FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur
20 2015
www.filmdienst.de
T HE LOO K O F SI LEN C E Dem D okum e nta r iste n Jo shua O p pe nhe im e r g e la ng 2 01 2 m it „The Act of Killing “ e in aufrüttelnd e s M e iste r we r k üb e r d ie Psyc he d e r Täte r d e s ind o ne sisc he n G e noz id s. Jet zt vers c ha f f t e r d e n O pfe r n eindr üc k lic h G e hör.
F R IT Z BAU E R
V E R E I NTE JA H R E ?
Regisseur Lars Kraume zu seinem Film über den hessischen Generalstaatsanwalt und Initiator des Frankfurter Auschwitzprozesses.
25 Jahre Wiedervereinigung: Fanden damit auch zwei Filmlandschaften zusammen? Christian Petzold im Gespräch.
F E S TI VA L V E N E D I G 20 4 194963 605504
01_Titel_20_2015.indd 1
1. Oktober 2015 5,50 68. Jahrgang
Ein glamouröses Filmfestival behauptet sich in Zeiten der sozialen und politischen Krisen.
23.09.15 14:23
FILMDIENST 20 | 2015 KINOTIPP der katholischen Filmkritik
38 THE LOOK OF SILENCE Joshua Oppenheimers aufwühlender Dokumentarfilm über die Opfer des indonesischen Genozids
NEU IM KINO + ALLE STARTTERMINE 39 A Royal Night – Ein königliches Vergnügen 1.10. 50 Alles steht Kopf 1.10. 45 Arbeit macht das Leben süß, Faulheit stärkt die Glieder 1.10. 49 Awake – Das Leben des Yogananda 8.10. 41 Cartel Land 6.10. 49 Hero 11.9. 45 Hip Hop-Eration 1.10. 41 Horse Money 8.10. 45 Kill the Messenger 10.9. 48 La marche à suivre – Guidelines 8.10. 44 Landraub 8.10. 41 Man lernt nie aus 24.9. 43 Der Marsianer 8.10. 41 Max 1.10. 45 Patema Inverted 12.10. 37 Regression 1.10. 42 Der serbische Anwalt 8.10. 36 Sicario 1.10. 40 Der Staat gegen Fritz Bauer 1.10. 45 Straßensamurai 8.10. 49 The D Train 17.9. 38 The Look of Silence 1.10. 47 The Program – Um jeden Preis 8.10. 45 The Reflektor Tapes 24.9. 49 The World of Kanako 17.9. 49 True Love Ways 1.10. 46 Wochenenden in der Normandie 8.10.
28 FILMFESTSPIELE VENEDIG
34 MAGISCHE MOMENTE
20 INTERVIEW LARS KRAUME
FERNSEH-TIPPS 56 Dem facettenreichen Komplex „Heimat“ ist eine ARD-Themenwoche gewidmet. Die 3. Staffel der hochgelobten Pfarrerserie „Dein Wille geschehe“ und der schwarzhumorige Achtteiler „Braunschlag“ zeigen die Bandbreite aktueller Serien.
4
FILMDIENST 20 | 2015
04-05_Inhalt_20_2015.indd 4
50 „ALLES STEHT KOPF“ 23.09.15 16:08
INHALT KINO
AKTEURE
FILMKUNST
10 CHRISTIAN PETZOLD
24 JOSHUA OPPENHEIMER
66 ABCINEMA: T WIE TELEFON
Die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 hat auch bei Filmemachern viele Hoffnungen geweckt - und teilweise Enttäuschungen gebracht. Der Regisseur Christian Petzold blickt im Gespräch auf die letzten 25 Jahre aus Sicht des Kinos zurück. Von Ralf Schenk
18 WENDELANDSCHAFTEN
Die Wendezeit brachte eine ganz eigene Art der Bildsprache ins deutsche Kino. Mittlerweile ist die anfängliche Morbidität jedoch wieder passé. Ein Streifzug durch ostdeutsche Kinolandschaften.
27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD
Von Michael Ranze
Von Franz Everschor
23 LITERATUR
28 FILMFESTIVAL VENEDIG
Mit seinem Historiendrama „Der Staat gegen Fritz Bauer“ setzt Lars Kraume dem Generalstaatsanwalt und Initiator der Auschwitz-Prozesse ein Denkmal. Ein Gespräch über Recherche und Konzeption.
Nach einem wenig innovativen Sommer voller Superhelden-Filme wartet Hollywood im Herbst mit einer Großoffensive an Prestige-Projekten auf. Der Wettlauf um die „Oscar“-Nominierungen kann beginnen.
Gunter Groll war in den 1950er-Jahren ein „Star“ unter den Filmkritikern. Ein neues Buch zeigt seine „Kunst der Filmkritik“.
Die 72. Ausgabe der „Mostra“ wird nicht als allerstärkster Jahrgang in Erinnerung bleiben. Doch viele Werke haben gezeigt, wie Filmkunst menschliche Untiefen und größere Zusammenhänge erfassen kann.
Von Horst Peter Koll
24 JOSHUA OPPENHEIMER
Von Felicitas Kleiner
Der Dokumentarfilmer gibt in „The Look of Silence“ den Opfern des Massenmords im Indonesien der 1960er-Jahre eine Stimme. Die Betrachtung einer verblüffenden Strategie filmischer Trauma-Aufarbeitung.
+ Interviews mit den „Löwen“-Gewinnern Pablo Trapero und Emin Alper
Von Josef Lederle
Steve McQueens IRA-Drama „Hunger“ entfaltet eine atemberaubende Bilderfolge bis an die Grenzen des Erträglichen.
26 IN MEMORIAM
Von Margret Köhler
34 MAGISCHE MOMENTE
Nachrufe u.a. auf den britischen Regisseur Jack Gold, der uns den Weihnachtsklassiker „Der kleine Lord“ bescherte.
S I EG F R
I
KRACAUER S
ENDIUM
SONDERBEILAGE: 50 Jahre Kuratorium junger deutscher Film
RUBRIKEN 3 EDITORIAL 4 INHALT 6 MAGAZIN 52 DVD/BLU-RAY 55 DVD-PERLEN 56 TV-TIPPS 66 ABCINEMA 67 VORSCHAU / IMPRESSUM
Von Rainer Gansera
ED
Fotos: TITEL: Koch. S. 4/5: Koch, Internationale Filmfestspiele Venedig, Ascot Elite, Alamode, Disney, Piffl, Fox
Von Fabian Tietke
20 LARS KRAUME
TIP
10 25 JAHRE WIEDERVEREINT
Der Autor Sven von Reden hat 2015 das Siegfried-Kracauer-Stipendium gewonnen. Der FILMDIENST veröffentlicht Texte, die er im Rahmen dieses Stipendiums verfasst. In dieser Ausgabe: eine Kritik zu „Alles steht Kopf“ (S. 50). Eine Initiative zur Förderung der Filmkritik.
