

KritiKen neue Filme


neue Filme KritiKen schlägen einen festen Platz; eine unsichtbare Schicksals­ macht scheint über das Wohl der Figuren zu wachen. So ist »Körper und Seele«, mit dem Ildikó Enyedi im Februar 2017 den »Goldenen Bären« bei der »Berlinale« gewann, ein Werk, in dem Form und Inhalt mit seltener Meisterschaft zusam­ mentreffen. Dieser Film über eine zarte Liebe verrät in jeder fein komponierten, in warmen Farben leuchtenden Einstellung die Liebe zum Erzählen und zum Kino – der Welt, in der es tatsächlich möglich ist, sich gemeinsam in Träume zu versenken. Marius Nobach Bewertung Der FiLmKommiSSion

Der introvertierte Finanzdirektor eines Schlachthofs und eine autistisch erscheinende Qualitätsprüferin erfahren durch Zufall von identischen Träumen, in denen sie als Hirsche durch einen friedlichen Wald wandeln. Diese erkenntnis lässt beide auch im leben aufeinander zugehen. Während der ältere mann verdrängte Gefühlsregungen wachrufen muss, bemüht sich die Frau, dem ihr unbekannten Phänomen der liebe mit akribischem Studium gerecht zu werden. eine subtil entwickelte Romanze in fein komponierten Bildern, die mit großer inszenatorischer meisterschaft und hervorragenden Darstellern von einer allmählich wachsenden leidenschaft erzählt. Voller bezaubernder Details spürt der Film dem Wesen der liebe nach, wobei sich surreale momente, skurriler Humor und einfühlsame Beobachtungen die Waage halten. – Sehenswert ab 16.

teStrÖL ÉS LÉLeKrÖL. ungarn 2017 regie: ildikó enyedi Darsteller: Alexandra Borbély (mária), Géza morcsányi (endre), Réka Tenki (Klára), Zoltán Schneider (Jenö), ervin nagy (Sándor), itala Békés (Zsóka) Länge: 116 min. | Kinostart: 14.9.2017 Verleih: Alamode | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 44 921

Blind & Hässlich

Glänzender Impro-Film von Tom Lass Jonas Verweigerung, ihre Abiturprüfungen zu absolvieren, kommt bei ihrer Mutter nicht gut an. Der Streit ist vorprogram­ miert, und beim ersten Anzeichen reißt die Berlinerin aus. Jetzt muss eine Unterkunft her. Doch trotz großer Anpassungsbereit­ schaft klappt es nicht mit einem WG­Zimmer. Zudem sperrt ihr die Mutter das Konto. Da schlägt ihr ihre blinde Cousine eine Art Ausweg vor. Falls sie es schafft, sich in die Welt der Sehbehinder­ ten einzufühlen, könnte sie sich doch um ein Zimmer in einem Blindenwohnheim bewerben. Jona erweist sich schnell als begabte Schülerin. Gleich der Erste, dem sie den Zustand der Blindheit vorspielt, fällt auf den Betrug herein. Ferdi fühlt sich von Jona, die ihn auf einer Brü­ cke von einem Selbstmordver­ such abbringt, magisch angezo­ gen. Schließlich kann sie ihn nicht sehen, und damit auch nicht seine abgrundtiefe Hässlichkeit, von der er zutiefst überzeugt ist. Der neurotische Streuner wird nicht nur von einem massiven Selbsthass geplagt. Trotz lang­ jähriger Therapie und betreutem Wohnen stolpert er voller Selbst­ mitleid durch einen Alltag, der überwiegend aus selbstverschul­ deten Konflikten und absurden Streitgesprächen besteht. Erst die Begegnung mit der scheinbar weitaus verloreneren Jona bringt etwas Ruhe in seine labile

