Filmdienst 20 2016

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FILM DIenst Das Magazin für Kino und Filmkultur

20 2016

F ra n ço is O zo n

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www.filmdienst.de 29. september 2016 € 5,50 69. Jahrgang


INHALT DIE NEUEN KINOFILME NEU IM KINO ALLE STARTTERMINE

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And-Ek Ghes… 22.9. Antboy – Superhelden hoch 3 6.10. Attack On Titan – Part 1 27.9. Auf einmal 6.10. Blair Witch 6.10. Closet Monster 6.10. Da Dog Show 6.10. El Degmemis Ask 8.9. Europe, She Loves 29.9. Findet Dorie 29.9. Frantz 29.9. Die Insel der besonderen Kinder 6.10. Jonathan 6.10. Kaum öffne ich die Augen 6.10. Kommen Rührgeräte in den Himmel? 29.9. Die letzte Sau 29.9. Mali Blues 29.9. Meine Zeit mit Cézanne 6.10. Milos Forman – What doesn’t kill you 6.10. Mit dem Herz durch die Wand 29.9. Nebel im August 29.9. Raving Iran 29.9. Sausage Party 6.10. Der Schatz 6.10. The Infiltrator 29.9. Eine unerhörte Frau 6.10. War Dogs 29.9. We are the Flesh 6.10.

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KINOTIPP

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EUROPE, SHE LOVES

der katholischen Filmkritik

37 DIE INSEL DER BESONDEREN KINDER 42 39 NEBEL IM AUGUST Nach dem gleichnamigen Buch von Robert Domes inszeniert Kai Wessel ein Drama um die Tötung Behinderter im Dritten Reich.

FERNSEH-TIPPS 56 „Die amerikanische Angst“ ist eine Filmreihe betitelt, in der 3sat ab 5.10. in Thrillern, Dramen und Kriegsfilmen der US-Befindlichkeit im Zuge des „war on terror“ nachspürt.

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FILMDIENST 20 | 2016

JONATHAN

Fotos: TITEL: X-Verleih. S. 4/5: StudioCanal, Farbfilm, Twentieth Century Fox, Déjà vu-Film, Rise and Shine; Warner Bros., X-Verleih, Filmfestival Venedig

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20 | 2016 DIE ARTIKEL INHALT

Hommage an Kostümbildnerin Colleen Atwood: Entwürfe zu den Roben, die demnächst im Fantasyfilm „Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind“ zu sehen sein werden.

KINO

10 Us-PrÄsiDenten iM Kino

Im November wird in den USA ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Wie eng Politik und Showbiz dort Hand in Hand gehen, rückt in dieser Zeit besonders ins Bewusstsein. Zeit für eine Analyse der Präsidentschafts-Bilder zwischen Washington & Hollywood. Von Frank Mehring

16 CoLLeen atWooD

Die Kostümbildnerin gehört seit langem zum festen Stab der Tim-Burton-Filme, hat aber auch allerlei anderen Filmfiguren dabei geholfen, ihr Inneres äußerlich sichtbar zu machen. Eine Hommage anlässlich des Kinostarts von „Die Insel der besonderen Kinder“. Von Kristina Jaspers

RUBRIKEN EDITORIAL 03 INHALT 04 MAGAZIN 06 DVD-KLASSIK 34 DVD/BLU-RAY 52 TV-TIPPS 56 P.S. 66 VORSCHAU / IMPRESSUM 67

AKTEURE

FILMKUNST

20 FRANÇOIS OZON

28 VENEDIG 2016

20 FranÇois oZon

Der neue Film des französischen Regisseurs, „Frantz“, spielt halb in Deutschland, halb in Frankreich und erzählt von einer schwierigen Annäherung der Feinde nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Gespräch über seine Herangehensweise an den Stoff. Von Margret Köhler

27 e-MaiL aUs HoLLYWooD

Nachdem die Sommerblockbuster erstmal durch sind, bringen US-Verleihe die Filme an den Start, mit denen sie sich Chancen bei der kommenden „Oscar“-Verleihung ausrechnen. Von Franz Everschor

28 VeneDig 2016

22 Kai WesseL

Im Interview berichtet der erfahrene Kinound TV-Regisseur über seinen neuen Film „Nebel im August“. Er greift ein schmerzliches Kapitel deutscher Geschichte auf: Es geht um die sogenannte „Euthanasie“ im Dritten Reich.

Mit Lav Diaz’ „The Woman Who Left“ gewann am 10.9. ein philippinischer Film den „Goldenen Löwen“ der 73. „Mostra internazionale d’arte cinematografica“. In der Rückschau filtern wir wichtige Themen und Tendenzen aus der Vielzahl der gezeigten Beiträge.

Von Holger Twele

Von Felicitas Kleiner und Margret Köhler

26 in MeMoriaM

Wir erinnern u.a. an Komiker-Ikone Gene Wilder und den DEFA-Kinderfilmregisseur Rolf Losansky. Von Rainer Dick und Ralf Schenk

FILMDIENST 20 | 2016

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Hello Mr. President Rollenspiele zwischen Hollywood und Washington

oder der republikanische Kandidat Donald Trump. In der heißen Phase des Wahlkampfs fällt besonders deutlich auf, wie sehr es beim Streit um das machtvolle Amt nicht nur um politische Argumente, sondern vor allem um Repräsentation geht.

Am 8. November 2016

Das lässt auch die Verbindung

entscheidet sich, wer

von Präsidentenmythen und

zum 58. Präsidenten

Showbiz ins Auge treten,

der USA gewählt wird:

die bis in die Frühzeit

die ehemalige Außen-

des Kinos zurückreicht.

ministerin Hillary Clinton

Von Frank Mehring


kino US-PräSIdenten

Ein Attentäter feuerte am 15. April 1865 einen tödlichen Schuß auf US-Präsident Abraham Lincoln ab, während der sich in einem Theater in Washington an einer Komödie ergötzte. Unzählige Bilder und Filme haben seither diesen schrecklichen Moment rekonstruiert. Sie alle zeigen, dass in der Erinnerung der USA Geschichte und Unterhaltung eng miteinander verwoben sind. Steven Spielbergs Biopic „Lincoln“ (2012) musste das Attentat gar nicht mehr zeigen; es genügt ein Close-up auf die dramatische Reaktion von Lincolns jüngstem Sohn, der in einem anderen Theater die schreckliche Nachricht erfährt. In allen High Schools gehört dieser Film inzwischen zum Pflichtprogramm im Geschichtsunterricht.

