Filmdienst 24 2014

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SCHnEE

film Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

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www.filmdienst.de

die weiße Pracht kann im film idyll oder albtraum sein. eine winterreise quer durch die filmgeschichte.

ROSAMunD PIKE die schauspielerin ist seit „gone girl“ auf dem besten weg zur leading lady. ein Porträt.

3SAt der tv-sender pflegt seit 30 Jahren (film-)kultur. ein geburtstagsständchen.

der japanische anime-altmeister präsentiert mit „die legende der Prinzessin kaguya“ eine poetische Coming-of-age-geschichte. anlass für eine werkschau.

ISAO TAKAHATA 20. november 2014 € 5,50 67. Jahrgang

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ALLE STARTTERMINE Die Arier 20.11. Auf das Leben! 27.11. Der Bauer und sein Prinz 20.11. Bocksprünge 20.11. David Bowie is 18.11. Dumm und Dümmehr 13.11. Einer nach dem anderen 20.11. For no Eyes Only 27.11. Höhere Gewalt 20.11. Keine gute tat 20.11. Der Koch 27.11. La ultima Pelicula 27.11. Die Legende der Prinzessin Kaguya 20.11. Love Supreme – Sechs Saiten und ein Brett 20.11. Die Mannschaft 13.11. Mary – Königin von Schottland 20.11. My Old Lady 20.11. Die Pinguine aus Madagascar 27.11. Reich werden im Irak 27.11. Ein Schotte macht noch keinen Sommer 20.11. Sturmland 27.11. the Green Prince 27.11. the Zero theorem 27.11. traumland 20.11.

KInOtIPP der katholischen Filmkritik

33 das filmmuseum potsdam

10 schnee im film

32 magische momente

40 Das Verschwinden der Eleanor Rigby 27.11. Drama mit Jessica Chastain 50 Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben 27.11. 45 Wie schreibt man Liebe? 13.11. 43 Wir waren Könige 27.11.

fernseH-tiPPs 55 Das Fernsehen bereitet sich mit mehreren Ausstrahlungen rund um J.R.R. Tolkien auf den Kinostart des letzten „Hobbit“-Films vor. 3sat präsentiert derweil dokumentarische „Lebenswelten“.

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36 neu im kino: the zero theorem

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Fotos: TITEL: Universum. S. 4/5: Filmmuseum Potsdam, Concorde, absolutMEDIEN, Prokino, MFA+, Universum, Paramount, Studiocanal

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kino

akteure

filmkunst

16 isao takahata

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27 orson Welles

10 SCHNEE IM FILM

Wenn es auf den Advent zugeht, wird wieder von „White Christmas“ und vom „Winter Wonderland“ geträumt. Das Kino macht da gerne mit und liefert idyllisches Flockengeriesel. Es lässt die Schneeträume aber auch in Albträume umschlagen. Eine Winterreise an die unterschiedlichen Pole filmischer Schneewelten.

16 ANIME-NEOREALISMUS

Mit „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ kommt der neue Film des japanischen Anime-Meisters Isao Takahata ins Kino. Eine schöne Gelegenheit, das Werk von Hayao Miyazakis „Studio Ghibli“-Kollegen zu entdecken. Von Stefan Stiletto

20 FESTIVALS IM HEBRST

In Leipzig und in Duisburg präsentierten zwei Festivals Tendenzen im aktuellen Dokumentarfilmschaffen. In Frankfurt/ Main und Chemnitz feierte man den internationalen Kinderfilm.

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RuBRIKEn EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD/BLU-RAY TV-TIPPS DVD-PERLEN VORSCHAU / IMPRESSUM

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19 NADAV SCHIRMAN

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Der israelische Dokumentarfilmer gibt mit „The Green Prince“ Einblicke in eine brisante Beziehung: die zwischen einem Agenten des israelischen Inlandgeheimdiensts und seinem Hamas-Informanten. Von Margret Köhler

„The Other Side of the Wind“ von RegieLegende Orson Welles galt lange Zeit als verschollen. Nun scheint das Wunder seiner Wiederentdeckung wahr zu werden. Von Franz Everschor

22 PETRA VOLPE

Öffentlich-rechtliche Sender haben einen Kulturauftrag. In besonderer Weise wird diesem der Sender 3sat gerecht, der seit 30 Jahren der Kultur im Allgemeinen und der Filmkultur im Besonderen eine Heimat bietet. Von Dietrich Leder

28 30 JAHRE 3SAT

Die Schweizer Regisseurin drehte mit „Traumland“ eine Weihnachtsgeschichte der beklemmend sozialrealistischen Art: An Heiligabend kulminieren in Zürich die Schicksale einer Sex-„Gastarbeiterin“ und ihrer Freier. Im Interview berichtet Pertra Volpe über ihre Herangehensweise. Von Heidi Strobel

24 ROSAMUND PIKE

32 LITERATUR

Kino zum Lesen: Neue Filmbücher

Seit ihrem fulminanten Auftritt in David Finchers „Gone Girl“ ist die britische Schauspielerin auf dem besten Weg zum Star. Dabei hat sie sich stets erfolgreich geweigert, sich auf ein Image festlegen zu lassen. Von Michael Ranze

33 FILMMUSEUM POTSDAM

Die Institution im ehemaligen Pferdestall der Preußenkönige wurde renoviert und neu eröffnet. Von Wolfgang Hamdorf

34 MAGISCHE MOMENTE

Liebesgeschichte im Schatten der Atombombe: Alain Resnais’ „Hiroshima, mon amour“. Von Rainer Gansera

Die magisch talentierten Marderhunde aus »Pom Poko« gehören genauso zu den Schöpfungen des Japaners Isao takahata wie seine bekannteste Anime-Heldin »Heidi«.

