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Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 21. november 2013

24|2013 Wenn Kinohelden aufs Ganze gehen:

HelDen & oPFer

DaS GUte im Kino mUSS oFt ÜBer Grenzen Gehen

Er gilt als der „totale Filmemacher“:

JerrY leWIS WÜrDiGUnG eineS GroSSen KomiKerS

HANNA SCHYGULLA

„Wach auf und träume“: Die durch Fassbinder berühmt gewordene Schauspielerin stellt ihre Autobiografie vor.

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alle Filme im tV vom 23.11. bis 6.12. Das extraheft 44 Seiten Extra-Heft: Alle Filme 80.000 Film-Kriti k e n u n t e r w w w. f i lmdienst.d

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im TV

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eiN eXTreMeS GLücKSKiND ist Jasna Fritzi Bauer, die für ihr Alter große Karriereschritte hinlegt und ihr Talent aktuell in „Scherbenpark“ unter Beweis stellt. Von Alexandra Wach

ICE AGE 2 - JETZT TAUT‘S 5.12. VOX

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DER HERR DER RINGE - DIE GEFÄHRTEN 26.11. Super RTL

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DAS MORPHUS-GEHEIMNIS 6.12. Kinderkanal

Akteure

FALCO - VERDAMMT, WIR LEBEN NOCH 4.12. EinsFestival

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VALERIE 27.11. zdf.kultur

James Bond 007: casino royale Agenten-Revitalisierung mit Daniel Craig [24.11. sRF 2] nader und simin - eine trennung Familiäre und soziale Risse im Iran [2.12. einsFestiVAl] Der elektrische reiter Romantischer Post-Western von Sydney Pollack [6.12. 3sAt]

Zwei Dokumentarfilme zeigen, wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit künstlerisch vergegenwärtigt werden können: Rithy Panhs „L’Image manquante“ und Claude Lanzmanns „Le dernier des injustes“. Von Daniel Kothenschulte

James Bond 007: Casino Royale 24.11. SRF 2 Nader und Simin - Eine Trennung 2.12. EinsFestival Der elektrische Reiter 6.12. 3sat

Zwiespältige Schönheit: die Prärie in der Cormac McCarthyVerfilmung „All die schönen Pferde“ (r.) und der High-Heel einer „Venus im Pelz“ von Roman Polanski (u.)

Kino 10

erLÖSe UNS VOM BÖSeN „Tore tanzt“ stellt einen radikalen Gegenentwurf zu den Selbstopfern der Blockbuster dar. Eine Übersicht über filmische Erlösungsfantasien. Von Felicitas Kleiner + „Tore tanzt“-Regisseurin Katrin Gebbe im Interview

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Der rOTe PLANeT Verfilmungen von Cormac McCarthyRomanen („No Country for Old Men“) ringen um die Bebilderung düster-karger US-Skizzen. Ein Rückblick anlässlich des Starts von „The Counselor“. Von Ulrich Kriest

24 BeDrOhT VON ALLeN SeiTeN Mit „Kinder von Sarajevo“ liefert Aida Begić ein ungeschminktes Porträt ihrer bosnischen Heimat. Ein Gespräch über Kopftücher als Mittel der Distanz, Politik und Korruption. Von Bernd Buder

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LeSeTiPPS Derek Jarmans Skizzenbücher und ein Sammelband über den HorrorregisseurJoe Dante.

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

Fotos: Verlagsarchiv Schirmer/Mosel (Cover); S. 4/5: Prokino, Columbia TriStar Home, Barnsteiner, Paramount. Neue Visionen, Universum, Edition Salzgeber, REM

FehLeNDe BiLDer

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Neue Filme + ALLe STArTTerMiNe

Film-Kunst

40 Am Hang [28.11.] 46 Aschenbrödel und der gestiefelte Kater [21.11.] 47 As Time Goes by in Shanghai [28.11.] 47 Benim Dünyam [31.10.] 46 Blancanieves [28.11.] 42 Die Eiskönigin [28.11.] 46 Die Familie mit den Schlittenhunden [28.11.] 47 Getaway [21.11.] 37 Ich und Du [21.11.] 44 Lunchbox [21.11.] 47 Malavita - The Family [21.11.] 44 Der Mohnblumenberg [21.11.] 45 Nichts als Regen [28.11.]