In den USA fungiert das Medium Film als Legitimation und Affirmation nationaler Gründungsmythen wie Macht, Fortschritt oder Demokratisierung.

Anders als in Deutschland basiert der US-Nationalbegriff weniger auf ethnischen und kulturellen Zuschreibungen, sondern auf einer politischen Willens- und Bekenntnisgemeinschaft. Dem Film kommt hier die Aufgabe zu, eine nationale Metafiktion zu etablieren, die eine ideologische Sicht auf das Land und die Welt vermittelt. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass sich Hollywood (und später das Fernsehen) seit den Gründertagen mit der Person des Präsidenten auseinandersetzt, sei es in „McKinley at Home“ (1896), „Roosevelt’s Rough Riders“ (1898), „Washington Under The American Flag“ (1909) oder jüngst in „My First Lady“ (2016; über Barack Obama). Die Hollywood-Studios und ihre Regisseure tragen ihren Teil dazu bei, mit den Konventionen des Unterhaltungskinos eine bestimmte politische Weltanschauung zu kommunizieren. Gerade US-Kritiker lamentieren, dass Hollywood bei der Darstellung von Präsidenten oft besonders uninspiriert agiere: Die filmische Geschichtsschreibung sei dem

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absoluten Konsens verpflichtet, während gelebte Demokratie doch streitbar sei, oft quälend langwierig und von Kompromissen geprägt. Diese Kontrastierung von Fiktion und Realität greift jedoch zu kurz, um die wirkmächtige Bildrhetorik rund um die Figur des amerikanischen Präsidenten in den amerikanischen Medien zu dekodieren und die Unterschiede im transatlantischen Filmdiskurs zu verstehen. Die Unterhaltungsmedien in den USA besitzen den größten Anteil daran, dem Repräsentanten der Nation – dem „commander in chief“ – besondere Qualitäten wie Besonnenheit, spirituelle Strahlkraft, verbunden mit Gesundheit, sowie moralische Integrität, Selbstvertrauen und Entscheidungsstärke zuzuschreiben. Der Ausdruck „first family“ verbindet die Präsidentenfamilie mit den Bürgern und vereint sie in der Idee der „civitas“ zu einer starken demokratischen Gemeinschaft. Indem sie den Präsidenten zu einer Art „Familienoberhaupt“ macht, ermöglicht diese „Zivilreligion“ der Vereinigten Staaten, dass die Bürger eine emphatische Beziehung zu ihrem Staatschef aufbauen können. Durch die ästhetisierte Spiegelung im Film wird die oft sterile, unpersönliche Bürokratie des präsidialen Alltagsgeschäfts emotional aufgeladen oder mit actionreichen Einlagen auf eine andere Ebene transferiert. Daher kann man auch von einem „human touch“ der realen Rolle sprechen, die in Komödien wie „Hello, Mr. President“ (1995) oder Erfolgsserien wie „West Wing“ (1999-2006) und „24“ (2001-2014), aber auch in Biopics und heroischen Actionfilmen schlagfertig genau jene Eigenschaften unter Beweis stellt, die den Medienmythos des Amts ausmachen. Dass eine Polioerkrankung Präsident Roosevelt an den Rollstuhl fesselte, verhindert nicht, dass er in „Yankee Doodle Dandy“ (1942) verwegen auf dem Tisch tanzt; und dass John F. Kennedy als Präsident in die Frühphase des Vietnamkriegs verstrickt, chronisch krank und gegenüber seiner Frau untreu war, schmälert nicht, dass er nach wie vor als Inbegriff von Jugendlichkeit und Rechtschaffenheit vergöttert wird. Der US-Politiker William Howard Taft sprach davon, dass der gesamte politische Apparat im Denken der Bevölkerung derart mit der Figur des Präsidenten verwoben

sei, dass seine Person an allen gesellschaftlichen Missständen gemessen werde. Aus diesem besonderen Verhältnis beziehen Film und Fernsehen ihre Faszination für die Figur des Präsidenten. Dramatische Konfliktstoffe ergeben sich dabei aus dem Kampf zwischen Prosperität und Depression, Krieg und Frieden, Narzissmus und selbstloser Staatsführung, oder aber aus der Auseinandersetzung zwischen Präsident und Kongress, Militär, Gericht oder den Medien: Die Unterhaltungsindustrie nutzt die Figur des Präsidenten, um abstrakte Sachverhalte und Konflikte auf eine einzige Person herunterzubrechen. In Europa hingegen formulierte eine vielbeachtete Kritik der französischen Filmzeitschrift „Cahiers du cinéma“ an John Fords Präsidenten-Vita „Der junge Mr. Lincoln“ (1939) die filmästhetische Überzeugung, dass Hollywood hier eine höchst problematische Sprache entwickelt habe. Als der junge Lincoln in einer Schlüsselszene im ersten Drittel des Films einen Lynch-Mob davon abhalten will, seine Klienten ohne Gerichtsverfahren zu hängen, nimmt er die Rolle des mutigen „common man“ ein, der durch eine einfache, pointierte und biblisch inspirierte Ansprache die überhitzten Gemüter beruhigt. Dabei greift der Film-Lincoln bezeichnenderweise das Thema der Show auf: Zuerst nutzt er wie ein Stand-up-Comedian seinen Mutterwitz, erniedrigt sich selbst, um schließlich auf amüsante Weise sein Ziel zu erreichen. Da er ein unerfahrener Anwalt sei, würden seine Delinquenten, so Lincolns Argumentation, am Ende vermutlich zwar tatsächlich gehängt, aber man sollte doch wenigstens die rechtliche Fassade mit etwas Show und Pomp wahren. Damit hat Lincoln die Menge auf seiner Seite und der Konflikt ist vorerst gelöst.