FILMDIENST 20 | 2015
04-05_Inhalt_20_2015.indd 5
5
23.09.15 16:08
„Das Haus“ (DDR 1984) von Thomas Heise. Die Dokumentation beobachtet Angestellte und Bittsteller des Rates des Stadtbezirks Berlin-Mitte. Sie entstand als eine von zahlreichen zeitgeschichtlichen Studien der „Staatlichen Filmdokumentation der DDR“.
GESCHICHTE N LAGE RFEUE R 10
FILMDIENST 20 | 2015
10-19_wiedervereint_20_2015.indd 10
23.09.15 16:06
Fotos: Piffl Medien (l.)/DEFA-Stiftung
Vom Leben und Filmemachen in Ost und West, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung: Christian Petzold im Gespräch mit Ralf Schenk
Vor 25 Jahren, am 3. Oktober 1990, vereinigten sich die beiden deutschen Staaten. Auch die bis dahin getrennten Filmlandschaften der DDR und der BRD fanden zusammen – oder doch nicht? FILMDIENST-Autor Ralf Schenk (Foto r.), der in der DDR aufwuchs und heute Vorstand der DEFA-Stiftung ist, befragt den im Westen sozialisierten Regisseur Christian Petzold nach seinen Eindrücken vom Leben und Filmemachen in Ost und West.
AM FILMDIENST 20 | 2015
10-19_wiedervereint_20_2015.indd 11
11
23.09.15 16:06
KINO 25 JAHRE WIEDERVEREINIGUNG
Christian Petzold, was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie über die DDR nachdenken? Dass ich dort viele Cousins und Cousinen habe, die in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren geboren wurden. Sie heißen Angelo, Marco, Carmen, Paloma... Das sind Hoffnungsnamen, so wie bei Schiffen, die Esperanza genannt wurden. Auch in der DDR herrschte eine Sehnsucht nach Welt. Das zweite, was vielleicht nur in der Idee der DDR vorhanden war und mit dem Mauerfall starb, das ist eine nicht zuletzt literarisch hergestellte Form von Arbeitsleidenschaft. In Romanen wie Werner Bräunigs „Rummelplatz“ oder in der Heimkehrer-Prosa von Anna Seghers finde ich Menschen, die zu ihrem Glück finden, indem sie arbeiten und dabei außer sich geraten. Dieser Glückszustand – mit Arbeit außer sich geraten – war in der Westliteratur nach der Machtübernahme durch Helmut Kohl nicht mehr vorhanden. In den letzten Filmen, die davon erzählten, „Das Brot des Bäckers“ von Erwin Keusch oder „Jede Menge Kohle“ von Adolf Winkelmann, gab es noch das Gefühl, wir könnten durch Arbeit die Welt und uns selbst erotisieren, Arbeit kann wie eine Droge sein. Mit Kohl hörte das auf, was gleichzeitig damit zu tun hatte, dass Arbeiter nicht mehr gebraucht, große
„Die ökonomischen und politischen Umbrüche liefen so beschleunigt ab wie eine Schocktherapie.“ Produktionen eben nach Asien verlegt wurden. In der DDR dagegen war dieses Gefühl noch bis zum Mauerfall vorhanden. Ich las solche Bücher durchaus mit ein wenig Sehnsucht und fand das Pathos, das dort mitschwang, überhaupt nicht peinlich. Zur Erotik der Weltliteratur gehören unzählige Küsse, nackte Oberschenkel und Schweißtropfen im Dekolleté. Warum sollte der Schweißtropfen der Arbeit nicht genauso dazugehören? Haben Sie mit Harun Farocki, Ihrem Freund und Lehrer an der West-Berliner Filmhochschule dffb, über das Verschwinden der Arbeit gesprochen? Ja. Harun machte gleich nach 1989 einen kurzen Film, in dem er wissen wollte, wie auf der einen Seite die „Aktuelle Kamera“,
12
die Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, und auf der anderen Seite die „Tagesschau“ den Zusammenbruch der DDR im Krisenmonat Oktober 1989 reflektierten. Die „Tagesschau“ ging mit ihren Mikrofonen in die Fußgängerzonen von München oder Hamburg und fragte: Wie schätzen Sie das ein, was da gerade passiert? Die „Aktuelle Kamera“ ging in die Betriebe. Indem Harun das miteinander verglich, wurde ihm klar: Die Referenz der DDR ist der Betrieb, die Arbeit. Aus der Arbeit erwächst eine Liebesbeziehung, in der Arbeit wird eine Gesellschaft diskutiert. Im Westen ist es die Fußgängerzone, der Kunde. Das Thema Arbeit wurde aus dem deutschen Spielfilm der 1990er-Jahre fast komplett eliminiert, was durchaus mit der Realität zu tun hatte. Denn das Volk auf den Straßen der DDR, das die Stasi-Zentrale gestürmt hatte, mutierte innerhalb kürzester Zeit zum Kunden. Aus Menschen, die der Vernichtung von Akten Einhalt geboten, wurden Leute, die sich morgens um sechs vor dem MediaMarkt versammeln, um dreißig Prozent billigere Waren zu erhaschen. In dieser Zeit hatten wir in Deutschland die entsetzlichsten Komödien, das oberflächlichste Kino, unter dem wir heute noch leiden. Als ob wir USamerikanische Mainstream-Filme nachmachen, nur viel schlechter. Hatten Sie in dieser Umbruchzeit Begegnungen mit Filmleuten aus dem Osten? Im Winter 1989/90 war ich erst ein paar Monate an der dffb. Es gab die DDR noch, und Harun und auch Peter Nestler sagten: Da müssen wir hin. Nestler verstand nicht, dass wir uns in der Filmakademie an die Schneidetische setzten und Filme sahen und die Wirklichkeit draußen nicht. Tatsächlich hatten wir Studenten das Gefühl, es überschwemmt uns gerade und wir müssen uns erst ein bisschen verstecken. Im Grunde kommt das Kino ja immer zu spät zu den Ereignissen. Aber wenn es kommt, weiß es immer noch mehr als das Fernsehen. Harun erzählte uns, er hätte Filme aus dem DEFA-Dokumentarfilmstudio gesehen, die seien hochinteressant und ganz anders als das, was wir so machen. Wir sollten uns mit denen treffen. Wir begegneten uns dann im Ost-Berliner Künstlerklub „Die Möwe“. Vorher aber hatten uns die DDR-Leute ihre Filme gezeigt, „Imbiss spezial“ von Thomas Heise, da war ich absolut begeistert, oder
