FIlM DIenST Das Magazin für Kino und Filmkultur
21 2016
www.filmdienst.de
ANDREA ARNOLD
Wie mitreißend und kraftvoll das Kino der britischen Regisseurin ist, beweist auch ihr aktueller Film »American Honey«: Ein weiteres Highlight in ihrem bislang noch schmalen Werk.
SVEN TADDICKEN
»Glück bedeutet, dass keine Wünsche mehr offen sind«, formuliert der deutsche Filmemacher im Gespräch. Für seinen aktuellen Film »Gleißendes Glück« konnte er sich auf die Stars Martina Gedeck und Ulrich Tukur verlassen.
WILHELM HAUFF
Seine Märchen gehören zum festen Repertoire der deutschen Romantik. Nun wurde »Das kalte Herz« neu verfilmt: als visuell betörendes Drama mit durchaus gesellschaftspolitischer Brisanz.
Dani 13. oktober 2016 € 5,50 69. Jahrgang
E Y v l
Regisseur Dani Levy schickt in »Die Welt der Wunderlichs« seine Figuren einmal mehr auf die Achterbahn des Lebens. Ein Blick auf seine Haken schlagenden Komödien und ihre Helden: liebenswerte Einzelkämpfer im Kampf gegen den Strom alltäglicher Widrigkeiten.
FilMdieNSt 21 | 2016 DIE NEUEN KINOFILME NeU iM KiNo ALLE STARTTERMINE
51 47 36 47
Ab in den Dschungel 20.10. Affenkönig 13.10. American Honey 13.10. BErliN – Aus diesem Trallala kommst du nicht raus 13.10. Bir Baba Hindu 29.9. Bridget Jones’ Baby 20.10. Burg Schreckenstein 20.10. Der Geheimbund von Suppenstadt 20.10. Gleißendes Glück 20.10. Hinter den Wolken 20.10. Human – Die Menschheit 20.10. Im Namen meiner Tochter – Der Fall Kalinka 20.10. Inferno 13.10. Das kalte Herz 20.10. Die kleinste Armee der Welt 6.10. Köpek – Geschichten aus Istanbul 13.10. Saint Amour – Drei gute Jahrgänge 13.10. Schneider vs. Bax 20.10. Schwester Weiß 20.10. Seit die Welt Welt ist 20.10. Swiss Army Man 13.10. The Fourth Phase 3.10. Théo & Hugo 20.10. Trolls 20.10. Weiße Ritter 13.10. Welcome to Norway 13.10. Die Welt der Wunderlichs 13.10. Where is Rocky II? 20.10.
49 48 51 51 43 44 49 49 39 38 47 47 49 46 40 49 37 49 47 41 47 50 45 42
KiNotiPP
43 GLEISSENDES GLÜCK
44 HINTER DEN WOLKEN
der katholischen Filmkritik
50 WELCOME TO NORWAY 40 SCHWESTER WEISS Vielschichtige Tragikomödie um die Lebens- und Glaubenskrise einer Nonne.
FerNSeH-tiPPS 56 Das Erste präsentiert mit »Terror – Ihr Urteil« einen filmischen Versuch über ein schweres moralisches Dilemma. In der herausragenden ZDF-Komödie »Zwei verlorene Schafe« erhält ein Pfarrer Nachhilfe von einer Schauspielerin.
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42 WHERE IS ROCKY II?
46 SCHNEIDER VS. BAX
Fotos: TITEL: X-Verleih. S. 4/5: W-Film, Wild Bunch, Pandora, Pandastorm, Neue Visionen, Rapid Eye Movies, UPI, X-Verleih, absolut MEDIEN
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21 | 2016 DIE ARTIKEL iNHalt KiNo
aKteUre
FilMKUNSt
10 ANDREA ARNOLD
20 DANI LEVY
30 WILHELM HAUFF
10 ANDREA ARNOLD
Die britische Regisseurin erzählt in ihren energiegeladenen Werken von Außenseitern, Wut und Trotz. Auch in ihrem ersten amerikanischen Film »American Honey« bleibt sie ihrer Linie treu. Eine Würdigung. Von Kathrin Häger
16 »UNGEWÖHNLICHE KINOORTE« (3): BAHNHOFSKINO
Der dritte Teil der FILMDIENST-Serie führt ins Bahnhofskino im Hauptbahnhof Kassel. Als eines der letzten von einst mehr als 30 seiner Art punktet das Kino noch immer mit einer ganz besonderen Atmosphäre. Von Nils Daniel Peiler
20 DANI LEVY
Charmante Verlierer und Figuren im Dauerstress bevölkern das Œuvre des Schweizer Regisseurs. Eine Hommage an das turbulente Filmuniversum von Dani Levy. Von Andreas Öhler
23 LARS KRAUME
Von Franz Everschor
Ein Soldat steht vor Gericht, weil er ein entführtes Flugzeug abgeschossen hat, um Tausende zu retten. Lars Kraumes Fernsehfilm »Terror – Ihr Urteil« lässt die Zuschauer das Urteil fällen. Ein Gespräch über ein ungewöhnliches Filmexperiment.
28 KINDHEIT BEI TIM BURTON
Von Rainer Gansera
Von Stefan Stiletto
24 SVEN TADDICKEN
30 WILHELM HAUFF
Heile Kinderwelten sucht man im Werk des US-Regisseurs vergebens. Seine Sympathie gehört kleinen Außenseitern, deren Anderssein Burton poetisch in Szene setzt. Eine Hommage an ungewöhnliche Kinderfiguren.
Der Regisseur hat mit der Romanverfilmung »Gleißendes Glück« einen ungewöhnlichen Liebesfilm gedreht. Ein Gespräch über die Herausforderungen der Adaption und die Arbeit mit Martina Gedeck und Ulrich Tukur.
Die Märchen des deutschen Romantikers bieten dankbare Vorlagen für das Kino. Hinter dem Fantastischen scheinen moralische Denkanstöße und Gesellschaftskritik auf. Eine Reise ins Reich der Hauff-Verfilmungen.
Von Michael Ranze
Von Holger Twele
26 IN MEMORIAM
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27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD
Das traditionsreiche Paramount-Studio steht nach einer Serie von Kassenflops wie »Ben Hur« am Scheideweg. Eine Entwicklung, die angesichts der Geschäftspolitik des Studios abzusehen war.
33 SAN SEBASTIÁN
Nachrufe auf den Schauspieler Hilmar Thate, den US-Regisseur Curtis Hanson und den polnischen Filmemacher Andrzej Kondratiuk.
Beim Festival in der baskischen Stadt fiel dieses Jahr die Masse an politischen Stoffen auf. Eindrücke vom 64. Internationalen Filmfestival in San Sebastián.
