Filmdienst 23 2013

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CHRISTIANE PAUL +++ KURT HOFFMANN +++ FRANÇOIS OZON +++ MOHAMMAD RASOULOF

FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 7. november 2013

23|2013 Künstlerische Befruchtung

FILM TRIFFT SONG WIE SONGS IM KINO GESCHICHTEN ERZÄHLEN. SIEBEN BEISPIELE

Cityguide

CINE-ZÜRICH

EIN STREIFZUG DURCH DIE KINOKULTUR DER SCHWEIZER METROPOLE

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BEL Ö M ERD

FASSBINDER FOREVER

Der große Regisseur des Neuen deutschen Films wird im Deutschen Filmmuseum mit einer Ausstellung gewürdigt. Eine Chance, Rainer Werner Fassbinder neu zu entdecken.

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AUF DEN FLÜGELN DES GESANGS Sieben Songs in sieben Filmszenen, die unsere Autoren im Kino aufhorchen ließen. Zum Start von François Ozons „Jung & schön“ eine bunte Palette wunderschöner Song-Bild-Kohärenzen.

Akteure

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Mit einer immensen Dichte von Kinos, die ständig auf- und umgerüstet werden, ist Zürich ein prosperierendes, aber auch etwas vergessliches Eldorado für Filmfreaks. Ein Streifzug. Von Irene Genhart + Zürich im Film, Internet + Festival-Kalender

Eine interdisziplinäre Ausstellung im Filmmuseum Frankfurt geht dem Wirken R.W. Fassbinders nach, indem sie sein Schaffen mit heutiger Film- und Videokunst konfrontiert. Ein Besuch. Von Josef Nagel

FD-CITYGUIDE (IV): ZÜRICH SCHÖN & (UN)VERGESSLICH

LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD

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Alle Filme im TV vom 9.11. bis 22.11. Das Extraheft 44 Seiten Extra-Heft: Alle Filme 80.000 Film-Kriti k e n u n t e r w w w. f i lmdienst.d

im TV

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DIE NÄCHSTE KINOREVOLUTION? Mit der lichtstärkeren und sparsameren Laserlichtprojektion scheint nach Digitalisierung und 3D die nächste Investitionswelle auf die Kinos zuzurollen. Von Reinhard Kleber + Laserprojektion versus Xenonlampe

und doppelten Boden wirft sich Schauspielerin Christiane Paul privat und beruflich in Rollen, die Spannung und Herausforderung bieten. Ein Gespräch zum Start ihres neuen Films „Eltern“. Von Margret Köhler

PER ANHALTER DURCH DIE GALAXIS 9.11. SF 2

Ständige Beilage

FILM

DER KRIEG DES CHARLIE WILSON 19.11. ORF 2

IM TV 9.11.–22.11.2013

HOTEL LUX 17.11. ARD

BLAUBEERBLAU 16.11. Bayern 3

SIE LIEBT IHN - SIE LIEBT IHN NICHT 14.11. arte

Mein Freund Knerten Charmanter Kinderfilm mit sprechendem Ast Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des Königs Fantasy-Epos Im Alter von Ellen Gesellschaftlich es Ausbruchsdrama von Pia Marais

[9.11. KindeRKAnAl] [14.11. VOX] [22.11. ARte]

mein freund Knerten 9.11. Kinderkanal der herr der ringe – die rückkehr des Königs 14.11. VOX im alter von ellen 22.11. arte

Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über den Wettlauf der nichtenglischsprachigen OscarKandidaten (S. 27).

Vielfalt bei den „Auslands-Oscars“ Neue Filme auf DVD/Blu-ray

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Fotos: Peter Gauhe (Cover). S. 4/5: Senator; Peter Gauhe; Barnsteiner; Arsenal; Ascot Elite; Walt Disney Studios

OHNE NETZ

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Neue Filme

Film-Kunst 26

DVD-PERLEN Klug, poetisch und ästhetisch brillant dreht der Iraner Mohammad Rasoulof tiefgründige Parabel-Filme über die Missstände in seiner Heimat. Von Ralf Schenk

+ ALLE STARTTERMINE

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al-khoroug lel-nahar [14.11.] Blackfish [7.11.] Blue jasmine [7.11.] captain phillips [14.11.] chasing ice [7.11.] computer chess [7.11.]

Als „Master of the Universe“ wird sich nicht nur der Ex-Broker der gleichnamigen Finanz-Doku gefühlt haben. Auch die Männerfiguren der Fiktion sind versiert in ihrem Metier: „Don Jon“ als Held der Web-Pornos und Hammerträger „Thor“ im Marvel-Universum.

