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Kind

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cinepä in Kölnnz ilm

diEnst Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 10. Oktober 2013

21|2013 Musik kann Räume öffnen

anJa LeChner

Die ceLListin Baut BrÜcKen Zwischen Den KuLturen

Deutsche Literaturverfilmungen gehen...

auF SiCherheit Deutsche KinoFiLme KÖnnten sich Bei Der Literatur einiges aBschauen. LeiDer tun sie Das nicht.

Catherine

Deneuve Zu schön um wahr zu sein: Die französische Film-Diva ist eine perfekte Kino-Ikone

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alle Filme im tv vom 12.10. bis 25.10. Das extraheft

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Akteure 19

MAgischE MOMEntE Für „Moderne Zeiten“ schlüpfte Charles Chaplin noch einmal in die Rolle des Tramps und nahm die Tyrannei der Maschinen aufs Korn. Von Rainer Gansera

Der eiskalte Engel 22.10. arte 33 Szenen aus dem Leben 24.10. 3sat

Andreas Steinhöfels „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ wird gerade verfilmt und soll im Juni 2014 in die Kinos kommen.

Musik, diE räuME öffnEt

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Zu schön uM WAhr Zu sEin Unnahbar und sexuell abgründig waren viele der über 100 Rollen, die Catherine Deneuve im Laufe ihrer Karriere spielte. Ein Porträt zum 70. Geburtstag einer Kino-Ikone. Von Esther Buss + die wichtigsten Filme der Deneuve

„As Time Goes By“: Beim „Casablanca“-Klassiker zeigt die Cellistin Anja Lechner, wie fantastisch die tiefen Töne ihres Cellos auf der Klaviatur unserer Emotionen spielen. Ein Gespräch. Von Horst Peter Koll + Anja Lechner auf CDs und DVD

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kinO dEr dEnkfAuLhEit In Deutschland können die Literaturverfilmungen nicht mit dem aufregenden deutschsprachigen Literaturschaffen mithalten. Ein Streifzug. Von Ulrich Kriest + Literatur-Tipps

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kindErkinO bEi cinEPänZ Seit über 10 Jahren ist das Kölner Kinderfilmfestival „Cinepänz“ ein Vorreiter in Sachen Medienkompetenz, der nun auch hörgeschädigte Kinder einbezieht. Von Reinhard Kleber + DVD-Tipp „Der König und der Vogel“ + neue Kinderfilme in TV und Kino

Die Cellistin Anja Lechner und ihr meisterlich beherrschtes Instrument, mit dem sie in fremde Klangwelten entführt

neue Filme auf dVd/Blu-ray 4

S. 48

Fotos: StudioCanal (Cover). S. 4/5: ECM Records; farbfilm verleih; Arthaus; DEAG Music; Koch Media; Böller und Brot; fugu; Sony

the Social Network 13.10. ProSieben

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Kino

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„Der König und der Vogel“ in der Langversion von 1979 erscheint erstmals auf DVD

neue Filme + ALLE stArttErMinE

Film-Kunst

43 00 Schneider - im Wendekreis der Eidechse [10.10.] 45 alfie, der kleine Werwolf [17.10.] 44 alles eine Frage der Zeit [17.10.] 36 art/Violence [17.10.] 44 auf den zweiten Blick [10.10.] 44 austenland [17.10.] 36 Der Butler [10.10.]

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mit entlarvendem gestus schreiten sie moralische grenzlinien unserer gesellschaft ab: die bitterböse satire „Finsterworld“ und der selbstjustiz-thriller „prisoners“. Körperliche grenzen werden mutig in der Doku „mein weg nach olympia“ überschritten.

