Filmdienst 23 2014

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GESCHiCHTE iM FiLM

FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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Die Nazi-Vergangenheit ist fürs deutsche Kino längst kein Tabu mehr. Doch gibt es immer wieder Debatten um die »richtige« Darstellung.

JESSiCA CHASTAiN Die rothaarige Aktrice hat sich zu einer Leading Lady gemausert. Aktuell glänzt sie nicht nur in Christopher Nolans neuem Film »Interstellar«.

FiLMSTADT CHiCAGO Unser neuer CityGuide: Die Metropole am Michigan-See lieferte illustre Schauplätze um Al Capone und Co. Doch Chicago ist noch viel reicher in Sachen Kino- und Filmkultur.

www.filmdienst.de www.fi lmdienst.de

MOMMY

Das Prädikat »Wunderkind« mag er nicht, aber

es passt: Bereits mit Mitte 20 hat der kanadische

Regisseur Xavier Dolan seine ganz eigene, kraftvolle Handschrift entwickelt. Seine Filme spielen lustvoll und raffiniert mit den Konventionen filmischen

Erzählens. Jetzt startet sein Film »Mommy« im Kino. 23 4 194963 605504

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6. November 2014 € 5,50 67. Jahrgang

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filmdienst 23 | 2014 neu im kino Alle StArttermine

50 49 45 48 50 42 48 45

Bären 13.11. Bevor der Winter kommt 13.11. Castanha 6.11. Citizenfour 6.11. Das grenzt an Liebe 6.11. Den Himmel gibt’s echt 6.11. Dragan Wende - West Berlin 6.11. Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss 13.11. Die Familie 6.11. G.B.F. 13.11. Gardenia - Bevor der letzte Vorhang fällt 13.11. Graceland 6.11. ich. Darf. Nicht. Schlafen 13.11. im Labyrinth des Schweigens 6.11. in the Name of the Son 6.11.

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KiNOTiPP

16 david mackenzie

19 neues zum kinderfilm

20 Jessica chastain

der katholischen Filmkritik

46 interstellar 6.11. Sci-Fi-Drama von Christopher nolan 50 40 36 38 41 50 51 48 50 48 44 50

Karneval! Wir sind positiv bekloppt 6.11. Mommy 13.11. Mr. Turner – Meister des Lichts 6.11. Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis 13.11. Plötzlich Gigolo 6.11. Die Präsenz 30.10. Quatsch und die Nasenbärbande 6.11. Ruhet in Frieden – A Walk among the Tombstones 13.11. The Bachelor Weekend 6.11. The Strange Color of Our Body’s Tears 13.11. White Shadow 6.11. Zombiber 6.11.

24 veit helmer

fernseh-tipps 55 die erstausstrahlung von abel gances restauriertem antikriegsklassiker »J'accuse« ist ein stummfilm-highlight des herbstes. außerdem im programm: filmreihen zu lars von trier, rudolf thome und harun farocki.

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33 festival hof

28 cityguide chicago

Fotos: titel: Weltkino. S. 4/5: Warner Bros./Prokino/Arsenal/Universal/farbfilm/Hofer Filmtage/Jens Hinrichsen/Salzgeber.

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inhalt kino

akteure

film-kunst

16 david mackenzie

20 Jessica chastain

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10 deutscher historienfilm

20 Jessica chastain

27 e-mail aus hollywood

eine scheu vor der deutschen vergangenheit gibt es im deutschen kino nicht mehr. aktuell greifen mit christian petzolds »phoenix« und giulio ricciarellis »im labyrinth des schweigens« gleich zwei filme die nachkriegszeit auf - ein moralisch durchaus ambivalentes unterfangen.

ob als liebevolle mutter wie in »the tree of life« oder zielstrebige ermittlerin wie in »zero dark thirty«: die amerikanische schauspielerin lotet die unterschiedlichsten weiblichen rollenbilder aus und entzieht sich gekonnt jedem rothaarigen-klischee. das porträt einer vielseitigen.

die ankündigung des online-streamdienstes netflix, künftig neben serien auch filme zu produzieren und exklusiv zu vertreiben, sorgt für unruhe bei den traditionellen studios. an einem schulterschluss hollywoods mit den neuen medien aus silicon valley führt kein Weg mehr vorbei.