Vaterfiguren bestimmen die Genres: ob schmerzlich vermisst vom anime-mädchen in „Der mohnblumenberg“, präsent im Dokumentarfilm „Vaters Garten“ oder als gewalttätiges Substitut, ertragen im märtyrer-Drama „tore tanzt“.

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s. Der MOhNBLUMeNBerG

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Der TOTALe FiLMeMAcher Jerry Lewis verdrehte Augen und Beine und pfiff auf die Gesetze der Physik. Ein Porträt über den König der Komödie anlässlich der Viennale-Retro. Von Michael Ranze

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ANGSTFreUDe DeS LeBeNS Zum 70. Geburtstag veröffentlicht die Fassbinder-Muse Hanna Schygulla ihre Autobiografie und erzählt in uneitlen Splittern von Freiheitsdrang und Verletzlichkeit. Von Margret Köhler

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FeSTiVALS iM herBST Streifzüge durch die Programme von „DOK Leipzig“, die „Nordischen Filmtage“ in Lübeck und die „Viennale“ in Wien.

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MAGiSche MOMeNTe Mit seismografischer Präzision bebildert Michelangelo Antonioni in „Blow up“ das „Swingin’ London“ und seziert die Entfremdung des Lebens. Von Rainer Gansera

Kritiken und Anregungen?

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s. VATerS GArTeN

Kinotipp der katholischen Filmkritik

s. 41 ScherBeNPArK [21.11.] Drama von Bettina Blümner

47 Seytan-i-Racim Die Vertreibung des Teufels [31.10.] 46 Stille Nacht [28.11.] 47 Tage am Strand [28.11.] 36 The Counselor [28.11.] 47 The Love Police [28.11.] 43 Tore tanzt [28.11.] 39 Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern [21.11.] 38 Venus im Pelz [21.11.]

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s. TOre TANzT

rUBriKeN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über Katastrophenfilme, die ihre prominent besetzten Figuren in existenzielle Ausnahmezustände treiben (S. 27).

Der letzte Funken

hoffnung Kontaktieren Sie uns über info@film-dienst.de oder besuchen Sie uns auf Facebook (www.facebook.com/filmdienst).

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Mit intensiven, sehr plastischen und mitunter auch recht drastischen Beschreibungen von Natur, Menschen und ihren mystifizierten Beziehungen hat sich der Romancier Cormac McCarthy einen festen Platz im US-Kino erobert. Viele seiner Romane wurden verfilmt, McCarthy selbst arbeitet ebenfalls als Drehbuchautor, aktuell für „The Counselor“, der nun in die Kinos kommt. Von Ulrich Kriest

1.

Literaturverfilmungen haben einen schlechten Ruf. Insbesondere bei Lesern. Auch komplexe Theorieangebote, die beiden Medien großzügig eine Autonomie eigenen Rechts zuweisen, können nicht darüber hinwegtrösten, dass Verfilmungen häufig nicht über eine hilflose Bebilderung der Handlung hinauskommen. Die Hoffnung, dass der (unter Umständen missglückte) Film dem (gelungenen) Text mehr Leser verschafft, dürfte sich nur in den wenigsten Fällen erfüllen. Wenn es

Die Romane von Cormac McCarthy und ihre Verfilmungen

Der rote Planet

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Cormac McCarthy sich bei den gewählten Vorlagen dann auch noch um Texte von so genannten Schwergewichten der Literaturszene handelt, werden Animositäten zwischen Literatur- und Filmkritikern sichtbar. Literaturkritiker mutieren unvermittelt zu Filmkritikern und bleiben doch ihrem Medium verbunden. Der neue Film ist dann Anlass für ein Porträt des Autors; Filmkritiker hingegen sehen sich genötigt, sich dem Publikum auch als Kenner der schönen Literatur zu präsentieren, um ihre Reputation nicht zu verspielen.