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DIE RÜCKKEHR DES KABARETTS Oft als Wohlfühlkino abgetan, steckt in Kurt Hoffmanns Tonfilmoperetten mehr als triviale Unterhaltung. Die 7. Folge unserer Serie „Musik liegt in der Luft“. Von Helmut G. Asper

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MAGISCHE MOMENTE Zusammengekauert und nackt erfuhr 1984 ein „Terminator“ seine kosmische Niederkunft. Die Geburt eines Kultfilms, der als B-Movie konzipiert war. Von Rainer Gansera

Kritiken und Anregungen?

kinotipp der katholischen Filmkritik

s. 36 DJECA – KINDER VON SARAJEVO [7.11.] Drama von Aida Begić

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don jon [14.11.] eltern [14.11.] ender‘s Game [24.10.] escape plan [14.11.] fack ju Göhte [7.11.] der fast perfekte mann [24.10.] das große heft [7.11.] Gypsy spirit [14.11.] hawaii [7.11.] hemel [14.11.] im weißen rössl [7.11.] jackpot [14.11.] jenseits der hügel [14.11.] jung & schön [14.11.] das kleine Gespenst [7.11.] Kopfüber [7.11.] Last Vegas [14.11.] die Legende vom Weihnachtsstern [14.11.] master of the universe [7.11.] sharknado [7.11.] the act of Killing [14.11.] thor - the dark Kingdom [31.10.] tödliche hilfe [7.11.] um jeden preis [7.11.] Video Vertov [17.10.] Wolkig mit aussicht auf fleischbällchen 2 [24.10.] You‘re next [7.11.] Zaytoun [14.11.] Zonenmädchen [14.11.] Zwei Verrückte: chinese connection [17.10.]

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s. MASTER OF THE UNIVERSE

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s. DON JON

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s. THOR – THE DARK KINGDOM

RUBRIKEN editorial inhalt magazin e-mail aus hollywood im Kino mit ... Vorschau impressum

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Eben erst hat ein deutscher Film den Mut gezeigt, die Handlung mit einem Pop-Song zu beginnen: „Finsterworld“ verbindet die einleitende Waldidylle mit „The Wind“ von Cat Stevens. Nun zeigt einmal mehr François Ozon seine Liebe zum Gesang, indem er in „Jung & schön“ (Kritik in dieser Ausgabe) die Übergänge der Jahreszeiten durch vier Chansons von Françoise Hardy strukturiert. In vielen faszinierenden Spielarten werden Songs immer wieder in Kinofilmen verwendet und setzen dramaturgische Akzente. Eine kleine Bestandsaufnahme mit sieben sehr persönlichen Entdeckungen.

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Songs & Kino „Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen, trag ich dich fort.“ (Heinrich Heine, „Buch der Lieder“, 1827) Pop-Songs und das Kino: Das ist eine fruchtbare, ebenso traditionsreiche wie vielfältige Allianz. Fast jeder populäre (Film-)Song im Kino hat seine Geschichte, jeder Zuhörer wiederum verbindet ganz eigene Geschichten, Erinnerungen und Empfindungen mit einem bestimmten Rock- oder Pop-Song, einem Schlager oder Chanson, den er im Kino gehört hat. Wen man fragt, reagiert spontan: „Raindrops keep falling on my head“ (aus „Zwei Banditen“), „Moon River“ (aus „Frühstück bei Tiffany“), „The Bare Necessities“ (aus Disneys „Dschungelbuch“), „Mrs. Robinson“ (aus „Die Reifeprüfung“), sogar „Eye of the Tiger“ (aus „Rocky“)… Mitunter weiß man nicht mehr, was zuerst da war, der Song oder der Film, so eng hängt beides zusammen: „Shaft“ und Isaac Hayes, „Easy Rider“ und Steppenwolf, selbst „Highlander“ und Queen verschmelzen zur anachronistischen (und eklektizistischen?) Einheit. Lange bevor moderne Tonträger ihren kommerziellen Siegeszug antraten und noch länger bevor populärkulturelle Diskurse über den gesellschaftlichen Stellenwert von Musik und Schlager aufflammten, waren es oft die Film-Stars selbst, die sangen und dabei quasi ihr eigenes Song-Fundament aufbauten. Kaum ein Regisseur des klassischen Hollywood-Kinos jonglierte dabei so virtuos mit dem Einsatz von Song-Material wie Billy Wilder: Ihm dienten die Lieder nie nur als Schmuck, sondern stets als konstitutives dramaturgisches Erzählmoment, das die Handlung „erklärte“ oder weiterführte und sie emotional prägte. In „Sabrina“ (1954) prallen mit den Schlagern „La vie en rose“ und „Isn’t it romantic?“ die Grundprin-

