Filmdienst 22 2014

Page 1

Film dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

22 2014

www.filmdienst.de

22 4 194963 604507

01_Titel_22_2014.indd 1

23. oktober 2014 € 4,50 67. Jahrgang

SaKraLe rÄuMe Wie das Kino orte inszeniert, an denen menschen spirituelle grenzerfahrungen machen.

aLeXander FeHLinG der deutsche schauspieler hat das Zeug zum internationalen star. ein porträt.

KinotraiLer ..sollen appetit auf Filme machen. im besten Fall sind sie kleine geniestreiche für sich.

regisseur Wim Wenders erzählt von der arbeit an seinem neuen dokumentarfilm, einer biografie des brasilianischen Fotografen sebastião salgado.

15.10.14 15:59


filmdienst 22 | 2014 neu im kino + 46 49 45 44 49 48 47 42 50 42 43 49 42 37

ALLE STARTTERMINE 5 zimmer Küche Sarg 30.10. Björk: Biophilia Live 16.10. die Boxtrolls 23.10. der Brand 9.10. coming in 23.10. denk wie ein Mann 2 23.10. deutschlands wilde vögel–teil 2 30.10. dieses schöne Scheißleben 23.10. Geron 30.10. Good Luck Finding Yourself 23.10. Hin und weg 23.10. ich bin das Glück dieser erde 23.10. der kleine Medicus 30.10. der Kreis 23.10.

55 fernseh-tipps 24 alexander fehling

KinotiPP der katholischen Filmkritik

48 48 47 51 50 47 40 39 46 46 50

Love, rosie-Für immer vielleicht 30.10. northmen – a viking Saga 23.10. Panamericana 30.10. Pioneer 30.10. Pride 30.10. der richter - recht oder ehre 16.10. das Salz der erde 30.10. der Samurai 30.10. Sex on the Beach 2 30.10. teenage Mutant ninja turtles 16.10. von Hohenschönhausen nach niederschöneweide 23.10. 41 weil ich Künstler war 16.10. 36 zwei tage, eine nacht 30.10.

3 4 6 52 55 66 67

4

ruBriKen EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD/BLU-RAY TV-TIPPS DVD-PERLEN VORSCHAU / IMPRESSUM

27 e-mail aus hollywood

35 kinokritiken

Fotos: TITEL: nfp. S. 4/5: arte/Warner Bros./Cinema Purgatorio/Ascot Elite/Donata Wenders/FD-Archiv/UPI

38 am Sonntag bist du tot 23.10. Drama von John Michael McDonagh

Filmdienst 22 | 2014

04-05_Inhalt_22_2014.indd 4

15.10.14 16:04


inhalt kino

akteure

film-kunst

16 „am sonntag bist du tot“

20 wim wenders

28 kinotrailer

10 Sakrale räume

Heilige Bauten dienen mit ihrer spezifischen Ästhetik im Kino als Bühnen für Erfahrungen von Transzendenz und für die Auseinandersetzung mit grundlegenden Existenzfragen. Eine Passage durch Räume, die dem Geheimnisvollen und Göttlichen visuelle Gestalt verleihen sollen. Von Josef Lederle

16 PaSSionSweg eineS iriSchen PrieSterS

Im Kinofilm „Am Sonntag bist du tot“ wird ein unschuldiger Priester mit der Morddrohung eines als Kind missbrauchten Mannes konfrontiert. Die Analyse eines modernen „Morality Play“ um Schuld, Vergebung und die Theodizee-Problematik.