2.

Wie soll das überhaupt gehen: einen Roman verfilmen, in dem Sätze zu lesen sind wie: „Er ritt zur üblichen Stunde, wo die Schatten lang waren und die alte Route sich im rosenfarbenen schrägen Licht abzeichnete wie ein Traum aus der Vergangenheit, als die bemalten Mustangs und Reiter jenes verlorenen Stammes von Norden kamen, (...), jeder gewaffnet zum Krieg, der ihr Leben war, die Frauen und Kinder, Frauen mit Kindern an ihren Brüsten, alle dem Blut verpfän-

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det und alle in Blut nur erlösbar. Wenn der Nordwind wehte, hörte man sie, (...) und über allem der leise Singsang des Reiterlieds, Stamm und Geisterstamm zogen in sanftem Choral durch die mineralische Einöde dem Dunkel entgegen, verloren für Geschichte und für Erinnerung, gleich einem Gral, Summe ihres weltlichen, vergänglichen und kriegerischen Lebens.“ Diese Sätze stehen am Anfang von Cormac McCarthys Roman „All die schönen Pferde“ (1992), dem ersten Band seiner

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„Border“-Trilogie. McCarthy, Jahrgang 1933, debütierte 1965 mit „The Orchard Keeper“. Sein zweiter Roman „Draußen im Dunkel“ erschien 1968, die Übersetzung ins Deutsche erst 1994. McCarthy gilt als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren. Die US-amerikanische Kritik vergleicht seine Bedeutung mit der von Don DeLillo, Thomas Pynchon oder Philip Roth, hinter vorgehaltener Hand auch mit Edgar Allan Poe, Herman Melville oder William Faulkner. Doch erst der Erfolg des Neo-Western-Romans „All die schönen Pferde“ machte McCarthys düstere und mythische Erzählkunst einem größeren Publikum bekannt. Zuvor galten seine Romane als Kassengift – und aufgrund ihrer extremen Gewalttätigkeit als prinzipiell unverfilmbar.

3.

Das änderte sich mit „All die schönen Pferde“. Darin brechen 1949 zwei Freunde in Richtung Süden auf, wo sie, ihrer Existenz als Farmer beraubt, auf Freiheit und Abenteuer hoffen. Doch Mexiko ist mehr als ein Versprechen: Es bietet kulturelle Differenzen und Missverständnisse, Liebe, Korruption, Mord, Gefängnis und Willkür. Sie kommen gerade so mit dem Leben davon. Dafür werden sie Zeugen eines grausamen Mordes der Polizei an einem minderjährigen Pferdedieb. Billy Bob Thornton brachte „All die schönen Pferde“ 2000 ins Kino. Finanziell war sein Film ein herber Misserfolg; auch hat er einen schlechten Ruf, was damit zusambiografisches menhängen mag, dass Thornton den Pulitzer-Preisträger Cormac McCarthy Film im Streit mit wurde am 20. Juli 1933 in Rhode Island den Produzenten geboren. Sein erster Roman „The Orchard um ein gutes DritKeeper“ erschien 1965; seine ab 1985 veröftel kürzen musste. fentlichten Werke (u.a. „Die Abendröte im Thorntons AdapWesten“, „All die schönen Pferde“, „Grenztion ist recht hetegänger“, „Land der Freien“, „Kein Land für rogen in der Wahl alte Männer“, „Die Straße“) erschienen in ihrer Mittel; zu Deutschland im Rowohlt Verlag. Beginn experimentiert die Insze-