„Leipzig im Herbst“ von Andreas Voigt und Gerd Kroske. Man war sich nah, sprach dieselbe Sprache, man wollte dasselbe,
„Wir gucken über die Mauer und schauen, wie gehen die mit ihrer Krise um, und merken gar nicht, wie sehr uns diese Krise selbst betrifft.“ nämlich Filme machen und die Welt verstehen, schämte sich zugleich vor sich selber und war auf höchste Weise misstrauisch. Später sahen wir auch „Rangierer“ und „Wäscherinnen“ von Jürgen Böttcher, die ich für die größten DEFA-Filme aller Zeiten halte. Plötzlich wurde mir klar: Das sind Filme, die untersuchen, was mit ihrem Land passiert, während wir so tun, als ob uns das alles nichts angeht. Wir gucken über die Mauer und schauen, wie gehen die mit ihrer Krise um, und merken gar nicht, wie sehr uns diese Krise selbst betrifft. Wir waren verwirrt. Harun dachte von uns allen am klarsten und sagte, wir müssen nun auch uns filmen und nicht mit den Kameras da rübergehen, wie das die Fernsehanstalten machen. Die DDR ist doch ein Land, das uns, die Bundesrepublik, gespiegelt hat, mit dem wir uns verglichen haben. Wenn dieser Spiegel Risse bekommt oder verschwindet, heißt das, dass wir unsere eigene Identität überprüfen müssen. Haben Sie damals über gemeinsame Projekte mit DEFA-Regisseuren nachgedacht? Nein, der Dokumentarfilm war nicht mein Bereich, ich habe das nur am Rande mitbekommen. Harun war da weiter. Er etablierte mit einigen Leuten von DEFA-Dok eine Firma in Potsdam, Tele Potsdam, und hat mit ihnen Filme gemacht. Er verlegte auch seinen Schneideraum in den Osten, in die damalige Clara-Zetkin-Straße. Was wussten Sie über den DEFA-Spielfilm? Während mich der DDR-Dokumentarfilm wahnsinnig beeindruckte, war der DDRSpielfilm bei uns nicht so anerkannt. Ich selbst stand auf New Hollywood, das muss ich klar sagen. In den 1970er-Jahren, als Schüler, sah ich zwar Konrad Wolfs „Mama ich lebe“ oder später „Solo Sunny“, und habe die auch diskutiert. Später fand ich
FILMDIENST 20 | 2015
10-19_wiedervereint_20_2015.indd 12
23.09.15 16:06
25 JAHRE WIEDERVEREINIGUNG KINO
es langweilig, dass man die Kritik an einem Staat, einer Gesellschaft, verstecken musste in verfilmter klassischer Literatur oder zwischen den Zeilen. Das US-amerikanische Kino empfand ich als viel direkter und physischer. Und brachial. Mit dem westdeutschen Autorenkino ging es mir übrigens ähnlich wie mit dem DDR-Spielfilm: Als es sich von Fassbinder, Wenders und Straub entfernte und in Richtung Literaturverfilmung-SchaubühnenKino ging, wurde es für mich langweilig. Ein bürgerliches Literaturkino, das die Kritik am Atomstaat über „Michael Kohlhaas“ erzählte, mochte ich nicht. Ich mochte auch nicht,
„Als ob der Staat kapiert, dass eigentlich nicht Bilder eine Revolution auslösen können, sondern eher Töne.“ dass der DDR-Spielfilm keinen oder kaum Originalton hatte. Zwar wurden tschechische Märchenfilme brillant synchronisiert, aber in den eigenen Filmen, die nahezu alle nachsynchronisiert wurden, herrschte für mich eine merkwürdige Sterilität. Als ob der Staat kapiert, dass eigentlich nicht Bilder eine Revolution auslösen können, sondern eher Töne. Ich war erst wieder überrascht, als ich einen DEFA-Film wie Peter Kahanes „Die Architekten“ sah, bei dem ich spürte, dass da ein Druck war, etwas anderes zu machen, auch von den Schauspielern.
Foto: Buena Vista/heise-film.de (S. 10/11)
Viele DEFA-Spielfilmregisseure haben nach der deutschen Vereinigung nicht mehr fürs Kino weiterarbeiten können – darunter wichtige Leute wie Roland Gräf, Rainer Simon, Egon Günther, Frank Beyer. Oder die Jüngeren: Herwig Kipping, Jörg Foth. Ich habe das immer sehr bedauert. Viele von ihnen sind in eine Falle getappt. In den ersten Jahren nach 1990 hat man ihnen Stoffe, die etwas mit DDR zu tun hatten, angeklebt. Frank Beyer machte „Nikolaikirche“, Peter Kahane drehte mit Iris Berben „Cosimas Lexikon“, alles DDR-Geschichten. Das wurde als eine Art Wiedervereinigungskino apostrophiert, nach dem Motto: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört. Und als es scheinbar zusammengewachsen war, brauchte man sie nicht mehr. Sie durften Zweiteiler machen, haben ein paar Ulrich Mühe in „Das Leben der Anderen“ (Dt. 2005, R: Florian Henckel von Donnersmarck)
10-19_wiedervereint_20_2015.indd 13
Medien
FILMDIENST 20 | 2015
13
23.09.15 16:06
AKTEURE JOSHUA OPPENHEIMER
Zwei radikal unterschiediche Filme über den indonesischen Genozid, die sich wie die Seiten einer Medaille ergänzen: „The Act of Killing“ (l.) und „The Look of Silence“ (r.).