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s. finstErWOrLd

LEsEtiPPs Eine neue (Auto-)Biografie macht eine Begegnung mit dem Filmrebell Haro Senft möglich. „Die Künste des Kinos“ analysiert philosophisch die Verwandlungsstrategien des Mediums. + Weitere Literatur-Tipps

kinotipp der katholischen Filmkritik

s. 39 Aus dEM LEbEn EinEs schrOttsAMMLErs [10.10.] Drama von Danis Tanović

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Deutschlands wilde Vögel [10.10.] Drecksau [17.10.] Einzelkämpfer [10.10.] Finsterworld [17.10.] insidious: Chapter 2 [17.10.] interior. Leather Bar. [17.10.] Keinohrhase und Zweiohrküken [26.9.] Mein erster Berg [10.10.] Mein Weg nach Olympia [17.10.] Mo & Friese unterwegs [10.10.] Naked Opera [10.10.] One Direction: this is us [12.9.] One track Heart [26.9.] Prisoners [10.10.] Sein letztes Rennen [10.10.] Slow Food Story [10.10.] Spieltrieb [10.10.] Stein der Geduld [10.10.] trüffeljagd im 5Seenland [17.10.] unter dem Regenbogen [17.10.]

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s. PrisOnErs

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s. MEin WEg nAch OLYMPiA

rubrikEn Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Music in thE Air Der sechste Teil unserer Serie „Musik liegt in der Luft. Der Deutsche Musikfilm von 1929—1960“ porträtiert die Schwierigkeiten, auf die deutsche Filmemigranten mit dem Erfolgsrezept der Tonfilmoperette in Hollywood stießen. Von Helmut G. Asper

Kritiken und Anregungen?

hitlers schergen in Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über ein Buch, das die Rolle der Studios während des Zweiten Weltkriegs kritisch beleuchtet (S. 27).

hollywood

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„Es gibt Musik, bEi dEr s

e i n e B e g e g n u n g m i t d e r Ce In Billy Wilders Romanze „Ariane – Liebe am Nachmittag“ (1957) trägt Audrey Hepburn als verliebte Cello-Schülerin ihr Instrument immer wieder durch die Hotelflure eines Pariser Hotels, ohne dass es je zum Einsatz käme. Was schade ist: Kaum ein Musikinstrument ist faszinierender als das Cello, besitzt es doch eine frappante Nähe zur menschlichen Gesangsstimme. Anja Lechner erzählt auf ihrem Instrument die unglaublichsten Geschichten: Sie entführt in fremde Klangkulturen zwischen Klassik, Tango und Jazz, öffnet Fenster und Türen. Nun spielte sie für einen neuen Bildband über Ingrid Bergman einen Klassiker ein: „As Time Goes By“ aus „Casablanca“ (1942) als sinnliches Zwiegespräch zwischen Cello und Klavier. Das Gespräch führte Horst Peter Koll

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Anja lechner

akteure

r sich räuME öffnEn“ Cellistin AnjA leChner Sie bewegen sich weltweit in unterschiedlichsten Kulturen. Hollywood spielte bislang aber noch keine Rolle in ihrer Musik. Wie kam es zur Einspielung von „as time Goes By“? Lechner: Der Verleger Lothar Schirmer hat mich angeschrieben und mich gefragt, ob ich eine eigene Version von „As Time Goes By“ einspielen würde – und zwar allein. Davon habe ich abgeraten, weil das Cello dafür einfach nicht ausreicht: Gerade bei diesem Stück sind die Harmonien unglaublich reich. Ich wusste, dass ich das nur zusammen mit dem französischen Pianisten François Couturier einspielen wollte.

und Sie haben dabei nicht gezuckt? Lechner: Nein. Ich wusste, dass wir uns vom Original lösen mussten. Ich bin eine klassische Musikerin, die zwar improvisiert, aber nicht im Sinne einer Jazzmusikerin; wir wollten also unsere eigene Version finden. François Couturier hat die Harmonien etwas schlanker gestaltet als im Original, wir haben viel probiert, um unsere am Gesang orientierte Linie zu finden. Wie immer die Gestaltung geworden ist, habe ich dabei nie in Kategorien gedacht, schon gar nicht an „Hollywood“. Die Musik, die ich spiele, sollte unbedingt etwas mit mir zu tun haben. „Casablanca“ war für mich immer ein sehr wichtiger Film und besonders die Stimme von Ingrid Bergman, die Ruhe, mit der sie spricht. Der Song ist ganz wesentlich für diesen Film, und deshalb habe ich mich auch sehr über diese Aufgabe gefreut. Gibt es bei ihnen ein ähnlich grundsätzliches interesse an der hiesigen Filmmusik? Sie haben ja mit annette Focks bei „Poll“ zusammengearbeitet.