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„Man kann McCarthys Oeuvre als fortlaufende Studie über den brennenden Zorn Amerikas betrachten und wie alltäglich dieser Zorn geworden ist.“ Annie Proulx

nierung ambitioniert mit dem Ton, um zu signalisieren, dass es hier um Erinnerungen eines Überlebenden geht; im weiteren Verlauf wird der Film immer konventioneller und verlässt sich zunehmend auf die reine Spannungsdramaturgie. An die abstrakte, mythisierende Schicht von McCarthys Prosa reicht er nicht heran; lieber flüchtet er in den Plot. Von dem eingangs zitierten Prosa-Ausschnitt verfilmt Thornton lediglich den Ritt in der Dämmerung. Während McCarthy das Skandalon der Ermordung des minderjährigen Jimmy Blevins durch einen korrupten Polizisten lakonisch auf Distanz hält und nicht mehr als ein Dutzend Zeilen dafür braucht, macht Thornton daraus das melodramatische Zentrum seiner Erzählung. Wie in der Prosa von Ambrose Bierce sowie den Filmen von Sam Peckinpah erscheint Mexiko auch hier als ein guter Ort zum Sterben: „Am Ende werden wir von allen Gesinnungen geheilt. Was das Leben nicht heilt, heilt der Tod. Die Welt ist sehr rigoros in ihrer Wahl zwischen Traum und Wirklichkeit, auch wenn wir es nicht sind. Zwischen dem Wunsch und den Dingen liegt die Welt auf der Lauer.“ All die Grausamkeit und Willkür, die die Protagonisten in Mexiko erleben, zeugt – das ist die Pointe von McCarthys Zivilisationskritik – von einem Leben, das nördlich der Grenze nicht mehr zu finden ist. Vor der umfassenden Desillusionierung rettet sich der Film in einen schmierig-beschwichtigenden Patriotismus. Bei McCarthy fällt das Fazit entschieden kulturkritischer aus: „Wir sind wie primi-

tive Stämme, die aus ihrer Kultur vertrieben sind und ihre Orientierung, ihre Identität, ihre Lebensfähigkeit verloren haben.“

4.

„No Country for Old Men“ spielt im Jahr 1980. In jener Zeit hat sich der Krisenbefund eher noch verschärft: Die Gewalt der Städte sickert in die Provinz und verwandelt das Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko in einen roten Planeten. Die Coen-Brüder kommen in ihrer Adaption dem McCarthy-Kosmos recht nahe, weil sie ebenso böse wie groteske Bilder für den Totentanz finden. Ihre gleichnamige Verfilmung trifft den Ton der Vorlage, die erneut das Walten des Schicksals mit der Theodizee-Frage verbindet. Der Jäger Llewelyn stößt bei der Jagd in der Wüste auf ein Massaker unter Drogenhändlern, aufmerksam gemacht durch einen hinkenden schwarzen Hund. Als Llewelyn aus dem Fund – Geld und Drogen – Kapital schlagen will, löst er eine Welle der Gewalt aus, die am Ende ihn und seine Frau verschlingt. Verantwortlich dafür ist der sinistre Killer Chigurh, der seine Opfer mit einem Bolzenschussgerät tötet, aber auch Schicksal spielt, wenn er das Los eines Münzwurfs über Leben und Tod entscheiden lässt. Eine alte Frau hält ihrem Mörder entgegen: „Die Münze kann gar nicht entscheiden. Das waren Sie. Nur Sie. Das zählt nicht.“ Womit sie einen Treffer landet, der die rigide Handlungslogik Chigurhs zumindest kurzzeitig transzendiert. Die Coens gönnen dem Zuschauer damit einen Lichtblick, den es im Roman

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Fotos: UPI/Senator/Copyright Porträt: Derek Shapton

