Filmdienst 20 2013

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Film

Film

Fest

filme vened in ig

iVAl

dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 26. september 2013

20|2013 Veränderte Lebenskonzepte

arBeit

wie sich die neuen arbeitswelten im kino darstellen

Product Placement

Versteckte VerFÜhrer wie das kino werbung macht

heiMat ist sehnsUcht EDGAR REITZ erzählt über seinen neuen Film „Die andere Heimat“: über Wurzeln, Erinnerungen, Hoffnungen. Und die Idee eines großen erzählerischen Gesamtwerks.

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„under construction“: auch ein (sinn-)bild der arbeit im lauf der filmgeschichte

alle filme im tv vom 28.9. bis 11.10. das extraheft

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Akteure

mÄrchenPrinzessin auF abWegen

Kino 10

arbeiter Verlassen die Fabrik Zodiac - Die Spur des Killers 29.9. RTL2 Rebecca 7.10. arte Brownian Movement 8.10. zdf.kultur

Arbeiterkampf, Entfremdung, Corporate Identity und Callcenter-Trott. Mit der Darstellung der „schönen neuen Arbeitswelt“ tut sich das Kino bis heute schwer. Zum Start von „Abseitsfalle“ ein Ausflug ins filmische Abrackern. Von Marcus Seibert + Film-, Lese- und DVD-Tipps

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„ein grosses erzÄhlerisches Werk“ 230 Minuten lang und doch nur ein Teil von Edgar Reitz‘ Lebenswerk ist „Die andere Heimat“. Ein Gespräch mit dem Regisseur über einen Exodus im Hunsrück und die „Chronik einer Sehnsucht“. Von Margret Köhler

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schleichend Platziert Wenn im Hollywood-Film ein ApfelEmblem aufleuchtet oder ein Kühlerhauben-Stern vorbeirast, passiert das selten zufällig. Ein Überblick über die rentable Praxis des Product Placement. Von Günter H. Jekubzik + Gesetzeslage, Kino-Parodisten und Spitzenreiter der Schleichwerbung

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in memoriam Mit Katja Paryla und Julie Harris haben eine DEFA-Schauspielerin/Regisseurin und ein US-Star („Jenseits von Eden“) die Theater- und Filmwelt verlassen.

Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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im magazin-teil beantwortet truffaut-muse fanny ardant (aktuell „die schönen tage“) drei fragen zum altern in zufriedenheit Filmdienst 20 | 2013

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S. 48

Titelbild: Filmfestspiele Venedig. Fotos: S. 4/5: BMG; Wild Bunch; Filmfestspiele Venedig; Warner; Concorde; Real Fiction; DCM; Studiocanal

Mit „Carlos - Der Schakal“ bewies Nora von Waldstätten, dass sie nicht nur die eiskalte Schönheit darstellen kann. Ein Porträt über unsere dritte „Spielwütige“ in unserer Serie über deutsche Schauspiel-Talente. Von Alexandra Wach

product placement im kino: ähnlich wie eine computer-werbung in „blade runner“ prangte in den straßenschluchten von „das fünfte element“ ein markantes burger-ketten-emblem. (s. 16)

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ohne „gravity“ in der schwerelosigkeit des alls

Neue Filme

Titelbild: Filmfestspiele Venedig. Fotos: S. 4/5: BMG; Wild Bunch; Filmfestspiele Venedig; Warner; Concorde; Real Fiction; DCM; Studiocanal

+ alle starttermine

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Film-Kunst

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2 Guns [26.9.] Abseitsfalle [26.9.] Albert Nobbs [26.9.] Cesar‘s Grill [3.10.] Dabbe: Fluch der Dämonen [12.9.] Geld her oder Autsch‘n [5.9.] Der Geschmack von Apfelkernen [26.9.] Der Glanz des Tages [26.9.] Global Player [3.10.] Gravity [3.10.] Hélio Oiticica [3.10.] In the Darkroom [26.9.] Klänge des Verschweigens [26.9.] Liberace - Zuviel des Guten ist wundervoll [3.10.]

während sich eine frau in der doku „in the darkroom“ an den terroristen carlos erinnert, schwelgen die spielfilmregisseure soderbergh, gondry und cuarón im ausstattungspomp von las vegas, paris und weltall: „liberace“, „der schaum der tage“ und „gravity“.