Von Rüdiger Suchsland

Von Kathrin Häger

Von Franz Everschor

15 Xavier dolan

mit seinen 25 Jahren hat der kanadische autodidakt bereits fünf filme inszeniert und gehört zu den aufregendsten und radikalsten regisseuren der Welt. ein interview zum start seines in cannes prämierten films »mommy«.

mit »Quatsch und die nasenbärbande« hat der regisseur einen fabulierfreudigen film für kinder im vorschulalter gedreht. ein gespräch über die begeisterungsfähigkeit kindlicher zuschauer und den kampf mit fantasielosen finanziers.

24 veit helmer

28 cityguide chicago

Von Margret Köhler

Von Horst Peter Koll

Von Jens Hinrichsen

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26 in memoriam

32 hofer filmtage

souverän bewegt sich der schottische regisseur zwischen den genres. sein knastdrama »mauern der gewalt« ist ein schlüsselwerk für ein oeuvre, das immer wieder von einschränkungen und ihrer überwindung handelt. ein porträt. Von Marius Nobach

19 kinderfilm

das frankfurter filmmuseum startet einen »minifilmclub« für vorschulkinder, während in köln der drehbuchpreis »kindertiger« verliehen wird und zum 25. mal das festival »cinepänz« stattfindet.

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der tschechische darsteller pavel landovsky, der defa-dokumentarfilmregisseur peter rocha und die amerikanische schauspielerin misty upham sind gestorben. drei nachrufe.

die stadt am michigan-see musste immer wieder als kulisse für gangsterfilme herhalten, hat cineasten aber nicht zuletzt durch ihre zahlreichen festivals erheblich mehr zu bieten. aufbruch zu einer neuen »cityguide«-tour.

filme zu aktuellen politischen themen dominierten das programm beim festival im fränkischen hof, bei dem traditionell vor allem deutsche filme ihre premiere feiern. Von Margret Köhler

34 magische momente

Was steckt hinter den masken? hollywoods eigenwilliger visionär tim burton stellte in »batmans rückkehr« die identitätsfrage. Von Rainer Gansera

rubriken editorial inhalt magazin dvd/blu-ray tv-tipps dvd-perlen vorschau / impressum

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kino david mackenzie

mit seinem krimi­drama »Young Adam« (2003) mit Tilda swinton und ewan mcGregor wurde der Filmemacher david mackenzie bekannt. seine Filme bewegen sich in unterschiedlichen Genres, ihr gemeinsamer kern ist die Auseinandersetzung mit räumlichen und/oder psychischen einschränkungen, die überwunden werden müssen. das gilt besonders für sein neuestes Werk, den Gefängnisfilm »mauern der Gewalt«. Von Marius Nobach

von mauern und anderen gefängnissen über den schottischen filmemacher david mackenzie

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Gefangen in ihrer Welt: »Mauern der Gewalt«