Befindlichkeit. Wäre da nicht ihr Wunsch nach körperlicher Nähe, auf den der bindungsscheue Fredi mit panischen Flucht­ reflexen reagiert. Regisseur und Hauptdarsteller Tom Lass bleibt auch in seinem dritten Spielfilm dem bewährten Konzept aus Improvisation, Handkamera, Figurennähe und Verdichtung der Handlung durch emotional getaktete Schnitte treu. Dabei kommt der in einer Rückblende erzählte Anfang bei­ nahe ohne Dialoge aus. Eine leichtfüßige Anreihung aussage­ kräftiger Situationen etabliert dabei atmosphärisch gekonnt die exzentrischen Figuren und setzt ihr Krisenpotenzial komödian­ tisch ein. Das ist ungemein fil­ misch und höchst spannend erzählt. Der Humor lebt von den Eigenheiten der Charaktere und einer liebevollen Satire auf Hel­ ferberufe: von der strengen Jugendtherapeutin über die Gruppendynamik­begeisterten Sozialarbeiter bis zu den Wohn­ heimleitern, die das Handicap ihrer blinden Schützlinge für ihre sexuellen Bedürfnisse ausnützen. In der zweiten Hälfte wird die »Wahrhaftigkeit« der Handlung allerdings durch die überflüssige Figur eines psychopathischen Clubbesitzers strapaziert, der seine Mitarbeiter, zu denen unter anderem auch Jona gehört, mit Wutattacken terrorisiert und das Glück des fragilen Paars intrigant

zu zerstören versucht. Den »femi­ nistischen« Showdown, in dem Jona als plötzlich sehende Base­ ballschläger­Amazone trium­ phiert, nimmt man zwar etwas ratlos als künstlich befeuerten Drama­Wendepunkt zur Kennt­ nis. Das Wiedersehen mit den vielen Naturtalenten und lustvoll schauspielernden Freunden des Regisseurs, darunter Eva Löbau, Axel Ranisch, Karin Hanczewski, Martina Schöne­Radunski, Robert Gwisdek und die Brüggemann­ Geschwister, sowie die wunder­ bare Neuentdeckung Naomi Ach­ ternbusch als Jona möchte man in ihren markanten Auftritten dennoch nicht missen. Das hat beinahe schon etwas von der über Jahre treuen Familie eines Ingmar Bergman, wenn auch in einem gänzlichen anderen Kino­ Universum. Alexandra Wach

Bewertung Der FiLmKommiSSion

eine Schulabbrecherin findet ein Zimmer in einen Blindenheim, weil sie vorgibt, nicht sehen zu können. Dann aber verliebt sie sich in einen von Selbsthass zerfressenen Streuner. Der weitgehend improvisierte Film entfaltet das komödiantische Potenzial der exzentrischen Figuren mit großer leichtigkeit. Sein Humor speist sich aus den eigenheiten der Charaktere und einer liebevollen Satire auf Helferberufe. in der zweiten Hälfte wandelt sich der Film aber zum bemühten Drama, über dessen »feministischen« Showdown die große Schar glänzender Darsteller halbwegs hinwegtröstet. – Ab 16.

Deutschland 2017 regie: Tom lass Darsteller: naomi Achternbusch (Jona), Tom lass (Ferdi), Clara Schramm (Cécile), eva löbau, Anna Brüggemann, Robert Gwisdek, Julius Feldmeier Länge: 105 min. | Kinostart: 21.9.2017 Verleih: Daredo media | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 44 922

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NEuE FILmE DVD / Blu–RAy / IntERnEt

Eine Krimiserie aus den frühen 1990er-Jahren nach Hörspielen von Martin Walser, mit Bruno Ganz als spitzbübischem Detektiv

In manchen Werkverzeichnissen von Martin Walser tauchen seine »Tassilo«– Hörspiele und deren Fernsehverfilmung gar nicht auf. Man vernachlässigt sie als beiläufige Fingerübungen. Gewiss sind die Abenteuer des Privatdetektivs Tassilo S. Grübel keine Großkunst im Oeuvre des »Chronisten der deutschen Seele«, wie Walser jüngst vom »Spiegel« tituliert wurde, aber einige der Lieblingsthemen und Obsessionen des Schriftstellers offenbaren sich hier in Satire-Form mit wunderbarer Direktheit. So begegnet man typischen Walser-»Abrechnungen« wie mit dem Klischee-Journalismus oder dem Gesellschaftstheater der Betuchten, und natürlich ist dieser privatdetektivische Vorbote der Regionalkrimis vor allem eine Liebeserklärung an den Bodensee. Die Anfang 1991 im Fernsehen ausgestrahlte, auf den »Tassilo«-Hörspielen basierende sechsteilige ZDF-Serie setzte der für seine Schimanski-»Tatort«-Krimis bekannte Regisseur Hajo Gies in Szene.