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s. in the darkroom

dVd-Perlen Mitten im Krieg opponierte Winston Churchill gegen „Leben und Sterben des Colonel Blimp“, der zur großen Fabel der Mitmenschlichkeit wurde. Von Ralf Schenk

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kinotipp

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s. liberace

der katholischen Filmkritik

leiden am lido Zum 70. Geburtstag zeigte Venedig, dass auch beim ältesten Filmfestival der Welt bisweilen der Putz bröckeln kann. Ein Überblick über ein durchwachsenes Programm mit großen Filmen und strittigen Preis-Vergaben. Von Felicitas Kleiner + Margret Köhler blickt auf die Nebenreihen und Yuval Adlers „Bethlehem“.

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magische momente Für die Slum-Jugendlichen Mexikos verwehrt Luis Buñuel in „Los Olvidados“ jeden romantisierenden Touch unerbittlich und doch poetisch. Von Rainer Gansera

s. 36 die andere heimat [3.10.] Vierter Teil des „Heimat“-Zyklus von Edgar Reitz

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Mamarosh [12.9.] Metallica [3.10.] Not Fade Away [26.9.] Paranoia - Riskantes Spiel [19.9.] Practi.Com [26.9.] Prince Avalanche [26.9.] Riddick [19.9.] Rush - Alles auf Sieg [3.10.] Der Schaum der Tage [3.10.] Silvi [3.10.] Turbo - Kleine Schnecke, großer Traum [3.10.] 46 V8 - Du willst der Beste sein [26.9.] 44 Wer schön sein will, muss reisen [26.9.]

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s. der schaum der tage

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s. graVity

ein überfüllter sommer Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über die Bilanzen der großen Studios nach dem rentabelsten Kinosommer aller Zeiten (S. 27)

Kritiken und Anregungen?

rubriken Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Genüsslich balgen sich seth rogen und Co. in „Das ist das ende“ um einen schokoriegel, und zwar nicht um irgendeinen, sondern um einen namens Milky Way. Die Menschen fahren zur Hölle und für die Kino-Nerds hat der Genuss eines Milky Ways Vorrang vor allen anderen Nahrrungsmitteln. Was passiert hier? Werbespot oder doch noch Kinofilm? im Grenzfall dieser überdrehten realsatire will ein Unternehmen gewiss nicht „schleichend“ sein Produkt vermarkten. Doch in anderen (Blockbuster-)Filmen ist die Platzierung von Produkten längst zum lukrativen Geschäftsmodell geworden, das immer wieder in gesetzliche Grauzonen vorstößt. Von Günter H. Jekubzik

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ibt es noch einen Unterschied zwischen einem Werbe-Clip und einem James-Bond-Film? Und was wird dabei überhaupt verkauft: Spannung und Unterhaltung? Oder doch eher Uhren, Autos und Bier? Product Placement ist heutzutage allgegenwärtig, aber was ist der historische Hintergrund dieses nicht mehr besonders hintergründigen Konsum-Rauschens? Denn Schleichwerbung sollte eher Trampel-Werbung heißen, seit wissenschaftlich festgestellt wurde, dass eine deutliche Darstellung des Artikels im Filmbild mehr bringt als eigene Werbung. Das Platzieren eines Produkts im Handlungsverlauf des Films ist dabei eine Sache, eine ganz andere Dimension ist die heute übliche, komplette Crossover-Vermarktung bei James Bond oder Batman. Zwar ist Product Placement kein Virus, der von Außerirdischen auf die Erde gebracht wurde, aber die moderne Werbe-Geschichtsschreibung beginnt mit „E.T.“: Gar nicht überraschend hatte Steven Spielberg auch diese kosmische Idee, dem Mars-Konzern einen „crosspromotional deal“ anzubieten. M&M‘s sollten in einem entscheidenden Moment der Handlung eingesetzt wer-