Der junge »Hallam Foe«

Verbissen trainiert Eric (Jack O’connell) in seiner Gefängniszelle, stählt mit Liegestützen seinen Körper. mit 19 Jahren ist er gerade erst vom Jugendgefängnis in den Knast für erwachsene überstellt worden. er will gerüstet sein für die einzige Zukunft, die er sich vorstellen kann: den Aufstieg zur gefürchteten und bewunderten »Knastgröße«… mit dieser scheinbar so vertrauten Kino-Prämisse beginnt David mackenzie sein Gefängnisdrama »mauern der Gewalt«. Umso bemerkenswerter, wie rasch er das klischeebesetzte Bild von der »Hölle hinter Gittern« dann hinter sich lässt: eric mimt zwar den Unbeugsamen, verhält sich oft aber auch wie ein verunsichertes Kind, das sich heftig sträubt, als ihm sein leibhaftiger Vater neville gegenübertritt. neville sitzt seit 15 Jahren wegen mord ein, er kennt eric kaum, ist aber fest entschlossen, seine Vaterschaft auszuüben. Auf Widerstände hat er nie anders als mit Gewalt reagiert – eine schlechte Voraussetzung für das Verhältnis zu seinem Sohn. Der ist keineswegs begeistert von einem mann, der ihm nach all der Zeit Vorschriften machen will. Das Knastleben ist hart und brutal, David mackenzie inszeniert es schonungslos authentisch. Und doch war es weniger diese realistische Atmosphäre, die »mauern der Gewalt« lobeshymnen einbrachte, als vielmehr die spannungsgeladene Vater-SohnBeziehung: Durch eine Serie von Konfrontationen scheint diese unaufhaltsam auf eine Katastrophe zuzusteuern, mündet am ende aber auf bewegende Weise in Verständigung und liebe, ohne an Glaubwürdigkeit einzubüßen. mackenzie erklärt, dass er »nichts anderes als einen Gefängnisfilm« gedreht habe, sein erstes »reines« Genre-Werk. Das mutet seltsam an, nimmt man aber alle acht bisherigen Spielfilme mackenzies in den Blick, dann ist diese Aussage durchaus stimmig. im übertragenen Sinne befinden sich mackenzies Figuren immer in irgendeiner Art von Gefangenschaft. manchmal sind es konkrete räumliche einschränkungen, innerhalb derer sie sich bewegen, oft durch die Gebundenheit an einen eng begrenzten Handlungsort. Das kann ein Boot auf den schottischen Kanälen sein (»Young Adam«, 2003), eine Anstalt für Geisteskranke (»Stellas Versuchung«, 2005), auch ein rock-Festival (»rock in the Park«,

hierzulande veröffentlicht.

Langfilme Mackenzies wurden auch

als UK-Import erhältlich; alle anderen

»The Last Great Wilderness« ist auf DVD

Roman »Der Schnee war schmutzig«.

Neuverfilmung von Georges Simenons

Geplant The Stain on the Snow, eine

2013 Starred Up (Mauern der Gewalt)

2011 You Instead (Rock in the Park)

2011 Perfect Sense

2009 Spread (Toy Boy)

2007 Hallam Foe – This Is My Story

2005 Asylum (Stellas Versuchung)

2003 Young Adam

2002 The Last Great Wilderness

1994 – 2000 Kurzfilme

Filmografie David Mackenzie

david mackenzie kino

Die Arzt-Ehegfrau in »Stellas Versuchung«

2011). noch öfter aber tritt das motiv der Gefangenschaft in der mentalen Verfassung der Personen hervor: mackenzies Protagonisten teilen den Hang zur Obsession, eine krankhafte Fixierung auf ein bestimmtes Ziel, die sie – wenn überhaupt – nur unter großen Opfern überwinden können. ein wenig von einer solchen Obsession kann man auch bei David mackenzie selbst vermuten. Geboren im Jahr 1966, stammt er aus einer Familie von Anwälten und marineoffizieren, verschaffte sich seine Filmkenntnisse als Angestellter eines Kinos mit repertoireProgramm und inszenierte nach mehreren Kurzfilmen 2002 sein Spielfilmdebüt »the last Great Wilderness«. eine damals wenig beachtete Fingerübung, obwohl mackenzie hier bereits sein Gespür für Atmosphäre und Spannungsdramaturgie zeigt: ein männliches »odd couple« unternimmt einen bizarren road trip durch ein tristes, menschenleeres Schottland. Der eine will sich an dem mann rächen, der ihm die Frau ausspannte, der andere will seine Geliebte wiedersehen, obwohl deren ehemann ihm mit dem tod gedroht hat. ihre eigentlichen Ziele rücken indes in den Hintergrund, als sie in einem einsamen Hotel stranden. Das Ambiente ist einladend, löst aber dunkles Unbehagen aus; die anderen Gäste wohnen dort bereits seit Jahren, zeigen sich freilich kaum. Bald hindern geheimnisvolle Kräfte die neuankömmlinge daran, den Ort wieder zu verlassen. Unübersehbar haben Alfred Hitchcock und David lynch Pate gestanden, doch mackenzie begnügt sich nicht mit bloßen Zitaten, setzt sie vielmehr virtuos ein, um sein Publikum auf falsche Spuren zu locken: Was als düsteres road movie beginnt, wird zum Horrorfilm mit surrealistischem einschlag und blutigem Höhepunkt, entzieht sich bis zum Schluss aber einer klaren Deutung. Die letzten Bilder sind die einer utopischen Harmonie, bei denen keine ironie mehr zu erkennen ist. Halten kann man sich allein an die erklärung des freundlichen Hotelbesitzers: »normale regeln gelten hier nicht.« Das könnte programmatisch über mackenzies Gesamtwerk stehen. So sorgsam ausgewählt und in ihren Grenzen eindeutig festgelegt