Der Aspekt der Show avancierte zum wichtigen Bestandteil des präsidialen Wahlkampfs und präsidialer Machtdemonstration. Wenn

George W. Bush am 1. Mai 2003 auf dem Flugzeugträger USS Lincoln in Fliegermontur die Mission im Irak für beendet erklärt,


US-PräSIdenten kino

rekurriert die Bildsymbolik auf Actionfilme wie „Top Gun“ (1986) oder „Armageddon“ (1998). Flammende Reden vor einer multikulturellen Gruppe kennt das Publikum aus „Independence Day“ (1996). Filmisch vermittelte Bildcluster bestimmen nicht selten die Medienberichterstattung. Das patriotische Bild von Bush mit Megafon auf den Trümmern des World Trade Centers vom Time Magazine mit dem Titel „One Nation. Indivisible“ ging um die Welt, ebenso wie das Hissen der Flagge von Feuerwehrleuten am Ground Zero, das im Unterbewusstsein vieler Amerikaner an die bekannte fotografische und filmische Rekonstruktion des Hissens der US-Flagge in der Schlacht um Iwojima 1945 anschließt („Iwo Jima, die große Schlacht“, 1949, später auch in „Flags of our Fathers“, 2006) erinnert. Die Bilder von 9/11 wirkten wie ein Trailer zu einem Katastrophenfilm auf die weltweite Medienöffentlichkeit. Die politische Antwort und mediale Vermittlung des „War on Terror“ war ebenfalls filmreif. Sind diese visuellen Überschneidungen Zufälle oder rekurriert das State Department in seiner Inszenierung des Gegenschlags ebenfalls auf eine unsichtbare Bildrhetorik und auf narrative Muster, die Hollywood perfektioniert hat? Ist es verwunderlich, dass in dem ältesten demokratischen Staat der Neuzeit die öffentliche Sache mit der Sprache des Films verhandelt wird, jenem Medium, das selbst vielleicht das demokratischste aller Unterhaltungsmedien darstellt?

Hollywood erfindet die politische Geschichte im Kino neu und legitimiert den Führungsanspruch des Präsidenten.

Das Kino konfrontiert die Zuschauer mit einem bemerkenswerten Paradoxon: Einerseits zeigen viele Filme und Serien mit immer realistischeren Mitteln den präsidialen Machtapparat und Kriegssituationen. Andererseits bestimmen fiktionale Inhalte das Bild der vom amerikanischen Präsidenten geführten Nation, die in gleichem, wenn nicht sogar Qualizierte sich als starker Leinwandheld fürs Präsidentenamt: Ronald Reagan in „Hong kong“ (1951)

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kino US-PräSIdenten

stärkerem Maße das öffentliche Bild und die Erinnerungskultur beeinflussen. Der Ansatz von Oliver Stone, die US-Geschichte als Geschichte medialer Manipulationen, Konspirationen und grobschlächtiger Schwarzweißmalereien zum Zweck geopolitischer Machtbestrebungen zu dekonstruieren, lässt ihn in seiner DokuSerie „The Untold History of the United States“ (2012) oft undifferenziert auf eine kaum zu überblickende Vielfalt von Bildund Klangmontagen aus Dokumentarclips, Hollywoodfilmen, Propagandafilmen und gestellten Fotos zurückgreifen. Stone gilt nicht wenigen Amerikanern als einer der einflussreichsten Exegeten ihrer Geschichte. Seine kritische Auseinandersetzung mit Paranoia und der Blendung der Öffentlichkeit durch mediale Inszenierungen der Präsidenten in „JFK“ (1991), „Nixon“ (1995) und „W. – Ein missverstandenes Leben“ (2008) zeigt den fragwürdigen Umgang mit den in der Verfassung festgeschriebenen Idealen von Freiheit, Gleichheit, und demokratisch transparenter Staatsordnung. Im Zuge des Watergate-Skandals und der schockierenden Fernsehbilder aus dem Vietnamkrieg sensibilisierte die Medienberichterstattung viele US-Amerikaner für den Missbrauch exekutiver Macht. Eine solche Sozialisation

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prägte Filmemacher wie Sydney Pollack, Francis Ford Coppola oder eben Oliver Stone, die in ihren Filme medial vermittelter politischer Führungskraft mit Misstrauen begegneten, was heute auch in Serien wie „House of Cards“ nachwirkt. Gleichzeitig aber fügen solche Dekonstruktionen des amerikanischen Urvertrauens in die politische Führung dem letztlich unangetasteten Gültigkeitsanspruch amerikanischer Ideale ex negativo lediglich eine weitere Variante hinzu: Die Kritik mangelnder Transparenz und korrupter Amtsinhaber, die von Lobbyisten, Interessenvertretern und der Wall Street benutzt werden, beinhaltet immer auch die Forderung nach einer Rückkehr zu amerikanischer Rechtsstaatlichkeit.

In der US-Medienberichterstattung erscheint der Präsident als Simulation eines Filmbilds.

Kennedy spiegelte sich selbst durch fotografische und filmische Inszenierungen als Hollywood-Legende. Der Mythos dieses Präsidenten blieb selbst durch Enthüllungen und kontroverse Filme wie Stones „JFK“ unangetastet.

Durch die Macht der Medien werden Legenden zur Wahrheit, und Hollywood hat seinen Anteil daran, durch die Kraft der filmischen Mythenbildung die Vergangenheit von Kontroversen und blinden Flecken zu bereinigen. Die Simulation wird zur Realität. Im Sinne von Baudrillard könnte man daher von einem „hyperrealen“ Präsidenten sprechen. Die Unterscheidung zwischen der präsidialen Rolle als perfekter Ausdruck des „American Dream“ und den tatsächlichen Problemen des Amtsinhabers ist hinfällig. Weil die US-Bürger in eine mediale Welt initiiert würden, so Baudrillard, und in dieser gefangen seien, könnten sie auch keine Sensibilität für die Simulation entwickeln. Ein wahrhaftiges Sehen bliebe den kritischen europäischen Beobachtern vorbehalten. Diese könnten den medialen Vorhang zur Seite ziehen, um den Blick auf den wahren „Zauberer von Oz“ freizugeben, der angestrengt am Räderwerk der Medien dreht. Zu dieser These mag jedoch der Umstand nicht so recht passen, dass es häufig Immigranten und Nichtamerikaner sind, die an dieser Simulation nachhaltig beteiligt sind. Man denke etwa an den italienstämmigen Frank Capra („Mr. Smith geht nach Washington”, 1939) oder die Deutschen Wolfgang Petersen („In the Line of Fire“, 1993, und „Air


Force One“, 1997) und Roland Emmerich („Independence Day“, 1996, „Independence Day: Wiederkehr“, 2016).