Filmkunst

Zitat entschlüsseln kann, spürt ihre ganze emotionale Tiefe. Populäre Songs bereichern also im Idealfall das filmische Erzählen – dies umso mehr, wenn sie markant, womöglich sogar dramaturgisch entscheidend eingesetzt werden. Es geht demnach weniger um „auditiv dekorative“ Musical-Szenen, auch nicht um die modern gewordene (Un-)Sitte, einen Filmnachspann dadurch vermeintlich attraktiver zu machen, dass man einen Rock-Song oder eine Ballade darunter packt – obwohl der Effekt selbst hier verblüffend sein kann, etwa wenn zuvor entfachte Gefühle noch weiter kondensiert werden (à la „May it be“ von Enya in „Der Herr der Ringe“) oder gar kathartisch über die Stränge geschlagen (à la „I just want to celebrate“ von Rare Earth in „Expendables 2“). Entscheidender aber ist, dass Songs dazu beitragen, (filmische) Räume und Zeiten zu überspringen und sie in ein neues Verhältnis zu setzen; wobei sie den Zuschauer/Zuhörer zum Verbündeten machen, zum kognitiven Connaisseur, zum emotionalen „Versteher“. Das New-Hollywood-Kino konstituierte seine kritische politische Haltung auf der Basis von zeitgenössischem Song-Material: Hits wie „The End“ von den Doors (in „Apocalypse Now“) oder „Who’ll Stop the Rain?“ von Creedence Clearwater Revival (in Karel Reisz’ „Dreckige Hunde“) vermittelten intensiver die Kritik am Vietnam-Krieg als so manche Rede. Für das Lebensgefühl einer ganzen Generation stehen dann mitunter Film-Songs, etwa jene von Cat Stevens in „Harold & Maude“ oder von Simon & Garfunkel in „Die Reifeprüfung“. „Manische“ Regisseure mit geradezu enzyklopädischem Musikwissen haben aus dem Einsatz von Pop-Songs eine eigene Kunstform gemacht, unter ihnen Martin Scorsese,

AUF DEN FLÜGELN DES GESANGS Was Pop-Songs im Kinofilm zu erzählen haben. Sieben liebesgeschichten. zipien zweier Lebenswelten aufeinander; in „Manche mögen’s heiß“ (1959), einem wahren Feuerwerk musikalischer Erzählstrategien, singt Marilyn Monroe den Song „I’m thru with Love“ voller Trauer, die den „Betrüger“ Tony Curtis zutiefst beschämt für einen Moment in eine dunkle Schattenwelt drängt. Damals war „I’m thru with Love“ bereits ein fast 30 Jahre alter Hit, den Nat King Cole, Bing Crosby und Sarah Vaughn sangen. Und seine Kinogeschichte ging weiter: Im selben Jahr, in dem ihn Diana Krall neu interpretierte, griff Woody Allen ihn leitmotivisch für „Alle sagen: I Love You“ (1996) auf – Goldie Hawn singt das Lied tanzend am SeineUfer und verliert dabei wortwörtlich den Boden unter den Füßen. Endgültig zur postmodernen Pop-Ikone avancierte der Song in „Spider-Man 3“ (2007): Kirsten Dunst singt den Song ähnlich desillusioniert wie Marilyn Monroe, und erst wer die Szene mit dem „reuigen“ Tobey Maguire als direktes

Cameron Crowe („Almost Famous“!), Wes Anderson, Paul Thomas Anderson oder auch Wong Kar-wai. Und vor allem: Quentin Tarantino, der in seinen Filmen immer wieder sein Füllhorn voller pointiert und beziehungsreich platzierter Songs ausschüttet. Am nachhaltigsten wirkt bis heute die „Perversion“ des Songs „Stuck In The Middle With You“ von Stealers Wheel als Untermalung einer Folterszene in „Reservoir Dogs“ (1992). Solche emotionalen Sollbruchstellen machen die Beziehung von Songs und Kino faszinierend, nicht nur, wenn sie schockieren, sondern auch wenn sie zu Tränen rühren, gerade weil sie dramaturgisch so virtuos eingesetzt werden können wie Aimee Manns „Save Me“ in „Magnolia“ (1999). Genau solchen Eindrücken spüren auch die nachfolgenden sieben persönlichen „Liebesgeschichten“ nach: Kino „auf den Flügeln des Gesangs“. Horst Peter Koll

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1. WIR PFEIFEN AUF DAS SCHICKSALSLIED

DORIS DAY SINGT „QUE SERA, SERA“ IN „DER MANN, DER ZU VIEL WUSSTE“ (1956) VON ALFRED HITCHCOCK

Ein Schlaflied, ein Kirchenchoral, eine Kantate für Mezzo, Chor und Orchester: Es wird viel gesungen in der zweiten Version von „the man Who Knew too much“. Und es wird falsch gesungen und geschrien. HitchcockFilme sind weniger Schlager denn Jazz-Stücke – voller Blue Notes, Experimenten, Überraschungen. Doris Day spielt Jo McKenna, die einst als Sängerin Erfolge feierte, aber ihre Karriere vertrug sich nicht mit der Rolle als

Mutter und Arzt-Ehefrau. Jo singt nur noch, um ihren kleinen Sohn ins Bett zu bringen. Der Refrain des Songs „Que sera, sera“ passt zur Situation, mit der sich Jo offenbar arrangiert hat: Wie es kommt, so kommt es, wir können ja nicht in die Zukunft sehen. Mütter, behauptet das Lied, wissen das; und es mag im Rückblick entlastend sein, dass niemand Einfluss auf seine zukünftige Rolle, soziale Stellung und Aussehen neh-

men kann. Aber es ist natürlich Schlager-Blödsinn. Der Film ist die Antithese zur Schicksalsergebenheit des Liedes – und die Korrektur fängt schon im Titel an: „Der Mann, der zu viel wusste“ spielt auf den Informationsvorsprung der McKennas an. Je brenzliger die Lage, desto unabdinglicher die Einflussnahme. Zentrale Metapher ist die Aufführung einer Kantate – noch ein „Song“ – in der Londoner Royal Albert Hall. Was ist denn wichtiger, fragt Hitchcock in dieser Sequenz, die Kunst oder das Leben? In das Musikstück ist gleichsam ein Mord hineinkomponiert.