You must remember this A kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh. The fundamental things apply As time goes by. (…) It’s still the same old story A fight for love and glory A case of do or die. The world will always welcome lovers As time goes by. © 1931 Warner Bros. Music Corporation

Lechner: Mir gefällt, was Annette Focks komponiert, ich denke aber auch hier nie daran, dass sie für den deutschen Film schreibt. Ich mag einfach ihre Musik. Wir arbeiten sehr gerne zusammen; es entstehen höchst kreative Momente. Nachdem sie neben vielen Melodien für den Film auch ein CelloKonzert für mich komponiert hatte, entwickelte sich zwischen uns eine konstante Zusammenarbeit, und wir können inzwischen fast blind miteinander arbeiten. Sie gibt mir eine Melodie oder etwas Atmosphärisches vor, und dann kann ich damit machen, was ich will. Diese Art von Vertrauen kann aber nur entstehen, wenn man sich gegenseitig schätzt und gut kennt.

Sie hatten eine fulminante musikalische Begegnung mit „La Notte“ von Michelangelo antonioni. Lechner: Das war mit der Musik von Ketil Björnstad, die einfach „nur“ inspiriert war durch den Film. „La Notte“, entstanden als Kompositionsauftrag des Molde-Festivals in Norwegen, das dann auf CD als Konzertmitschnitt erschien. Ketil hatte uns Musikern, zusammen mit der Partitur, eine Art Skript verfasst, in der er die Szenen aus dem Film, die ihm besonders wichtig waren, zusammenfasste. Wir hatten alle sehr viel Spaß miteinander, beim Spielen auf der Bühne. Es gibt Musik, bei der sich Räume öffnen, wenn man sie hört, dann ist man wie in einem Film. Dennoch: Ketil Björnstads Hommage auf „La Notte“ erzählt filmischer als mancher explizit filmische Score und befeuert das „Kino im Kopf“. Das funktioniert ähnlich bei Dino Saluzzi, dem argentinischen Bandoneon-Künstler, mit dem Sie beruflich eng verbunden sind. auch sein Konzert mit ihnen und dem Metropole Orchester in amsterdam kippt einen Schalter: Die Musik weckt etliche filmische assoziationen, vor allem zu Bernard Herrmann, seinen dunklen tönen für „Der unsichtbare Dritte“, seiner Hymne auf tippi Hedren in „Marnie“… Lechner: Dino Saluzzi erzählt in seiner Musik immer eine Geschichte, das hat in Lateinamerika große Tradition, auch in der Literatur. Wenn Sie so wollen, könnte man diese Gabe auch als Verbindung zum Film interpretieren. Ein Filmkomponist ist er dabei allerdings nicht, sondern seine bereits bestehende Musik wurde immer wieder von verschiedenen Regisseuren verwendet. Es gibt zum Beispiel einen wunderbaren Moment in

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cD-tipps

DvD-tipp

Anja Lechner/ Peter Ludwig: Magnétique Tango FARAO Classics

Dino Saluzzi/ Anja Lechner: El Encuentro A Film for bandoneon and violoncello. Dt. 2012. Regie: Norbert Wiedmer, Enrique Ros. 52 Min. Anbieter: ECM

Rosamunde Quartett: Joseph Haydn: The Seven Words & Tigran Mansurian: String Quartets Beide ECM New Series Anja Lechner/ Vassilis Tsabropoulos: Chants, Hymns and Dances ECM New Series François Couturier: Tarkovsky Quartet & Nostalghia Beide ECM Dino Saluzzi/ Anja Lechner: El Encuentro & Ojos Negros Beide ECM

„Nouvelle Vague“ von JeanLuc Godard, wo er Musik von Dino Saluzzi einsetzt: Man kann die Tonspur dieses Films, die aus den genial verwobenen Geräuschen, Klängen, Musik und Sprache besteht, auch einfach nur hören und den Film dabei mit dem inneren Auge erleben. Auch in Pedro Almodóvars „Alles über meine Mutter“ ist Dinos Musik in wichtigen Sequenzen eingesetzt.