Cormac McCarthy

so nicht gibt. Dort ist das Gespräch über Schuld, Sühne und Erlösung wesentlich länger. Als die alte Frau Chigurh auffordert, sein Urteil zu ändern („Sie können das ändern.“), antwortet dieser: „Ich glaube nicht. Selbst einem Ungläubigen kann es nützlich erscheinen, sich Gott zum Vorbild zu nehmen.“ Die Replik der Alten bringt es auf den Punkt, ändert aber nichts an ihrem Schicksal: „Sie sind ein Gotteslästerer.“ Auch den Schluss haben die Coens abgemildert. Nach dem Autounfall helfen zwei Jungs dem verletzten Killer Chigurh mit einem Hemd aus und bekommen dafür Geld, um das sie zu streiten beginnen. Im Film humpelt Chigurh verletzt und blutend davon – wie der verletzte schwarze Hund in der Wüste. Im Roman entdecken die Jungs seine zurückgelassene Pistole im Auto und nehmen sie an sich. Ein zutiefst pessimistischer Ausblick: Die Gewalt pflanzt sich fort. Bleibt Sheriff Ed Tom Bell, der dritte Protagonist in „No Country for Old Men“: Er ist der Beobachter des Gemetzels, den die Zeichen der Zeit verzweifeln lassen. Er habe, sagt er gegen Ende des Films, stets geglaubt, im Alter finde Gott in sein Leben. Aber das sei nicht geschehen. Der „alte Mann“, dem er seine Zweifel beichtet, erzählt von einem lange zurückliegenden Mord von 1909 (im Buch 1879). Was Ed Tom Bell zweifeln lasse, sei nicht so neu. Dieses Land sei eben hart zu den Menschen. Was komme, sei nicht aufzuhalten. Er solle es nicht auf sich beziehen, denn das sei nur eitel.

5.

Nach diesem Blick in einen Abgrund aus Gier, Skrupellosigkeit und Hybris veröffentlichte McCarthy „Die Straße“ (2006) als einen Epilog in Romanlänge. Der Australier John Hillcoat verfilmte ihn drei Jahre später („The Road“). Erzählt wird vom Versuch, nach der Apokalypse in einer grauen, verwüsteten Welt moralische Maßstäbe zu wahren. Doch was heißt schon „gut“ oder „böse“ in einer Welt, die nur noch Fressen oder Gefressenwerden kennt? „Auf dieser Straße gibt es keine Männer, aus denen Gott spricht. Sie sind fort, ich bin allein und sie haben die Welt mit sich genommen. Frage: Worin unterscheidet sich, was niemals sein wird, von dem, was niemals war?“ Ein Vater und sein Sohn machen sich Richtung Meer, Richtung Mexiko auf. Bewegung um der Bewegung willen: bei genauerem Hinsehen sinnlos, aber das muss seit Camus ja nichts heißen. „The Walking Dead“ würde man neuerdings wohl dazu sagen. Die Ehefrau und Mutter hat Selbstmord begangen. Mit Kannibalen muss jederzeit gerechnet werden. Begegnet man einem alten Mann auf der Straße, hilft man ihm nicht, weil Mitleid den eigenen Tod bedeuten könnte. Immerhin: Der Sohn vergewissert sich beim Vater, ob man „zu den Guten“ gehöre. „Gut sein“ heißt, keine Menschen fressen? McCarthy löst die Mühsal der Reise durch extreme Reduktion und Repetition: Es geht nicht recht voran in diesem Endspiel, aber die Bewegung ist Ausweis des Lebens. Wo bereits „All die schönen Pferde“ die Diskrepanz zwi-