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Liebessehnsüchte: »Young Adam«

macKenzies Figuren sind keine Sympathieträger. Unbeirrt folgen sie ihren Obsessionen und erreichen zwangsläufig fast immer einen Punkt, an dem sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere gefährden. in »Stellas Versuchung« ist es zunächst leicht, sich mit der vernachlässigten Frau (natasha richardson) eines Psychiaters zu identifizieren, die sich in einen seiner Patienten verliebt. Stella verlässt ihre Familie für den charmanten mann, der allmählich seine gewalttätige Seite enthüllt und sie misshandelt. Stellas Zufluchtsort wird ebenso zum Käfig wie es zuvor das eheliche Haus war, doch kann sie ihre leidenschaft auch dann nicht überwinden, als sie zu ihrem mann zurückgebracht wird und ihr liebhaber in die Anstalt kommt. Allmählich verfällt auch sie dem Wahnsinn. mackenzie beobachtet dies mit kühl distanziertem Blick, den er nicht einmal aufgibt, als Stella tatenlos zusieht, wie ihr Sohn in einem Fluss ertrinkt. nach »Young Adam« und »Stellas Versuchung« galt mackenzie als Spezialist für schwermütige Stoffe, doch hat er sich davon nicht vereinnahmen lassen. Sein Grundsatz, möglichst unterschiedliche Filme zu inszenieren, führt fortan zu einer Aufhellung der Stim-

Fotos: Senator, Ascot elite, Prokino, Salzgeber, Alamode.

(David Mackenzie 2003 über »Young Adam«)

grafisch‹.«

Über Edinburghs Dächern: »Hallam Foe«

die Schauplätze auch sind, so sicher kann man sein, dass der Blick unter die Oberfläche Unerwartetes, sogar Beängstigendes zutage fördert. Unmittelbar führen das die Anfangsbilder von »Young Adam« vor: Die Kamera beobachtet einen Schwan, der ruhig auf einem Fluss dahingleitet, begibt sich dann jedoch auf eine Fahrt auf den Grund des Wassers. Sie fängt wild aufwirbelnden Schlamm und herabgesunkenen Schiffsschrott ein, um auf die leiche einer ertrunkenen Frau zu stoßen. Dieser stimmungsvolle Auftakt des düsteren Dramas mit Krimielementen visualisiert den Seelenzustand seines Protagonisten: Joe (ewan mcGregor) ist ein schweigsamer junger Fluss-Schiffer, der eine fatale Anziehungskraft auf Frauen ausübt und diese hemmungslos, oft auch gewaltsam ausnutzt. in verschachtelten rückblenden enthüllt sich seine Schuld am tod der ertrunkenen, die er weder sich noch anderen gegenüber eingesteht. Auch dann nicht, als ein Unschuldiger büßen muss.