Geschossen wird beim Beckenschlag. Perfekte Aufführung, perfektes Verbrechen? Jo McKenna, die „zu viel“ weiß, um passiv zu bleiben, muss die glänzende Aufführung mit ihrem Schrei stören. Nachdem sie auf diese Weise den bedrohten Premierminister gerettet hat, wird sie auch für ihren Sohn aktiv. In der Botschaft, in der das Kind festgehalten wird, singt sie, nein, sie brüllt „Que sera, sera“. Noch einmal – indem sie zur Irritation der Staatsgäste viel zu laut singt – verstößt Jo gegen die Kunst und die reaktionäre Moral des Songs, der uns in Sicherheit wiegt. Hitchcock sagt: Bleib wach! Tu was! Jens Hinrichsen

charles trenets Chanson „Boum“ muss bei seinem ersten Erscheinen im Jahr 1938 von ansteckender und zugleich widerständiger „SKYFALL“ PERVER- Lebensfreude gewesen sein. In zeitgenösTIERT DIE FRÖHLICH- sischen Filmauftritten kann man den franKEIT DES SCHLAGERS zösischen Sänger, Schauspieler, Kompo„BOUM! BOUM!“ nisten und Dichter Trenet (1913–2001) als ungebrochenen Optimismus ausstrahlenden Charmeur bewundern, der Melodie und Texte ebenso naiv-schlicht wie hintersinnig-verspielt vorträgt: „Quand notre coeur fait Boum Boum!“ Hergé würdigte den Schlager ein Jahr später in seinem Tim-und-Struppi-Comic „Im Reiche des schwarzen Goldes“, ganz zu Beginn mit einer kleinen Hommage. Da lagen bereits die Schatten des bevorstehenden Weltkriegs über dem Chanson sowie auch über Hergés fröhlichen Zeichnungen. Mehr als weitere 50 Jahre später stand im Kinofilm „toto, der held“ (1991) „Boum“ immer noch für ungebrochen „schöne“ Erinnerungen an eine längst vergangene Kindheitsidylle: Intakte Familien schunkeln beim Zuhören, verliebte Kinder stoßen mit 2. EIN KLEINER SCHOCK

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Songs & Kino

3. I’M A WIDOW

CHARLOTTE GAINSBOURG HÖRT „CREEP“ VON RADIOHEAD IN „HAPPY END MIT HINDERNISSEN“

Für mich und wahrscheinlich viele Altersgenossen ist „Creep“ der ultimative Soundtrack der „Teenage Angst“. Wenn man in den 1990er-Jahren Teenager war, kam man schwerlich vorbei am herrlichen Weltschmerz dieses Songs der britischen Alternative-Rock-Band Radiohead, in dem das lyrische Ich

vielsagenden Blicken sanft ihre Köpfe zusammen, und selbst die Blumen im gepflegten Vorgarten bewegen ihre Blüten harmonisch „tanzend“ zum Rhythmus des Liedes. „Il était une fois…“ Dass Trenets Song-Klassiker dann noch einmal ganz anders ins Kino zurückkehrte, war ein kleiner Schock: Im JamesBond-Vehikel „skyfall“ (2012) ist der Agent in die Fänge des sadistischen Bösewichts Raoul Silva geraten, dämonisch gespielt von Javier Bardem. Auf seinem Insel-Versteck hat Silva die schöne Sévérine (Bérénice Marlohe) als Verräterin enttarnt und sie inmitten einer Industrie-Ruine zur Hinrichtung auserkoren – die niemand anders als James Bond durchführen soll. Und über die ganz bizarre Szenerie dieser Betonbrache hinweg schallt blechern aus irgendwie und irgendwo installierten Lautsprechern „Boum“: „Et le bon Dieu dit boum/Dans son fauteuil de nuages…“ Ist der Sadismus dieses Arrangements ohnehin kaum noch zu überbieten, pervertiert die Fröhlichkeit des Schlagers endgültig die Situation, auf die James Bond äußerlich zwar unbewegt reagiert, die aber doch seine ohnehin angeschlagene seelische Befindlichkeit noch weiter prägen dürfte: Burnout, Kindheitstrauma, Liebesverlust… der ganze Schmerz einer versteckten Seele spricht durch einen Schlager, der von schönen Dingen erzählt und doch auch auf die hässlichen Wunden einer Seele verweist. Horst Peter Koll