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Product Placement den, wenn Elliot den kleinen Außerirdischen genau mit dieser Süßigkeit anlocken will. Und die Schokolinsen sollten wiederum in ihrer Werbung den Film erwähnen. Mars verpasste die Chance, Hershey schlug zu, und ihre etwas anders bunten „Reese’s Pieces“ wurden in den drei Monaten nach Filmstart 65 Prozent besser verkauft! Auch wenn man es früher in Hollywood „tie-ups“, „tie-ins“, „plugs“ und „trade outs“ nannte: Product Placement gab es schon immer und in allen Künsten. Sarah Bernhardt trug auf der Bühne einen La Diaphane-Puder und warb dafür wie heute die L’Oréal-Ladies. Schon die Brüder Lumière arbeiteten 1896 mit Lever zusammen, um Sunlight Soap anzupreisen. Will Hays (18791954), legendärer Vorsitzender („Hays Code“) der mächtigen „Motion Picture Producers and Distributors of America“ (MPPDA) sah sogar die Film-Industrie als besten Vermittler, um US-amerikanische Produkte in der ganzen Welt zu verkaufen. (Ein Aspekt, der bei der Kritik am Ideologie-Export oft übersehen wird.) Das Product Placement war in diesen Zeiten allerdings oft nur ein zur Verfügungstellen von Gratis-Artikeln, die am Set genutzt werden durften. Der wesentliche Schritt zum Kassieren für

das kino macht immer mehr werbung in form von product placement

das Zeigen der Produkte mit einhergehender Kostenersparnis überschritt eine Grenze, die in der deutschen Gesetzgebung immer noch eine Rolle spielt (siehe Kasten). Multi-Millionen-Geschäft Danach ging es erst richtig los mit der einträchtigen Werbe-Platzierung im Spielfilm: 20 Jahre nach „E.T.“ verbuchte Spielberg für „Minority Report“ laut Fachzeitschrift „Variety“ bereits 25 Millionen Dollar von 15 großen Unternehmen wie American Express, Gap oder Pepsi, die ihre Produkte vorzeigten. Spitzenreiter, auch im Bewusstsein der Zuschauer, waren und bleiben die Bond-Filme: „Im Angesicht des Todes“ (1984) umgab man Roger Moore mit Seiko-Uhren, Bogner-Klamotten, Louis Vuitton-Koffer und mehr für 100.000 Dollar. Bei „Stirb an einem anderen Tag“ (2002) trugen um die 20 Marken für 120 Millionen Euro ProduktionsZuschuss dazu bei, dass Pierce Brosnan nur noch wie eine Action-Aufzieh- und Anzieh-Puppe wirkte. Zu „The Dark Knight Rises“ gab es exklusive Trailer bei den Werbepartnern, bei Nokia und dem Getränk Mountain Dew. Die Synergie solcher Cross PlattformGeschäfte ist jedoch enorm: In den Wochen vor einem James-Bond-Start ist es als Zeitschriften-Leser oder TVSeher fast unmöglich, den Werbetrailern der im Film platzierten Produkte zu entkommen. Dabei warb beispielsweise Heineken für den letzten Bond „Skyfall“ in kleinen Action-Filmchen mit dem ganz normalen Biertrinker als Helden nicht nur für sich selbst, sondern immer auch für den Film. Product Placement ist so ein gegenseitiges Geschäft, eine Win-Win-Situation, bei der nur der Konsument des Films oder der Produkte zahlt. Der psychologische Faktor hinter

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Product Placement diesem Erfolg ist wieder ein „Bond“, nämlich das in englischer Fachpresse beschriebene „strong bond audiences may form with characters“: Die Identifikation mit starken Figuren wie James Bond führt dazu, dass man auch ein wenig Bond zu sein glaubt, wenn man dessen Bier trinkt oder Uhr trägt. Werbe-spott Mutiert ZuM Werbe-spot