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›reif‹ und nicht ›porno­

mit ›erwachsen‹ meine ich

Kino für Erwachsene. Und

mutiges und interessantes

sagen werden: Das ist

»Ich hoffe, dass die Leute

kino david mackenzie

Das Liebespaar in »Perfect Sense«

mung. Das betrifft auch einen Film mit einem so düsteren Sujet wie »Perfect Sense« (2011), in dem die menschheit eine unerklärliche Seuche befällt und sie nach und nach ihrer Sinne beraubt. Das ruft Gewalt und Anarchie hervor, doch mackenzie konzentriert sich vorrangig auf die Beschreibung des menschlichen Überlebenswillens, der sich auf die immer neuen, unerträglichen lebensbedingungen einstellt. »Hallam Foe« (2007) erscheint wie die weitere Studie eines Charakters, dessen Obsessionen zwangsläufig ein fatales ende nehmen; doch die Geschichte des voyeuristischen teenagers Hallam (Jamie Bell), der von seiner verhassten Stiefmutter verführt wird und sich in eine Doppelgängerin seiner verstorbenen mutter verliebt, verläuft unvermutet optimistisch und romantisch. Das ende setzt einen Kontrapunkt zu »Young Adam«: Auch hier wird ein Schwan ins Bild gerückt, doch die Schönheit des Vogels fungiert hier nicht als Kontrast zur lauernden Gefahr, sondern als Zeichen für eine hoffnungsvolle Zukunft. Das ist die andere Seite der Gefangenschaft: Die Betroffenen müssen sich mit ihr auseinanderzusetzen, und das durchaus positiv sein. Hallam Foe muss für seine voyeuristischen Umtriebe einstehen, indem er sich vor der begehrten Frau nackt auszieht, und begreift darüber die fragwürdige Seite seiner neigung. in eine ähnliche richtung geht die läuterung des sexuell beschlagenen Herzensbrechers in »toy Boy« (2009), auch wenn diese in mackenzies bislang einzigem US-Film reichlich moralinsauer gerät. Origineller ist »rock in the Park« (2011) über die Probleme eines rock-musikers und einer Punk-Sängerin. Bei einem Festival werden sie unverhofft mit Handschellen aneinander gefesselt und kommen sich dadurch im lauf von 24 Stunden näher. mackenzie greift hier auf klassische »romCom«-Formeln zurück, doch im Kern sind alle seine Filme liebesgeschichten. Die mentalen wie realen Gefängnisse, in denen seine Figuren leben, erscheinen nie wie für die ewigkeit gebaut; auch wenn alles dagegen spricht, bleibt die Chance auf eine glückliche Zukunft erhalten. So gibt es sogar in der unerbittlichen Knastwelt von »mauern der Gewalt« die Hoffnung auf einen positiven Ausgang. Sie steckt bereits im nachnamen der Hauptfigur: »love«.

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neu IM KIno FIlMKrItIKen herausragend, ein meisterwerk sehr gut, ambitioniert, lohnenswert solide und interessant wenig aufregend, mittelmaß verschenkt, enttäuschend ärgerlich, anstößig, eine Zumutung

mr. turner – meister des lichts mike leighs biografischer Film über den britischen maler William Turner (1775–1851) ist keine hommage an dessen kunst. Vielmehr beschäftigt er sich realistisch mit deren entstehungsbedingungen und glänzt nicht nur die kameraarbeit von dick Pope, sondern auch durch den grandiosen hauptdarsteller Timothy spall.

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kritiken neue filme

mr. turner – meister des lichts

Mike Leigh porträtiert den britischen Maler William Turner

Zuerst: ein Bild, wie gemalt. Eine Flusslandschaft im Abendrot, eine Windmühle, zwei Frauen in holländischer Tracht. mit ihnen setzt sich die Kamera in Bewegung, schwenkt und fokussiert auf einen mann, der am gegenüberliegenden Ufer in sein Skizzenbuch zeichnet. William turner (1775-1851), sagt diese großartig-lakonische eröffnung, übersieht das konventionell komponierte, noch ganz im frühen 19. Jahrhundert verhaftete Bild der Kamera. Doch dieser Künstler, der bedeutendste britische maler seiner Zeit, sieht etwas ganz Anderes. Was das ist, schildern turners gewaltige, zugleich luftigatmosphärische, licht und Farbe auf revolutionäre Weise preisende Gemälde. mike leigh weicht in seinem Bio-Pic, das die letzten 25

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lebensjahre des Künstlers umfasst, den Werken des malers jedoch eher aus. er zeigt sie nur en passant; die ästhetische Feier dieser solitären Kunst überlässt er lieber der Dokumentarabteilung des BBC. turner, der bislang noch nie Gegenstand eines Spielfilms war, wird das große Glück zuteil, bei seinem ersten Auftritt auf der leinwand an einen regisseur mit einem unkonventionellen, charakterstarken Konzept geraten zu sein. Wo ein meister wie Vincente minnelli in »Vincent van Gogh – ein leben in leidenschaft« den Künstlermythos mittels technicolor den van-Gogh-Gemälden nachpinselte, tut leigh knapp 60 Jahre später so ziemlich das Gegenteil. Der britische regisseur verzichtet auf mythos und Verklärung. es finden sich durchaus Bildka-