Filmkunst

das tut, was man in dem Alter mit besonderer Hingabe tut: sich als „creep“ und „weirdo“ fühlen, fremd in der Welt und ungeliebt von den engelhaften Wesen, die „so fucking special“ sind. Die Protagonisten in Yvan Attals Film „Happy End mit Hindernissen“ (2004), einer episodischen Dramödie um die Beziehungsprobleme mehrerer Figuren, sollten diese Phase eigentlich hinter sich haben: Sie sind erwachsen, liiert und/oder abgebrüht in Sachen Liebe. Doch dann steht Gabrielle (Charlotte Gainsbourg), gestandene Ehefrau, Mutter und Maklerin, eines Tages in einem großen Musikladen, hört in eine CD rein, und während die Klänge von Radioheads „Creep“ in ihr Ohr rauschen, taucht neben ihr ein Mann auf. Weil diese kleine Cameo-Rolle von Johnny Depp verkörpert wird, sieht er so aus, als wäre die Textzeile „You look like an angel“, die Gabrielle gerade hört, direkt auf diesen Fremden getextet worden – und aus der gefestigten Erwachsenen wird ein unsicheres Mädchen. Die Kamera geht ganz nah an die Gesichter heran, und sie wie auch der Song, der die Atmo-Geräusche des wimmelnden Kaufhauses ablöst, schaffen einen künstlichen Intimitätsraum um die beiden. Während sie mit Kopfhörern an der Hörstation stehen, entspinnt sich zwischen ihnen etwas, was mit dem Wort „Flirt“ nur unzureichend beschrieben ist. Kurze Blicke werden einander zugeworfen, ein Lächeln wird getauscht. Doch machen der Song und die Gesichter, zwischen denen die Schärfe hinund her verlagert wird, klar, dass es hier nicht um etwas Spielerisches geht, sondern um etwas seltsam Ernstes: Charlotte Gainsbourg sieht geradezu betroffen aus. Als der Fremde den Kopfhörer ablegt und geht, steht sie kurz wie versteinert da. Dann läuft sie fast panisch los, um in der Menschenmenge nach dem Mann zu suchen. Klar, dass eine Begegnung, deren Choreografie „Creep“ folgt, letztlich unerfüllt enden muss. Doch auch wenn sich aus dieser Szene kein konkreter Handlungsstrang entwickelt, wirken die romantische Erschütterung und die durch sie freigesetzte Sehnsucht, die Gabrielle hier erlebt, nach: Sie lässt sie den Status quo ihres Lebens, ihrer Ehe in Frage stellen. Im Original heißt der Film „Ils se marièrent et eurent beaucoup d’enfants“; eine klassische Happy-EndFormel. Radiohead hält dagegen: „I don’t belong here.“ Felicitas Kleiner

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Filmkunst

Songs & Kino

4. UND DIE UNSCHULD ENDET

Ein lauer Abend, ein Landsitz, der sich durch ausgedehnte Gärten vor allzu neugierigen Blicken Fremder schützt, ein gepflegtes Dinner in einem teuer, aber nicht aufdringlich eingerichteten Esszimmer, schwere Vorhänge, ein noch schwererer guter Rotwein und die Aufforderung zum Tanz. Evelyn Stoker (Nicole Kidman) war sich sicher, was gleich passieren würde. Immerhin hat sie lange genug darauf hingearbeitet. Und ihr Lieblingssong erfüllt die Szenerie: „She saw my silver spurs and said let‘s pass some time / And I will give to you summer wine.“ „Stoker“ (USA/GB 2013) von Park Chan-Wook ist ein Film über das verführende Spiel mit der Verführung. Niemand weiß, wer am Ende die Oberhand behalten wird. Doch der Zuschauer ahnt, dass jene, die im Augenblick so sicher erscheinen, es am Ende vielleicht nicht mehr sind. „Take off your silver spurs and help me pass the time / And I will give to you summer wine.“ Lee Hazlewood schrieb den Song „Summer Wine“ im Jahr 1967. In der berühmtesten Version hat er Nancy Sinatra den Part der singenden Verführerin überlassen, die „am Morgen danach“ den Mann ausgeraubt und sich verzehrend zurück lässt: „She took my silver spurs a dollar and a dime / and left me cravin’ for more summer wine.“ Auch bei Park Chan-Wook wiegt sich seine Protagonistin Evelyn zunächst in Sicherheit. Doch dann verlässt das immer bedrohlicher werdende C-Moll im stetigen Crescendo allmählich die Ebene der aus dem Hintergrund erklingenden Verführungsmusik und wird schließlich zur tragenden Filmmusik. „Winter Wine“ wird damit zur emotionalen Erlebensebene des Zuschauers, der zumindest ahnt, dass es eigentlich Evelyn ist, die hier im Netz zappelt: „My eyes grew heavy and my lips they could not speak / I tried to get up but I couldn‘t find my feet.“ Es sind die Blicke von Charlie (Matthew Goode) in Richtung von Evelyns hinter dem Vorhang kauernder Tochter India (Mia Wasikowska). Nur sie und mit ihr der Zuschauer wissen, dass diese Blicke das Lied und dessen Bedeutung umkehren. Doch wie gesagt: Die beiden Protagonisten haben keine Ahnung. „And I will give to you summer wine – Ohhh-oh summer wine.“ Jörg Gerle