Die GesetZeslaGe Seit einer gesetzlichen Neuregelung in Deutschland im Jahr 2010 ist Product Placement im Kinofilm weiterhin erlaubt. Die Situation ist jedoch vor allem bei Beteiligungen durch öffentlich-rechtliche Sender problematisch: Im Fernsehen orientiert sich der Rundfunkstaatsvertrag an der „EU-Richtlinie zu audiovisuellen Mediendiensten“. Im Prinzip ist Product Placement dort indes verboten – mit Ausnahmen, zu denen auch fiktionale Programme (Kinofilme, TV-Serien, Fernsehfilme) gehören. Hier dürfen sich Privatsender bezahlen lassen und die Öffentlich-Rechtlichen kostenfrei Requisiten entgegennehmen. Sendungen mit Produktplatzierungen müssen zu Beginn und Ende ein weißes „P“ in der oberen rechten Ecke des Bildschirms einblenden. (ghj)

Doch es kann auch mal schiefgehen, wie „Skyfall“ ebenfalls zeigte: Heineken tatsächlich im Film zu entdecken, war nämlich ein echtes Suchspiel. Dagegen kam ein Whisky viel besser heraus und wurde vom Schurken-Darsteller Javier Bardem prominent präsentiert. Heineken ist übrigens „filmklassisch“, seit es in David Lynchs „Blue Velvet“ (1986) Kyle MacLachlan mit erzwungenem Toilettengang („Fuck Heineken“) zum unfreiwilligen Zeugen machte. So etwas läuft dann unter ungewolltem Product Placement, auch eine Award-Kategorie, in der Bier-Konkurrent Budweiser 2012 große Probleme mit „Flight“ hatte. Denzel Washington spielt einen Piloten, der unter Alkohol- und Drogeneinfluss einen Crash großartig meistert und auch gerne schon einmal eine Dose „Bud“ kippt. Der Getränkekonzern Anheuser-Busch versuchte, das Filmstudio dazu zu bewegen, die Bierdosen nachträglich digital aus dem Film zu löschen. Ein letzter Schluck vom problematischen Mix „Alkohol und Werbung“ sei dem Kuriosum namens „Duff“ gegönnt: Das fiktive Bier aus der TVSatire „The Simpsons“ schaffte tatsächlich den Übergang in die Kühlregale der realen Welt und wird weltweit verkauft. Werbe-Spott mutiert zum Werbe-Spot.

Tatsächlich nervt Product Placement oft derart, dass Parodie unvermeidlich blieb: In „Die Truman Show“ fällt es selbst Jim Carreys Hauptfigur Truman auf, dass ein Kakaopulver ziemlich unnatürlich in die (unsichtbaren) Kameras gehalten und ein Werbesprüchlein dazu aufgesagt wird. 1993 zogen Mike Myers und Dana Carvey in „Wayne’s World“ herrlich mit übertriebenem Werbegebaren über das Placement her. Bis zum Kunstprojekt war es dann kein weiter Weg mehr: Der Filmemacher Morgan Spurlock holte die gesamten Produktionskosten seiner Dokumentation „The Greatest Movie Ever Sold“ (2011) mit Product Placement rein und thematisierte das Phänomen gleichzeitig. Die Zukunft Wie wäre die Filmwelt ohne Product Placement? Sie wäre wohl voller imaginärer Marken wie ACME (American Company that Makes Everything), unter anderem bekannt aus den „Road Runner“-Trickfilmen. Oder sie wäre mehr wie bei Aki Kaurismäki: In den anachronistischen Räumen des Finnen tauchen etwa nie Handys seines Heimat-Konzerns Nokia auf. Eine Leuchtwerbung mit deren Schriftzug verwies in seinem Erstlingsfilm „Crime and Punishment“ (1983) nach Auskunft Kaurismäkis auf die Zeit, als das Unternehmen noch Gummistiefel herstellte. Auch nicht schlecht, so eine Welt. Doch die Zukunft wird uns „Das Fünfte Element“ mit McDonald’s und „Blade Runner“ mit Atari-Neon-Tafeln bringen. Was für eine unternehmerische Weitsicht zu zeigen, dass es den betreffenden Laden auch noch in hundert Jahren gibt! Obwohl, was war noch mal Atari...?

Fotos: Sony/Turbine Medien/Warner/Fox/Paramount

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Mal versteckt, mal offensichtlich, mal real, mal fiktiv: Computer-, Bier- und Auto-Werbung, platziert in „Blade Runner“, „Die SImpons“ und „The Italian Job“

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8 0 . 0 0 0 F i l m - K r i t i k e n u n t e r w w w. f i l m d i e n s t . d e der geschmack von apfelkernen Familiendrama

[start 26.9.]