Von Michael Ranze und Ralf Schenk
Von Wolfgang Hamdorf
RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD-KLASSIK DVD/BLU-RAY TV-TIPPS P.S. KOLUMNE VORSCHAU / IMPRESSUM
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KINO KINO AN UNGEWÖHNLICHEN ORTEN (III)
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KINO AN UNGEWÖHNLICHEN ORTEN (III) KINO
Nach Open-Air-Kino und dem dienstältesten Uni-Kino in Deutschland nun der Besuch in einem der letzten der hiesigen Bahnhofskinos: Unsere Reihe »Kino an ungewöhnlichen Orten« führt dieses Mal in die Bali Kinos Kassel im dortigen Hauptbahnhof. Sie sind einer von noch fünf übrig gebliebenen Standorten von einst mehr als 30 Bahnhofskinos in Deutschland. Von Nils Daniel Peiler »Bahnhofskino und Bahnhof, Züge und Fernweh, Verreisen, das hat schon Bezüge, irgendwie«, philosophiert Ben Becker in Oliver Schwehms Dokumentarfilm »Cinema Perverso« (2015). »Es sind, glaube ich, alles Orte der Sehnsucht. In dem Moment, in dem ich mich in einen dunklen Raum begebe und mir was vorspielen lasse, was nicht der momentanen tatsächlichen Realität entspricht, hat das ja auch etwas mit der Erfüllung von Träumen, Sehnsüchten und mit einer Flucht durchaus zu tun.« Im Kasseler Hauptbahnhof kann man noch heute diese Reise in eine andere Welt antreten. Die Bali Kinos Kassel sind einer von nur noch fünf übrig gebliebenen Standorten von einst einmal mehr als 30 Bahnhofskinos in Deutschland. Ein klassisches Bahnhofskinoprogramm zeigt freilich keines der fünf Verbliebenen mehr, wie »Cinema Perverso« (2015) verrät – und ein Ortsbesuch in Nordhessen bestätigt. So lässt sich das Bahnhofskino anno 2016 in seiner historischen Spiegelung nicht nur als das beschreiben, was es ist, sondern vor allem auch ex negativo als das, was es nicht mehr ist. In Kassel, wo man pünktlich zur Bundesgartenschau 1955 eröffnete, zeigte man mehr als drei Jahrzehnte lang ein klassisches Bahnhofskinoprogramm. Erst Anfang der 1980er-Jahre stellte man für ein Jahr probeweise von Sex- und Actionfilmen auf Programmkino um – was sich schon bald als unrentabel erwies, sodass man bis zur endgültigen Schließung 1985 zum alten
Programm zurückkehrte. Danach lag das Kino für einige Jahre brach. Zwischenzeitlich nutzte das Staatstheater Kassel den Saal als Probebühne, und auch der Hauptbahnhof musste erst einmal eine umfangreiche Verwandlung in einen so genannten Kulturbahnhof durchleben.1992 wurde Kassels Hauptbahnhof dann zum Regionalbahnhof, und der Fernverkehr donnerte von nun an nicht mehr ab dem zentral gelegenen Kopfbahnhof, sondern vom Durchgangsbahnhof Wilhelmshöhe. 1994 lernte der Filmtheaterleiter und Kasseler-Filmladen-Mitarbeiter Frank Thöner durch Zufall den Manager des Bereichs »Station & Service« der Deutschen Bahn kennen, und dieser zeigte sich aufgeschlossen gegenüber einer Umwidmung des einstigen Hauptbahnhofs in einen Kulturbahnhof. »Am Anfang, vor 20 Jahren, da haben die Leute gesagt: Da gehen wir nie hin«, erinnert sich Thöner. »Aber der einstige soziale Brennpunkt der Stadt hat sich vom Bahnhof auf den Friedrichsplatz verlagert.« Heute entpuppt sich Kassels Kopfbahnhof als aufwändig restrukturiertes Gelände: In einem alten Flügel des Bahnhofs sitzt der Landkreis, es gibt mehrere Galerien, Ateliers, Tagungsräume.
»AM ANFANG HABEN DIE LEUTE GESAGT: DA GEHEN WIR NIE HIN!« Auf dem Dach der Haupthalle, von dem aus man einen herrlichen Rundumblick über das gesamte Areal genießen kann, betreibt Thöner, inzwischen nicht mehr Theaterleiter, sondern Geschäftsführer und Mitinhaber, mit seinem Kino-Team »urban gardening« und lässt Tomatenpflanzen ranken. Die Bahngeräusche von den Gleisen machen sich im Kinosaal nicht bemerkbar, man muss schon genau hinhören und fühlen, um die Vibrationen der unterirdisch verlaufenden Straßenbahn zu vernehmen. In der Umgebung zum in der Haupthalle untergebrachten Kino befinden sich so ungleiche Nachbarn wie das Fraunhofer Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik und das Museum für komische Kunst Caricatura. Aus dem Foyer-Fenster des Kinos ist über den Bahnhofsvorplatz mit der markanten documenta-Skulptur »Man Walking to the Sky« (1992) von
BALI KINOS KASSEL Vom alten Bahnhofskino ist noch der Grundraum des großen, rundum erneuerten Saals geblieben, doch stehen weniger Stühle darin: Von ehemals 380 bei der Eröffnung waren es bei der Wiedereröffnung als Arthouse-Kino 1995 dann noch 272 Sitzplätze. Die historische Bühne des Saals ist noch als leichte Erhebung im Boden vorhanden, ein Zugeständnis an den Denkmalschutz. Etwas mehr blieb vom historischen Treppenaufgang aus den 1950erJahren stehen. Aus der Zeit des alten Bahnhofskinos sind auch die Werbeflächen geblieben, doch müssen die Säulen in der Bahnhofshalle nun von der Bahn als Plakatierungsmöglichkeit eigens zurückgemietet werden. Dabei wurden die wenigen Flächen einst für den NonstopBetrieb ausgelegt, nicht fürs zeitgenössische Arthouse. Neues architektonisches Schmankerl ist das kleine Bali mit einem Fensterausblick auf den Bahnhofsvorplatz: An der Stelle des alten Bahnbüros hat man in den 1990er-Jahren zur Wiedereröffnung einen zweiten kleinen Saal eingebaut, um wirtschaftlicher programmieren zu können. Vor dem Film schiebt sich hier ein Vorhang vor die Fenster, erst dann öffnet sich die Leinwand. Draußen auf dem Gang offenbart eine transparente Kabine, dass hier noch Filmvorführer arbeiten.
bali Kinos im Kulturbahnhof Kassel Rainer Dierichs Platz 1, 34117 Kassel ausstattung: Zwei Bildwände, 2k-Digitalprojektion, 35mm- und 16mm-Projektion, Surround-Anlage. Zuschauerraum: 91 Sitzplätze (Kleines Bali), 272 Sitzplätze (Großes Bali) programm: Aktuelle Arthouse-Starts, darunter viele europäische Produktionen; Festivalort für das Kasseler Dokumentarfilmund Videofest, Trickfilmarbeiten, Kinderfilmfest, Matinéen, zusätzliche Open-Air-Veranstaltungen außerhalb des Bahnhofs während der Sommermonate, spezielle Programme zur documenta; Vorführungen überwiegend in Synchronfassung. preise: Karten zwischen 5,50 und 8,00 EUR, Ermäßigungen für Kinder, Studenten, Rentner und Nahverkehrsabonnenten. www.balikinos.de
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KINO KINO AN UNGEWÖHNLICHEN ORTEN (III) Jonathan Borofsky direkt das Hotel Reiss zu erkennen, in dem einst legendäre Filmbälle stattfanden. Doch auch das ist Geschichte.