„SUMMER WINE“ AUS „STOKER“

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„In dem Moment, als wir uns am nächsten waren, betrug die Entfer„CALIFORNIA nung zwischen ihr und mir nicht DREAMIN‘“ IN mehr als einen Millimeter. Sechs „CHUNGKING Stunden später verliebte sie sich in EXPRESS“ einen anderen Mann.“ Mit solch melancholischen Sätzen zum eingefrorenen Bild eines Zufallszusammenpralls rollt in Wong Karwais „chungking express“ (1994) eine zweite Liebesgeschichte an. Freilich nicht zwischen dem traurigen Streifenpolizisten, der diese Worte spricht, und der Drogenschmugglerin, in die er sich unglücklich verliebte, sondern zwischen einem seiner Kollegen und der Imbiss-Mitarbeiterin Faye. Zugleich waren es die Stichworte, zu denen zum ersten Mal der Song ertönte, der wie kein anderer der Sehnsucht der Figuren aus dem Herzen sprach: „All the leaves are brown / and the sky is grey / I’ve been for a walk / on a winter’s day / I’d be safe and warm / If I was in L.A. / California dreamin‘ / On such a winter’s day.“ Lautstark schallen die Strophen aus dem CD-Spieler, neben dem Faye Chefsalat und Pizza zubereitet und dabei entrückt Kopf und Körper im Takt der Musik bewegt. Manchmal starrt sie auch einfach nur ins Leere. Je lauter, desto besser, dann müsse sie nicht nachdenken, schreit Faye gegen die Töne der „Mamas and Papas“ an. Wie oft mag sie diesen Pop-Folk-Song der 1960er-Jahre schon gehört haben? Wie oft die Gedanken, die sie nicht zulassen will, schon nicht gedacht haben? Und wie oft kann man einen Song ertragen, bevor die Liebe zu den Tönen in Abneigung umschlägt? „Chungking Express“ ist ein wunderschöner Film der Sehnsucht und „california dreamin‘“ der entsprechende Song dazu. Sehnen tun sich hier alle Figuren: der unglücklich verlassene Polizist wie sein Kollege mit der Nummer 663, dem seine Ex-Freundin, eine Stewardess, einfach davonflog, und Faye, die in der neonbeleuchteten Imbissbude in einer der schwülen Gassen Hongkongs schuftet. Hier herrscht kein “Winter’s Day“, und der Himmel ist nicht „grey“, dafür aber so schwarz wie die Nächte, in denen der Polizist zu ihr an die Theke kommt. Am Ende verabreden sie sich zu einem Date in der gegenüberliegenden Bar California, zu dem Faye nicht kommt. Ausgeträumt scheint das „California Dreaming“ - wäre da nicht diese von ihr hinterlassene Bordkarte, ausgestellt auf Dienstnummer 663 und auf ein Jahr später. Das Feld „Destination“ ist unleserlich, ausgewaschen vom niederprasselnden Regen über Hongkongs Straßenschluchten. Kathrin Häger

Fotos: Universal/Sony/Pathé Renn/Twentieth Century Fox/Kinowelt/Buena Vista/Pegasos/FD-Archiv

5. TRÄUMEN MIT OFFENEN AUGEN

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6. GIBT ES EIN LEBEN AUF DEM MARS?

SEU JORGE INTERPRETIERT DAVID BOWIE IN „DIE TIEFSEETAUCHER“

Es ist natürlich nur ein Klischee, dass die Melancholie im Herzen der portugiesischen Sprache liegt. Aber ein sehr lebendiges. Der Fado mag seinen Teil dazu beigetragen haben, das Wissen um die verlorene Größe der einstigen Seemacht und wohl auch der melodiöse Singsang, der das Portugiesische gleichermaßen poetisch und schräg, verwandt und fremd erscheinen lässt. Kurzum: Diese Sprache klingt so, als würden sich aus einem romantischen Paradies Vertriebene in ihr unterhalten – womit wir auch schon bei Wes Anderson wären, einem der großen Exzentriker des amerikanischen Independent-Films. Sämtliche Filme Andersons bis einschließlich „Die Tiefseetaucher“ (2004) handeln von schwelenden Vater-Sohn-Konflikten und dem nie eingelösten Versprechen einer behüteten Kindheit. In diesem Fall begegnen der Ozeanologe Steve Zissou (Bill Murray) und sein unehelicher Sprössling einander erst, als letzterer schon erwach-

7. AUSBRUCHSVERSUCH

sen ist. Gemeinsam stechen sie in See, um ein geheimnisvolles Tiefseephantom zu finden und darüber einen Film zu drehen. Dass diese Kindheitsfantasie vom Leben der Erwachsenen von tiefer Melancholie durchzogen ist, merkt man spätestens, wenn der von Seu Jorge gespielte Sicherheitsoffizier an Bord zum ersten Mal zur Gitarre greift. Er singt „starman“, einen der großen David-Bowie-Klassiker, in brasilianischem Portugiesisch, was in seiner ver-