Film liberace - zuviel des guten ist wundervoll Biopic

[start 3.10.]

dienst

alle neuen Filme SO WERTET FILMDIENST handwerk

Die Qualität von Regie, Schnitt, Kamera, Musik.

inhalt

Thema und Gehalt der erzählten Geschichte.

darsteller

Die Leistungen der Schauspieler.

Je Kategorie vergibt die Redaktion von FILMDIENST max. 5 Punkte

gravity

Science Fiction

[start 3.10.]

der schaum der tage Literaturverfilmung

[start 3.10.]

hélio oiticica von Cesar Oiticica Filho [stARt 26.9.] rush - alles auf sieg von Ron Howard [stARt 3.10.] silvi von Nico Sommer [stARt 3.10.]

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neue Filme

im Kino

Die anDere Heimat – CHronik einer seHnsuCHt [3.10.]

eröffnen eine neue Möglichkeitswelt: Gehen oder Bleiben? Früh im Film erfährt man, dass die Verwurzelung mit ihrem Stückchen Erde für Im vierten Teil seines großen Werks „Heimat“ erzählt Edgar Reitz viele Hunsrücker nicht mehr von der Vormärz-Zeit als Epoche des Aufbruchs stark genug ist, um sie zu halten: Jakob Simon, die In einer der augenzwinHauptfigur, beobachtet von aufgemacht, um ausgerechnet Hunsrückdorf. Trotzdem kerndsten Sequenzen dieses einem Felsen aus, wie unter in Schabbach einen Bruder im drängt der Film ständig über Films rumpelt eine Kutsche ihm im Tal Wagenkolonnen Geiste zu besuchen. Jakob diese eng gesteckte Grenze einen Feldweg entlang. Darin vorbeifahren, die Auswanderer Simon hat zwar die Grenzen hinaus: Dass jenseits der verein weltgewandter, vielgereian die Küste bringen. Das seines Dorfes im Hundsrück trauten Fachwerkhäuser und ster Gelehrter: Alexander von Land ernährt seine Leute so nie weit hinter sich gelassen, Felder eine ganze Welt wartet Humboldt, gespielt von schlecht und das Regiment mit seinem neugierigen For– dieses Wissen tragen die Werner Herzog. Also von schergeist via BriefkorresponFiguren immer mit sich herum, der preußischen Obrigkeit ist jenem deutschen Regisseur, so hart, dass immer mehr denz aber die Aufmerksamund es sorgt für eine permadessen Schaffen schon früh Menschen ihr Heil in der Emikeit des berühmten Reisenden nente Spannung. Der Grund wegstrebte von Deutschland, auf sich gezogen. Als Humdafür: Das Medium Schrift, das gration nach Amerika suchen. hinaus in die Welt, gerne auch „Heimat“ und „Sehnsucht“: die boldt leibhaftig vor ihm steht, in dem Film eine wichtige in zivilisatorische Randzonen. Engführung dieser beiden für ist Simon allerdings so von Rolle spielt. Herzog-Humboldt hat sich die deutsche Romantik so seiner Ehrfurcht für den proDie Bildungsreform, für die zentralen Begriffe im Titel minenten Brieffreund eingeAlexanders Bruder Wilhelm kommt nicht von ungefähr: schüchtert, dass er die Flucht von Humboldt steht, hat im bewertung der filmkommission Dieses „Prequel“ der ergreift. Schabbach der 1840er-Jahre Der fiktive Hunsrück-Ort Schabbach in der VorEine liebevollere Hommage offensichtlich unruhige Früch- „Heimat“-Trilogie führt nicht märz-Zeit: Während Vater Johann Simon und nur in die Epoche der Spätroals die, die sich Reitz, der te getragen; Bücher, Briefe, sein ältester Sohn Gustav in der Schmiede der mantik und des Vormärz zuHeimat-Filmer, und Herzog, Zeitungen informieren die gar Familie um die unsichere Existenz ringen, rück, sondern greift auch der grenzgängerische Abennicht tumben Bauern und träumt der jüngere Sohn Jakob wie viele seiner Themen auf, wie sie einem in teurer, hier gegenseitig brinHandwerker darüber, was in Nachbarn davon, die Heimat zu verlassen und der romantischen Literatur gen, lässt sich schwer vorstelder Welt vor sich geht – und in der „neuen Welt“ ein besseres, freieres Leben len. Dass noch nie mehr zu finden. Die epische Familiengeschichte liefert Herzog in „Heimat“ war, liegt Schwarz-Weiß. Scope. darsteller: Jan Dieter Schneider (Jaein ergreifend-kluges „Prequel“ zu Reitz’ Deutschland 2013 kob), Antonia Bill (Jettchen), Maximiindes nicht nur an diesem „Heimat“-Zyklus. In einer sprachlich wie bildgelian Scheidt (Gustav), Marita Breuer Cameo-Auftritt, sondern auch regie: Edgar Reitz (Margarethe), Rüdiger Kriese (Jostalterisch beeindruckenden Mischung aus Sinnan Reitz’ Konturierung von buch: Gert Heidenreich, Edgar Reitz hann) lichkeit und Stilisierung setzt sich der Film mit Schabbach im mittlerweile kamera: Gernot Roll länge: 230 Min. | fsk: ab 6; f einer wichtigen Epoche deutscher Geschichte vierten Film dieses monumenmusik: Michael Riessler ebenso auseinander wie mit universellen Theverleih: Concorde | start: 3.10.2013 talen Erzählprojekts. „Die men. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach fd-kritik: 41 916 andere Heimat – Chronik einer schnitt: Uwe Klimmeck der Lebbarkeit von Freiheit. - Sehenswert ab 16. Sehnsucht“ spielt ausschließInHalt darsteller Handwerk lich im und um das fiktive