Die Inszenierungstechniken des Kinos spiegeln dabei die Showeffekte, deren sich die realen Präsidenten bedienen –

Fotos: Fox, Paramount, Sony Home Ent., Capelight, Filmfestival Venedig, Warner Home Ent.

und umgekehrt. In „Der Manchu-

rian Kandidat“ (1962/2004) avanciert die Bildrhetorik von paranoiden Bedrohungsfantasien und patriotisch übersteigerter Staatsmacht zum Vorbild für die Inszenierung angeblich realer Bedrohungen, sei es der Domino-Effekt in Vietnam, die Massenvernichtungswaffen im Irak oder die muslimische Unterwanderung amerikanischer Werte. Umgekehrt wird beispielsweise Obama von einigen Gegnern als „Manchurian Candidate“ identifiziert, der konspirativ die christlichen und demokratischen Werte in den USA außer Kraft setzen wolle. Andere Medienbilder zeigen Obama als tief fühlenden, emphatischen „Primus inter pares“, der nach einer wortgewaltigen Rede in Charleston im Rahmen einer Trauerfeier nach dem Kirchenattentat das Volkslied „Amazing Grace“ scheinbar spontan anstimmt. Die Gemeinde zeigt sich zunächst verwundert, doch dann gibt es „Standing ovations“, die Orgel trifft sofort die richtigen Harmonien und die Massen stimmen filmreif mit ein: „Ich war einst verloren, aber nun

bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich.“ Dieses Motto formuliert Obama für die USA und unterstreicht damit das hyperreale Bild des Präsidenten als patriotischer Held, athletischer Staatsführer, weitsichtiger Intellektueller und warmherziger Familienvater. Innerhalb der politischen Simulation von Politik ist die von Obama gesungene Erlösung durch wahrhaftiges Sehen allerdings unmöglich. Reagan interpretierte sein Amt als ein weiteres Rollenspiel, nur außerhalb von Hollywood; er suchte im Weißen Haus jenen „War Room“, den Ken Adam für Stanley Kubricks schwarze Satire „Dr. Seltsam oder: wie ich lernte die Bombe zu lieben“ (1964) entworfen hatte. Und Hillary Clinton und Donald Trump ließen sich unlängst für die Wahlveranstaltung „Commander-in-Chief Forum“ vor Kampfjets auf einem ehemaligen Flugzeugträger aus dem Zweiten Weltkrieg, dem so genannten „guten Krieg“, mit Soldaten der „großartigsten Generation“ in Szene setzen. Derartige Slogans werden von Filmen wie „Der Soldat James Ryan“ (1998) bis „Monuments Men“ (2014) medial positiv aufgeladen. In den USA gibt es ein Wortspiel, das die Rolle des Präsidenten lautsprachlich perfekt als nicht zu differenzierendes Bild zwischen filmischer Fiktion und Realität einfängt: „Reel President“/„Real President“, Rolle und Realität. Gefragt, um was es im derzeitigen Wahlkampf zwischen Clinton und Trump wirklich gehe, antwortete Oliver Stone: „Um Show.“ Das schließt an Fords „Der junge Mr. Lincoln“ an, in dem der spätere US-Präsident ohne Zynismus erklärt, dass der Anstrich von Rechtstaatlichkeit mit einer guten Show gerechtfertigt werden müsse. •

„Jackie“ von Pablo Larraín Beim 73. Filmfestival in Venedig feierte ein Film Premiere, der sich hintersinnig mit der Mythenbildung um den US-Präsidenten John F. kennedy befasst. „Jackie“ porträtiert dessen Frau (gespielt von natalie Portman) in den Stunden und tagen unmittelbar nach dem tödlichen Anschlag auf den Präsidenten am 22. november 1963 in dallas. dabei geht es um die Versuche von Jackie Kennedy, trotz Schock und trauer die mediale deutungshoheit über die ereignisse und das Vermächtnis ihres Gatten nicht zu verlieren; zum Konfliktpunkt wird die „Inszenierung“ des Begräbnisses. Als Leitmotiv kommt vielsagend der Song „Camelot“ aus dem gleichnamigen Broadway-Musical zum einsatz und zieht spielerisch eine Parallele zwischen der mythischen Herrschaft von König Artus und seiner tafelrunde und dem ermordeten Präsidenten: Kennedys Amtszeit, in die erinnerungskultur eingegangen als „brief shining moment“ der US-Geschichte.

US-Präsidenten im TV Seit dem 21.9. läuft auf dem US-Sender ABC die jüngste Serie mit einem US-Präsidenten im Mittelpunkt. In „designated Survivor“ wird nach einem Anschlag auf die Administration das einzig überlebende Kabinettsmitglied tom Kirkman zum Staatsoberhaupt gekürt. Gespielt wird der anfangs komplett überforderte, aber tüchtige und aufrichtige Politiker von Kiefer Sutherland, der schon in „24“ (2001-14) als Agent Jack Bauer erfahrung mit Staatsführern unterschiedlicher Couleur gesammelt hat. Hier wie auch anderswo tauchen in den letzten 15 Jahren vermehrt auch negative Präsidentenbilder im Fernsehen auf, bis hin zu „House of Cards“ (seit 2013) und „Scandal“ (seit 2012), bei denen ausgemachte Verbrecher ins Weiße Haus gelangen. daneben nimmt sich die unterbelichtete Vizepräsidentin/Präsidentin in „Veep“ (seit 2012) fast harmlos aus. tom Kirkman tritt deshalb auch an, um das Vertrauen in die politische elite wiederherzustellen, als würdiger nachfolger der integren Staatsführer aus „the West Wing“ (1999-2006) und „Commander in Chief“ (2005/06).

Aktuell im Kino: „My First Lady“ über die Liebesgeschichte der obamas

„the West Wing“

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Eines Nachmittags im Jahr 1919 wandert die junge Deutsche Anna mit dem ebenso jungen Franzosen Adrien im Harz durch einen Felstunnel. Just in dem Moment, in dem sie wieder ans Licht treten, erzählt Anna, wie ihr vor dem Krieg genau hier ihr Verlobter Frantz einen Antrag gemacht hat. Es ist die erste Stelle im Film, in dem die Erinnerung so etwas wie Glück auf Annas tieftrauriges Gesicht zaubert. Und es ist der erste Moment, an dem François Ozon den Schwarz-Weiß-Film für kurze Zeit in Farbe taucht. Immer wieder befreit sich die Adaption von Ernst Lubitschs Bühnenstück-Verfilmung „Broken Lullaby“ (1931) vom erdrückenden Realismus des Schwarz-Weiß und zwar genau dann, wenn das thematisiert wird, was den Menschen ausmacht, bevor es der Krieg in ihm auslöscht: die Verbundenheit mit der Natur, die Hingabe an die Musik, die Erinnerung an einen geliebten Menschen und natürlich die Liebe selbst. Denn Frantz, um den sich die Gedanken und Gefühle der