MÖRDER SIND K
„Das Schweigen, das tiefe Verschweigen, besonders wenn es Tote meint, ist letztlich ein Vakuum, das das Leben irgendwann von selbst mit Wahrheit füllt.“ So beginnt Ralf Rothmanns vielgelobter Roman „Im Frühling sterben“. Der Autor erforscht darin das Kriegstrauma seines Vaters, der über seine grauenhaften Erlebnisse als deutscher Soldat nie ein Wort verlor, obwohl sie wie Blei auf seiner Seele lasteten. Was sich in der erzählerischen Fantasie des SchriftstellerSohns posthum Luft verschafft, folgt mit großer Einfühlungskraft den bekannten Mustern gesellschaftlicher Vergegenwärtigung. Verdrängte Schuld, extreme Widerfahrnisse, unverarbeitete Gefühle oder fatale Zuschreibungen, jene unsichtbare „Wahrheit“ also, die das freudlose Dasein des Vaters wie das seiner Umwelt grundierte, werden mit großem zeitlichem Abstand sichtbar gemacht. Dass es sich bei „Im Frühling sterben“ um eine virtuose literarische Fiktion handelt, stieß bei den Lesern auf keine Vorbehalte, im Gegensatz etwa zu den „Lebenserinnerungen“ eines SS-Obersturmbannführers in Jonathan Littells Tatsachenroman „Die Wohlgesinnten“ - oder zu Joshua Oppenheimers verstörendem Täterfilm „The Act of Killing“, der mit einem längst vergessenen Massenmord in Nord-Sumatra konfrontierte. Im Gefolge des Militärputsches unter General Suharto waren dort 1965/1966 rund eine Million Menschen ermordet worden, die als
24
Kommunisten galten oder chinesischer Abstammung waren. Die Provokation von Oppenheimers Film lag nicht allein in der Täterperspektive, sondern an der Chuzpe des Regisseurs, den Genozid in Gestalt einer John-Waters-Groteske mit Musical-Einlagen zu verhandeln. Anwar Congo, der Protagonist von „The Act of Killing“, darf seine grauenvollen Exekutionen nicht nur am historischen Ort des Geschehens „nachspielen“, sondern erhält überdies die inszenatorischen Mittel an die Hand, seine perfiden Selbstdeutungen in kitschige Kinobilder zu verwandeln. So sieht man ihn inmitten indonesischer Tänzerinnen als prophetische Gestalt oder in grellen Bildern hoch zu Pferd wie John Wayne durch eine imaginäre Prärie galoppieren. Mit traditionellen Ideen vom Dokumentarfilm als Spiegel mehr oder minder objektiver Tatsachen hat das wenig gemein, auch nicht mit einem moralischen Rigorismus im Dienst gesellschaftlicher Aufklärung. Fragen nach dem Sinn und der Legitimation eines Verfahrens, das Mörder nicht nur als Menschen darstellt, sondern sie ihre Taten auch noch lustvoll „reenacten“ lässt, blieben deshalb nicht aus. In seinen eigenen Wortbeiträgen zum Diskurs entpuppte sich der 1974 in Austin, Texas, geborene Oppenheimer als sprachmächtiger Intellektueller. Mit der komplizierten Entstehungsgeschichte von „The Act of Killing“, die sich über zehn Jahre erstreckte, steuerte
Mit „The Look of Silence“ (Kritik in dieser Ausgabe) wendet sich der amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer erneut dem Massenmord in Indonesien zu. Nach der provozierenden Killer-Soap „The Act of Killing“ (2012) verschafft er nun auch den Opfern Gehör, indem er die Mörder mit Angehörigen konfrontiert. Auf den Spuren von Jean Rouchs „cinéma vérité“ entwickelt Oppenheimer neue Strategien in der Darstellung kollektiver Traumata. Von Josef Lederle
FILMDIENST 20 | 2015
24-25_Oppenheimer_20_2015.indd 24
23.09.15 14:34
JOSHUA OPPENHEIMER AKTEURE
D KEINE MONSTER der Nachfahre von Holocaust-Überlebenden viele Informationen über die gesellschaftlichen Hintergründe des Genozids und seiner Nachwirkungen bei, aber auch grundlegende ästhetische und dramaturgische Reflexionen über die dokumentarische Arbeit. Bildästhetisch knüpft Oppenheimer bei Yasujiro Ozu und Robert Bresson an, was sich in der Klarheit und Prägnanz seiner stillen, wohlkadrierten Einstellungen widerspiegelt. Die eigentliche Inspiration aber verdankt er dem „cinéma vérité“ von Jean Rouch und Edgar Morin, die sich in ihren ethnografischen Filmen von dem Gedanken verabschiedeten, eine von der Kamera unabhängige Welt fotografieren zu können. Wie Rouch geht es Oppenheimer primär um das „Imaginäre“, um kollektive Muster, Rituale und gesellschaftliche Verdrängungen; weshalb „The Act of Killing“ und nun auch seine aktuelle Ergänzung „The Look of Silence“ (2015) im Kern nicht auf eine Rekonstruktion des Genozids von 1965 zielen, sondern um dessen Nachwirkungen in der Gegenwart kreisen. Als Oppenheimer 2001 erstmals nach Indonesien kam, um für seinen Film „The Globalization Tapes“ (2003) zu recherchieren, stieß er auf eine Mauer aus Angst und Schweigen, sobald er mit Opfer-Angehörigen sprechen wollte. Im Gegensatz dazu hatten die Täter keine Hemmungen, mit süffisantem Lächeln in aller Öffentlichkeit über die Massaker zu prahlen. In „The Look of Silence“ findet sich
Fotos: Wolf/Koch Media
Joshua Oppenheimer erkundet neue Wege im filmischen Umgang mit Menschheitsverbrechen ein extremes Beispiel, wenn Oppenheimer von zwei Indonesiern zu der Stelle am Schlangenfluss geführt wird, wo sie binnen weniger Monate Zehntausende mit der Machete enthaupteten. Mit slapstickartigem Verve und schockierenden Details stellen sie nach, wie sie ihre Opfer mit einem Hieb oder einer Reißbewegung der Klinge töteten. Unter den am Schlangenfluss Massakrierten befand sich auch Ramli, der Bruder von Oppenheimers Protagonisten Adi, der sich das gespenstische Interview immer wieder auf dem Bildschirm anschaut – um die Täter bzw. deren Nachkommen am Ende mit ihren Aussagen zu konfrontieren. Weder Oppenheimer noch Adi geht es dabei um billige moralische Effekte, sondern vielmehr um eine quälend komplizierte Wirklichkeit, die das Leben aller auf mehr oder minder schreckliche Weise bestimmt. So entdeckt Adi während der Dreharbeiten, dass auch sein eigener Onkel am Tod von Ramli - zumindest indirekt - beteiligt war. Die Wege, diese „Wahrheit“ freizulegen, unterscheiden sich in beiden Filmen beträchtlich, und doch hängen sie miteinander zusammen. Fundamental ist die von Rouch abgeleitete Überzeugung, dass die Kamera bei allen Schritten ein entscheidender Akteur ist. Oppenheimer versteht sich nicht als unsichtbarer Apparat, der die Menschen und ihre Gedanken belauscht, sondern als Mitspieler, Initiator, Inszenator. Er spricht dezidiert