streben nach freiheit

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im Kino begegnen: das Fernweh nach einer „Horizonterweiterung“ (sei es durchs Reisen, sei es durch die Liebe), das Leiden an beengten bürgerlich-bäuerlichen Lebensverhältnissen, auch den Enthusiasmus für die Ideale der französische Revolution. Angesichts der Figur von Jakob Simon fühlt man sich ein wenig an Eichendorffs „Taugenichts“ erinnert: Der junge Mann befindet sich in ständigem Clinch mit seinem Vater, weil er bei jeder Gelegenheit der Arbeit in der Schmiede entflieht, um sich in seinen Büchern zu vergraben und wegzuträumen in eine andere Welt. Sehnsuchtsziel ist für ihn aber nicht wie für Eichendorffs schwärmerischen Künstler ein verklärtes Italien der Kunst und der Liebe. Simon verschlingt in den geistigen Fußstapfen der aufklärerischen Naturforscher Reiseberichte aus der „Neuen Welt“. Vor allem Südamerika hat es ihm angetan: Er studiert den Kontinent und seine Völker, macht sich mit Tierund Pflanzenwelt vertraut und bemüht sich sogar, sich die Sprachen der Indios anzueignen. Doch wird er seinem Fernweh Taten folgen lassen und wie viele seiner Nachbarn anderswo eine andere Heimat suchen? Das ist zwar Jakobs Ziel – doch werden Schabbach und die Simons ihn loslassen? Und kann er sie loslassen? Was Reitz’ in rund vier Stunden entfaltet, ist ein fulminantes Familienepos, in dem die Auseinandersetzung mit einer konkreten Epoche deutscher Geschichte Hand in Hand mit universellen Themen geht. Im Schicksal der Simons – neben Jakob sein Bruder Gustav, sein Vater Johann und