Fotos: ECM Records

auch almodóvar und „sein“ Komponist alberto iglesias setzen immer wieder auf die Ketil Björnstad: La Notte Stimme des Cellos, seine ECM ganz besondere klangliche Schönheit. Poll Film Score by Annette Focks Lechner: Das Cello rührt viele NORMAL Records Emotionen an, deshalb wird es immer wieder gern in der Filmmusik verwendet – manchmal auch zu oft, denn das nützt sich irgendwann ab, wird zum Klischee. Deshalb finde ich, man sollte diese Klangfarbe nur sehr sparsam einsetzen.

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Ganz anders funktioniert es im Zusammenhang mit dem tarkowski-Quartett von François Couturier, in dem Sie spielen. Lechner: Für mich sind die Filme Andrej Tarkowskis die wichtigsten überhaupt. Tarkowski ist einer meiner liebsten Regisseure – vielleicht gerade weil er wenig Musik verwendet hat, mehr mit Klängen und Geräuschen arbeitet, und seine Bilder so tief gehen, assoziativ sind. Ich habe seine Filme, besonders „Stalker“ schon so oft gesehen, und jedes Mal erlebe ich sie dabei anders und neu. François Couturier hat für unser Quartett keine Filmmusik geschrieben, sondern filmische Atmosphären aufgegriffen und dabei die wenigen Themen zitiert, die Tarkowski mit seinem Komponisten Eduard Artemjew für seine Filme ausgesucht hat – wie von Giovanni Battista Pergolesi, Johann Sebastian Bach oder natürlich auch von Artemjew selbst. Diese Fragmente hat François bearbeitet,

erweitert, verfremdet und seine ganz eigene Musik geschaffen und damit zudem eine strenge Form entwickelt, in der wir improvisieren können. Hinzu kommt die besondere Besetzung, die es meines Wissens ansonsten nicht gibt: Klavier, Akkordeon, Sopransaxofon und Cello. Aus all dem ergab sich zusätzlich eine wunderbare Zusammenarbeit mit Tarkowskis Sohn Andrej, der das Werk seines Vaters sehr liebevoll und mit großer Verantwortung betreut. So spielen wir die Musik entweder nur als Musik im Konzert oder zu Bildern, kleinen Szenen aus Tarkowkis Filmen und Fotos aus der Tarkowski-Familie, die Andrej zusammen mit François Couturier zusammengestellt hat, auf eine große Leinwand hinter uns projiziert und damit in ganz langsamen Bewegungen unserer Musik folgt. Ton und Bild verbinden sich auf scheinbar ganz natürliche Weise, und es gibt, besonders bei Szenen aus „Andrej Rubljow“ sehr ergreifende Momente. In diesem Frühjahr waren wir in Teheran und haben zweimal in der ausverkauften Oper gespielt. Das war unglaublich, es war das beste Publikum, das wir seit langem hatten: Die Gespräche nach den Konzerten mit Menschen aus dem Publikum waren sehr anregend und berührend. Die Tarkowski-Filme sind auch dort für viele Menschen sehr wichtig. Kein Wunder, dass die Filmkunst im Iran auch sehr großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung hat. Die Menschen sind dort sehr offen.

Strenge der aufnahme beiseite und bringen, fast „magisch“, Leben ins Bild. Lechner: Mit dem TarkowskiQuartett sind immer wieder solche Dinge passiert. Wir haben unser erstes Konzert in Paris durch Zufall? - in einem Raum gespielt, der uns alle sehr an das Licht und die Farben in einem Tarkowski-Film erinnerte. In Florenz, wo Tarkowski nach seiner Emigration aus Russland gelebt hat und sein Sohn heute noch lebt, spielten wir in einem wunderschönen Theater, wo während der Probe eine weiße Feder von der Decke herab segelte... Sie merken sicher schon, dass dieses Projekt für mich sehr wichtig ist. Daraus ist später auch anderes entstanden wie „Il Pergolese“ mit der Sängerin Maria Pia de Vito oder eben „As Time Goes By“.