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Filmdienst 19 | 2017

Jetzt erscheinen alle Folgen in einer DVD-Box, technisch perfekt aufbereitet und liebevoll mit einem Booklet ausgestattet, in dem man detailgenau nachlesen kann, welchen windungsreichen Werdegang die Tassilo-Figur in Walsers Schaffen hatte. Mit herrlichem Elan, dem obligatorischen roten Kaschmirschal um den Hals und einem verschmitzten, jungenhaften Lächeln auf den Lippen verkörpert Bruno Ganz diesen Tassilo S. Grübel als eine Mischung aus Halodri, Tölpel und Charmeur. Weil sich Tassilo um zwei anstrengende Frauen (überfürsorgliche Mama und kesse Ehefrau aus Texas) kümmern muss und an chronischem Geldmangel leidet, überlegt er, wie er die wohlhabenden Anrainer des Bodensees schröpfen könnte. Er macht es wie der Feuerwehrmann, der Feuer legt, um es dann heldenhaft zu löschen: Er stiftet das Chaos, das er dann detektivisch zu bereinigen vorgibt, wobei ihm sein Kumpel Hugo (Axel Milberg) hilfreich zur Seite steht.

Rainer Gansera

TASSILO – EIN FALL FÜR SICH Regie: Hajo Gies (nach HörspielVorlagen von Martin Walser) Darsteller: Bruno Ganz, Axel Milberg, Charles Brauer, Renate Schroeter, Karl Heinz Vosgerau, Marianne Hoppe u.v.a. Länge: 364 Min. | FSK: ab 6 Anbieter: Bear Family FD-Kritik: 44 943

Fotos S. 54–55: Jeweilige Anbieter

Tassilo – Ein Fall für sich

In der vierten, »Lindauer Pietà« betitelten Episode entwendet er beispielsweise aus dem Schloss einer Großindustriellenfamilie die berühmte Pietà-Statue des Konstanzer Bildhauers Heinrich Yselin, die er kunstkennerisch als Synthese »aus der Sinnlichkeit des Oberrheins und der Mystik des Bodensees« rühmt, um dann vorgeblich für deren Wiederbeschaffung zu sorgen. Er umgarnt die Hausherrin Maximiliane, die von Marianne Hoppe als hinreißend tyrannisches Wesen dargestellt wird, er spielt den Gentleman mit allerlei »Gnädige Frau!«-Komplimenten, begleitet sie ins Spielcasino und teilt ihre Vorliebe für Birnenschnaps. Die fiesen Reichen am Bodensee sind gar nicht so richtig klassenkämpferisch fies, eher kuriose Sonderlinge, und die Story kümmert sich sowieso lieber um amouröse als um kriminalistische Abenteuer. Für die Serie maßgeblich ist ihr Tonfall aus Ironie, Flunkerei und Satire, der in der vierten Episode besonders gut gelingt, weil Bruno Ganz und Marianne Hoppe die gespreizten Dialoge und das geschraubte Wesen des Personals meisterlich vorführen. Sie beherrschen das doppelbödige Spiel. Ansonsten holt die Inszenierung die Gags manchmal etwas mühsam herbei und fährt alberne Maskeraden auf, doch aufs Ganze gesehen garantiert Bruno Ganz Witz und Komödien-Vergnügen. Walser, selten zufrieden mit der Verfilmung seiner Arbeiten, lobte den Darsteller in den höchsten Tönen: »Das finde ich großartig, dass Bruno Ganz sich diese Figur so zu eigen macht. Tassilo bringt ihn auch als Schauspieler weiter in seinen Variationsmöglichkeiten. So komisch war er noch nie – das muss ihm auch Spaß gemacht haben, sonst wäre das Ergebnis nicht so.« - Ab 14.


KRITIKEN FERNSEH-TIPPS

15.40 – 18.10 Der erste Ritter R: Jerry Zucker Romantischer Ritterfilm mit Richard Gere USA 1995

RTL II

Ab 14

20.15 – 22.00 Disney Channel Das große Krabbeln R: John Lasseter, Andrew Stanton Ameise beschützt Sippe vor Heuschrecken USA 1998 Sehenswert ab 6 20.15 – 22.05 Servus TV Eine Leiche zum Dessert R: Robert Moore Clevere Krimiparodie USA 1975 Sehenswert ab 14 21.40 – 23.10 hr fernsehen Die Konfirmation R: Stefan Krohmer Teenager irritiert kirchenferne Eltern Deutschland 2016 Ab 14 23.40 – 01.05 mdr Im Zweifel R: Aelrun Goette Bewegendes Drama um Notfallseelsorgerin Deutschland 2015 Sehenswert ab 16 23.55 – 01.35 Das Erste Der große Crash – Margin Call R: J.C. Chandor Treffsicheres Finanzmarkt-Drama USA 2011 Sehenswert ab 14 00.30 – 01.25 Kurzschluss – Das Magazin Schwerpunkt 100 Jahre UFA