Man könnte meinen, im Abseits der Provinz habe Musik eine längere Verweildauer. 1973 konnte man in einem Eiscafé in Wuppertal noch „On the Road again“ von Canned Heat in einer Jukebox finden. Und im Sommer 2000 konnte man in einem portugiesischen Strandcafé noch auf Tim Hardins „How can we hang on to a dream“ aus dem Jahre 1966 stoßen. Die junge Jeanne drückt diesen Song, während sie auf ihre Eltern wartet, raucht oder mit Surfern wie Heinrich plaudert. Der lichte, mit Jazz grundierte Sound des Tim-Hardin-Folks – unter den Mitmusikern seines Debütalbums finden sich John B. Sebastian und Gary Burton, für die Streicher-Arrangements zeichnete Artie Butler verantwortlich – überspielt ein wenig die schmerzhafte Melancholie seiner emotionalen Texte. „How can we hang on to a dream?“ handelt vom Verlust einer Liebe, von einer einseitigen Aufkündigung einer Beziehung: „What can I say / She´s walking away from what we’ve seen / What can I do? / Still loving you / It’s all a dream ...“ Der Song gibt die Stimmung von Christian Petzolds Kino-Debüt „Die innere Sicherheit“ (2000) vor und legt gleichzeitig eine falsche Fährte, denn der Film erzählt vom Alltag einer Familie von Ex-Terroristen, die im Untergrund lebt. Hängt diese Familie noch immer dem Traum vom gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse an? Nein, diese „Familienzelle“ ist nicht nur komplett aus der Zeit gefallen, sondern hat zudem intern derart repressive Strukturen entwickelt, dass Tochter Jeanne ihre ganz persönliche

„HANG ON TO A DREAM“ VON TIM HARDIN IN „DIE INNERE SICHERHEIT“

trauten Fremdheit genau die richtige Tonlage für die späte Begegnung zwischen Sohn und Vater ist. Ein bisschen wie vom Himmel (oder aus süßen Träumen) gefallen, wirken sämtliche Figuren des Films, und so wiegt sich das Schiff weiter im Rhythmus verfremdeter Bowie-Songs. „Gibt es Leben auf dem mars?“, singt Jorge später, doch anders als im Songtext, sieht man die sich prügelnden Matrosen bei Wes Anderson immer wieder wie zum ersten Mal. Michael Kohler

anti-anti-autoritäre Revolte probt. Selbst, wenn sie am Schluss noch der Hilfe eines mobilen Einsatzkommandos bedarf, um das „walking away from what we’ve seen“ zu schaffen. Notgedrungen. Der erfolgreiche Komponist, aber glücklose Sänger Tim Hardin nahm kurz vor seinem Tod 1980 noch ein sehr schönes Live-Album auf. Es trägt den Titel „the homecoming concert“. Und natürlich erzählt „Die innere Sicherheit“ auch davon, dass Jeannes Familie davon träumt, einmal nach Hause kommen zu können. Stattdessen heißt es schon viel zu lange „Running on empty“, wie der Song von Jackson Browne, der Sidney Lumets Film zum gleichen Thema den Titel gab. Ulrich Kriest

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im Kino

Das erste Bild von Isabelle ist durch einen voyeuristischen Blick vermittelt, es zeigt die Umrisse eines Fernrohrs. Von einer Anhöhe aus wird das junge Mädchen beim Sonnenbaden am Strand beobachtet – ein retrohaftes Bild, das zudem mit den Elementen des klassischen französischen Kriminalfilms flirtet, bevor es sich dann doch als recht unschuldig zu erkennen gibt. Der Spanner ist Isabelles pubertierender Bruder, der gerade sein Interesse für die Sexualität der Schwester entdeckt. In François Ozons Film „Jung & schön“ guckt immer irgendwer auf die modelschöne, dekorativ in Szene gesetzte Isabelle. Selten wird der Blick als solcher thematisiert und subjektiviert wie in der Anfangsszene, meist aber ist er einem nicht näher ausgewiesenen Beobachterstandpunkt zugeordnet – etwa wenn Isabelle, die inzwischen ihre Nachmittage als Prostituierte im gehobenen Milieu verbringt, auf dem Weg zu ihren Kunden durch die Hotelflure schreitet und ihr die fließende Kamera folgt. Was aber das Mädchen selbst sieht und fühlt und begehrt, dafür hat der Film keine Sprache – ebenso wie Isabelle, die über ihre Motive beharrlich schweigt. Nur wenige Male sieht auch Isabelle. In den Sommerferien, kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag, hat sie das erste Mal BEWERTUNG DER FILMKOMMISSION nach ihrer ersten, für sie enttäuschenden sexuellen erfahrung beginnt eine Siebzehnjährige, sich in ihrer Freizeit zu prostituieren. eine erklärung dafür liefert weder die junge Frau selbst noch der Film, der eine seltsam opake coming-ofAge-Geschichte erzählt, die der Regisseur in gewohnter manier mit genrefremden elementen anreichert. Dass die hauptdarstellerin dabei ausschließlich das dekorative Blickobjekt anderer bleibt, macht den Film dabei mitunter etwas fragwürdig. - Ab 16.