von Non-Fiction-Film, wie er sich überhaupt anschickt, seinem filmischen Vorgehen eine sprachlich reflektierte und theoretisch fundierte Basis mitzugeben. Die „Reenactments“ nennt er „Dramatisierungen“, die Interviews mit den Tätern sind „Konfrontationen“, die filmische Zusammenarbeit dient der „Simulation von Wirklichkeit“. Nur auf diesem Weg dringe man zum kollektiven Unterbewusstsein vor, zu Fantasien, Einstellungen, Vorurteilen, aber auch zu den verdrängten Schatten, Traumata und nicht eingestandener Schuld. Überdies minimiere eine solche Strategie die Dichotomie zwischen „die“ und „wir“, Tätern und Zuschauern, bei der automatisch unterschlagen wird, dass auch (Massen-)Mörder keine Monster, sondern Menschen sind. „Wenn wir uns in die Fantasie flüchten, dass wir ,gut‘ sind und nur dafür Sorge zu tragen haben, dass die ,bad guys‘ verschwinden, wird sich die Geschichte auf ewig wiederholen“, resümiert Oppenheimer. Man sollte die Option aber nicht als gutmenschelnde Hermeneutik missverstehen: „The Act of Killing“ und „The Look of Silence“ haben in Indonesien eine gesellschaftliche Debatte in Gang gesetzt, die in Amerika noch aussteht: denn das antikommunistische Morden geschah unter Duldung der US-Regierung. Es sagt viel über die Brisanz seiner Filme aus, dass alle indonesischen Mitarbeiter anonymisiert wurden und Adis Familie aus Angst um ihr Leben inz is en n eine un e nnten rt e t. •
FILMDIENST 20 | 2015
24-25_Oppenheimer_20_2015.indd 25
25
23.09.15 14:34
KRITIKEN NEUE FILME
36
Sicario Ein vertrackter Drogen-Thriller entlang der mexikanischen Grenze mit dabei, im Anzug und mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck, ist der schweigsame Alejandro, der früher mal in die Geschäfte eines Kartells in Kolumbien verstrickt gewesen ist. Ein Berater. Einer, der weiß, was zu tun ist. Für Kate Macer und ihren FBI-Kollegen Reggie Wayne, der ebenfalls neu zu dieser Eingreiftruppe gestoßen ist, gilt das ganz und gar nicht. Die Desorientierung, sei sie moralischer oder kognitiver Art, prägt die aktuellen Arbeiten von Denis Villeneuve wesentlich: In „Prisoners“ (2013) vergisst sich ein Vater auf einem Rachefeldzug beinahe selbst; im ungleich verrätselteren „Enemy“ (2013) sucht ein College-Professor ein neues Leben im Leben seines Doppelgängers. In „Sicario“ scheint sich sogar die Natur gegen die Protagonisten verschworen zu
haben. In riesigen PanoramaTotalen voller Kargheit spürt man die Hitze flirren, in einem Tunnelsystem unter dieser Steppe sorgen die körnigen Bilder des Nachtsichtgeräts so wenig für Übersicht wie die satten, weichen Flächen der Wärmebildkamera. Und an Alejandro, diesem stoischen Monolithen, muss ohnehin jeder Blick brechen. Benicio Del Toro spielt ihn mit präziser Langsamkeit, mit einer sagenhaft bedrohlichen Ruhe. Mit wem haben sich Macer und Wayne also eingelassen? Beim ersten gemeinsamen Einsatz, einem Gefangenentransfer von Mexiko in die USA, zögern die neuen Kampfgenossen auffallend kurz, bevor sie umso gründlicher mit dem Schießen beginnen. Zuvor aber hat die Kamera von Roger Deakins jedes Auto in dem Stau, in
dem der Konvoi kurz hinter der Grenze steckenbleibt, mit paranoider Genauigkeit abgefahren, wobei er auf einem Wagen mit jungen Männern auffällig verharrt, die südländisch aussehen und vermutlich tätowiert sind. So wie die Erzählung diesem „racial profiling“ gleichzeitig Recht gibt und es zu verabscheuen scheint, so liegen auch die Zupackenden, die, die sich die Hände schmutzig machen und vorgeblich wissen, was zu tun ist, richtig und zugleich vollkommen falsch. Ein vertrackter Thriller über einen vertrackten Konflikt, in dem die, die vom Film zu Gegnern erklärt werden, nicht viel mehr Suspense betreiben als die Mitstreiter oder die üblen Ahnungen dessen, wozu diese in der Lage sein könnten. Tim Slagman BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION
Eine junge FBI-Agentin schließt sich einer undurchsichtigen TaskForce an, die für die US-Regierung als Teil des so genannten Drogenkriegs verdeckte Operationen in Mexiko durchführt. Sie will die Drahtzieher des Sonora-Kartells dingfest machen, doch gleich ihr erster Einsatz in der Grenzstadt Juárez mündet in einer mörderischen Schießerei. Angesichts des ethisch wie juristisch mehr als fragwürdigen Umfelds gerät sie in immer größere Verwirrung. Komplexes, visuell großartiges ThrillerDrama, das sich bravourös der Erkundung moralischer Grauzonen in der Verbrechensbekämpfung stellt. – Sehenswert ab 16.
SICARIO. Scope. USA 2015 Regie: Denis Villeneuve Darsteller: Emily Blunt (Kate Macer), Benicio Del Toro (Alejandro), Josh Brolin (Matt Graver), Victor Garber Länge: 122 Min. | Kinostart: 1.10.2015 Verleih: Studiocanal | FSK: ab 16; f FD-Kritik: 43 380
Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe.