Von Peter Hasenberg

19 San SebaStián

Ein Ausflug in den Wettbewerb des spanischen Filmfestivals, das dieses Jahr eine dunkle Komödie zum Gewinner erkor und zum ersten Mal einen Film in baskischer Sprache zeigte. Von Wolfgang Hamdorf

20 wim wenderS

Mit „Das Salz der Erde“ hat der Regisseur ein kraftvolles Porträt der Foto-Arbeit von Sebastião Salgado geschaffen. Ein Gespräch über eine künstlerische Entdeckungsreise und die Arbeit, die es erfordert, Bilder aus dem Strom der Beliebigkeit zu reißen. Von Marius Nobach

24 alexander Fehling

27 e-mail auS hollywood

Schwere Umsatzeinbrüche drohen beim Studio-Riesen Warner Bros. für eine Entlassungswelle zu sorgen, für die nicht zuletzt auch die letztjährige Personalpolitik verantwortlich gemacht wird. Von Franz Everschor

28 kinotrailer

Von Alexandra Wach

Sie sollen Appetit auf mehr machen, geraten aber immer häufiger zu standardisierter Dutzendware: Ein Streifzug durch die Geschichte einer Kunstform, die durch die Fallstricke von Werbung, Spoilern und Superlativen laviert. Von Michael Ranze + Gespräch mit dem Neuropsychologen André Weinrich

26 in memoriam

32 yaSujiro ozu

Er war „Goethe!“, Baader und der Schnösel Eddie in „Buddy“. Anspruchsvolle Historienfilme und Unterhaltungsformate bestimmen das Werk des „Im Labyrinth des Schweigens“-Darstellers, dem sich unsere „Spielwütig“-Reihe diesmal widmet.

Mit dem Theatergründer und Regisseur Walter Bockmayer, dem cinephilen Publizisten und Festivalleiter Peter von Bagh und dem Schauspieler Günter Junghans sind drei Filmschaffende verstorben, die fehlen werden.

Seine konzentrierten, ruhigen, oft melancholischen Filme kreisen um Familienkonstellationen. Nun ermöglicht eine DVD-Edition die Wiederbegegnung mit dem Meister des japanischen Kinos. Von Ralf Schenk

34 magiSche momente

Außenseiter und Exzentriker tummeln sich seit jeher beim Autodidakten Richard Linklater, der in einer Kneipenszene von „Slacker“ (1989) eine grandiose Schnittstelle von Wirklichkeit und Traum schuf. Von Rainer Gansera

fernseh-tipps

neu im kino: „die Boxtrolls“. die macher von «coraline» haben wieder ein fantastisches trickfilm-universum erschaffen.

55 Eine Reihe mit acht Stummfilm-Meisterwerken startet arte mit dem UFA-Film „Der Turm des Schweigens“. Dem wenig leisen Mauerfall vor 25 Jahren widmet Das Erste den Film „Bornholmer Straße“.

Filmdienst 22 | 2014

04-05_Inhalt_22_2014.indd 5

5

15.10.14 16:04


ein gespräch mit wim wenders über „das salz der erde“ und seine erfahrungen mit dem brasilianischen fotografen sebastião salgado

den planeten neu sehen

20-23_Wenders_22_2014.indd 20

15.10.14 16:21


wim wenders akteure

In dem intimen Porträt „Das Salz der Erde“ redet der weltberühmte Fotograf Sebastião Salgado offen über seine Arbeit an den Krisenherden der Welt und seine trotz allem miterlebten Leid ungebrochene Liebe zu den Menschen. Ein Gespräch mit Wim Wenders über eine Reise ins Herz der Finsternis, die Leinwandwirkung von Fotografien sowie die Zusammenarbeit mit seinem Co-Regisseur Juliano Ribeiro Salgado, Sebastiãos Sohn.