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Frantz François Ozon lotet den heilenden Charakter von Fiktionen aus beiden Wanderer drehen, lebt nicht mehr. Der Erste Weltkrieg hat Anna den Verlobten und dem Franzosen Adrien den besten Freund genommen, wie so vielen Menschen in diesem Ort irgendwo in der Mitte Deutschlands, wo der Hass auf Frankreich noch so groß ist. Jungen Männern mit Verbrennungen oder fehlenden Gliedmaßen begegnet Anna auf ihrem täglichen Weg zu der Grabstätte immer wieder, an der sie eines Tages den tief versunkenen Adrien entdeckt. Während Frantz’ Studienzeit in Paris hätten sich die beiden Männer vor dem Krieg angefreundet. Zumindest bestätigt der schüchterne Adrien diese Vermutung der Familie, als er sich durch Annas Vermittlung im Wohnzimmer der Hoffmeisters wiederfindet, wo die schon alten Eltern mit großen Augen an seinen fein geschnittenen

Lippen hängen. „Haben sie keine Angst, uns glücklich zu machen“, fordert Frantz’ Mutter Adrien zum Erzählen auf. Da ist das Misstrauen des Vaters schon abgeebbt. Mit dem Verlust des Kindes wurde ihnen die Zukunft genommen, mit Adrien kann wenigstens die Vergangenheit ein bisschen aufscheinen. „Meine einzige Wunde aus dem Krieg“, sagt Adrien später zu Anna, noch tropfnass vom Bad im See, „ist Frantz“. Da läuft ihm ein Wassertropf den Nabel entlang, als wolle er sich in den Bauch einschneiden. François Ozon ist hier die wunderschöne und doch tieftraurige Bestandsaufnahme zweier Seiten gelungen, auf denen es nur Verlierer gab. Eine Leichtigkeit und Ruhe durchzieht diese Erzählung, obwohl sie so viele Konfliktfelder anreißt: Die Schuld der Vätergeneration, die ihre Söhne für das Vaterland

in den Krieg geschickt hat. Die Frage, ob eine Lüge nicht die bessere, weil weniger schmerzhafte Wahrheit sei. Oder das Vermögen von Fiktion und Kunst, diese Welt erträglicher, wieder bunt zu machen. So fängt Adrien an, den Hoffmeisters von seiner Zeit mit Frantz zu erzählen: Szenen gemeinsam besuchter Tanz-Cafés, in Farbe getauchte Louvre-Ausflüge und gemeinsame Geigen-Stunden verkauft die Filmerzählung als eine Wahrheit, die sich als falsch herausstellen wird. Aber originellerweise nicht in der Art, wie man es in Kenntnis des Werks von Ozon erwarten würde – oder paradoxerweise vielleicht gerade deshalb, weil Ozons Filme und Figuren nie derartig eindeutig sind, wie man es ihnen gerne andichten würde. enn in „Frantz“ eine Welt aus Schwarz und Weiß für Verlust und Trauer steht, dann versinnbildlicht die immer wieder einbrechende Farbe das Aufscheinen von Hoffnung und Verzeihen. In der Mitte dieser Bildungsgeschichte, die mit Referenzen an die deutsche Romantik nicht geizt, reist Anna nach Frankreich, wo sie auf dieselben Zerstörungen und Nationalismen trifft, wie sie sie in Deutschland erlebte – so viel Hass, so viele Gemeinsamkeiten. Der Film kehrt die Perspektive um, weicht Anna aber nie von der Seite. Anna entdeckt Seiten, die sie von ihrem Verlobten nicht kannte und die ihr nicht gefallen können, was Ozon aber nicht weiter akzentuiert. Er bleibt bei Annas akutem Leid, sich nach dem Tod des Verlobten in einen Mann zu verlieben, den ihr die Historie und die Moral eigentlich verbieten. Von Paula Beer berührend und eindrücklich gespielt, wirkt Annas Einsamkeit so tief, dass sie alle Ressentiments und Feindschaften unterwandert.

Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe

KRITIKEN neue Filme


neue Filme KRITIKEN Freund oder Feind, Hass oder Liebe müssten nicht auf immer die beiden Seiten einer Medaille sein. Manchmal könnten sie auch nur der Widerschein des jeweils anderen sein, eine aufoktroyierte Illusion. Das Unglück ist austauschbar, die Liebe auch. Irgendwann, da ist Adrien schon längst zurück in Frankreich, geht Anna erneut durch den Felstunnel – alleine. Da bleibt die Welt grau. Kathrin Häger

BewertuNg der FilmKommiSSioN

Als eine junge Deutsche im Jahr 1919 am Grab ihres im Krieg gefallenen Verlobten einen trauernden Franzosen entdeckt, führt sie diesen bei den Eltern als vermeindlichen Freund des Toten aus dessen Pariser Studienzeit ein. Die Anwesenheit des vor Ort angefeindeten Franzosen wecken bei der Verlobten Gefühle, bis er ein die Verhältnisse umwälzendes Geständnis macht. Fokussiert auf den Schmerz und die Entwicklung einer jungen Frau, der nach einem großen Verlust ein zweiter droht, bricht immer dann Farbe in den Schwarz-WeißFilm ein, wenn Momente des Glücks und der Kunst auf eine hoffnungsvollere Zukunft deuten. Mit großer Ruhe und Leichtigkeit entwickelt die Inszenierung eine ebenso schöne wie tieftraurige Geschichte um Schuld, Einsamkeit und heilsame Fiktionen, aber auch um Vergebung und das Vermögen, die Lebensfreude wieder zu entdecken. – Sehenswert ab 14.