kino

schen der inhumanen Natur und der Beschränktheit des Menschen forcierte, konzentriert sich „Die Straße“ nach der Vernichtung der Natur aufs Essenzielle. Der Apokalyptiker McCarthy sucht – voller Skepsis – nach Halt. Ist die Bewahrung der Moral ein Ausweis der Humanität? Gilt das auch jenseits des Sozialen in der postapokalyptischen Welt? Am Schluss wagt McCarthy eine doppelbödige Volte, als er einen Lichtblick ins Absurde wendet. Der Sohn findet eine neue Gruppe, in der noch Restbestände alter Gewissheiten kursieren: „Der Atem Gottes, sagte sie, sei sein Atem (der des Vaters) und werde doch durch alle Zeiten von Mensch zu Mensch weitergegeben.“ Im letzten Absatz des Romans werden dann Forellen erinnert, und es heißt: „In den tiefen Bergschluchten, wo sie lebten, war alles älter als der Mensch und voller Geheimnis.“ Ist das nicht ein Entwurf für eine Welt ohne Menschen? Hillcoats Verfilmung fin„der det keine entsprechenden Bilder anwalt“ für diese Intensität der Kargheit und Lebensfeindlichkeit. Sie „Die Gier wird gewaltig flüchtet sich ins (reduzierte) überschätzt. Aber die Angst Actiongenre und lässt der Sentinicht.“ So steht es auf dem mentalität des Stoffs freien Lauf. Buchcover von Cormac Zumal die Figur des Sohns als „reine“, naiv-gute Heilsgestalt im McCarthys neuer Publikation „Der Anwalt“ (aus Film kaum zu ertragen ist. Im dem Englischen von NikoBuch ist das anders, da lernt der laus Stingl, rororo TaschenSohn trotz allem (oder: schon buch, Reinbek 2013, 176 S., wieder?) eine selbst geschnitzte 12,99 EUR) fast in derselben Flöte zu spielen. Er spielt „eine Schriftgröße wie der Buchformlose Musik für das komtitel. Die Publikation ist das mende Zeitalter. Oder vielleicht Drehbuch zum neuen Kinodie letzte Musik auf der Erde, film „The Counselor“ (Kritik beschworen aus der Asche ihres in dieser Ausgabe), also Untergangs“. keine neue Prosa-Arbeit So ist das Grundvertrauen des Sohns vielleicht doch im Zeichen McCarthys, vielmehr das reine Dialogscript mit eines Neuanfangs produktiver knappen Handlungs- und als das prinzipielle Misstrauen Schauplatzbeschreibungen, des Vaters, das auf Erfahrung, das eindrücklich eine auf Menschenkenntnis gründet. innere Spannung aufbaut. Wie „der Alte“ in „No Country Und für Kinogänger eine for Old Men“ kann McCarthy ideale Ergänzung zum letztlich nur noch die Schulter Filmbesuch darstellt. zucken: „And that was that. As they say.“

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sein visionärer Science-FictionFilm „Blade Runner“. Aber mit „The Counselor“ hat er sich nun ganz dem ausweglosen Universum Cormac McCarthys verschrieben und einen der konsequentesten „Film noirs“ gemacht, so hoffnungslos, dass man sich als Zuschauer zum Schluss am liebsten der Illusion hingeben möchte, das Ganze sei nur ein Albtraum gewesen. Oder vielleicht ist es einer? Der erste Satz, der in „The Counselor“ gesprochen wird, lautet „Are You Awake?“. Franz Everschor Scope. USA/Großbritannien/Spanien 2013

the counselor [28.11.]

„are You awake?“

Ridley Scott „übersetzt“ Cormac McCarthy. Ein sonnendurchfluteter Albtraum ohne Ausweg. Wer angesichts der schier endlosen Liste von Stars, die an „The Counselor“ beteiligt sind, auch nur im Entferntesten ein HollywoodDrama mit viel Action und Effekten erwartet, hat die Rechnung ohne Cormac McCarthy gemacht, den Philosophen unter den Autoren eines amerikanisch geprägten Verismus. „The Counselor“ ist McCarthys erstes Drehbuch, und es ist voller sarkastisch-nihilistischer Dialoge, die – ähnlich wie schon der nach seinem Buch entstandene Film „No Country for Old Men“ – ein von Gier und Gewalt beherrschtes Bild des Südens der Vereinigten Staaten entwerfen. Auf der Suche nach einer Story werden ungeduldige Zuschauer vermutlich über eine Stunde herumirren in einem Puzzle von Andeutungen und Hinweisen, die sich erst allmählich zu einer konkreten Handlung verdichten. Wer Filme zu lesen versteht, bekommt von Ridley Scott allerdings genügend Anhaltspunkte, wie das Leben der Hauptfigur,