Fotos: Porträt ©Donata Wenders/nfp

Von Marius Nobach Sie sagen gleich am anfang des Films, dass Sie damit auch auf eine innere entdeckungsreise gegangen sind. wohin hat Sie diese reise geführt? Wim Wenders: Sebastião Salgado hat mich auf zwei große Reisen mitgenommen. Einmal auf die Reise eines sozialen Fotografen, der fast 30 Jahre lang an jedem Krisenherd der Welt war, Hungersnöte, Kriege und Vertreibungen bezeugt hat, und der diese Arbeit so weit getrieben hat, bis er einfach nicht mehr konnte, bis er zu viel Tod und Verderben gesehen hatte. Da war er an einem Punkt angekommen, wo er nur noch die Wahl hatte, zum Zyniker zu werden oder mit dieser Arbeit aufzuhören. Letzteres hat er getan. An diesem Punkt hätte die Reise zu Ende sein können. Doch dieser Mann hat uns noch auf eine zweite, ganz andere Reise mitgenommen, in einen Bereich, in dem bislang nur der Schöpfergott tätig war. Vor den Salgados hat noch kein Mensch versucht, tropischen Regenwald großflächig wieder aufzuforsten, oder auch nur gedacht, dass das möglich sei. Bis uns dieser Mann gezeigt hat, dass man verlorene Landstriche wieder beleben kann, dass man Wasser und Quellen, Vögel und

alle anderen Tiere zurückholen kann. Diese große Erfahrung hat auch den Fotografen geheilt und frei gemacht, unseren Planeten noch einmal ganz neu zu sehen und all die unberührte Natur festzuhalten, die es auch heute noch gibt, wie am ersten Tag. Diese Arbeit heißt deshalb auch „Genesis“. Mit dem Filmtitel greifen Sie ein zitat aus dem Matthäusevangelium auf: „ihr seid das Salz der erde.“ wie kam es dazu? Wenders: Erst in der Konfrontation mit all den Geschichten, die Salgado uns erzählt hat, mit all den Menschen, die wir auf seinen Fotografien gesehen haben, ist mir klargeworden, dass Sebastiãos Thema eigentlich die Menschheit ist. Und das fand ich in diesem Bibelzitat gut zusammengefasst. Der Titel spielt aber auch darauf an, dass der erste große Teil seiner Arbeit in Südamerika stattfand und er auf seinen Reisen während der ersten zehn Jahre lange mit jungen Arbeiterpriestern aus der „Befreiungstheologie“ durch die Lande gezogen ist. Gerade diese Geschichten aus Südamerika haben mir den Titel nahegelegt. Sie selbst sind ja auch Fotograf. Haben Sie Gemeinsamkeiten mit den arbeiten von Sebastião Salgado entdeckt? Wenders: Als Fotograf bin ich, ähnlich wie Sebastião Salgado, auch ein Einzelgänger. Ich brauche kein Team, sondern ich reise alleine. Wie er versuche auch ich, mich einer Sache auszusetzen, obwohl ich andere Motive fotografiere. Ich bin ein Fotograf von Orten, von Städten und von Landschaften und nicht von sozialen Krisenherden; ich bin auch kein Naturfotograf, wie er das inzwischen ist. Aber ich kann mich mit dem Ethos seiner Arbeit sehr identifizieren. Ich muss aber betonen, dass nicht der Fotograf Wim Wenders diesen Film machen wollte, sondern der Filmemacher, der auch schon andere Berufe neugierig untersucht hat, etwa Musiker, einen Modedesigner oder eine Choreografin... wie haben Sie die auswahl der Fotos für den Film getroffen? Wenders: Wir haben über wahnsinnig viele seiner Fotos geredet und in dieser „Dunkelkammer“, in der er über die Bilder spricht, eine Woche lang gedreht, jeden Tag zehn