BIS 1955 ENTSTANDEN MEHR ALS 30 BAHNHOFSKINOS. Das Programm des historischen Bahnhofskinos scheint in der Zwischenzeit zunächst ins Nachtprogramm des Fernsehens, dann in die »Schmuddelecken« der Videotheken, schließlich in die Niederungen des Internets abgewandert zu sein – für marginales Kino blieb letztlich kein Publikum mehr. Daran können auch ambitionierte zeitgenössische Wiederbelebungsversuche mit Event-Charakter nichts ändern, wenn etwa das Frankfurter Unikino Pupille (vgl. FD 15/2016) einige Jahre lang regelmäßig einmal im Semester zur »One Night in Bali« lud und ein klassisches Bahnhofskinoprogramm präsentierte, das mit einer »dreckigen Trailershow« garniert wurde. »Bali« ist in diesem Zusammenhang nicht als Anspielung auf die Südseeinsel zu verstehen. Es ist die Abkürzung für die »Bahnhofslichtspiele«, wie der Filmsammler Frank Becker vom Medienarchiv Bielefeld in Oliver Schwehms Doku erläutert. »Während des Zweiten Weltkriegs sind ja die ganzen großen Bahnhöfe in Deutschland zerstört worden, und es bestand ein großer Bedarf beim Wiederaufbau. Und es gab offensichtlich einige enthusiastische Kinobetreiber, die ein neues Konzept in den Bahnhöfen verwirklichen wollten, eben das Bahnhofskino. Außerdem konnte es etwas dazu beitragen, die Kosten für den Wiederaufbau durch die Mieteinnahmen aus den Kinos zu refinanzieren.« Bis 1955 entstanden in Deutschland so mehr als 30 Bahnhofskinos, mit eigenen Ein- und Ausgängen, manchmal in eigenen Nebengebäuden untergebracht. Diese Säle hatten oft den Charme einer Wartehalle und sollten Reisenden an den großen Verkehrsknotenpunkten des Schienennetzes die Zeit zwischen ihren Zügen auf kurzweilige Weise verringern. Zur festen Ausstattung der Balis zählten extra breite Stuhlreihen und beleuchtete Uhren, die auch im Dunkeln verrieten, wann man den Saal verlassen musste, um den Zug rechtzeitig zu erreichen, sowie mitunter eine
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zweite Leinwand, über die Anzeigen für Verspätungen oder Gleisänderungen an die filmschauenden Wartenden durchgegeben wurden.
»BAHNHOFSKINO WAR EIN SERIÖSES INFORMATIONS- UND UNTERHALTUNGSMEDIUM«. Charakteristisch war auch der Dauerschleifenbetrieb, der es erlaubte, mittendrin einzusteigen und dennoch den kompletten Film sehen zu können. In der Frühphase dienten die Bahnhofskinos ganz wesentlich auch zur Information, was neben den Bezeichnungen als »Balis« auch in den Kurznamen als Aktualitätenkinos (»Akis«) oder Aktualitätenlichtspiele (»Alis«) zum Ausdruck kam. Frank Becker: »Bahnhofskino war in der Frühzeit ein Informations- und Unterhaltungsmedium mit seriösem Anstrich. Da gab es also die Wochenschauen, die über das aktuelle Geschehen in der Welt aus verschiedenen Blickwinkeln berichteten.« Dieser Informationsauftrag wandelte sich jedoch rasant. Zum festen Repertoire der Bahnhofslichtspielhäuser gehörten im Lauf der Zeit je nach Epoche Italo-Western, Krimis, Abenteuerfilme, Science-Fiction-, Gewaltund Sexfilme, Hong-Kong-Filme und nicht zuletzt die so genannten MondoFilme, die explizite Bilder von bis dato auf der Leinwand Ungesehenem zeigten: Folter, Vergewaltigungen, Hinrichtungen, Schlachtungen. Die Bali Kinos Kassel verkörpern heute in weiten Teilen das Gegenteil dessen, was man traditionell mit dem Begriff »Bahnhofskino« verbindet: Kassels Hauptbahnhof ist nun Pendlerbahnhof. Besonders zu Stoßzeiten zwischen halb acht und neun Uhr am Morgen und ab halb fünf am Nachmittag füllen sich die Bahnhofshallen, die sonst eher ruhig daliegen. »An einem Morgen marschieren hier 15.000 Pendler durch«, erzählt Thöner. Paradoxerweise kehrt in den Bali Kinos Kassel dennoch kein Laufpublikum ein, die Leute kommen gezielt ins Bali, nicht etwa am Rand einer Zugreise, sondern aufgrund der günstigen Verkehrsanbindung, die nicht nur den ÖPNV, sondern auch zahlreiche Parkplätze umfasst.
ZÜGE IM KINO: »DIE EISENBAHN ALS FILMSTAR« Ob Buster Keatons titelgebende Lokomotive in »Der General« (1926), ob Tony Curtis und Jack Lemmon mit Marilyn Monroe auf der Flucht gen Florida in Billy Wilders »Manche mögen’s heiß« (1959), ob Shinichi Chiba und Ken Utsui auf den Spuren der Katastrophe in »Panik im Tokio-Express« (1975) von Jun’ya Sato oder die ungleichen Brüder Owen Wilson, Jason Schwartzman und Adrien Brody auf ihrem sinnsuchenden Trip durch Indien in Wes Andersons »The Darjeeling Limited« (2007): Immer spielen Züge wenn nicht die Haupt-, so doch eine bedeutende, handlungstragende Rolle. Züge im Film sind ein immer wiederkehrendes, gerne genommenes Motiv (vgl. FD 11/2011). Eberhard Urbans Band bietet dazu einen bebilderten Streifzug durch prägnante Beispiele aus der Filmgeschichte. Von der »Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat« (1895) der Lumière-Brüder bis zu »Snowpiercer« (2013) von Bong Joon-Ho erstreckt sich die historische Spannweite der chronologisch angeordneten Beispiele. Urban stellt nicht nur einen knappen Handlungsabriss vor, sondern bebildert sein Buch ebenso mit historischen Filmplakaten, was seinen eigenen Reiz hat, und stellt bei Gelegenheit technische Informationen zu den beim Dreh verwendeten Zugmodellen bereit. So erfährt man über Eduard von Borsodys UFA-NaziProduktion »Kongo-Express« (1939), dass diese komplett in Deutschland entstand: »Mit künstlichen Palmen und anderen Dekorationen wurde eine afrikanische Landschaft nachgeahmt. Und der Kongo-Express, ein Zug der Deutschen Reichsbahn als UrwaldExpress dekoriert, fuhr für die Filmaufnahmen zwischen Celle und Gifhorn auf der Allertalbahn. Der Haltpunkt Offensen wurde zum Urwald-Bahnhof Lukanga verwandelt.« Ein Schwerpunkt des Bands liegt auf Produktionen aus den USA und Westeuropa; unter den deutschen Titeln finden sich Harry Piels »Abenteuer im Nachtexpress« (1925), Willy Zielkes »Das Stahltier« (1934), Carlo Ludovico Bragaglias »Orientexpress« (1954), Jürgen Rolands und Herbert Viktors »Der Transport« (1961) sowie Hans-Joachim Kunerts »Das zweite Gleis« (1962). eberhard urban: »die eisenbahn als Filmstar.« Transpress Verlag, Stuttgart 2015. 160 S., zahlr. Abb., 29,90 EUR.