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eines namenlosen, reichen texanischen Anwalts (Michael Fassbender), weitergeht, als dieser sich in einen gigantischen Drogendeal verstrickt. Der elegante, mitleidlose Gepard, der gleich zu Anfang einem fliehenden Hasen nachjagt, ist nur eines von vielen Bildern, mit denen Scott die zahllosen abstrakten Dialoge McCarthys konkretisiert. Der Anwalt trifft sich mit einem im Luxus lebenden Nachtclubbesitzer (Javier Bardem) und einem zwielichtigen Geschäftsfreund (Brad Pitt), die ihn beide davor warnen, sich auf den Deal einzulassen, denn die mexikanischen Kartelle würden keine Gnade kennen. Während erste Szenen von jenseits der Grenze ahnen lassen, wie der Kokainschmuggel vor sich gehen soll, bewegen sich die elliptischen Dialoge mit zunehmender klinischer Präzision um die Unausweichlichkeit des Schicksals, das dem Anwalt und allen Beteiligten zustoßen muss, sollte der Deal schiefgehen. Von großer Bedeutung in dem

fatalistischen Spiel sind zwei konträre Frauenfiguren: die Licht und Hoffnung verkörpernde Freundin des Anwalts (Penélope Cruz) und die der Verlockung des Bösen verfallene Freundin des Nachtclubbesitzers (Cameron Diaz). Wie stets bei McCarthy geht die Story blutig und unerbittlich zu Ende. Aber bis es so weit ist, lässt sich „The Counselor“, mehr als es manchem Zuschauer lieb sein mag, über die Verkettungen von Gut und Böse in einer Welt aus, deren Materialismus dem Überleben langfristig keine Chance gibt. Ridley Scott hat eine fast poetisch zu nennende, mit vielen Großaufnahmen arbeitende Bildsprache für die Dialoge gefunden, die kalt und analytisch um die Folgen kreisen, wenn ein Mensch, dem alle Türen offenstehen, die falsche Entscheidung trifft. Die von Sonne durchflutete Landschaft und Architektur trägt zusätzlich dazu bei, Handlung und Charaktere in umso finstererem Licht erscheinen zu lassen. Selbst vor drastischen und obszönen Details scheut Scott nicht zurück, um für die Rigorosität von McCarthys pessimistischer Weltsicht filmische Entsprechungen zu finden. Viele seiner früheren Filme handelten von vereitelten Träumen und tragischen Konsequenzen, nicht zuletzt auch

regie: Ridley Scott Buch: Cormac McCarthy Kamera: Dariusz Wolski musik: Daniel Pemberton Schnitt: Pietro Scalia Darsteller: Michael Fassbender (The Counselor), Penélope Cruz (Laura), Cameron Diaz (Malkina), Javier Bardem (Reiner), Brad Pitt (Westray), Natalie Dormer (Blonde), Rosie Perez (Ruth), Toby Kebbell (Tony), Bruno Ganz (Diamantenhändler) länge: 117 Min | FSK: ab 16; f Verleih: Fox | Kinostart: 28.11.2013 FD-Kritik: 42 051 HANDWERK INHALT DARSTELLER

BeWertUnG Der FilmKommiSSion Ein reicher texanischer Anwalt lässt sich auf die Beteiligung an einem gigantischen Drogenhandel ein und gerät in ein Netz lebensgefährlicher Ereignisse. Das erste Original-Kinodrehbuch des amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy dient als Grundlage für einen „Film noir“, dessen existenzieller Pessimismus vornehmlich in langen, sarkastischen Dialogen zum Ausdruck kommt. Die Handlung selbst erschließt sich in einem Irrgarten voller fatalistischer Konsequenzen nur allmählich und dann oft in drastischen Details. – Ab 16.

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