der, die turner-Werken nachempfunden sind. mithilfe von CGi-Verfahren zeigt leigh etwa, wie im Jahr 1838 das Schlachtschiff HmS temeraire von einem kleinen Schlepper zum letzten liegeplatz verfrachtet wird. Das entspricht dem Blickwinkel des zufällig in einem ruderboot sitzenden turner im moment der inspiration für ein späteres Werk: mit »the Fighting temeraire« vollendete turner 1839 eines seiner berühmtesten Bilder. Doch leigh und sein Kameramann Dick Pope schaffen kein Surrogat für die gespenstische Stimmung des Originals. Weitgehend verzichtet ihr Film auf die nachschöpfung von turner-Bildern; wo sie auftauchen, sind sie eher kurze einsprengsel in einem sehr realistischen Bio-Pic, das sich für die malerei als Praxis, für den schuf-

tenden maler und sein alltägliches Umfeld interessiert: die Familie, die mitarbeiter, die Kollegen der royal Academy, die tatsächlichen und potenziellen Käufer, die adeligen mäzene, die Kritiker. Vielleicht rechtfertigt die eher undramatische, auf innere und äußere Bewegungen statt auf überwältigende tableaus setzende Struktur des mächtigen Films die durchaus zwiespältige Wahl der digitalen Kamera. Sie erweist sich nur bedingt als »meisterin des lichts«, liefert harte, überscharfe, dem Sujet eigentlich widersprechende eindrücke. Ausgerechnet bei einem malerfilm verzichteten leigh und Pope zum ersten mal auf das klassische 35mm-Ausgangsmaterial. Womöglich fiel die entscheidung für den ArrirawProzess nicht ganz freiwillig,

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POLYBAND PRÄSENTIERT

neue filme kritiken soll die Finanzierung des Projekts doch lange Zeit auf der Kippe gestanden haben. Als perfekte Wahl erweist sich allerdings timothy Spall in der titelrolle. Für die intention des Films, nahe an turner heranzuführen und den Blick doch immer wieder an der harten Schale dieses schwierigen menschen abprallen zu lassen, ist Spall die ideale Besetzung. Ob turner tatsächlich so war, wie Spall ihn interpretiert, ist dabei nebensächlich, weil der bislang auf nebenrollen festgelegte Darsteller jeden Zweifel an der Kinowirklichkeit seiner Kreation beiseite fegt. minutiös vorbereitet – zwei Jahre lang trainierte Spall bei einem Profi das malen –, verkörpert Spall ein Künstlertum jenseits des Geniekults. malerei, das zeigen eine reihe Szenen mit den Konkurrenten innerhalb und außerhalb des akademischen Zirkels, war schon immer ein Geschäft und bisweilen pure Plackerei, »trial and error«, Drecksarbeit. Spalls turner, durch und durch ein Spross der londoner Arbeiterklasse, ist ein schroffer, skeptischer, mitunter verächtlicher Charakter, der in privaten momenten aber immer wieder mit unbeholfener Zärtlichkeit überrascht. Die Begegnungen zwischen dem Künstler und seinem Vater sind von großer Wärme getragen, ebenso die glückliche Beziehung des alternden turner mit seiner früheren Zimmerwirtin Sophia Booth. Schlichtweg genial setzt leigh die idee um, die heimliche Quasi-ehe des späten Paars schneidend mit der einsamkeit von turners Haushälterin Hannah Danby zu kontrastieren. Hannah vergöttert turner. in dessen letzten lebensjahren muss sie das Haus ihres Herrn alleine hüten. turner kommt nur noch sporadisch vorbei, weil Booth ihm ein neues Heim eingerichtet hat. im alten Atelier und dem Bilderlager tropft es durch die Decke, Hannah schleicht wie ein Gespenst durch die verwahrloste Wohnung. Das Gesicht dieser bemitleidenswerten Figur wird zunehmend von einem ekzem entstellt. Wäre Hannahs möglicherweise durch den Dauerkontakt mit giftigen Farbpigmenten bedingte Hautkrankheit nicht eine historische tatsache, würde man eine reminiszenz an Oscar Wildes »Bildnis des Dorian Gray« vermuten. Wobei leighs thema hier nicht das verborgene laster, sondern die tragik ungelebten lebens ist. interessanterweise wird das traurigste Schicksal einer nebenfigur aufgebürdet, anstatt den lebenslauf des malers selbst zum melodramatischen »Künstlerdrama« zu verbiegen. leigh behauptet weder, dass seine Hauptfigur übermenschlich leiden muss, noch lässt er dem hochtalentierten turner die meisterwerke nur so in den Schoß fallen. leighs realismus entsteht dabei nicht durch sklavische Geschichtstreue, sondern durch den Verzicht auf ein vorgefertigtes Skript. Auch diesmal hat der regisseur ein ensemble vertrauter Darsteller um sich geschart. neben timothy Spall, den leigh in »Das leben ist süß« erstmals ein-