KINO AN UNGEWÖHNLICHEN ORTEN (III) KINO
Fotos: Nils Daniel Peiler (S. 10)/ARTE Edition DVD »Cinema Perverso«
STATT NISCHENFILMEN DOMINIERT HEUTE EIN INTELLEKTUELLES PROGRAMM. Statt durchgehendem Betrieb mit Spätvorstellungen ist es heute schwer, nach 21 Uhr überhaupt noch Filme zu verkaufen. »19.30 Uhr oder 22 Uhr als Startzeit war einmal keine Frage, doch das Freizeitverhalten hat sich geändert. Jetzt ist 21.15 Uhr die Schallgrenze«, weiß Theaterleiter Thöner. Zwei bis drei fest terminierte Vorstellungen am Tag zu üblichen Nachmittags- und Abendslots zeigt das Bali, dazu sonntags eine Matinée. In den letzten Jahren wurden die Filme immer länger, so Thöner, um 17 Uhr kämen die Damen, früher seien mehr Studenten gekommen. Zumindest als studentische Aushilfskräfte sieht er sie noch immer in seinem Kino: Ein Team aus 15 Mitarbeitern sorgt für die Betreuung der Zuschauer. Es gibt noch eigene Vorführer und auch solche, die auf analogen Film spezialisiert sind. Das bildungsbürgerliche Publikum ab 16 Jahren sieht sich aktuelle Arthouse-Hits des gehobenen Mainstreams an, darunter viele europäische Produktionen. Statt Nischenfilmen dominiert unterhaltsames, aber intellektuelles Programm, auch in den Sonderreihen, etwa wenn das Dokumentarfilm- und Videofest gastiert oder die Studenten der Trickfilmabteilungen ihre Abschlussarbeiten präsentieren. Auch Film und Psychoanalyse mit Einführungsvorträgen und einmal im Monat queeres Filmprogramm bringt das Bali. Der Kasseler Kinomarkt sei gesättigt, Thöner spricht von einem »Overscreening«. Allein
zwei Multiplexe mit acht und zwölf Sälen beheimatet die Stadt, neben den beiden Bali-Sälen im Bahnhof verantwortet Thöner auch noch den Filmladen und die GloriaKinos. Die drei Filmtheater verstehen sich als »cineastisches Dreieck« zwischen Goethestraße, Ständeplatz und Kulturbahnhof und damit als »Alternative zum Kinoangebot der Multiplexe«. Im dichten Kasseler Kinomarkt müsse schon jeder seine eigene Nische finden, zumal die Verleiher schon sehr genau hinschauten, wem sie die Starttermine gäben, wie der Geschäftsführer betont. Zur documenta, die 2017 wieder in Kassel stattfinden wird, steht dann erneut das Programm Kopf: Dann rattern auch wieder 35mm- und 16mm-Projektoren im beinahe ausnahmslos digitalen Spielbetrieb, auch immer exotischere Formate wie BetaKassetten kommen dann zum Einsatz, und als Happening kann schon einmal eine interaktive Videoarbeit direkt durchs Kino führen oder eine Performance mehr als 100 Stunden am Stück auf der großen Leinwand zu sehen sein. Seit diesem Jahr organisiert Thöner zudem gemeinsam mit der Stadt Kassel, der Diakonie und dem Verein Kulturnetz auch eine neue Reihe »Kino international« für Flüchtlinge, bei der dann bei verbilligtem Eintritt auch Filme in Fassungen im arabischen Original mit Untertiteln zu sehen sind, die das Goethe-Institut erstellt hat. Damit schließt sich der Kreis, auch wenn damit heute ein Kinoprogramm für einen ganz anderen Transit geboten wird. o Unsere Reihe »Kino an ungewöhnlichen Orten« wird fortgesetzt in FD 25/2016 mit dem Thema »Kino über den Wolken«.
Vergangenes Kino-Flair: Filme im Bahnhof für Nachtschwärmer und Zugreisende
GESCHICHTE DES BAHNHOFSKINOS: »CINEMA PERVERSO« Oliver Schwehm lässt in seiner so reichhaltigen wie kurzweiligen Dokumentation »Cinema Perverso. Die wunderbare und kaputte Welt des Bahnhofskinos« (2015) in einer ausgefeilten Montage historische fotografische und filmische Fundstücke aus den Archiven auferstehen. Prominente Zeitzeugen kommen zu Wort, um ihre persönlichen Erinnerungen an die Bahnhofskinos zu erzählen. So berichten die Schauspieler Mechthild Großmann und Ben Becker, die Filmemacher Uwe Boll und Jörg Buttgereit, Filmhändler Kai Nowak und Filmsammler Frank Becker über ihren jeweiligen Blick auf das Nischenkino. Mechthild Großmann bekennt zu den Bildern des neuen, kinolosen Berliner Hauptbahnhofs mit seiner Glas-StahlArchitektur, dass dieser für sie überhaupt kein Bahnhof mit traditionellem Flair mehr sei. BAP-Musiker Wolfgang Niedecken sinniert nostalgisch: »Ich wundere mich manchmal, wenn ich heute durch den Bahnhof gehe, dass das eigentlich eine Shopping-Mall ist, wo auch noch Züge abfahren.« Schlager-Star Christian Anders insistiert darauf, dass er mit seinem Sexploitation-Film »Die Todesgöttin des Liebescamps« (1981) eigentlich einen romantischen Liebesfilm vorlegen wollte, und Boxer René Weller bringt seine Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass er in »seinen« Bahnhofskinofilmen vollständig nachsynchronisiert wurde, ohne dass man ihn gefragt oder informiert hätte. Unnachahmlich lässt Schwehm die Bali-Kassiererin Gertrud Sonnenburg, die seit 1959 im Alzeyer Bahnhofskino arbeitet, einschlägige Filmtitel in ihrem rheinhessischen Singsang rezitieren: »Die Superhexen vom Rio Amore«, »Der Totenchor der Knochenmänner«, »Nackt und zerfleischt«, »Samson gegen die Korsaren des Teufels«, »Roboter der Sterne«, »In der Gewalt der Riesenameisen«, »Sein Wechselgeld ist Blei«. Haupt- und Untertitel der Doku spielen auf den italienischen Bahnhofskinoklassiker »Mondo perverso – Diese wundervolle und kaputte Welt« (1971) von Mino Loy und Luigi Scattini an, über den der FILMDIENST zum deutschen Start 1974 befand: »Im Fahrwasser der Mondo-Filme zusammengestückelter Pseudoreport, der von der Herzoperation bis zum Gruppensex reicht. – Wir raten ab.« »cinema perverso. die wunderbare und kaputte Welt des bahnhofskinos« Dt. 2015. Regie: Oliver Schwehm. 60 Min., DVD-Anbieter: ARTE Edition.