Jonathan Bildgewaltiges Seelendrama auf dem Bauernhof Der 23-jährige Jonathan kann von einer unbeschwerten Kindheit nur träumen. Erst stirbt die Mutter viel zu früh, dann erkrankt der Vater an Hautkrebs. Obwohl ihm eine mit dem Vater zerstrittene Tante seit Jahren beisteht, ist er doch ungefragt in die Elternrolle hineingeglitten und hat seine eigenen Bedürfnisse zurückgestellt. Das Abitur hat er trotzdem geschafft, dann aber aufs Studium verzichtet. Wenn er auf dem Bauernhof seiner Familie im Schwarzwald nicht gerade die Tiere versorgt, pflegt er den wortkargen, abweisenden Vater, der immer weniger Bereitschaft zeigt, die mit vielen Nebenwirkungen belasteten Medikamente zu nehmen. Eine unkomplizierte Pflegerin, die den sich verschlechternden Zustand lindern soll, löst mit ihrem erfrischenden Umschiffen von Tabuzonen zunächst die Spannungen. Vor allem Jonathan fühlt sich zu ihr hingezogen und entdeckt, dass es noch mehr in seinem Leben geben könnte außer Geheimnissen, Streit und Tod. Als dann auch noch ein Fremder auftaucht und sich als Ex-Geliebter des offenbar bisexuellen Vaters offenbart, kommt der

irritierte Sohn nach anfänglicher Eifersucht nicht umhin, sich klarzumachen, dass er nun seine eigene Zukunft planen sollte, zumal er auch herausfindet, dass hinter dem vermeintlichen Unfalltod der Mutter ein viel schwerwiegenderes Drama steckt. Der 1975 in Warschau geborene Regisseur Pjotr J. Lewandowski nutzt den zurückhaltend erzählten Vater-Sohn-Konflikt, um in sepiafarbenen Bildern zu schwelgen, den athletischen Jonathan-Darsteller Jannis Niewöhner in verzweifelt-wütenden Posen eines James Dean zu inszenieren und auf den Spuren von Krzysztof Kieslowski das weltentrückte Treiben von Insekten in Großaufnahme zu verfolgen. Die überwältigende Bildebene will allerdings nicht so recht mit der geballten Ladung an deprimierenden Schicksalsschlägen harmonieren. Dass André Hennicke in der Rolle eines an seiner Liebe zu einem Mann gehinderten Bauern wegen seiner Physiognomie und Sprechweise schlicht fehlbesetzt ist, stört die Chemie innerhalb des Ensembles beträchtlich. Hinzu kommt, dass die parallele Coming-of-

Age-Geschichte in Konkurrenz zu dem Sterbemotiv keine über bekannte Muster hinausweisende Kontur entwickelt. Das mitunter zwar durchaus einfühlsames Debüt verfügt über mutige Ansätze und trumpft mit einem ambitionierten Stilwillen auf, entfernt sich dabei aber zu sehr von den Nöten seiner Figuren und hat zwischen Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“, François Ozons „Die Zeit die bleibt“ oder Patrice Chéreaus „Sein Bruder“ keine eigene Sicht auf die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz zu bieten. Alexandra Wach

BewertuNg der FilmKommiSSioN

Ein 23-jähriger Halbwaise pflegt seinen schwerkranken Vater und hält mit Hilfe seiner Tante den Bauernhof im Schwarzwald am Leben. In sein freudloses Dasein kommt erst Bewegung, als eine junge Helferin die erstarrten Verhältnisse durcheinanderwirbelt. Dann taucht auch noch ein Jugendfreund seines Vaters auf, der an verdrängte Familiengeheimnisse rührt und die ohnehin schwierige Vater-SohnBeziehung einer Zerreißprobe unterwirft. Das einfühlsame Spielfilmdebüt trumpft mit einem ambitionierten Stilwillen auf, dessen überwältigende Bildebene aber nicht so recht zur geballten Ladung an deprimierenden Schicksalsschlägen passen will. Die parallel erzählte Geschichte über ein verspätetes Erwachsenwerden büßt in Konkurrenz zum Sterbemotiv ebenfalls an Kontur ein. – Ab 16.

FraNtZ. Teils Schwarz-weiß. Scope. Frankreich/Deutschland 2016

Scope. Deutschland 2016

regie: François Ozon

regie: Pjotr J. Lewandowski

darsteller: Paula Beer (Anna), Pierre Niney (Adrien), Ernst Stötzner, Marie Gruber, Johann von Bülow, Cyrielle Clair, Alice de Lencquesaing

darsteller: Jannis Niewöhner (Jonathan), André M. Hennicke (Burghardt), Julia Koschitz (Anka), Thomas Sarbacher (Ron), Barbara Auer, Max Mauff

länge: 114 Min. | Kinostart: 29.9.2016

länge: 99 Min. | Kinostart: 6.10.2016

Verleih: X-Verleih | FSK: ab 12; f

Verleih: farbfilm | FSK: ab 12; f

Fd-Kritik: 44 168

Fd-Kritik: 44 169

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Der Käfer, der auf einem Deckenbalken in einem Haus in Nairobi Platz nimmt und die Menschen beobachtet, die sich unten in einem der Zimmer treffen, ist von besonderer Art: Das Tierchen ist nicht natürlich, sondern ein Stück avancierte Überwachungstechnologie, mit der ein Team aus britischen, amerikanischen und kenianischen Einsatzkräften islamistische Terroristen im Auge behält, die in Kenias Hauptstadt zusammengekommen sind. Ferngesteuert wird die Käfer-Attrappe, in deren Leib sich eine Kamera befindet, von einem Kontaktmann vor Ort, der unweit des Hauses platziert ist; ihr Bild geht direkt an die Einsatzzentrale in Großbritannien. In der Nähe von Las Vegas assistiert überdies ein junger US-Soldat als „Eye in the Sky“ bei dem Einsatz und liefert mittels einer Drohne weitere Bilder von dem überwachten Haus und seiner Umgebung. Eigentlich soll der Amerikaner nur die Lage aus der Vogelperspektive im Blick behalten. Doch als die Käfer-Kamera aus dem Inneren des