Stunden lang, auf einer langen Reise durch sein ganzes Werk. Er war ganz froh, das mal so kompakt und so gründlich zu machen. Eine gute Vorarbeit war, dass wir zunächst für lange Zeit ganz konventionell gedreht haben, in normalen Interviewsituationen gemeinsam vor der Kamera standen, vor seinen Büchern und seinen Fotos, und er mir dabei schon viel erzählt hatte. So wusste ich schon, welche Geschichten wo lagen, als wir dann noch mal von vorne anfingen. Die endgültige Auswahl der Bilder haben wir jedoch erst im Schneideraum getroffen. Sie überblenden Salgados Fotos immer wieder mit seinem Gesicht. wie haben Sie das technisch bewerkstelligt? Wenders: Für unseren zweiten Dreh haben wir ein ganz altes technisches Hilfsmittel „zweckentfremdet“, wie es, glaube ich, noch nie in dieser Form angewendet worden ist, den Teleprompter. Es ist im Grunde dasselbe wie in der „Tagesschau“, wenn der Sprecher in die Kamera schaut und den Text abliest, der auf diesem halbdurchlässigen Spiegel vor der Kamera steht. In unserem Fall haben wir aber auf den Teleprompter keine Texte gelegt, sondern Salgados Fotos. Er war allein in diesem dunklen Raum mit nichts als seinen eigenen Fotos, hat durch diese Bilder in die Kamera geschaut und frei darüber gesprochen. Ich saß hinter der Kamera, sodass er mich nicht sehen konnte. So konnte ich mich mit ihm über die Bilder unterhalten, während er dabei auch den Zuschauer direkt anschaut. Es ist ein ganz intensiver, intimer Dialog zwischen ihm und seinen Bildern, der aber an den Zuschauer gerichtet ist. die Bilder erhalten durch ihre Größe auf der Leinwand emotional eine noch stärkere wirkung, als sie ohnehin schon haben. nun ist gerade gegen Salgado immer wieder auch der vorwurf einer Ästhetisierung des Leids erhoben worden. Hat Sie das beeinflusst? Wenders: Nein, überhaupt nicht. Ich glaube, der erste, der sich mit diesem Vorwurf auseinandersetzen musste, war Goya, der Hungersnöte, Folter und Krieg gemalt hat. Ich kann mit dieser Debatte nichts anfangen und finde sie unsinnig. Wie soll man denn Leid und Unrecht fotografisch festhalten? Nur

Filmdienst 22 | 2014

20-23_Wenders_22_2014.indd 21

21

15.10.14 16:21


Über Sebastião Salgados Projekt der wiederaufforstung des regenwalds informiert die Homepage des von ihm gegründeten „instituto terra“: www.institutoterra.org

die meisten Fotoreportagen-Bände von Sebastião Salgado sind derzeit nur antiquarisch oder über import erhältlich. Hierzulande sind seine beiden jüngsten Fotobände zu beziehen: „genesis“. taschen-verlag, köln 2013. hardcover mit 17 ausklappern, 520 seiten. 49,99 euro. „africa“. taschen-verlag, köln 2007. hardcover, 336 seiten. 49,99 euro.