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KritiKen neue Filme
Energetisch aufgeladenes Road Movie von Andrea Arnold ins Herzland Amerikas
Er müsste das gar nicht behaupten! Jake, der leicht abgewetzte, charmante Wuschelkopf, erzählt der jungen Star auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, dass es bei seiner Crew, die man in Deutschland wohl als Drückerkolonne bezeichnen würde, gar nicht nur ums Geschäft ginge, sondern auch um Party und »We explore America«. Nicht von ungefähr prangt ja das Sternenbanner auf dem Filmposter über dem Titel dieses Road Movies der britischen Regisseurin Andrea Arnold, die einen der amerikanischsten Filme aller Zeiten gedreht hat, eine Art »Easy Rider« für die revolutionsmüden Abgehängten im 21. Jahrhundert. Dabei kann es genau genommen gar nicht mehr darum gehen, dieses Land zu entdecken oder zu erkunden. Denn in dem Kleinbus, der den Mittleren Westen auf der Suche nach zahlungswilligen Abo-Kunden durchstreift, den Reichen, die ein schlechtes Gewissen ob ihres Reichtums quält, den Armen, die das Mitleid mit ihresgleichen plagt, fährt eigentlich schon
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ganz Amerika mit. Aus allen Ecken der USA stammen die blutjungen Teenager, und auf ihrer Reise tragen sie die ganze faszinierende, widersprüchliche, verheißungsvolle Mythologie dieses Landes in sich. Die unbändige Freiheitsgier, raue Sprüche, ausgelassenes Rumgetolle, viel Marihuana und Alkohol – und auf der anderen die eiserne Fessel des Kapitalismus, wunderschön und gleichzeitig bizarr und selbstverstrickt personifiziert in der Kolonnenchefin Krystal, einer impulsgetriebenen Unternehmerin im sehr knappen Bikini, auf dem das Flaggenmotiv der Südstaaten prangt. Riley Keough, die Krystal mit allem Elan und aller verführerischen Schmutzigkeit des »white trash« ausstattet, ist die Enkeltochter von Elvis Presley; musikalisch getrieben ist auch der Film, tänzerisch, verspielt, verträumt aufgeladen vom Titelsong der Country-Band Lady Antebellum und vor allem von Rihannas »We Found Love«. Um Liebe geht es selbstredend auch, jedenfalls um das, was die 18-jährige Star dafür hält und was sie sich von Jake erhofft.
Sie geht auf sein Angebot ein, lässt ihren Freund in der heimischen Bruchbude zurück, lädt die beiden Kinder, um die sie sich kümmert, bei deren unwilliger Mutter ab und bricht auf, um Zeitschriften zu verkaufen, um zu feiern und an einem hoffnungslosen Ort die Liebe zu finden. Die Binsenweisheit, nach der die Bewegung des Road Movies mindestens genauso tief ins Innere wie hinaus ins Land führt, nimmt Andrea Arnold wörtlich und zwängt die Ebene des American Heartland ins nahezu quadratische alte Fernsehformat. Entsprechend bleibt sie nahe an den Gesichtern und Gefühlen, ohne dass das satte Grün der Wälder, die Funken der Feuerwerke oder das verlockende Glitzern eines nächtlichen Sees dadurch ihren Zauber verlören. Die Newcomerin Sasha Lane spielt mit der Unberechenbarkeit ihrer Figur, lässt das Zarte, Schüchterne mal als Eigenschaft stehen, dann wieder als Fassade bröckeln: Star weiß verdammt gut, was sie will. Sie will nicht lügen, um Abos zu verkaufen. Lieber wirft sie sich
Tim Slagman Bewertung Der FiLMKOMMissiOn
eine junge Frau aus prekären Verhältnissen schließt sich einer fahrenden Truppe von ZeitschriftenWerbern an, um im minibus mit ihnen durch den mittleren Westen der uSA zu driften und dabei ihrer ganz persönlichen Version des »Amerikanischen Traums« nachzuhängen. unaufdringlich und doch zugleich zupackend eindeutig gelingt dem Road movie als eine Art neuschreibung von » easy Rider« für die revolutionsmüden Youngster des 21. Jahrhunderts ein Sittenbild Amerikas. Dabei spiegeln sich Verheißungen und Widersprüche virtuos in der geballten energie seiner jugendlichen Hauptdarsteller. – Sehenswert ab 16.
AMeriCAn HOneY. uSA 2016 regie: Andrea Arnold Darsteller: Sasha lane (Star), Shia laBeouf (Jake), mcCaul lombardi (Corey), Riley Keough (Krystal), Arielle Holmes (Pagan), Veronica ezell (QT) Länge: 162 min. | Kinostart: 13.10.2016 Verleih: uPi | FD-Kritik: 44 197
Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe
American Honey
in ein Cabrio voller Vorstadtcowboys, um mit ihnen zu cruisen, zu grillen, zu trinken, im Pool zu baden – und ihnen Abos zu verkaufen. Sie zofft sich mit Jake, den Shia LaBeouf gleichzeitig ernsthaft und hedonistisch, vernuschelt und bodenständig gibt, sie schläft mit ihm, träumt mit ihm, während über den beiden der drohende Schatten von Krystal schwebt, deren »bitch« Jake bekanntlich ist. Um sie herum tobt eine Horde junger Kollegen, die den Ghettoblaster aufdreht, herrlich unhip im Gestern lebt und fürs Heute. Da macht es nichts, dass die versprochenen Partys selten mehr sind als eine Runde Schnaps oder Gras auf dem Motelparkplatz. Über zweieinhalb Stunden lang brummt die Leinwand voller Energie.