„Seit ihrem ersten Tag hat sie Türen eingetreten“, heißt es über die FBI-Agentin Kate Macer, die an der Grenze zu Mexiko die Verstecke der Drogenmafia aushebt, Razzien durchführt, zu spät kommt, um die dicken Fische zu schnappen. Nicht zuletzt darum geht es in der zweiten US-amerikanischen Produktion des kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve: sich die Hände schmutzig zu machen oder die Füße oder die Seele im Drogenkrieg. Und wie das im Krieg so zu sein scheint, fließt die Propaganda des Begriffs mit seinem Inhalt in eins, bis niemand mehr so recht weiß, ob der Krieg den Rechtsstaat aushebeln durfte, weil das im Krieg nun mal der Fall ist, oder ob er überhaupt nur so genannt wurde, um die eigenen Methoden so drastisch wie möglich ausgestalten zu können. Die Gegenseite, das zeigt die erste Runde des Türeneintretens mit Kate Macer, besteht aus jener Sorte von Menschen, die ihre Mordopfer in Folie einwickeln, zu Dutzenden zwischen den Hauswänden verstecken und die Räume drumherum von Handlangern bewohnen lassen. Südlich der US-amerikanischen Grenze wird Macer bald halbierte Körper von einer Straßenbrücke hängen sehen. Doch diese so archaische, maximal konfrontativ ausgestellte Gewalt lassen Villeneuve und sein Drehbuchautor Taylor Sheridan auf die mysteriöse, teils abstrakte, in jedem Falle aber scheinlegitimierte Gewalt der amerikanischen Regierung prallen. Es dauert lange, bis Macer weiß oder zu wissen glaubt, wer dieser Matt Graver ist, der sie bei einem Meeting mit dem Versprechen vom FBI abgeworben hat, dass sie in seinem Trupp endlich mal an die dicken Fische herankommen könne. Immer
FILMDIENST 20 | 2015
36-51_Kritiken_20_2015.indd 36
23.09.15 16:11
NEUE FILME KRITIKEN
Eine Kleinstadt in Minnesota, einem der nördlichen Bundesstaaten in der USA, wo es nicht mehr gibt als jede Menge Natur und gähnender Weite. Was macht man in einer Gegend wie dieser? Fischen, Quilts nähen, in sich gehen, die Bibel studieren, dem Satan huldigen. Dem Satan huldigen? Warum nicht. Vielleicht haben wir ja all die Jahre dem falschen Messias Zeit, Geld und Glauben geopfert. Man kann schon auf seltsame Gedanken kommen; hier in der Einöde, in der Stille, wenn es früh dunkel wird und die alten Glühbirnen nur wenig Wohlbehagen in die dunkle Holzvertäfelung der guten Stube bringen. In einer Kleinstadt in Minnesota geht der Satan um und hat bereits ein unschuldiges Opfer in seinen Krallen. Angela Gray ist gerade 17 Jahre alt und hat sich nach all den Jahren unmenschlicher Qual endlich Reverend Beaumont anvertraut. Nun sitzt ihr Vater John im Büro von Chief Cleveland und soll endlich gestehen. Doch der will sich nicht erinnern. Dabei glaubt er seiner Tochter aufs Wort. Nie habe sie ihn noch irgendjemand anderen angelogen. Warum also in dieser Sache? Detective Bruce Kenner verlangt einen Psychologen zur Unterstützung. Immerhin handelt es sich höchstwahrscheinlich um einen besonders schweren Fall von Kindesmissbrauch; über Monate, wenn nicht Jahre, und, was das Wichtigste ist: im Auftrag des Satans. Der Psychologe Kenneth Raines könnte Licht ins Unheil bringen und der Amnesie des Vaters ein Ende bereiten. Immerhin hat er mit Hilfe der regressiven Therapie schon häufig tief verdrängte Erinnerungen aus Patienten hervorgeholt. Das, was er in nur wenigen Sitzungen aus dem verzweifelten Vater herausbekommt,
Regression Alejandro Amenábar lotet die Abgründe des Bösen aus
ist wahrhaft monströs. Er war mitnichten ein Einzeltäter. Mindestens einen Komplizen hatte er bei den nächtlichen Besuchen im Zimmer seiner Tochter. Eine ganze Kultgemeinde hält, schwarz gekleidet und mit gekalkten Gesichtern, im Schuppen der Grays grausame Rituale ab. Tieropfer sind zu beklagen und, schlimmer noch, Neugeborene! Alles, was Kenner und Raines noch fehlt, sind handfeste Beweise. Vielleicht gelingt es mit Hilfe der geschundenen Angela, den Schemen aus der Erinnerung ihres Vaters Gesichter aus Fleisch und Blut zuzuordnen? Einer aus Kenners Mannschaft könnte ein Mittäter sein. Doch je mehr sich der Detective in den Fall verbeißt, desto unwirklicher kommt ihm sein sonst so vertrautes Städtchen vor. Kaum eine Nachrichtensendung vergeht ohne neue Schreckensmeldungen über die Satanskul-
te; eine FBI-Akte quillt über vor vermeintlich ähnlich gelagerten Fällen – und dann sind da noch diese Blicke, die ihn auf Schritt und Tritt zu verfolgen scheinen. Todesankündigungen, wie Angela sie bezeichnet. Der spanische Regisseur Alejandro Amenábar ist ein Meister unheimlicher Stimmungen. Seien sie ganz real, wie in seinem Debütfilm „Tesis – Der Snuff Film“, sei es im Reich der Schatten und Geister wie in „The Others“. In „Regression“ zelebriert er nun den blanken Horror, in den man zwangsläufig hineingezogen wird, wenn man den Recherchen des Detectives folgt. Wie einst an der Seite von Pater Karras in William Friedkins „Der Exorzist“ (1973) wird man zusammen mit dem Polizisten Kenner Zeuge, wie das Böse langsam die Kontrolle über das Hier und Jetzt gewinnt. Ganz real, in den Nachrichten und in den Köpfen ansonsten ganz rational denkender Menschen. Amenábars Kunst besteht gerade darin, dass sein Horrorfilm den Zuschauer in dem Augenblick aushebelt, wenn er es am wenigsten erwartet. Der Verleih bewirbt „Regression“ als „Suspense-Thriller“. Das ist falsch, setzt Suspense doch
einen Wissensvorsprung des Zuschauers gegenüber dem Helden voraus. Die Qualität des von Amenábar selbst verfassten Drehbuchs liegt jedoch darin begründet, dass sich der Zuschauer mit dem Helden stets auf Augenhöhe befindet. Möglicherweise ahnt er, welche Überraschungen dem Ermittler blühen. Er ist dann aber genauso überrascht und entsetzt wie Kenner. „Regression“ ist beseelt vom Einbruch des Schreckens ins Rationale, und er ist beseelt von mitunter superb schlecht aufspielenden Darstellern. Ihnen und Amenábars Meisterschaft ist es zu verdanken, dass man sich am Ende höchst zufrieden wähnt, auch wenn man einen Film zu sehen bekommt, den man so nicht erwartet hat. Jörg Gerle
BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION
Meldungen über satanische Umtriebe versetzen die Menschen in einer Kleinstadt in Minnesota in Angst und Schrecken. Als ein Detective gemeinsam mit einem Psychologen in einem Fall von kultisch motiviertem Kindesmissbrauch ermittelt, wird er unaufhaltsam in einen bedrohlichen Strudel aus Wahn und Wahnsinn gezogen. Meisterlicher, von glänzenden Darstellern und einer nebulösen Handlung getragener, suggestiver Horrorfilm, der den empathischen Zuschauer das Fürchten lehrt. – Ab 16.