Man muss wohl ein gewisses Vorwissen mitbringen, um in den Genuss dieses Erlebnisses zu kommen. Lechner: Wenn Sie die Musik meinen: Ja und Nein. Wenn man zu viel Wissen mitbringen muss, dann stimmt etwas nicht mit der Musik. Musik sollte immer durch sich selbst sprechen.. auf einem Foto im Booklet zur CD „Nostalghia“ bewegen Sie ihre Hand, und das Bild wird an dieser Stelle unscharf. Sie wischen die statuarische

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Demnächst Maria Pia de Vito/ François Couturier/ Anja Lechner/ Michele Rabbia: Il Pergolese ECM (Oktober 2013)

Anja lechner

immer wieder stoßen Sie wie viele andere Komponisten bei ihren Begegnungen mit dieser Zeit, Dmitri Schostakofremden Kulturen auf den witsch, Alfred Schnittke, Anja Lechner/Patricia Film. So auch bei ihrer ZuWalentin Sylwestrow oder Gija Kopatchinskaja/ sammenarbeit mit tigran Kantscheli. Seine bekannteste Amsterdam Mansurjan, dem Meister der ist die zu Sergej Paradshanows Sinfonietta: armenischen Musik. „Die Farbe des Granatapfels“ Kompositionen von Lechner: Tigran Mansurjan – in der die Musik, wie bei vieTigran Mansurjan Doppelkonzert für ist nach Aram Khatschatulen wirklich guten Filmen, nur Geige und Cello, u.a. rian der wichtigste Komposehr sparsam eingesetzt wird. „Quasi Parlando“ für nist Armeniens. Er hat übriMan sollte sich aber unbedingt Cello und Orchester, gens besonders viel für des Unterschieds bewusst geschrieben für Anja Violoncello komponiert. Er sein, ob ein Komponist sich Lechner. ECM New Series (Januar 2014) war viele Jahre Direktor ganz der Filmmusik widmet und Professor für Komposioder aus existenziellen Grüntion am Konservatorium in den in der Lage ist, auch wunEriwan. Im Gegensatz zu vielen anderen derbare Filmmusik zu schreiben. Auch Komponisten aus der ehemaligen Federico Fellini konnte der Stille genüSowjetunion hat er seine Heimat nie gend Raum geben, ohne die lebensverlassen, obwohl er große Schwieriglange Zusammenarbeit mit seinem keiten hatte. Um überleben zu können, Komponisten Nino Rota aber wäre wohl hat Mansurjan Filmmusik komponiert, nicht das entstanden, was wir heute

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noch immer so an seinen Filmen schätzen. Die Trompetenklänge von Nino Rota habe ich immer besonders geliebt! In meiner Jugend habe ich mit großer Begeisterung seine wunderbaren Melodien zusammen mit dem Pianisten Peter Ludwig gespielt. Von Gija Kantschelis frühen Filmmusiken gibt es übrigens eine wunderbare neue Einspielung bei ECM mit Gidon Kremer, Dino Saluzzi und dem Vibrafonisten Andrej Pushkarev. Mit allem, was Sie erzählen, bestärken Sie meinen Eindruck, dass Sie Brücken bauen: als Bindeglied mit eigenem Sinn und eigener Sinnlichkeit, das zwischen Welten und Kulturen, Menschen und künstlerischen ausdrucksformen vermittelt. Lechner: Mir gefällt das Bild der Brücke oder besser, ein Brückenglied zu sein – die Dinge miteinander zu verbinden oder selbst über diese Brücke in neue Gefilde vordringen zu können. Wenn Menschen in Kontakt kommen, dann ist es halt oft so, dass der eine etwas besser kann als der andere und umgekehrt. Wenn man aber die unterschiedlichen Fähigkeiten miteinander verbindet, kann man voneinander lernen. Nur durch die Wahrnehmung des Gegen-übers, durch das Zuhören, kann etwas Größeres entstehen. Das ist im Grunde ganz einfach und treibt meine Neugier auf Unbekanntes immer wieder neu an.