22

Filmdienst 22 | 2014

20-23_Wenders_22_2014.indd 22

15.10.14 16:21


wim wenders akteure

noch „unästhetisch“? Was wäre das? Meiner Meinung nach ist es eher umgekehrt: Wenn man sich keine Mühe gibt, sich ästhetisch mit Elend und Leid auf eine solche Weise auseinanderzusetzen, dass der Blick des Fotografierenden sichtbar wird, dann wird sehr schnell ein beliebiger Blick daraus. Einen beliebigen Blick auf das Elend finde ich viel verheerender als einen „ästhetisierenden“. Was zählt, ist der Respekt gegenüber der Würde der fotografierten Menschen, die in Situationen wie Krieg, Vertreibung und Hungersnöten ja oft genug ihrer Menschenwürde entblößt wurden. Ein liebevoller, sorgfältiger Blick kann auch in den widrigsten Situationen diese Würde wiederherstellen. Das sehe ich in den Bildern von Salgado. Sie haben zuletzt viele dokumentarfilme gedreht. Haben Sie sich vom fiktionalen erzählen ein Stück weit verabschiedet? Wenders: Nein, das würde ich nicht sagen. Vor und während der Arbeit an „Das Salz der Erde“ habe ich die ganze Zeit auch ein Spielfilmprojekt weiterverfolgt und mittlerweile auch abgedreht und geschnitten, dafür braucht man ja inzwischen mehrere Jahre. Als ich anfangs von der Filmhochschule runter war, habe ich jedes Jahr einen Film gemacht, aber das ist heute absolut unmöglich – außer man ist Woody Allen. Jeder, der heute seinen ersten Film macht, braucht drei, vier Jahre, bis er seinen zweiten machen kann – wenn er Glück hat. Sogar ein alter Hase wie ich braucht vier, fünf Jahre, um einen Spielfilm zu finanzieren, vorzubereiten und zu drehen. Da ist es ein großes Glück, dass Dokumentarfilme so viel spontaner entstehen können. ihre beiden jüngsten dokumentarfilme haben aber doch auch eine gewisse reifezeit gebraucht; die Kunstwerke von Pina Bausch und Sebastião Salgado kennen Sie ja schon seit den 1980er-jahren. es hat 25 jahre und mehr gedauert, bis daraus Filme entstanden sind. war diese zeit nötig, um den richtigen ansatz zu finden? Wenders: Im Fall von Sebastião Salgado hat es so lange gedauert, bis ich ihn tatsächlich kennengelernt habe. Seine Arbeit hat mich seit einem Vierteljahrhundert beeindruckt, und ich habe alle seine großen Ausstel-

lungen gesehen, ihn aber nie persönlich getroffen. Ich wusste auch nicht, dass er in Paris lebte, genau um die Ecke, wo ich früher selbst lange eine Wohnung hatte. Wir hätten uns beim Bäcker treffen können, wenn ich das früher gewusst hätte. Dann haben wir uns vor fünf Jahren ein wenig angefreundet und über alles Mögliche geredet, zum Beispiel darüber, ob man seine Bilder auch auf einer Leinwand zeigen könnte, und wenn ja, wie? Wir haben gemeinsam darüber nachgedacht, wobei ich ihn als Geschichtenerzähler entdeckt habe, da er zu jedem seiner Bilder so viel zu erzählen wusste. Schließlich habe ich ihm gesagt: Ein Film mit Deinen Bildern funktioniert nur mit Dir selbst, indem Du die Geschichten dazu einem Publikum erzählst. In dieser Zeit habe ich auch erst mitbekommen, dass er und sein Sohn schon eine Weile auf diversen Reisen gedreht hatten. Aber einen Plan für einen zusammenhängenden Film gab es nicht. Vor allem fiel es Vater und Sohn nicht leicht, inhaltliche Gespräche über die Fotos zu führen. Schließlich haben wir zu dritt die Idee für einen gemeinsamen Film entwickelt. Ich habe mir Julianos Material angeschaut und erkannt: da hat der Sohn einen besseren Zugang als ich; Juliano wiederum wird das nicht herstellen können, was ich drehen könnte, und so haben wir uns entschlossen, uns zu ergänzen. Sie arbeiten nun schon sehr lange mit Bildern. Glauben Sie noch daran, dass Fotos oder vielleicht auch Filme Menschen bessern können? Wenders: Ja, sonst bräuchte ich ja nicht weiter zu arbeiten, wenn ich diesen Wunsch und diese Hoffnung nicht hätte. Die Frage ist bloß, ob es einem gelingt, Bilder aus dem Fluss der Beliebigkeit herauszuziehen. Vor allem für ein junges Publikum wird es immer schwieriger, zwischen beliebigen Bildern und solchen zu unterscheiden, hinter denen eine Leidenschaft und ein Formwille stehen. Wenn wir das bei „Das Salz der Erde“ erreicht haben, dann deswegen, weil Sebastião Salgado so ein großartiger Erzähler ist. Wegen seiner Geschichten sind diese Bilder nicht mehr beliebig. Wenn man sie nur stumm vor sich herziehen ließe oder bloß durch die Fotobände blätterte, würde das schnell im Fluss des Zuvielen untergehen, dem wir alle ständig ausgeliefert sind. Zu viele Bilder – das Problem kennen wir ja alle. •