REGRESSION. Scope. Spanien 2015 Regie: Alejandro Amenábar Darsteller: Emma Watson (Angela Gray), Ethan Hawke (Bruce Kenner), David Thewlis (Kenneth Raines), Lothaire Bluteau (Rev. Beaumont) Länge: 107 Min. | Kinostart: 1.10.2015 Verleih: Tobis | FSK: ab 16; f FD-Kritik: 43 381
FILMDIENST 20 | 2015
36-51_Kritiken_20_2015.indd 37
37
23.09.15 16:11
KRITIKEN FERNSEH-TIPPS
11.10-12.30 Das Erste Sputnik R: Markus Dietrich Der Mauerfall aus Kindersicht erzählt Deutschland/Belgien 2013 Ab 8 15.20-16.45 einsfestival Zwölf Uhr mittags R: Fred Zinnemann Western-Klassiker USA 1952 Sehenswert ab 16 18.30-20.00 einsfestival 12 heißt: Ich liebe dich R: Connie Walther Deutsch-deutsche Liebesgeschichte Deutschland 2007 Ab 16 20.15-22.20 BR FERNSEHEN Das Leben der Anderen R: Florian Henckel von Donnersmarck Intensive Auseinandersetzung mit dem Unrechtssystem DDR Deutschland 2005 Sehenswert ab 14 20.15-22.00 Disney Channel Das Haus der Krokodile R: Philipp Stennert, Cyrill Boss Atmosphärische Romanverfilmung Deutschland 2011 Ab 10 20.15-21.45 Das Erste Bornholmer Straße R: Christian Schwochow Glänzende Komödie über die Nacht der DDR-Grenzöffnung Deutschland 2014 Sehenswert ab 12 20.15-22.55 ProSieben Star Wars: Das Imperium schlägt zurück R: Irvin Kershner Der bisher beste Teil des Erfolgsfranchises USA 1979 Ab 10 20.15-22.25 Servus TV Reine Chefsache R: Paul Weitz Jungspund wird altgedientem Marketing-Chef vorgesetzt USA 2004 Ab 14
56
SAMSTAG 3. OKTOBER 21.50-23.25 arte B-Movie – Das wilde West-Berlin der 80er Jahre R: Jörg A. Hoppe, Heiko Lange, Klaus Maeck Doku über die legendäre West-Berliner Subkultur Deutschland 2015 Ab 16 22.05-23.55 einsfestival The King’s Speech – Die Rede des Königs R: Tom Hooper Britischer Thronfolger will Stottern in den Griff bekommen GB/Australien 2010 Sehenswert ab 12 22.25-00.25 Servus TV Ein seltsames Paar R: Gene Saks Jack Lemmon und Walter Matthau als Männer-WG USA 1967 Ab 16 22.35-00.15 Hell R: Tim Fehlbaum Deutscher Endzeit-Thriller Deutschland 2011
7MAXX
Ab 16
23.40-03.23 Das Erste Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht R: Edgar Reitz Epische Familiengeschichte aus dem Hunsrück Dt./Frankreich 2013 Sehenswert ab 16 00.05-01.55 Wir wollten aufs Meer R: Toke Constantin Hebbeln Düsteres DDR-Drama Deutschland 2012
»Leberkäseland«
3.-10. Oktober
ARD-Themenwoche „Heimat“ Was meint „Heimat“ und bedeutet es für jeden das Gleiche? Zum 25. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung senden Das Erste und die dritten Programme eine Themenwoche, die sich mit vielen Einzelsendungen dem Facettenreichtum von „Heimat“-Vorstellungen annähert. Gewissermaßen den Startschuss stellt das jüngste Kapitel im monumentalen „Heimat“-Zyklus des Regisseurs Edgar Reitz dar, der sich wie kein anderer deutscher Filmemacher dem Thema gewidmet hat, das Erste zeigt „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ am 3.10. um 23.40 Uhr. Es folgen in den nächsten Tagen viele weitere Filme, darunter einige Premieren wie „Leberkäseland“ oder „Heimat ist kein Ort“, die ihre gutgemeinten Absichten zum Teil etwas bemüht vor sich hertragen. Herausragend sind dagegen „In Sarmatien“ (Volker Koepps filmische Reise in die Region zwischen Weichsel, Wolga, Ostsee und dem Schwarzem Meer), der zweite Teil des „Polizeirufs 110: Wendemanöver“ (vgl. Kritik in FD 19/2015) sowie das aufwendige Dokumentarprojekt „Deutschland. Dein Tag“. Darin werden im Ersten am 4.10. ab 6 Uhr zwölf Stunden lang Momentaufnahmen aus deutschen Alltagen gezeigt, die vor genau einem Jahr aufgezeichnet wurden: Vom Regisseur Christian Alvart, der beim „Tatort“-Dreh mit Til Schweiger verzweifelt, über das Feiern des Zuckerfests mit Berliner Muslimen bis zum schwäbischen Büffelzüchter – insgesamt Porträts von 99 Menschen sowie eines Walross-Babys aus dem Tierpark Hagenbeck. Die Beiträge der Themenwoche wollen in der Summe den oft auch ideologisch missbrauchten „Heimat“-Begriff kritisch hinterfragen, zugleich aber den Blick für dessen utopisches Versprechen schärfen.
mdr
Ab 14
00.25-02.05 Servus TV Somersault – Wie Parfüm in der Luft R: Cate Shortland 16-jährige Ausreißerin bringt Wintersportort in Aufruhr Australien 2004 Ab 16
EINE AUSWAHL WICHTIGER BEITRÄGE DER THEMENWOCHE: 3.10., 23.40-03.23, Das Erste: Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht 4.10., ab 06.00, Das Erste: Deutschland. Dein Tag 4.10., 20.15-21.45, Das Erste: Polizeiruf 110: Wendemanöver (Teil 2) 5.10., 20.15-21.45, Das Erste: Leberkäseland 5.10., 22.45-00.00, Das Erste: Zum Glück Deutschland - Ein neuer Blick auf unser Land 6.10., 00.00-01.30, NDR fernsehen: Willkommen auf Deutsch 7.10., 20.15-21.45, Das Erste: Blütenträume 8.10., 20.15-21.45, Das Erste: Dampfnudelblues 8.10., 23.15-01.20, rbb Fernsehen: In Sarmatien 9.10., 20.15-21.45, Das Erste: Heimat ist kein Ort 10.10., 20.15-21.55, BR FERNSEHEN: Beste Chance 10.10., 22.25-23.25, BR FERNSEHEN: Jugend in Bayern – Eine Momentaufnahme 10.10., 23.25-00.55, BR FERNSEHEN: Beste Zeit
Fotos S. 56Ï–Ï65: Jeweilige Sender.