ingriD Bergman „As Time Goes By“ in der Fassung von Anja Lechner und François Couturier liegt auf CD dem Bildband „Ingrid Bergman - Ein Leben in Bildern“ bei. Die autorisierte visuelle Biografie von Lothar Schirmer entstand in Zusammenarbeit mit Isabella Rossellini; Liv Ullmann schrieb die Einleitung, weitere Texte stammen u.a. von Cornell Capa, John Updike und Robert Rossellini. Die Fotografien zeigen Ingrid Bergman sowohl privat als auch als schillernde Film-Ikone, in Szene gesetzt u.a. von Cecil Beaton, Irving Penn und Horst P. Horst. (Schirmer/Mosel Verlag, München 2013, 528 S., 385 Abb., 98,00 EUR.)

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finsterworld [17.10.]

im angela-merkel-Land Tragikomödie voller parodistischer Energie

Selten war der Titel eines Films so programmatisch wie bei diesem Spielfilmdebüt, eine Mixtur aus dem Nachnamen der Dokumentarfilmregisseurin Frauke Finsterwalder und dem Roman „Faserland“ ihres Ehemannes Christian Kracht. Sein Generationsporträt aus dem Jahr 1995 las sich seinerzeit als eine Deutschlandvermessung der befreiend desillusionierten Art. Geschrieben aus der Sicht eines sozial privilegierten TwentysomethingHelden, der sowohl gegen die eigene, im exklusiven Konsum ihr Heil suchende Schicht als auch gegen die realitätsfremde Weltverbesserungsromantik der 1968erLehrergeneration mit beißend ambivalentem Spott anschrieb und ein schmerzgesättigtes Unbehagen an der postmodernen Gegenwart einfing. Umso erstaunlicher ist es, dass seine unverwechselbare Sicht auf die um Sinnfragen ringende deutsche Wohlstandsgesellschaft auch knapp 20 Jahre später immer noch funktioniert und

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mit nadelstichpräzisen Beobachtungen aufzuwarten vermag. Die Kamera taucht das Angela-Merkel-Land in die lichtgewärmten Farben eines Heile-Welt-Werbeclips, während die Figuren hinter ihrer Fassade in tiefer Traurigkeit zu versinken scheinen. Die Ingredienzen dieser mit einem Song von Cat Stevens und Bildern vom deutschen Wald eingeführten HeimatSatire stammen aus Krachts eigenwilligem ProvokationsBaukasten, allen voran die Konstellation um die Eliteinternat-Schüler, die von ihrem links angehauchten Lehrer zur Konfrontation in ein ehemaliges KZ gezerrt werden. Die verordnete Moral-Lektion quittieren die verzogenen Leistungsträgerkinder mit zynischen „krass“-Kommentaren und pietätlosen Späßchen, indem sie eine schlagkräftig Paroli bietende Mitschülerin (Carla Juri) in einen Verbrennungsofen sperren und die Tat dem Lehrer in die Schuhe schieben. Weitere Mitspieler in dem

zwischenmenschlichen Gruselkabinett sind ein exzentrischer Fußpfleger, der einer vernachlässigten Seniorin (Margit Carstensen) zu Diensten ist, deren treuloser Sohn samt seiner nörgelnden Ehefrau als selbstbesoffenes Autisten-Paar; überdies ein Mitschüler ihres bis zur Karikatur germanisch-sadistisch auftretenden Filius, der von der Klassenfahrt aus Liebeskummer desertiert und, wie es der Zufall eines abenteuerlich gestrickten Episodenfilms so will, von einem Eremiten erschossen wird. Zu guter Letzt ein ungleiches Pärchen, eine selbstzentrierte, verbissen mit den Scope. Deutschland 2013 regie: Frauke Finsterwalder Buch: Christian Kracht, Frauke Finsterwalder Kamera: Markus Förderer musik: Michaela Melián schnitt: Andreas Menn Darsteller: Johannes Krisch (Einsiedler), Sandra Hüller (Franziska Feldenhoven), Ronald Zehrfeld (Tom), Corinna Harfouch, Bernhard Schütz, Christoph Bach, Carla Juri Länge: 95 Min. | FsK: ab 12; f v: Alamode | FD-Kritik: 41 948 Handwerk InHalt darsteller