arte

01.00 – 02.35 ZDF Ein ausgekochtes Schlitzohr R: Hal Needham Irrwitzige Komödie mit Burt Reynolds USA 1976 Ab 14 02.35 – 04.10 ZDF Das ausgekochte Schlitzohr ist wieder auf Achse R: Hal Needham Fortsetzung der Verfolgungsorgie USA 1980 Ab 14 04.00 – 06.15 3sat Milagro R: Robert Redford Farmer gegen Großunternehmen USA 1988 Sehenswert ab 16

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SO

SAMSTAG 16. SEPTEMBER

Filmdienst 19 | 2017

16. September, 20.15 – 22.05

Servus TV

Eine Leiche zum Dessert: Peter Falk zum 90.

Als schusseliger Polizist Columbo, der selbstgefällige Mörder mit vermeintlicher Harmlosigkeit und penetrantem Nachhaken narrte, stieg Peter Falk (1927 – 2011) in den 1970er-Jahren zum Weltstar auf. Neben der Fernsehserie fand der Schauspieler in diesen Jahren aber durchaus auch Zeit, um seiner Karriere in noch anderer Hinsicht neuen Aufwind zu verschaffen: mit gefeierten Broadway-Auftritten, den Independent-Filmen seines Freundes John Cassavetes (»Eine Frau unter Einfluss«) oder auch der versierten Krimiparodie »Eine Leiche zum Dessert«. Darin spielt Falk den Detektiv Sam Diamond, der unschwer als Doppelgänger von Dashiell Hammetts Sam Spade zu erkennen ist. Zusammen mit weiteren leicht verfremdeten literarisch-filmischen »Kult«Ermittlern wird er in ein verwirrendes Mord- und Rätselspiel hineingezogen. Neben der amüsanten Hinterfragung von Krimi-Stereotypen wird dabei auch Falks Columbo-Image durch den Kakao gezogen. Servus TV zeigt den Film am 90. Geburtstag von Peter Falk. 16. September, 00.30 – 01.25

arte

Kurzschluss: 100 Jahre UFA

Als Ergänzung zur UFA-Spielfilmreihe widmet sich das arte-Kurzfilmmagazin den Produktionen des deutschen Filmkonzerns. Dabei lassen sich charmante Entdeckungen machen wie »Und Nelson spielt …« (1929), in dem die Musik des Schlagerkomponisten Rudolf Nelson zu witzigen Kabinettstücken führt, etwa eine Jazzband, die filmisch verkleinert über Nelsons Flügel spaziert. Auch die Rolle der UFA-Kurzfilme in der NS-Zeit wird beleuchtet: Werbefilme wie »Du und die drei« (1942), die der Bevölkerung den »richtigen« Umgang etwa mit Waschmitteln nahelegten, um kein »Volksgut« zu verschwenden, oder auch IndustriePropagandafilme wie Walther Ruttmanns Montage-Kunstwerk »Mannesmann« (1935). Erläutert und kommentiert werden die Filme von den Filmexperten Anne Siegmayer, Nina Goslar und Christophe Gautier. ERSTAUSSTRAHLUNG: 17. September, 23.10 – 00.55

Akt

mdr

In unserer von nackten Bildern verstellten Gegenwart klingt der Titel provozierend fremd. Selbst wenn man weiß, dass sich Mario Schneiders wunderbarer Dokumentarfilm auf die bildende Kunst und die Darstellung des unbekleideten menschlichen Körpers bezieht, muss man sich durch den Assoziationsmüll erst einmal hindurchwühlen, um bei einem in stiller Pose verharrenden Körper anzukommen. Im Zentrum der subtilen Annäherung geht es allerdings nicht um die künstlerische Praxis, sondern um vier Menschen, die an der Kunstschule in Leipzig als Aktmodelle ihre Gewänder ablegen. Drei von ihnen hat das Leben nicht mit Samthandschuhen angefasst; die Vierte wechselt als Kunststudentin die Perspektive. Der fein strukturierte Film folgt seinen Protagonisten zu den Sitzungen und in ihr Leben. Eine stille, aufmerksame Liebeserklärung ans Leben und an den menschlichen Körper, der seine Narben mit Würde trägt.