Filmdienst 22 | 2014

20-23_Wenders_22_2014.indd 23

23

15.10.14 16:21


kritiken neue filme

Zwei tage, eine nacht Die Dardenne-Brüder lassen Marion Cotillard um kollegiale Solidarität kämpfen Gerade scheint die psychisch angeschlagene Mittdreißigerin Sandra soweit wieder stabilisiert, dass sie am Montagmorgen ins arbeitsleben zurückkehren könnte. Da erfährt sie von ihrer Freundin Juliette, dass ihr Chef gerade die Kollegen vor eine Wahl gestellt hat: da Sandras Ausfall durch extra prämierte Überstunden gemeinsam kompensiert werden konnte, könne man doch ihre Stelle gleich ganz streichen und dafür die Prämie von 1000 Euro weiterhin zahlen. 14 der 16 Kollegen konnten diesem Angebot nicht widerstehen, allerdings, so Juliette, habe Vorarbeiter JeanMarc auf die Mitarbeiter Druck ausgeübt, weshalb Sandra sofort handeln müsse. Tatsächlich gelingt es den beiden Frauen mit einiger Mühe, dem Chef eine Wiederholung der Abstimmung am Montagmorgen abzutrotzen, denn dem Chef ist hauptsächlich am Betriebsfrieden gelegen. Sandra hat jetzt ein ganzes Wochenende – zwei Tage und eine Nacht – Zeit, um

36

für ihren Arbeitsplatz zu kämpfen. Allerdings: Sandra ist keine Kämpfernatur, sondern bedarf der nachdrücklichen Unterstützung Juliettes und insbesondere ihres Mannes Manu, die sie mit Engelszungen beschwören, die Flinte nicht ohne Gegenwehr ins Korn zu werfen. So geschieht etwas Unerhörtes: Sandra, wiewohl zwischen Resignation und Selbstmord schwankend, nimmt den Kampf auf – und sucht das persönliche Gespräch mit den Kollegen, die sich eigentlich schon längst gegen ihr Verbleiben ausgesprochen haben. Nein, besser, für die Prämie. Genau das aber ist Sandras Chance auf ihrem unfreiwilligen Feldzug gegen die Entsolidarisierung der Gesellschaft: Sie konfrontiert – ungewöhnlich genug – ihre Kollegen mit sich, verleiht ihrem „Fall“ ein Gesicht, in das hinein man seine Entscheidung begründen muss. Damit ist die Struktur von „Zwei Tage, eine Nacht“, dem neuen Film des belgischen Brüder-

paares Jean-Pierre und Luc Dardenne, vorgegeben. Sandra mischt sich in das Wochenende ihrer Kollegen, trifft sie beim Sport, beim Autowaschen, beim Zweit-Job oder auf der Straße nach dem Frühschoppen. Manche lassen sich auf ein Gespräch ein, manche verweigern sich, manche lassen sich verleugnen, manche werden aus Scham aggressiv, manche machen auch keinen Hehl aus ihrem Egoismus. Die Zeit ist zwar knapp, aber die Zahl der Kollegen auch überschaubar. So gelingt es den Dardennes meisterlich, ein soziales Panorama vor dem Zuschauer auszubreiten, in dem Vielen ihr kleines Glück im Winkel wichtiger ist als eine Geste der Solidarität. Denn eine solche Geste ist kostspielig – und natürlich haben alle gute Gründe für ihr jeweiliges Verhalten, die Sandra durchaus auch verstehen kann. Ihr geht es ja nicht anders: Hausbau, Schulden, die Ausbildung der Kinder, die kleinen Extras, die man sich dank der Prämie nun leisten