neue Filme KritiKen
swiss Army Man
Filmische Robinsonade über einen Schiffbrüchigen und seinen Doppelgänger
Ein Plastikbecher mit den aufgeschriebenen Worten »Help me« schwimmt auf dem Meer. In den folgenden Szenen werden die Hilferufe ausgefeilter und kunstvoller: Kleine Plastikboote aus Verpackungsmaterial, die von einer kleinen Insel aus aufs Meer geschickt werden, und sich in der Weite des Ozeans verlieren. In dieser tragischen Situation legt sich Hank (Paul Dano) einen Strick um den Hals, um seinem Leben ein Ende zu bereiten. Die Kamera fährt zurück und offenbart einen menschenleeren Strand einer anscheinend verlassenen Insel. Sein heruntergekommenes Aussehen und die verzweifelte Entscheidung zur Selbsttötung lassen darauf schließen, dass Hank hier schon einige Zeit verbracht hat. Genau in diesem Moment aber sieht er einen Körper (Daniel Radcliffe) im Sand liegen. Dann passiert etwas, mit dem man als Zuschauer nicht rechnet. Dem unerwarteten Hoffnungsschimmer wird wie in einem Musical dadurch Ausdruck verliehen, dass die Filmmusik – der beeindruckende Soundtrack stammt von Andy Hull und Robert
McDowell – lautstark einsetzt und Hank inbrünstig singend zu Manni, so nennt er den Mann, schreitet. Doch schnell findet er heraus, dass dieser tot ist – oder vielleicht nicht so ganz... Manni ist wie ein sehr fantasievolles übermenschliches Schweizer Taschenmesser. Er lässt sich als Jet-Ski verwenden, wodurch die beiden auf einer etwas größeren, aber weiterhin einsamen Insel Zuflucht finden, als Wasserspender oder Waffe, als Gesprächspartner und Gefährte. Er ist Hanks Überlebenshilfe, ein Freund und Trost. Warum sich Hank auf der Insel befindet, als eine Art Metapher für seine Einsamkeit oder tatsächlich auf einem Eiland, wird im Detail nicht verhandelt. Die Filmemacher Dan Kwan und Daniel Scheinert, die als Regie-Duo »Daniels« firmieren, setzen den Fokus auf etwas anderes: Wer bin ich? Was definiert mich? Was machen Kultur und Natur mit mir? Es sind solche philosophischen Aspekte, die hier auf außergewöhnlich bunte, durchgeknallte, originelle Weise und nie vollkommen ernst inszeniert wer-
den. Der existentiellen Bedrohung durch Hunger, Durst und Einsamkeit wird immer wieder der Boden entzogen: Wenn Hank Manni Menschheitsgeschichte und zivilisatorische Kulturgepflogenheiten beibringt, wobei er die Opposition des Daumens als herausragendes entwicklungsspezifisches Charakteristikum des Menschen in Abgrenzung zu den meisten Tieren hervorhebt, das traditionsreiche Lied »Cotton Eye Joe« singt oder über Spielbergs »Jurassic Park« referiert, sind das augenzwinkernde Kommentare auf unsere Popkultur und die gesamte Gesellschaftsgeschichte. Es geht dabei immer auch um die fragwürdige Erinnerung an Werte – sei es in Form fest verankerter Normen oder subjektiver Empfindungen. Stets aufs Neue gestalten sich die beiden ihren Alltag und bauen dabei auf Hanks Wissen um gesellschaftliche Regeln. Szenen aus dem früheren Alltag werden detailgetreu nachgebaut, durch Verkleidung an geliebte Menschen erinnert, Kinofilme werden als Schattenspiele nachinszeniert,
darüber hinaus soziale Umgangsformen gelehrt. Der Film funktioniert auf diese Weise als ironisches Spiegelbild der Gesellschaft, wobei Traum und Realität immer wieder verwischen. Der Zuschauer kann sich nie ganz sicher fühlen und darf seinen Augen und Ohren nicht trauen: Kwan und Scheinert eröffnen eine wunderbare und tragikomische Welt des unzuverlässigen Erzählens. Genau darum geht es im Kino manchmal. »Swiss Army Man« ist ein rasantes, außergewöhnlich ideenreiches Spielfilmdebüt. Ein originelles Spiel mit filmischen und dramaturgischen Mitteln, eine traurig-schöne Metapher auf den Tod und eine bitter-süße Ode an das Leben. Jennifer Borrmann Bewertung Der FiLMKOMMissiOn
ein auf einer insel gestrandeter mann will sich das leben nehmen, als er am Strand einen Toten entdeckt. Der erweist sich als wundersamer Gefährte und eine Art universalwerkzeug und vermittelt ihm lebensmut und neuen Überlebenswillen. Die filmische Robinsonade verhandelt mit fantastischen elementen grundsätzliche Fragen über individuum und Gesellschaft, Kultur und natur. Dabei entfaltet das rasante, außergewöhnlich ideenreiche Spielfilmdebüt eine originelle tragikomische utopie, die sich als traurig-schöne metapher auf den Tod wie auch als bittersüße Ode an das leben lesen lässt. – Sehenswert ab 16.
swiss ArMY MAn. uSA 2016 regie: Dan Kwan, Daniel Scheinert Darsteller: Paul Dano (Hank), Daniel Radcliffe (manny), mary elizabeth Winstead (Sarah), Antonia Ribero (Crissie), Timothy eulich Länge: 97 min. | Kinostart: 13.10.2016 Verleih: Koch media | FsK: ab 12; f FD-Kritik: 44 198
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Woody allen glänzt mit einer gescheiterten Serie über das Scheitern
Mittlerweile ist ja bekannt, dass Woody Allen es bereut hat, für die Amazon Studios eine Serie gedreht zu haben und dass die Serie, wenn es nach den Feuilletons geht, misslungen ist. Was ist dem also noch hinzuzufügen? Nun ja, vielleicht, dass »Crisis in Six Scenes« eine Serie ist, in der es um das Scheitern einer Serie geht. Das wurde zwar erwähnt, ist bislang aber nicht wirklich gewürdigt worden. Der Titel sagt viel über Woody Allens erste und wahrscheinlich letzte Serie aus. »Scene« heißt sowohl Szene, also die Szene im Film oder im Theaterstück, wie auch die Episode, etwa in einer Serie. Es geht also um eine Krise in sechs Szenen bzw. Episoden und diese Krise hat mit dem dramaturgischen Verhältnis zwischen Film und Serie zu tun. Das wird in der ersten Szene der Serie bereits aufgegriffen. Da sitzt der von Woody Allen gespielte Sidney J. Munsinger, der keine Drehbücher, sondern Romane schreibt, Anfang der 1960er-Jahre beim Haareschneiden und erzählt dem Coiffeur, dass er eine Fernsehserie schreiben wolle, eine Familienserie, da es sich um ein lukratives Angebot handle. Es ist also nicht zu weit hergeholt, dass im Titel die Krise gemeint ist, die Woody Allen selbst durchlebte, als er sich an