SONNTAG 17. SEPTEMBER

10.50 – 12.30 3sat Herz des Himmels, Herz der Erde R: Eric Black, Frauke Sandig Doku über die Maya und ihre Art zu Denken Deutschland 2011 Ab 14 20.15 – 21.50 Disney Channel Susi und Strolch R: Hamilton Luske, Wilfred Jackson Zeitlose Hunde-Liebesgeschichte USA 1955 Sehenswert ab 6 21.00 – 00.15 arte Apocalypse Now Redux R: Francis Ford Coppola Erweiterte Fassung des Kriegsepos USA 1979/2001 Sehenswert ab 16 22.05 – 00.20 TELE 5 Friedhof der Kuscheltiere R: Mary Lambert Grelle Stephen-King-Adaption USA 1990 Ab 16 23.10 – 00.55 mdr Akt R: Mario Schneider Doku-Essay über vier Aktmodelle Deutschland 2015 Sehenswert ab 16 23.35 – 01.08 Das Erste Die Kleinen und die Bösen R: Markus Sehr Bissig-satirische Kiez-Komödie Deutschland 2015 Ab 14 00.20 – 01.50 NDR fernsehen Orca, der Killerwal R: Michael Anderson Differenzierter Thriller um Rache eines Tiers USA 1977 Ab 16 01.10 – 02.53 Das Erste Greenberg R: Noah Baumbach Komödiantische Neurotiker-Studie USA 2010 Ab 16 01.30 – 03.00 hr fernsehen Chodorkowskis neue Freiheit R: Cyril Tuschi Neues vom russischen Oppositionellen Deutschland 2016 Ab 16 02.00 – 03.50 3sat Bad Lieutenant – Cop ohne Gewissen R: Werner Herzog Sardonischer Polizeithriller USA 2009 Sehenswert ab 16

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

SA


FERNSEH-TIPPS KRITIKEN

MO

20.15 – 22.05 arte Der Wildeste unter Tausend R: Martin Ritt Wirklichkeitsnahes Familiendrama in Texas USA 1962 Sehenswert ab 16

»Der Feuerteufel«

17. – 21. September

TELE 5

22.05 – 23.55 arte Königreich des Verbrechens R: David Michôd Radikaler Krimi um Verbrecher-Clan Australien 2010 Ab 16

Stephen King

Die Disziplin des Horrorautors (»niemals unter 2000 Worten am Tag«) lässt sein Werk auch im fortgeschrittenen Alter unaufhörlich weiterwachsen. Aber auch die Menge der Verfilmungen reißt nicht ab und hat angesichts von Stephen Kings 70. Geburtstag noch einmal kräftig angezogen. Die unheimlichen Visionen des Schriftstellers aus Maine und seine kritische Sezierung der USA besitzen offensichtlich noch immer eine tiefe Faszination (vgl. Artikel S. 10). Zu Kings Geburtstag am 21. September sendet TELE 5 eine kleine Reihe von Adaptionen: Während in »Friedhof der Kuscheltiere« (17.9., 22.05 – 00.20) am falschen Ort beerdigte Tote als Zombies zurückkehren, steht in »Der Feuerteufel« (24.9., 20.15 – 22.35) ein kleines Mädchen mit gefährlichen Flammenkräften im Mittelpunkt. Dazwischen bietet »Das geheime Fenster« (19.9., 20.15 – 22.10) mit den Seelennöten eines Schriftstellers eine vergleichsweise sanfte Variation des Horrorszenarios von »Shining«.