Tücken ihres Berufs hadernde Dokumentarfilmerin, und ein im Privaten unterforderter, zur bizarren Travestie neigender Polizist. Allein schon diese schonungslos auf den Spuren von Woody Allen austeilenden Kampfszenen zwischen Sandra Hüller und Ronald Zehrfeld sind des Hinkniens wert. Doch nicht alles glänzt in diesem tragikomischen Reigen über Liebesentzug und seine abgründig-fatalen Konsequenzen. Mancher Abstecher in die Toiletten-Philosophien heranwachsender „High Potentials“ ermüdet ebenso wie die allzu selbstläuferischen Witze auf Kosten irrwitziger Heimatlieder. Der einen oder anderen Ekelepisode hätte man finsterere Akzente gewünscht. Die bittere Pille kommt gelegentlich zu geschmacksneutral daher. Hinter dem grotesken Selbstschutz einer tiefliegenden Tristesse könnte es mehr schmerzen. Doch dank der vorbildlich ausgewählten Schauspieler, von der grandios zynisch verhärteten Corinna Harfouch bis zum stumm-intensiv aufspielenden Johannes Krisch ist trotzdem ein Stück großes Diagnose-Kino entstanden, das vor der Benennung deutscher Eigenheiten nicht zurückschreckt und sich dabei an so etwas wie schwarzem Humor Made in Germany versucht. Eine toxisch anziehende Erstlingsperle, die bei diesem sich fruchtbar ergänzenden Gespann auf Großes hoffen lässt. Alexandra Wach Bewertung Der FiLmKommission Eine satirisch-episodenhafte Tragikomödie um eine Handvoll zynisch-eitler Zeitgenossen, deren Treiben sich zum Zerrbild der deutschen Wohlstandsgesellschaft verdichtet. Der mit großer parodistischer Energie und Freude an doppelbödigen Dialogen inszenierte Reigen wirkt zwar dramaturgisch bisweilen etwas bemüht, durch seine nadelstichpräzisen Beobachtungen und den Mut beim Benennen nationaler Eigenheiten entfaltet er aber dennoch eine große diagnostische Kraft. Ein wohltuend „anstößiger“, glänzend besetzter Debütfilm, der sich an einem schwarzen Humor „Made in Germany“ versucht und Heimatsatire wie Kuriositätenkabinett gleichermaßen bedient. – Sehenswert ab 16.

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im Kino spieltrieB [10.10.]