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»Crisis in Six Scenes« machte, was er aber in Kauf nahm, weil er dafür reich belohnt wurde. Munsinger findet den Stoff für die Serie, als seine Familie Zuwachs erhält. Zu ihm, seiner Frau Kay, die als Therapeutin arbeitet, sowie dem Sohn von Freunden, der während des Studiums bei den Munsingers wohnt, stößt Lennie, eine junge Frau. Munsinger möchte sie allerdings schnell wieder aus dem Haus in dem gemütlichen New Yorker Vorort haben, denn sie ist eine Anti-VietnamAktivistin und auf der Flucht, weil sie einen Polizisten erschossen hat. Seine Frau sympathisiert aber mit der forschen Blondine, und weil Munsinger wie so viele männliche Allen-Figuren gegen die Frauen den Kürzeren zieht, bleibt Lennie bei ihnen wohnen. In bekannter Manier spielt Woody Allen einen immer nervöser werdenden Mann, der sich zu kriminellen Handlungen genötigt sieht; dass Lennie auch noch Mundraub begeht, indem sie seine Lebensmittel verspeist, macht es nicht besser. Munsinger erlebt Lennie in etwa so sehr als Störenfried, wie 20 Jahre später Willie Tanner den Außerirdischen Alf. Ohne viel dafür zu tun, zieht Lennie sogar den konservativen Bankersohn Alan auf ihre Seite. Der verliebt sich in sie, wirft alle
Crisis in siX sCenes. uSa 2016 regie: Woody allen darsteller: Woody allen, Miley Cyrus, Elaine May, John Magaro, rachel brosnahan länge: 141 Min. anbieter: amazon Prime fd-kritik: 44 225
Fotos: Jeweilige Anbieter
Crisis in six scenes
seine Pläne bzw. die seiner Eltern über den Haufen und will mit ihr nach Kuba fliehen. Munsinger wird sogar genötigt, bei dieser Flucht zu helfen. Und er macht mit, denn für seine Frau tut Munsinger alles; im Vergleich zu den Paaren, die zu Kays Beratung kommen, weist ihre Ehe keine Probleme auf. Schließlich wird alles auf die Spitze getrieben, alle Figuren treffen in einem großartigen Kuddelmuddel aufeinander, das sich irgendwie auflöst, in ein Happy End. Woody Allen hat eine Sitcom gedreht, die im Vergleich zu aktuellen Sitcoms aus den USA wie in Zeitlupe gespielt wirkt, deren Komik konventionell ist und wie ein Allen-Potpourri aussieht. Das Zielpublikum ist vielleicht tatsächlich auf die Senioren beschränkt, wie zu lesen war, wenngleich darin ein Hauch Altersdiskriminierung mitschwingt. Allerdings ist die Komik vieler in den USA produzierter Sitcoms konventionell und gleicht einem Potpourri zuvor schon in anderen Sitcoms verwendeter Gags; auch ist die gezielte Zuschaueradressierung durchaus typisch für die US-amerikanische Serienproduktion. Damit holt Woody Allen Amazon auch ein Stück weit auf den Boden der Tatsachen zurück. Mit der letzten Episode demonstriert er überdies, dass das oft diskutierte Problem, wie eine Qualitätsserie zu einem würdigen, überzeugenden Abschluss gebracht werden kann, einfach zu meistern ist. Man geht einfach hin und inszeniert die letzte Episode als die beste. Das ist zwar riskant, weil die Zuschauer während der schwächeren Episoden eventuell abspringen, was bei sechs Folgen von 23 bis 24 Minuten aber eher unwahrscheinlich ist. Woody Allen ist kein großer Serien-Wurf gelungen. Aber er hat es geschafft, das Scheitern dramaturgisch geschickt zu reflektieren. Das besitzt eine eigene Qualität. - Ab 14. Thomas Klein
KRITIKEN FERNSEH-TIPPS
07.10 – 08.55 mdr Bibi Blocksberg und das Geheimnis der blauen Eulen R: Franziska Buch Turbulenter Kinder-Fantasyfilm Deutschland 2004 Ab 8 15.00 – 16.30 Über-Ich und Du R: Benjamin Heisenberg Enthemmte Meta-Komödie Deutschland/Schweiz 2013
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Ab 16
16.30 – 18.00 3sat Das schwarze Schaf R: Helmuth Ashley Heinz Rühmann als Pater Brown Deutschland 1960 Ab 12 20.15 – 22.55 SAT.1 Illuminati R: Ron Howard Symbologe hilft Vatikan gegen Geheimbund USA 2009 Ab 16 20.15 – 22.10 zdf_neo Im Auftrag des Drachen R: Clint Eastwood Actionthriller auf den Spuren von James Bond USA 1975 Ab 16 21.45 – 23.35 One Dallas Buyers Club R: Jean-Marc Vallée HIV-kranker Texaner greift zur Selbsthilfe USA 2013 Sehenswert ab 14 22.10 – 23.45 zdf_neo Die Bourne Verschwörung R: Paul Greengrass Auftakt der Ex-Agenten-Trilogie USA 2004 Ab 14 23.35 – 01.00 One Das Zimmermädchen Lynn R: Ingo Haeb Über eine exzentrische Romantikerin Deutschland 2014 Sehenswert ab 16
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SAMSTAG 15. OKTOBER
»Leichen pflastern seinen Weg«
15./16. Oktober
mdr/NDR fernsehen
Klaus Kinski
Der 1991 verstorbene Schauspieler und Vollblutexzentriker Klaus Kinski hielt nicht das Geringste von seiner Filmarbeit, wobei er auch die besseren unter seinen mehr als 130 Rollen mit Verachtung strafte. Das hat auch die Außensicht auf Kinskis Filme negativ beeinflusst, die neben seinen Arbeiten mit Werner Herzog meist nur die Auftritte für David Lean, Billy Wilder oder Douglas Sirk gelten lässt. Zum 90. Geburtstag von Kinski am 18. Oktober lässt sich im Fernsehen aber entdecken, dass auch seine »Nebenwerke« oft einen Blick lohnen. Überdies rufen die beiden ausgestrahlten Filme in Erinnerung, dass der so genannte Italo-Western in seinen Anfängen oftmals mit deutscher Beteiligung entstand: Im Klassiker »Leichen pflastern seinen Weg« (15.10., 00.50 – 02.30, mdr) tritt Kinski als Anführer einer Bande von Kopfgeldjägern gegen einen stummen Revolverhelden (Jean-Louis Trintignant) an, während er in »Der Mann, der Stolz, die Rache« (16.10., 00.35 – 02.10, NDR fernsehen) den bösartigen Gatten einer Tänzerin spielt, die einen Soldaten verführt. Eine freie Adaption von Prosper Mérimées »Carmen« mit Western-Elementen, in der Franco Neros Soldaten-Figur in internationalen Versionen in »Django« umbenannt wurde.