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FILMDIENST 20 | 2016

Eye in the Sky Helen Mirren in einem Drama um den Einsatz von Kampfdrohnen

Hauses enthüllt, dass die versammelten Terroristen mit großen Mengen Sprengstoff hantieren, geht der Puls bei der Kommandantin, Colonel Katherine Powell (Helen Mirren), dem verantwortlichen General Frank Benson (Alan Rickman) und den politischen Entscheidungsträgern hoch: Ein Sprengstoff-Anschlag scheint unmittelbar bevorzustehen. Für Powell ist die Lage klar: Das von den USA aus gesteuerte „Eye in the Sky“ muss aktiv werden und einen Drohnenangriff auf das Gebäude fliegen, bevor die Terroristen die Chance erhalten, es zu verlassen und zur Gefahr für Dutzen-

de von Menschen zu werden; ein Bodenangriff der kenianischen Verbündeten wäre viel zu riskant, weil die Terroristen die Chance erhielten, den Sprengstoff einzusetzen; Kampfhandlungen in dem von der Miliz kontrollierten Wohngebiet würden großen Schaden anrichten. Doch auch ein Drohnenangriff ist für die Zivilbevölkerung nicht ohne Risiko – vor allem für das kleine Mädchen, das just vor dem Haus der Terroristen seinen Stand aufgebaut hat, um Brot zu verkaufen. Ist ein solcher Angriff wirklich notwendig, rechtlich abgesichert und moralisch wie politisch sinnvoll? Wie steht es um die Risikoabwägung für zivile Opfer? Und gibt es eine Chance, das kleine Mädchen aus dem Gefahrenradius rauszuholen? Regisseur Gavin Hood inszeniert um diese Fragen einen ebenso spannenden wie klugen Polit-Thriller, der mittels seiner facettenreichen Betrachtung der militärischen Organisation und der politischen Entscheidungsprozesse rund um den Einsatz der Drohne eine bestechende Analyse dieser Kriegstechnik liefert. Dabei spart der Film nicht mit Seitenhieben auf Politiker, die sich mehr Gedanken darüber machen, wie eine militärische Aktion von den Medien aufgenommen wird, als über die Aktion und ihre Implikationen selbst, und die hartnäckig versuchen, Verantwortung von sich zu weisen und an andere Stellen zu delegieren. Mehr als um die Schwächen einzelner Personen und ihrer Entscheidungen geht es dem Film aber ums Prinzip des Drohneneinsatzes. Das Fazit ist kritisch: Den Menschen stehen damit technische Möglichkeiten zur Verfügung, denen sie moralisch nicht wirklich gewachsen sind. Dass die damit einhergehenden Dilemmata einEYE IN THE SKY drücklich vermittelt Großbritannien 2015 werden, ist unter Regie: Gavin Hood anderem den großDarsteller: Helen Mirren, artigen Darstellern Aaron Paul, Alan Rickman, zu verdanken, die Barkhad Abdi, Iain Glen aus dem Politthriller Länge: 102 Min. ein veritables PsyFSK: ab 16 chodrama machen. Anbieter: Universum – Sehenswert ab 16. Felicitas Kleiner

FD-Kritik: 44 193

Fotos S. 52-55: Jeweilige Anbieter

KRITIKEN AUf dvd/BlU-RAy


KRITIKEN fernseh-Tipps

SA

SAMSTAG 1. Oktober

20.15-22.15 Servus TV Before Midnight R: Richard Linklater Abschluss der redefreudigen Trilogie USA/Griechenland 2013 Ab 14

23.50-02.25 rbb Fernsehen Die Blechtrommel R: Volker Schlöndorff Opulente Romanadaption Deutschland/Frankreich 1978 Ab 16

20.15-22.25 VOX Contagion R: Steven Soderbergh Distanzierter Epidemie-Thriller USA 2011 Ab 14

00.00-03.00 WDR Fernsehen Kurz und gut Kurzfilme der Kölner Filmhochschulen

20.15-22.05 zdf_neo Achterbahn R: James Goldstone Psychopath erpresst Vergnügungsparks USA 1976 Ab 14 22.15-00.00 Gegen die Zeit R: John Badham Thriller in Echtzeit USA 1995

Servus TV

Ab 14

23.30-01.35 BR FERNSEHEN Das Leben der Anderen R: Florian Henckel von Donnersmarck Drama über DDR-Unrechtsystem Deutschland 2005 Sehenswert ab 14

00.02-01.25 zdf_neo Eden Lake R: James Watkins Jugendliche terrorisieren Urlauberpaar Großbritannien 2008 00.50-02.20 arte Schuld sind immer die Anderen R: Lars-Gunnar Lotz Nuanciertes Täter-Opfer-Drama Deutschland 2012 Sehenswert ab 14 02.40-04.25 3sat Vergiss mein nicht! R: Michel Gondry Aberwitzige Liebeskomödie USA 2004 Sehenswert ab 14

ERSTAUSSTRAHLUNG: 1. Oktober, 20.15-22.25

1./8. Oktober

zdf_neo

neoHorror zdf_neo setzt seine Reihe mit Horrorfilmen von den 1970er-Jahren bis in die Gegenwart mit interessanten Werken fort. Sehenswert ist beispielsweise der verstörende Horrorthriller „Eden Lake“, in dem Michael Fassbender und Kelly Reilly als Paar auf unangenehme Weise bei einem Ausflug in die Wildnis mit einer Gruppe Jugendlicher aneinander geraten (gekürzte Fassung). 1.10., 22.05-00.02 1.10., 00.02-01.25 1.10., 01.25-02.40 8.10., 22.00-23.40 8.10., 23.40-01.20 8.10., 01.20-03.00

Der Exorzismus von Emily Rose Eden Lake Blackout (2008) Misery Arachnophobia Dracula (1979)

VOX

Contagion & Containment Ein Seuchen-Thriller von Regisseur Steven Soderbergh, der weniger auf Schreckund Spannungsmomente setzt, sondern sich um eine realitätsnahe Ausmalung davon bemüht, wie Menschen und Institutionen auf eine globale Virus-Epidemie reagieren. Attraktiv besetzt (u.a. Jude Law, Matt Damon, Marion Cotillard, Ethan Hawke und Kate Winslet), aber kühl und distanziert erzählt, schockiert der Film weniger durch Körperhorror als durch die Glaubwürdigkeit und wissenschaftliche Akkuratesse des geschilderten Szenarios. Mehr Seuchenthriller gibt es ab 5. 10: ProSieben strahlt die US-Serie „Containment“ (20.15-22.15) aus, in der es ebenfalls um eine Panepidemie und das (Über-)Leben in einer nahe in Atlanta eingerichteten Quarantäne-Zone geht.

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1. Oktober, 23.30-01.35

BR FERNSEHEN

Das Leben der Anderen Die Bekanntheit von Florian Henckel von Donnersmarck steht im krassen Gegensatz zu seinem schmalen Œuvre. Abgesehen von einigen Kurzfilmen und seinem mäßig erfolgreichen Hollywood-Ausflug mit „The Tourist“ gründet sein Ruf als Regisseur noch immer einzig auf seinem Kinodebüt „Das Leben der Anderen“. Das kann allerdings auch noch zehn Jahre nach seiner Entstehung als Maß aller Dinge gelten, was die kompromisslose Abrechnung mit dem Unrechtssystem der DDR angeht. An dieses intensiv inszenierte Drama mit Ulrich Mühe als zunächst linientreuen, dann aber an Politik und Methoden des Staates immer mehr zweifelnden Stasi-Mitarbeiters scheint Henckel von Donnersmarck auch mit seinem dritten Film „Werk ohne Autor“ anzuschließen. Darin leidet ein Künstler an seinen Kindheitserinnerungen im NS- und später im SED-Regime. Das Drama mit Tom Schilling, Sebastian Koch und Paula Beer soll 2017 in die Kinos kommen.