setzte, sind ruth Sheen als turners keifende ex-Geliebte und lesley manville als urige Wissenschaftlerin mary Sommerville zu sehen. ihre Performance prägt den Plot entscheidend, da sie Szene für Szene viele Handlungsdetails während der Proben erschaffen. Produktiver als mike leigh hat wohl noch kein regisseur seine theatererfahrungen in die Filmarbeit eingebracht. Dass »mr. turner« ein Künstlerdrama im besten Sinn geworden ist und kein Bilderbogen in ehrfurcht erstarrter tableaus, macht ihn zum Ausnahmewerk in der bisherigen Geschichte des Künstlerfilms. Jens hinrichsen bewertung der filmkommission

biografischer film über den britischen maler William turner (17751851), der sich turners letzten 25 lebensjahren widmet. im gegensatz zu gängigen künstlerfilmen verzichtet er dabei auf mythos und verklärung des malers als genie und geht bis auf wenige bildkompositionen auch turners gemälden aus dem Weg. stattdessen schildert mike leigh mit packendem realismus sowohl das professionelle als auch das private umfeld turners im england seiner zeit und entwirft ein bild des künstlers als hartem arbeiter, der von timothy spall großartig verkörpert wird. – sehenswert ab 14.

DANIEL AUTEUIL KRISTIN SCOTT THOMAS LEÏLA BEKHTI RICHARD BERRY

BEVOR DER WINTER KOMMT EIN FILM VON

PHILIPPE CLAUDEL DEM REGISSEUR VON

SO VIELE JAHRE LIEBE ICH DICH

scope. großbritannien 2014 regie, buch: mike leigh kamera: dick pope musik: gary yershon schnitt: Jon gregory darsteller: timothy spall (turner), marion bailey (sophia booth), dorothy atkinson (hannah danby), paul Jesson, ruth sheen, lesley manville länge: 150 min. | kinostart: 6.11.2014

AB 13.11.2014 IM KINO

verleih: prokino | fsk: ab 6; f fd-kritik: 42 688

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kritiken fernseh-tipps

so

samstag 8. november

15:00–16:30 kika der fuchs und das mädchen r: luc Jacquet über die freiheit von mensch und tier frankreich 2007 sehenswert ab 8 15:15–16:45 ndr fernsehen wie angelt man sich einen millionär r: Jean negulesco spritzige komödie usa 1953 ab 16 20:15–22:05 br fernsehen wir wollten aufs meer r: toke constantin hebbeln düsteres ddr-drama deutschland 2012 ab 14 20:15–22:25 servus tv good bye, lenin! r: Wolfgang becker sohn hält für mutter ddr als illusion am leben deutschland 2002 ab 14

8. november, ab 21:30

3sat

John irving-abend

auf den literaturnobelpreis wartet der große amerikanische romancier John irving immer noch vergeblich. aber immerhin kann er sich mit einem »oscar« trösten: den erhielt irving im Jahr 2000 für das drehbuch zur adaption seines romans »gottes Werk und teufels beitrag«. der film ist tatsächlich ein paradebeispiel für den gelungenen medienwechsel vom buch zum film: er setzt durch verdichtung und auslassung überzeugend eigene akzente und macht aus irvings schillerndem philosophischen Werk eine atmosphärisch dichte initiationsgeschichte. 3sat zeigt den film, den lasse hallström u.a. mit tobey maguire und michael caine inszenierte, um 21.30; im anschluss folgt um 23.30 andré schäfers sehenswerte dokumentation »John irving und wie er die Welt sieht«. der film schlägt eine brücke zwischen dem literarischen Werk und der person irvings.