15. Oktober, 23.35 – 01.00
Das Zimmermädchen Lynn
One
Das Leben der Anderen, ertastet, ausspioniert und fein säuberlich aufgeschrieben, von einem stillen Zimmermädchen mit jeder Menge Neurosen. Die manische Putzerei, das Schrubben, Wischen und Saubermachen scheint die von Vicky Krieps grandios gespielte Unscheinbare vollauf auszufüllen. Bis sie einen Mann beim käuflichen Sex beobachtet und Gefallen an dem androgynen Callgirl findet (nicht weniger eindringlich: Lena Lauzemis). Zwischen den ungleichen Außenseiterinnen bahnt sich eine aussichtslose, aber um so intensivere Begegnung an, die von Regisseur Ingo Haeb lakonisch-beiläufig in Szene gesetzt wird. »Mit Katastrophen ist nicht zu rechnen. Eher mit stillen Entladungen einer Sehnsucht nach Nähe, für die Konventionen ein Fremdwort sind. Keine Sexszene entgleist. Hinter den leidensfähigen Körpern warten hungrige Seelen auf ein Gegenüber.« (Alexandra Wach)
SONNTAG 16. OKTOBER
14.50 – 17.55 SAT.1 Harry Potter und der Stein der Weisen R: Chris Columbus Erstes Abenteuer des Zauberlehrings USA 2000 Ab 10 15.00 – 16.30 ZDF Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück R: Sharon Maguire Single-Frau sucht Mann fürs Leben Großbritannien 2001 Ab 12 15.25 – 17.47 TELE 5 Sabrina R: Billy Wilder Geistreiche Gesellschaftskomödie USA 1954 Sehenswert ab 12 16.15 – 18.00 3sat Ein Pyjama für zwei R: Delbert Mann »Bettgeflüster« in der Welt der Werbeagenturen USA 1961 Ab 16 17.50 – 20.06 TELE 5 Rat mal, wer zum Essen kommt R: Stanley Kramer Tragikomödie um Liberalität und Rassenvorurteile USA 1967 Ab 14 20.15 – 22.30 arte Das Black Book R: Paul Verhoeven Drama um Krieg und Überleben Niederlande 2006 Ab 16 20.15 – 23.03 TELE 5 Vertigo – Aus dem Reich der Toten R: Alfred Hitchcock Brillantes psychologisches Seelendrama USA 1958 Sehenswert ab 14 21.45 – 23.10 3sat Die letzten Tage der Emma Blank R: Alex van Warmerdam Sarkastische Gesellschaftssatire Niederlande 2009 Ab 14
00.50 – 02.30 mdr Leichen pflastern seinen Weg R: Sergio Corbucci Harter Italowestern-Klassiker Italien/Frankreich 1968
23.50 – 01.25 mdr Alles andere zeigt die Zeit R: Andreas Voigt Abschluss von Voigts Leipzig-Zyklus Deutschland 2015 Ab 14
01.00 – 02.25 The Resident R: Antti Jokinen Gut besetzter Psychothriller Großbritannien 2010
02.15 – 03.53 Das Erste Nicht ohne meine Leiche R: Yang Zhang Fantasievolles Road Movie HK/VR China 2007 Sehenswert ab 16
Filmdienst 21 | 2016
ZDF
Ab 16
Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.
SA
Kino lesen!
FERNSEH-TIPPS KRITIKEN
16. Oktober, 15.25 – 17.47
Sabrina
TELE 5
Kann man überhaupt eine der vielen hinreißenden Hollywood-Komödien Billy Wilders noch besonders herausheben? Wenn überhaupt, dann sollte es einmal nicht »Manche mögen’s heiß« sein, sondern die melancholisch-romantische Lebensund Liebesgeschichte von Sabrina Fairchild, der verträumten Chauffeurstochter, die sich aus der Unsichtbarkeit des Garagen-Milieus der Industriellenfamilie der Larrabees auf Long Island erhebt und sich in Paris zum schönen, allseits begehrten Schwan wandelt. Billy Wilder machte aus den Konventionen des Theaterstücks von Samuel Taylor ein subtiles Meisterwerk voller brillanter Dialoge, raffinierter visueller Symbole und Anspielungen sowie, vor allem, einer meisterhaften Musiksprache. Die romantischen Melodien der »alten Welt« Europas (Friedrich Hollaender) reiben sich an den Klängen der »neuen Welt« (Richard Rodgers) und fusionieren zur märchenhaften Utopie.
Ab 16. Oktober
3sat/arte
Paul Verhoeven & mehr
Der Länderschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse, »Flandern und die Niederlande«, ist für 3sat Anlass für eine sechsteilige Reihe mit sperrigen Meisterwerken einer viel zu wenig wahrgenommenen Kinematografie. Das gilt insbesondere für das Oeuvre von Alex van Warmerdam (»Die letzten Tage der Emma Blank«, 16.10., 21.45), aber auch für die Werke von Nanouk Leopold (»Oben ist es still«, 18.10., 22.25) oder einen Film wie »Sonny Boy – Eine Liebe in dunkler Zeit« (20.10., 22.25) von Maria Peters, die dem liberalen Selbstbild der Niederlande einen hässlichen Spiegel vorhält. arte nutzt das Buchmesse-Umfeld für eine überfällige Rehabilitation des »Skandal«-Regisseurs Paul Verhoeven (»Basis Instinct«), der sich nach einer vierjährigen Schaffenspause mit dem Thriller »Elle« (deutscher Start: Januar 2017) eben wieder zurückgemeldet hat. Die Dokumentation »Paul Verhoeven – Meister der Provokation« (16.10., 22.30 – 23.25, arte) zeichnet seinen Weg nach Hollywood und zurück nach und lotet die Motive hinter seiner Lust an der Provokation aus. Heraus kommt dabei das Bild eines hellwachen Künstlers, der mit seinen expliziten Darstellungen von Sex und Gewalt hinter die bürgerlichen Blockaden dringen will. 16.10, 20.15 – 22.30, arte 16.10., 21.45 – 23.10, 3sat 16.10., 22.30 – 23.25, arte 16.10., 00.40 – 02.40, 3sat 18.10., 22.25 – 00.45, 3sat 20.10., 22.25 – 00.35, 3sat 21.10., 22.35 – 00.20, 3sat 23.10., 00.15 – 01.55, 3sat
Das Black Book Die letzten Tage der Emma Blank Paul Verhoeven – Meister der Provokation Ungesühnt Oben ist es still Sonny Boy – Eine Liebe in dunkler Zeit Verfluchtes Amsterdam Im Labyrinth des Lebens
ERSTAUSSTRAHLUNG: 16. Oktober, 17.05 – 18.30
Für Filmfreunde unverzichtbar 208 S. |mit Lesebändchen und vielen farbigen Abbildungen € 9,90
«Eine großartige, bereichernde Lektüre» Medienwissenschaft 308 S. | Pb. | über 300 Abb. € 29,90
arte
Hergé – Mit Tim & Struppi auf Abenteuer
Steven Spielbergs und Peter Jacksons »Tim und Struppi«-Adaption im Motion-Capture-Verfahren hat nicht jeden Leser der Comics überzeugt; gleichwohl sind weiterhin Fortsetzungen in der näheren Zukunft geplant. Die beiden Erfolgsregisseure gehören zu den prominentesten »Tintinologen«, den Experten für das Werk des belgischen Zeichners Hergé (1907 – 1983), der sich mit der Erfindung des mutigen Reporters Tim (eigentlich: Tintin) und seines treuen Foxterriers Struppi in die ComicGeschichte einschrieb. Die arte-Dokumentation beschäftigt sich mit der durchaus schwierigen Beziehung des Schöpfers zu seinen Zeichnungen, geht auf seine Triumphe wie Rückschläge ein und stellt den nicht unumstrittenen Künstler in Bezug zu seiner Zeit dar. Neben Archivaufnahmen, originalen Zeichnungen und Animationen bietet der Film auch Statements von Experten und Kollegen.
Ein Muss für alle Beatles-Fans! «Höchst vergnüglich» ray 320 S. | Br. |€ 24,90 www.schueren-verlag.de Filmdienst 21 | 2016 57