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Jung & schön [14.11.]

Unter der Haut

François Ozon inszeniert ein Drama um Jugendprostitution Sex und es ist ziemlich ernüchternd. Während sich ein deutscher Junge an ihr abmüht, verlässt sie ihren Körper und betrachtet sich von außen, ist gleichzeitig Akteurin und Beobachterin. Nach den Sommerferien beginnt Isabelle, sich über das Internet mit Männern zu verabreden, um Geld geht es dabei nicht. Anfangs agiert sie noch etwas unbeholfen, allmählich aber wird ihr Auftreten selbstsicherer, der Schritt fester, der Blick direkt und herausfordernd; sie professionalisiert sich. An einer realitätsnahen Darstellung von Prostitution ist Ozon jedoch nicht im Entferntesten interessiert. Der Sex ist gänzlich schmuddelfrei, die Hotels gepflegt, die Hemden der Männer immer frisch gebügelt. Die reichen, meist älteren Kunden sind zwar nicht besonders sympathisch, aber auch nicht besonders schlimm. Gewalt gibt es keine – so wie es auch sonst keinen Widerstand gibt. Also gleitet Isabelle weiter elegant durch Hotelflure und Betten. „Jung & schön“ ist in dem gleichen souveränen neo-klassizistischen Stil gehalten, der auch schon Filme

wie „Swimming Pool“ ausmachte. Die Teile, die das familiäre Milieu beschreiben, sind etwas realitätsnäher, nüchterner in Szene gesetzt, die Welt der Prostitution kommt mit einer eher aufpolierten, traumähnlichen Visualität daher – elegante Montagen, fluide Atmosphären, mitunter ist das an der Grenze zur Gediegenheit. Ozon aber wäre nicht Ozon, würde er nicht hin und wieder stilistische Brüche einbauen – wie etwa eine nahezu dokumentarische Szene, in der Isabelle und ihre Mitschüler im Unterricht ein Rimbaud-Gedicht über jugendliche Verwirrtheit interpretieren. Weniger buchstäblich funktionieren die vier Chansons von Françoise Hardy, die den in vier Jahreszeiten episodisch strukturierten Film auf ironische Weise gliedern. Erzählung, Text und Stimmung der Musik verhalten sich asymmetrisch zueinander, wenn etwa Hardys Melancholie auf Isabelles Indifferenz stößt. Lustig sind auch Ozons Überlegungen zur Ökonomie. Als Isabelles Mutter von den Nachmittagsaktivitäten ihrer Tochter erfährt, schleppt sie sie umgehend zu einem Thera-

peuten. Isabelle folgt dem Druck der Familie zuerst nur widerwillig, kann sich dann aber doch sehr für ihre Idee begeistern, die 70-EuroStundensätze der Therapie mit den eigenen 300-Euro-Honoraren zu bezahlen. Worauf Ozon in seiner mit genrefremden Elementen unterwanderten Coming-of-Age-Geschichte hinaus will, bleibt seltsam unbestimmt, der Film schließt den Zuschauer aus Isabelles Erfahrungswelt konsequent aus. Das ist einerseits frustrierend, andererseits aber macht Ozon diese Lücke in den Szenen mit der Mutter immer wieder zum Thema. An einer Stelle erzählt Isabelle dem Therapeuten, dass ihr die sexuellen Begegnungen selbst gar nichts bedeutet hätten, nur in der Rückschau habe sie Gefallen daran gefunden. Ozon erteilt damit der authentischen Erfahrung eine Absage: erst die Verstellung und der Blick von außen auf ein filmisch aufbereitetes Selbst produzieren eine lebendige Wahrnehmung. Eine nicht uninteressante Überlegung, der allerdings auch Isabelles Autonomie zum Opfer fällt. Esther Buss

Jeune & Jolie Frankreich 2013 Regie, Buch: François ozon Kamera: Pascal marti Musik: Philippe Rombi Schnitt: laure Gardette Darsteller: marine Vacth (isabelle), Géraldine Pailhas (Sylvie), Frédéric Pierrot (Patrick), Fantin Ravat (Victor), Johan leysen (Georges), charlotte Rampling (Alice), nathalie Richard (Véronique), Djédjé Apali (Peter), lucas Prisor (Félix), laurent Delbecque (Alex), Jeanne Ruff (claire), Serge hefez (Psychiater), carole Franck (Polizistin) Länge: 93 min. | FSK: ab 16; f Verleih: Weltkino | Kinostart: 14.11.2013 FD-Kritik: 42 011 Handwerk InHalt darsteller

Filmdienst 23 | 2013

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Fotos: Jeweilige Verleiher

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