»Vietnam«

arte

17. – 21. September

Schwerpunkt Vietnamkrieg

Offiziell dauerte der Krieg um Vietnam 20 Jahre lang und begann kurz nach der Teilung des Landes durch die UNO. Die westliche Sicht auf den sogenannten 2. Indochina-Krieg (1955–1975) ist allerdings stark durch die Debatten um die US-amerikanische Beteiligung geprägt, die mit den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1960er-Jahre aufs Engste verknüpft waren. In der neunteiligen Fernsehserie, die arte zusammen mit Francis Ford Coppolas Magnum Opus »Apocalypse Now Redux« an drei Tagen hintereinander zeigt, ordnen die Regisseure Ken Burns und Lynn Novick den ersten medial geführten Bürgerkrieg über den Kontext des Kalten Krieges hinaus in die Geschichte des vietnamesischen Unabhängigkeitskampfes gegen eine fast 100-jährige französische Kolonialherrschaft ein. Die sorgfältig entwickelte Serie nutzt dabei digital remastertes Archivmaterial, legendäre Werke des modernen Fotojournalismus, historische Fernseh- und Audioaufnahmen sowie die wichtigsten Musikstücke dieser Zeit. 17.9., 20.15 – 21.00: Wildes Indochina – Vietnam: Phoenix aus der Asche 17.9., 21.00 – 00.15: Apocalypse Now Redux 17.9., 00.15 – 01.50: Im Herz der Finsternis – Apokalypse eines Filmregisseurs 19.9., 20.15 – 23.00: Vietnam (1–3) 20.9., 20.15 – 23.00: Vietnam (4–6) 21.9., 20.15 – 23.05: Vietnam (7–9)

ERSTAUSSTRAHLUNG: 18. September, 00.05 – 01.40

Ich seh ich seh

MONTAG 18. SEPTEMBER

WDR Fernsehen

Anfangs hört man »Die Trapp-Familie« mit dem Wiegenlied »Guten Abend, gute Nacht«, begleitet von wogenden Kornfeldern und einer idyllischen Natur. Doch die paradiesische Verheißung hält in dem Debütfilm von Veronika Franz und Severin Fiala nicht lange vor; schon das Spiel der Zwillingsbrüder Lukas und Elias mutet irritierend an; zurück im elterlichen Bungalow verbreitet die Inszenierung eisige Strenge und eine beklemmende Präzision. Die nach einer Schönheitsoperation am Kopf bandagierte Mutter fügt sich als unterkühlter Alien nahtlos ins albtraumhafte Bild einer diffusen Bedrohung. Ihre Söhne zweifeln die Identität der Mutter an und verstricken sie in immer unverblümtere Verhöre. Der kühn konstruierte Horrorfilm entfaltet eine durchtriebene Fabel über Misstrauen, Lüge, Hass und Tod. Obwohl die Inszenierung am Ausgang dieser Höllenfahrt nie Zweifel lässt, verwirrt die Handlungslogik derart kunstvoll, dass die Auflösung des philosophisch grundierten Vexierspiels bleibende Fragen aufgibt.

22.15 – 00.00 ZDF The Gunman R: Pierre Morel Harter Actionfilm mit Sean Penn Frankreich/Spanien 2015 Ab 16 23.05 – 00.50 mdr Hasta La Vista R: Geoffrey Enthoven Komödie um Solidarität und Vertrauen Belgien 2011 Ab 16 00.05 – 01.40 WDR Fernsehen Ich seh ich seh R: Veronika Franz, Severin Fiala Abgründige Psychohorror-Parabel Österreich 2014 Sehenswert 00.15 – 02.10 Ohne diese Welt R: Nora Fingscheidt Porträt einer mennonitischen Gemeinde in Argentinien Deutschland 2017

ZDF

Ab 14

00.35 – 02.05 BR FERNSEHEN 5 Jahre Leben R: Stefan Schaller Eindringliches Guantanamo-Drama Deutschland 2012 Sehenswert ab 14

ERSTAUSSTRAHLUNG: 18. September, 00.15 – 02.10

ZDF

Ohne diese Welt

Der Himmel streckt sich endlos, lässt aber keine Höhenflüge zu, sondern schiebt ein Wolkenband nach dem anderen über die argentinische Pampa. Diese seltsam weite und doch beengte Landschaft scheint wie bestimmt für die deutschstämmige Mennonitengemeinde, die auf einer langen Irrfahrt hier ansässig geworden ist. In der Colonia Pampa de los Guanacos wird ein aus der Zeit gefallenes Plattdeutsch gesprochen, meist in gottesdienstlichen oder bibelkundlichen Zusammenhängen; was sperrig wirkt, aber weniger befremdet als das Schweigen der Menschen, die nur das Nötigste von sich geben. Ihre Religion verbietet die Moderne. Kein Strom, Telefon, Radio; Milch, Eier und Fleisch transportieren die Mennoniten mit der Pferdegespann auf den Markt. Der Dokumentarfilm von Nora Fingscheidt nimmt hinter dem Kutschbock Platz und schaut den Menschen schweigend bei ihrem ernsten Treiben zu, das gottgefällig sein soll, weshalb Übermaß oder Überschwang keinen Platz darin finden.

Filmdienst 19 | 2017

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