ada, alev und das verlangen

Kühl kontrolliert, aber überfrachtet: die Adaption des Romans von Juli Zeh Ada ist 15 Jahre alt, hochbegabt, klug und gebildet. Zwei Klassen hat sie auf dem Privatgymnasium schon übersprungen. Bei ihren Mitschülern ist sie deshalb als Streberin verschrien. Um ihre Position als unbeliebte Außenseiterin zu rechtfertigen, hat sie beschlossen, die anderen doof und langweilig zu finden. Bis Alev in ihre Klasse kommt. Der neue Mitschüler ist attraktiv, mit Anzug und Schlips überaus adrett gekleidet, charmant und intelligent, aber auch und ihre moralische Integrität kühl, selbstbewusst und nicht verlieren will. arrogant. Nicht einmal vor Außenseitertum und Einden Lehrern hat er Respekt. samkeit, Adoleszenz und Ada fühlt sich schnell zu dem Gruppendynamik, Abhäncharismatischen, geheimnisgigkeit und Obsession, voll wirkenden Sohn aus reiMoral und Mitgefühl, Manichem Hause hingezogen. pulation als Machtspiel und Körperlich, aber auch geistig. Sex als Waffe: Schon der Und dann erläutert Alev ihr Roman von Juli Zeh war – seine Theorie des Spieltriebs, neben seiner Handlungsfülle dass man Menschen wie – voller Themen, Einflüsse Marionetten steuern und Bewertung Der manipulieren kann. Als FiLmKommission erstes Opfer hat er den Eine hochbegabte, aber unbeSportlehrer Smutek auserkoliebte Gymnasiastin gerät in den ren, der in seiner GutmütigBann eines charismatischen Mitkeit, aber auch in seiner schülers, der Menschen wie Unbeholfenheit im Umgang Marionetten zu steuern und zu mit den Schülern für die manipulieren versucht. Eine mit Intrige ideal zu passen Themen und Anspielungen scheint. Instinktiv hat Alev überfrachtete Adaption des nämlich erkannt, dass sich gleichnamigen Romans von Juli Smutek ein wenig zu sehr um Zeh. Der formal kühle, perfekt Ada und ihren schulischen kontrollierte Film unterstreicht Erfolg kümmert. Plötzlich mit einer prägnanten Tonspur entspinnt sich ein Kampf um und handwerklich tollen WechSex, Erpressung, Macht und seln der Erzählgeschwindigkeit Begehren, in dem Alev allein die Verwirrung der Figuren, verdie Fäden in der Hand hält. hebt sich dabei bisweilen aber Ada muss sich wehren, wenn auch. – Ab 16. sie die Kontrolle über sich

und Metaphern. Die Querverstrebungen reichen von Musils „Mann ohne Eigenschaften“ über Nabokovs „Ada oder Das Verlangen“ und Dostojewskijs „Schuld und Sühne“ bis zu Goethes „Faust“. Der Pakt, den Ada und Alev schließen, ist mit „mephistophelisch“ treffend umschrieben. Komprimiert auf Spielfilmlänge, wirkt dieser Themenund Anspielungsreichtum allerdings überfrachtet und konstruiert. Regisseur Gregor Schnitzler lehnt sich sogar explizit an Nietzsche und Heraklit an; der Film endet in aller Überdeutlichkeit im griechischen Delphi, wo ein Fremdenführer das Orakel und das Problem der Erkenntnis erklärt. In dieser Scope. Deutschland 2012

neue Filme Vehemenz und Fülle ist „Spieltrieb“ geradezu akademisch, weil man es hier eher mit philosophischen Ideen als mit Menschen zu tun hat. Da nimmt es nicht wunder, dass die Teenager altklug daherreden. Die Fähigkeit und Intelligenz zur Intrige aber glaubt man ihnen nicht so recht; insbesondere Jannik Schümann ist mit der Rolle des dämonischen Verführers überfordert. Nur arrogant zu grinsen und sich auf das Aussehen zu verlassen, ist für die Interpretation dieser vielschichtigen Rolle zu wenig. Die interessanteste Figur ist deshalb der von Richy Müller verkörperte Geschichtslehrer, der sich durch seine körperliche Versehrtheit dem Machtspiel entzieht und somit als einzige moralische Instanz fungiert. Über 60 Video- und Werbeclips hat Schnitzler bislang inszeniert; und auch in „Spieltrieb“ bleibt seine Bildsprache betont kühl und kontrolliert, mit einer prägnanten Tonspur und handwerklich perfekten Wechseln der Erzählgeschwindigkeit, um die Düsterkeit des Films und die Verwirrung seiner Figuren zu unterstützen. Nicht immer geht das gut, einige Szenen, etwa Adas erster Sex, sind einfach unerträglich oder, wie Alevs Impotenz, pure Behauptung. Aber vielleicht ist auch das Teil des Spiels. Und somit kalkuliert. Michael Ranze

Buch: Kathrin Richter, J. Schlagenhof

Darsteller: Michelle Barthel (Ada), Jannik Schümann (Alev), Maximilian Brückner (Szymon Smutek), Richy Müller (Höfi), Ulrike Folkerts

Kamera: Andreas Berger

Länge: 102 Min. | FsK: ab 12; f

regie: Gregor Schnitzler

musik: Gerd Baumann Handwerk

verleih: Concorde | FD-Kritik: 41 949 InHalt

darsteller

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