S0

SONNTAG 2. Oktober

13.40-15.15 SWR Fernsehen Heidelberger Romanze R: Paul Verhoeven Nostalgische Huldigung an Alt-Heidelberg Deutschland 1951 Ab 14 14.55-16.30 ZDF Während du schliefst… R: Jon Turteltaub Liebesromanze mit Sandra Bullock USA 1995 Ab 14 15.15-16.55 3sat Die Fastnachtsbeichte R: William Dieterle Unterhaltsame Zuckmayer-Adaption Deutschland 1960 Ab 14 16.55-18.30 3sat Rosen für den Staatsanwalt R: Wolfgang Staudte Spannendes Nachkriegsdrama Deutschland 1959 Ab 16 20.15-22.05 ProSieben The Lego Movie R: Phil Lord, Christopher Miller Subversive Heldengeschichte USA/Australien 2014 Ab 8 20.15-21.55 arte Die Herzogin R: Saul Dibb Adlige begehrt gegen lieblose Ehe auf Großbritannien 2008 Ab 14

Ab 2. Oktober

22.05-01.00 ProSieben The Dark Knight R: Christopher Nolan Batman vs. Joker USA 2008 Sehenswert ab 16 (+ Mo, 3.10., 22.55-01.35: Batman Begins) 22.30-00.05 3sat Whisky mit Wodka R: Andreas Dresen Melancholische Tragikomödie im Filmmilieu Deutschland 2009 Ab 12 23.35-01.08 Das Erste Westen R: Christian Schwochow DDR-Ausreisende erlebt Neuanfang in BRD Deutschland 2013 Ab 16 00.05-01.25 3sat Zur Sache, Schätzchen R: May Spils Zeitgeistige Filmkomödie mit Uschi Glas Deutschland 1967 Ab 16 00.35-02.20 NDR fernsehen Psycho R: Alfred Hitchcock Beklemmender Thriller-Klassiker USA 1960 Sehenswert ab 16

3sat/mdr/hr fernsehen/ZDF/BR FERNSEHEN/Das Erste

ERSTAUSSTRAHLUNG: 2. Oktober, 20.15-22.05

ProSieben

The Lego Movie „Hier ist alles super!“, tönt es tagaus, tagein aus allen Lautsprechern; die Hymne einer bunten Welt aus Plastiksteinen, die über alle Medien auf gute Laune getrimmt wird. Für den Zuschauer sieht das verdächtig nach Gleichschaltung oder Gehirnwäsche aus, doch die Hauptfigur des Films fühlt sich in ihrer Lego-Existenz zunächst pudelwohl. Der Bauarbeiter Emmet mag, was alle mögen, tut, was ihm vorgegeben wird, und zweifelt nie an der Weisheit des Herrschers Lord Business. Zumindest bis er eine hübsche Außenseiterin mit Punkfrisur trifft, die ihn als vermeintlichen „Auserwählten“ mit in den Widerstand gegen das System zieht. Aus dieser Ausgangslage entwickelt sich einer der fantasievollsten Animationsfilme der letzten Jahre. Neben der einfallsreich variierten klassischen Heldengeschichte bietet er in seiner Stop-Motion-Technik eine Hommage an die Werke der Brickfilm-Szene und zeugt von umfassender Kenntnis des Lego-Universums. Dabei ist der Film des Regie-Duos Phil Lord und Christopher Miller („Wolkig mit Aussicht auf Fleischbällchen“) alles andere als ein Werbefilm. Im Gegenteil: Der dänische Spielzeughersteller muss sich einiges an subversiver Kritik für seine Geschäftspolitik gefallen lassen, der kindlichen Kreativität durch Anleitungen Grenzen zu setzen.

2. Oktober, 20.15-21.55

arte

Die Herzogin Kostümdrama um die Herzogin von Devonshire. Die Adelige begehrt im 18. Jahrhundert gegen die Lieblosigkeit ihres Ehemanns auf, avanciert zum Mittelpunkt des Londoner Gesellschaftslebens, engagiert sich politisch für die Liberalen und beginnt eine Liebesaffäre mit einem Parteifreund. Das Porträt einer historischen Figur, die die Konventionen ihrer Zeit herausfordert, glänzt mit prachtvoller Ausstattung, überzeugender Filmmusik und Keira Knightley als charismatischer Hauptdarstellerin. Auch wenn den ehelichen Gefechten weit mehr Gewicht als den politisch-intellektuellen Dimensionen der Protagonistin eingeräumt wird, bleibt ihre Auflehnung gegen den Sexismus ihrer Zeit inszenatorisch eindrucksvoll.

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

Deutsche Filmklassiker Es ist recht ergiebig, wenn die Filmredaktionen der einzelnen Sender zum Tag der deutschen Einheit nicht nur Wendefilme programmieren, sondern an den Reichtum und die Vielfalt des deutsch-deutschen Filmschaffens erinnern. Eine in den 1960er-Jahren „freche“ Komödie wie „Zur Sache, Schätzchen“ (2.10., 00.05, 3sat) von May Spils, die ans Lebensgefühl einer von Klischees überkleisterten Epoche erinnert, stößt so beispielsweise auf Wolfgang Staudtes „Rosen für den Staatsanwalt“ (2.10., 16.55, 3sat) über eine Zeit, in der sich Obrigkeitsgeist, NSIdeologie und Neuanfang noch bedrohlich überlagerten, „Loriots Ödipussi“ (3.10., 20.15, BR FERNSEHEN) trifft auf „Horst Schlämmer – Isch kandidiere“ (3.10., 21.45, 3sat), Petzolds Nachtmahr „Yella“ (3.10., 00.50, ZDF) findet in „Westen“ (3.10., 23.35, Das Erste) von Christian Schwochow seinen Widerhall. Auf diese Weise wandelt sich das „Nullmedium“ für ein paar Stunden zur ambitionierten Mediathek.

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