seine Mutter Margarethe (gespielt von Marita Breuer, die in der ersten „Heimat“ ebenfalls schon eine Simon-Mutter verkörperte) – im Lieben und Leiden, Gebären und Sterben, in Erfolgen und vor allem in vielen Krisen geht es dabei nicht zuletzt um die Frage nach der Vereinbarkeit von heimatlicher Sicherheit und Freiheit: politisch in Bezug auf das Verhältnis der Hunsrücker Bürger zur Obrigkeit einige Jahre vor 1848, geistig in Bezug auf die inneren Entfaltungsmöglichkeiten, persönlich im Verhältnis von Eltern und Kindern, Männern und Frauen. Dem Film gelingt sowohl visuell als auch sprachlich eine grandiose Balance zwischen konkreter Sinnlichkeit und Stilisierung. Das gilt für die wunderbar ausgearbeitete sprachliche Ebene, die sowohl durch einen abgemilderten Dialekt (in den Dialogen) als auch durch einen der Literatur des 19. Jahrhunderts angenäherten Erzählgestus (in den aus dem Off eingelesenen Tagebuchaufzeichnungen Jakobs) der regionalen wie historischen Verortung Rechnung trägt, und es gilt für die visuelle Gestaltung, die authentische Stofflichkeit und künstlerische Überhöhung harmonisch zusammenführt. Die Wahl von ästhetisierendem Schwarz-Weiß entfernt die Bilder von dem Blutund-Dreck-Realismus, wie man ihn aus Filmen wie „Die Päpstin“ kennt. So gelingt Reitz wahrhaft großes Kino, das im Kontext seiner Tetralogie, indem es sich am deutschen Mythos Heimat abarbeitet, selbst mythische Qualitäten hat. Felicitas Kleiner

neue Filme

gravity [3.10.]

storbenes Kind angedichtet, weshalb sie vom Todestrieb angekränkelt ist. GlücklicherMelancholisch wie David weise beschränkt sich „GraBowies Song „Space Oddity“, vity“ aber nicht darauf. Vor aber visuell atemberaubend allem beeindruckt der Film ist das Weltraumabenteuer mit schierer handwerklicher „Gravity“ von Alfonso Cuarón Meisterschaft. Seinen Bildern – eine Odyssee auf den Spukann man sich nur schwer ren von Kubrick, Tarkowskij entziehen, gerade auch in 3D. und Antonioni. Als KammerGenau, klar und ohne das spiel im All erzählt der Film übliche selbstverliebte Spiel von zwei Astronauten mit technischen Möglich(Sandra Bullock, George keiten, steht die StereoskoClooney), die zunächst öde pie hier ganz im Dienst der Routinearbeit verrichten, an Erzählung. Dramaturgisch ist einem Ort, der für mensch„Gravity“ eine Abfolge von liches Leben denkbar ungeKatastrophen: Immer wenn eignet ist. Doch dann gerät man glaubt, die größte Not ein Satellit außer Kontrolle; sei überstanden, kommt es Sekunden später hagelt noch schlimmer – und damit Weltraumschrott gewitterwird der Film zum Sinnbild gleich auf die Raumfahrer einer fundamentalen Krise, ein und ihr Shuttle wird zerin der Rettung nur aus China stört. Was folgt, ist der drakommt. matische Überlebenskampf Cuarón nimmt das letzte der beiden, die verloren im Pathos aus der Idee der All treiben. Eroberung des Weltraums. Natürlich ist dies reine Holly- Sein Film ist in der Konsewood-Wellness-Philosophie: quenz fortschrittsfeindlich Auch in aussichtslosester – weniger realistische BeLage nie aufgeben; durch die schreibung denn existentiVerzweiflung hindurchgehen, elle Metapher über Tod und und zwar gut gelaunt noch Leben. Ein kluger, packender im Angesicht des Todes. Film, der das Publikum auf Dazu kommt dann noch eine die Erde, auf irdische Fragen Schuld-Besessenheit, die das zurückwirft – und nachdenUS-amerikanische Kino seit ken lässt über die Zukunft längerer Zeit durchtränkt: der Menschheit. – Ab 14. Rüdiger Suchsland Bullocks Figur wird ein ge-

lebenswillen

Scope. USA 2013

Stone), George Clooney (Matt Kowalsky)

regie: Alfonso Cuarón

länge: 91 Min. | fsk: ab 12; f

kamera: Emmanuel Lubezki darsteller: Sandra Bullock (Ryan Handwerk

InHalt

verleih: Warner | fd-kritik: 41 917 darsteller

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