kann. Wie in einem klassischen Stationendrama wandert Sandra von Gespräch zu Gespräch und sammelt Erfahrungen, erfährt Ablehnung, aber auch spontane Zustimmung. Dass sich Solidarität auch als Ausdruck christlicher Nächstenliebe verstehen lässt, erfährt Sandra vom farbigen Leiharbeiter Alphonse, der aber gleichzeitig auch Repressionen fürchtet, wenn er Sandra unterstützt. Sandras Kollegen sind in unterschiedliche Macht-Positionen differenziert, was wie die gewählte Betriebsgröße, die zu klein für gewerkschaftliche Organisationsformen ist, für die präzise Recherche der Dardennes spricht. Alles scheint an der Oberfläche vielleicht eine Spur zu modellhaft auf eine Art von Lehrstück getrimmt, aber beim genaueren Hinsehen zeigt sich die Arbeit der Dardennes als filmischer Realismus, der Beobachtungen verdichtet, anstatt vorgefertigte Thesen bloß zu bebildern. Trotzdem

Filmdienst 22 | 2014

36-51_Kritiken_22_2014.indd 36

15.10.14 16:41


neue filme kritiken

setzen die Filmemacher einen etwas forcierten moralischen Schlusspunkt, der sich zwar gut anfühlt, aber letztlich politisch folgenlos bleiben wird. Sandra hat es dem System noch einmal gezeigt, aber diese Geste zielt eher in den Zuschauerraum im Kino als in den Aufenthaltsraum der Kollegen im Film, in dem die geheime Abstimmung erfolgt. Doch auch auf die anderen Figuren im Film hat Sandras Initiative Wirkung gezeigt, wenn auch nur auf dem Niveau eines Hoffnungsfunken. Ulrich Kriest Bewertung der filmkommission

nach einem krankheitsausfall möchte eine frau in ihren job zurück. inzwischen wurde ihre arbeit jedoch gegen einen bonus auf ihre kollegen verteilt. ihr chef will dies zum status quo machen und ihre stelle einsparen; die kollegen sind des finanziellen vorteils wegen damit zufrieden. der frau bleibt ein wochenende, sie dazu zu überreden, sich mit ihr zu solidarisieren. dank genauer beobachtung der arbeitswelt und eines differenzierten figurenensembles machen die brüder dardenne aus der oberflächlich gesehen etwas modellhaften konstellation ein meisterliches soziales panorama und ein plädoyer für solidarität. sehenswert ab 14.

deux jours, une nuit. belgien/frankreich 2014 regie, buch: jean-pierre dardenne, luc dardenne kamera: alain marcoen schnitt: marie-hélène dozo darsteller: marion cotillard (sandra), fabrizio rongione (manu), pili groyne (estelle), simon caudry (maxime), catherine salée (juliette), batiste sornin (m. dumont), alain eloy (willy), olivier gourmet länge: 95 min. | kinostart: 30.10.2014 verleih: alamode | fsk: ab 6; f fd-kritik: 42 652

der kreis

Semidokumentarische Geschichte der schwulen Emanzipation in der Schweiz „wir waren so geprägt vom verstecken, dass uns allein der Gedanke, es könne einmal so etwas wie eine registrierte Partnerschaft geben, wie ein traum erschienen ist“, staunt kurz vor Schluss des Films Ernst Ostertag – und neben ihm auf dem Sofa nickt Röbi Rapp verschmitzt. Im Sommer 2003 waren Ostertag und Rapp das erste homosexuelle Paar, das in der Schweiz heiratete. Bis heute leben sie gemeinsam in Zürich. „Der Kreis“ von Stefan Haupt erzählt ihre Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Geschichte der Homosexuellen in Zürich, die weitaus mehr als eine regionale Angelegenheit gewesen ist. Mitte der 1950er-Jahre beginnt der junge Referendar Ernst Ostertag seine Arbeit an einer Zürcher Mädchenschule, wo es nicht gern gesehen wird, dass er im Unterricht Camus lesen lässt. Noch weniger gern wäre er gesehen, wüsste die Schulbehörde um seine homophilen Neigungen. Andererseits ist in der Schweiz Homosexualität früher als in anderen Ländern kein Straftatbestand, weshalb Zürich zum attraktiven internationalen Treffpunkt der frühen Schwulenbewegung wurde. In der Stadt residierte auch eine schwule „Selbsthilfeorganisation“ mit dem Namen „Der Kreis“, die ein gleichnamiges, international wahrgenommenes Periodikum publizierte und ab 1948 einen Club führte, der als Treff-