02:15–04:08 das erste die kinder der seidenstraße r: roger spottiswoode kriegsreporter rettet chinesische Waisenkinder austr./vr china/dt./usa 2008 ab 14 03:25–05:25 3sat die frau, die singt – incendies r: denis villeneuve erschütterndes familiendrama aus nahost kanada/frankreich 2010 ab 16

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20:15–22:10 arte zeit des erwachens r: penny marshall neues mittel holt patienten aus langzeitkoma usa 1990 ab 16 20:15–23:10 prosieben die tribute von panem – the hunger games r: gary ross auftakt einer dystopischen comingof-age-reihe usa 2012 ab 12

23:15–01:00 br fernsehen der westen leuchtet! r: niklaus schilling stasi-agent wird vom Westen verführt brd 1982

22:00–23:15 einsfestival in deinem bann gefangen r: lola doillon aufwühlendes entführungsdrama mit kristin scott thomas frankreich 2010 ab 16

23:30–01:00 3sat John irving und wie er die welt sieht r: andré schäfer dokumentarfilm über den us-autor John irving deutschland 2011 ab 14

13:35–14:55 br fernsehen so ein flegel r: robert a. stemmle die erste »feuerzangenbowle«verfilmung mit heinz rühmann deutschland 1934 ab 12

22:15–00:15 tele 5 new york, i love you r: div. u.a.: scarlett Johansson, shekhar kapur, fatih akin unterhaltsame hommage an den (film-)mythos new york in zehn episoden usa/frankreich 2009 ab 14

21:30–23:30 3sat gottes werk & teufels beitrag r: lasse hallström hervorragend inszenierte Johnirving-verfilmung usa 1999 sehenswert ab 16

22:25–00:50 servus tv serpico r: sidney lumet al pacino als undercover-polizist usa 1973

sonntag 9. november

8. november, 20:15–22:05

br fernsehen

wir wollten aufs meer

zwei junge männer in rostock träumen 1982 von einer zukunft auf see. gemeinsam mit einem dritten mann, der offen von republikflucht spricht, geraten sie in das monströse netz der staatssicherheit. der eine steigt zum spitzel im offiziersrang auf, der andere leistet Widerstand, bis es hinter gefängnismauern zu schikanen und psychoterror kommt. toke constantin hebbeln erzählt den film als düstere ddr-tragödie über menschen voller sehnsucht nach einer besseren Welt, die in die zwangsjacke eines systems geraten. darin beeindrucken nicht zuletzt die drei famosen darsteller (alexander fehling, august diehl und ronald zehrfeld), die kleine dramaturgische schwächen souverän überspielen. 8. november, 22:00–23:15

in deinem bann gefangen

einsfestival

erst tage nach dem ende ihrer entführung überwindet sich eine frau (kristin scott thomas), zur polizei zu gehen und ihren peiniger anzuzeigen, den sie kennt und lokalisieren kann. der aufwühlende film thematisiert das sogenannte »stockholm syndrom« und bezieht sein hohes maß an glaubwürdigkeit aus dem spiel der überragenden hauptdarstellerin. inszeniert wurde der film von lola doillon, der tochter des französischen meisterregisseurs Jacques doillon.

00:05–00:45 mdr mauerhase r: bartosz konopka kurzfilm: die deutsche teilung aus sicht der hasen polen/deutschland 2009 00:15–01:55 tele 5 manhattan r: Woody allen melancholische satire über »die« new yorker usa 1978 ab 16 01:55–03:48 das erste system ohne schatten r: rudolf thome spannender thriller und dreiecksmelodram brd 1983 ab 16 03:25–05:00 tele 5 homer und eddie r: andrej kontschalowski geistig zurückgebliebener freundet sich mit schwarzer anarchistin an usa 1988 ab 16

Fotos S. 55–65: Jeweilige Sender.

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Filmdienst 23 | 2014

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