SA
FILMDIENST 20 | 2015
56-65_TV_20_2015.indd 56
23.09.15 14:46
FERNSEH-TIPPS KRITIKEN
SO
SONNTAG 4. OKTOBER
11.10-12.45 hr fernsehen Das Spukschloss im Spessart R: Kurt Hoffmann Schlossherrin kämpft mit Gespensterhilfe um ihren Besitz BRD 1960 Sehenswert ab 14 »Der letzte Fußgänger«
15.20-16.50 Disney Channel Die Monster AG R: Pete Docter, David Silverman, Lee Unkrich Unterhaltsames Zeichentrickmärchen USA 2001 Sehenswert ab 8 20.15-21.45 Das Erste Polizeiruf 110: Wendemanöver (Teil 2) R: Eoin Moore Jubiläumskrimi zum Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschland 2015
»Das schwarze Schaf«
3. Oktober, 06.35-01.25
4. Oktober, 02.25-04.35
Das Erste
Happiness Drei Schwestern aus New Jersey, die Hausfrau Trish, die jung gebliebene Träumerin Joy und die Bestsellerautorin Helen treffen sich regelmäßig, ohne sich dabei je ihre Unzufriedenheit mit ihrem Leben und ihre tiefen Selbstzweifel offen einzugestehen. „Happiness“ folgt ihnen bei ihrem Streben nach Glück, das ganz im amerikanisch-calvinistischen Sinn als Zustand der Glückseligkeit am Ende eines langen Weges verstanden wird. Der Titel mag sarkastisch klingen, doch der Film nimmt sein Thema durchaus ernst: was jene „happiness“ heute für Menschen bedeutet – und wie man es ganz sicher nicht schafft. Die Inszenierung dieses erschütternden Vorort-Dramas entzieht sich dabei gängigen Spielregeln des Kinos. Regisseur Todd Solondz lässt die Kamera am liebsten dann laufen, wenn nichts passiert, wenn sich Figuren schweigend gegenübersitzen oder ein Satz ins Mark getroffen hat. Dazu kommen Szenen und Dialoge, die sich mit Tabus befassen: Masturbation, Päderastie, Inzest. Der radikale psychologische Realismus des Films durchdringt seine Themen mit geradezu körperlich spürbarer Unmittelbarkeit, die auch den wunderbar agierenden Schauspielern zu verdanken ist. Erträglich wird der peinigende Realismus durch Solondz’ Begabung für skurrilen Humor, die selbst in den dunkelsten Momenten des Films mit verrückten Einfällen für Entlastung sorgt.
3sat
Tag der Deutschen Einheit Der Nationalfeiertag ist ein guter Anlass für einen wilden ZickzackKurs durchs nationale Filmerbe, hat sich 3sat gesagt und zum 3.10. von morgens früh bis abends spät eine Reihe von deutschen Filmklassikern ausgegraben. Den Anfang machen zwei 1960er-Publikumslieblinge, in denen Heinz Rühmann als Pater Brown auf Verbrecherjagd geht; auch die restlichen Beiträge stammen schwerpunktmäßig aus den 1950er-/1960er-Jahren. Doris Dörries „Männer“ (1985), Helmut Dietls „Rossini“ (1996) und der neueste Film der Reihe, Christian Petzolds „Barbara“ von 2012, bauen eine kleine Brücke in die Gegenwart. 06.35-08.05 Das schwarze Schaf 08.05-09.35 Er kann’s nicht lassen 09.35-11.15 Die Fastnachtsbeichte 11.15-12.40 Der letzte Fußgänger 12.40-14.15 Der brave Soldat Schwejk 14.15-16.00 Der Untertan 16.00-17.25 Die Sünderin 17.25-19.00 Männer 19.00-20.15 Zur Sache, Schätzchen 20.15-22.05 Rossini 22.05-23.45 Barbara 23.45-01.25 Die Brücke
20.15-23.00 ProSieben Star Wars: Die Rückkehr der Jedi-Ritter R: Richard Marquand Kampf dem Imperator! USA 1982 Ab 12 20.15-21.50 zdf.kultur Berlin is in Germany R: Hannes Stöhr Spannender Wende-Film Deutschland 2000 Sehenswert ab 16 22.50-00.40 mdr Leipzig im Herbst R: Andreas Voigt, Gerd Kroske Rekonstruktion der Oktober-Demos BRD 1989 Ab 14 23.20-01.00 BR FERNSEHEN Der Westen leuchtet! R: Niklaus Schilling Stasi-Agent wird vom Glanz des Westens geblendet BRD 1982 Sehenswert 00.05-02.23 Das Erste Das weiße Band R: Michael Haneke Deutsche Dorfgeschichte in Schwarzweiß Dt./Österreich 2009 Sehenswert ab 16
4. Oktober, 20.15-23.10
arte
Ein Abend mit Warren Beatty Als Hollywoodstar und Frauenheld machte sich der jüngere Bruder von Shirley MacLaine in den 1960er- und 1970er-Jahren einen Namen, suchte sich dann aber immer sorgsamer seine Projekte aus und reüssierte mit vier höchst unterschiedlichen Regiearbeiten – der Fantasy-Komödie „Der Himmel soll warten“, dem Historienepos „Reds“, der Comic-Verfilmung „Dick Tracy“ und der Politsatire „Bulworth“ –, bevor er sich 2001 von der Leinwand zurückzog. Freilich nicht für immer: Sein seit Jahren angekündigtes Filmprojekt über den Milliardär Howard Hughes befindet sich nun im Endstatus, Beatty hat dabei neben der Hauptrolle ein weiteres Mal auch Produktion, Regie und Drehbuch übernommen. Der arte-Themenabend beleuchtet hingegen die Anfänge von Beattys Karriere: In seinem Filmdebüt „Fieber im Blut“ (20.15-22.15) spielt der damals 23-Jährige mit Natalie Wood ein Liebespaar, dessen Beziehung an den konservativen Verhältnissen in einer amerikanischen Kleinstadt zerbricht. Danach gibt die Dokumentation „Warren Beatty – Mister Hollywood“ (22.15-23.10) durch Archivbilder und Animationen einen Einblick in eine jahrzehntelange Filmkarriere zwischen Starpersona und persönlichem Ehrgeiz, bei dem auch Beattys politisches Engagement für die Partei der Demokraten zur Sprache kommt.
FILMDIENST 20 | 2015
56-65_TV_20_2015.indd 57
57
23.09.15 14:46