punkt der Szene diente. Hier begegneten sich auch Ernst Ostertag und der junge Frisör Röbi Rapp. Die beiden Männer verlieben sich ineinander, aber bis sie Ende der 1960er-Jahre in eine gemeinsame Wohnung einziehen, muss das Paar allerlei Konflikte lösen, die exemplarisch alle Varianten zwischen Heimlichtuerei, Verleugnung und Eingeständnis der eigenen Identität durchspielen. Als Ende der 1950er-Jahre Morde im „Stricher-Milieu“ Zürich aufschrecken, ändert sich das Klima in der Stadt. Es kommt zu Razzien, Verhören, Misshandlungen, Denunziationen und zur Einführung eines Schwulenregisters. Als 1960 ein Tanzverbot für Männer mit Männern vom Stadtrat verabschiedet wird, verliert „Der Kreis“ zunächst sein finanzielles Standbein, muss 1967 das Erscheinen der Zeitschrift einstellen und löst sich kurz darauf auf. Erst die Studentenunruhen des Jahres 1968 sorgen dafür, dass sich die staatliche Repression anderen Zielen zuwendet. Stefan Haupt ergänzt seine „Oral History“ der Zürcher Schwulenbewegung durch Dokumentarmaterial und füllt Lücken durch exemplarisches Re-Enactment, was dem Film heute etwas anachronistisch die Anmutung von klassischem Fernsehdokumentarismus verleiht, aber andererseits bestens in die Zeit passt, zu der der Film spielt. Gleichzeitig erhält der

Film durch dieses Verfahren eine Multiperspektivität, die unterschiedliche und einander widersprechende Haltungen zum „Coming Out of the Closet“ durchspielt. In Zeiten wachsender und auch gewaltbereiter Homophobie erzählt „Der Kreis“ mit viel Lokalkolorit eine Geschichte zwischen geduldeter Subkultur, Repression und institutionalisierter Akzeptanz, die in diesem speziellen Fall sogar den Protagonisten ein Happy End ermöglicht. Dass es auch andere, problematischere Biografien gab, macht der Film aber nachdrücklich klar. Ulrich Kriest Bewertung der filmkommission

semidokumentarische geschichte der zürcher schwulenbewegung, exemplarisch erzählt entlang der in den 1950er-jahren beginnenden liebesgeschichte zweier männer und ihres umfelds rund um die schwule »selbsthilfeorganisation« und den club »der kreis«. mit hilfe von dokumentarischem material und reenactments gelingt dem film eine facettenreiche einlassung auf ein persönliches schicksal und die entwicklung der schwulen emanzipation in zürich, deren beobachtungen über den lokalen kontext hinausweisen. – ab 16.

schweiz 2014 regie: stefan haupt buch: stefan haupt, ivan madeo, urs frey, christian felix kamera: tobias dengier musik: federico bettini schnitt: christoph menzi darsteller: matthias hungerbühler (ernst ostertag), sven schelker (röbi rapp), anatole taubman (felix), marianne sägebrecht (erika), stephan witschi (rolf), antoine monot jr. (gian), markus merz, martin hug länge: 106 min. | kinostart: 23.10.2014 verleih: salzgeber | fsk: ab 12; f fd-kritik: 42 653

Filmdienst 22 | 2014

36-51_Kritiken_22_2014.indd 37

37

15.10.14 16:41


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.