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Starke Mädchen, „die legende der prinzessin kaguya“

kleine Gesten ein SubTiler beobachTer deS allTaGS: der anime-neorealiST

i S ao Ta ka h aTa

mit der „heidi“-Serie, die der japanische Filmkünstler isao Takahata zusammen mit hayao miyazaki realisierte, wurde hierzulande eine ganze Generation groß. Während sich Takahata in seiner heimat mit Serien und Spielfilmen längst Kultstatus erarbeitet hat, ist er bei uns immer noch weitgehend unbekannt. der Kinostart seines neuen Films „die legende der Prinzessin Kaguya“ (Kritik in dieser ausgabe) ist eine schöne Gelegenheit, das Werk dieses großartigen Künstlers zu entdecken, bei dem das Träumerische nie märchenhaft ist. Von Stefan Stiletto

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isao takahata kino

Astrid Lindgren traute den beiden Japanern nicht. Als die Kinderbuchautorin 1971 in Schweden Besuch von dem 36-jährigen Regisseur Isao takahata und dem sechs Jahre jüngeren Zeichner Hayao Miyazaki erhält, weist sie deren Anliegen ab: Aus ihrer Pippi Langstrumpf soll keine Zeichentrickserie werden. So reisen die Besucher unverrichteter Dinge wieder ab. Und von ihrem Projekt bleibt nichts übrig als eine beträchtliche Sammlung an Konzeptzeichnungen – und genug kreative Enttäuschung, um das fremde Material in einen eigenen Film einfließen zu lassen: Der zweiteilige Kurzfilm „Die Abenteuer des kleinen Panda“ (1972/73; Regie: Takahata, Drehbuch und Layout: Miyazaki) weist deutlich grafische Parallelen zu den Entwürfen auf und erzählt überdies von einem Mädchen mit leuchtend roten Pferdeschwänzen, dessen Ähnlichkeit zu Pippi kaum zu leugnen ist. Und die Reise nach Europa hinterlässt noch weitere Spuren. Schon wenige Jahre später realisiert Takahata ein anderes berühmtes europäisches Kinderbuch, in dem ebenfalls ein freiheitsliebendes Mädchen im Mittelpunkt steht, und landet damit einen weltweiten Überraschungserfolg. Die 52-teilige AnimeSerie „Heidi“ (1974) prägt die Medienbiografien der Kinder, die Ende der 1970erund Anfang der 1980er-Jahre aufwachsen. Weil diese Serie aufgrund der Vorlage von Johanna Spyri sowie ihrer Schauplätze in den Schweizer Alpen und in Frankfurt so europäisch wirkt, entkommt sie im deutschen Fernsehen dem schlechten Ruf, der japanischen Zeichentrickserien seit der Ausstrahlung von „Speed Racer“ im Jahr 1971 anhaftet. Während Takahata die Regie obliegt, ist Miyazaki erneut als LayoutZeichner für die visuelle Gestaltung der gesamten Serie verantwortlich und prägt deren „Look“. Zu dieser Zeit sind die Arbeiten der beiden Trickfilmer eng miteinander verzahnt. Wer über Takahata spricht, muss auch über Miyazaki reden. Tatsächlich finden sich gerade in „Heidi“ exakt jene Themen, die die Filmografien der beiden Regisseure über die kommenden Jahrzehnte prägen werden. Über die Geschichte eines jungen, aber sehr selbstbewussten Mädchens erzählt die Serie von den Gegensätzen zwischen Natur und Zivilisation, Tradition und Moderne. Als idyllisches Refugium, als heile, reine Gegenwelt zum

Heimatland Japan, in dem immer wieder Umweltskandale für Aufsehen sorgen und die Bevölkerung verunsichern, wird dementsprechend die Schweizer Alpenwelt inszeniert. Mit ihrer Lebensfreude und Unbefangenheit stellt die Titelheldin bald das Leben des grantigen Alm-Öhis, der sich plötzlich um seine Enkelin kümmern soll, vollkommen auf den Kopf – bis sie von ihrer Tante eines Tages unerwartet in die Großstadt Frankfurt geschickt wird und daran beinahe zerbricht. Das Unbehagen an modernen Gesellschaften und die Schattenseiten der Industrialisierung sind stets spürbar.

ein faible für alltagsbeobachtungen Zugleich wird gerade im Rückblick die persönliche Handschrift Isao takahatas umso deutlicher, die sich zu jener Zeit entwickelt. Während Miyazaki sich fantastischen Geschichten zuwendet, bleibt Takahata, der im Gegensatz zu den meisten Anime-Regisseuren nicht auch selbst als Zeichner arbeitet, von nun an vielmehr der Realität und dem Alltag verhaftet und greift bei seinen Stoffen immer wieder auf literarische Vorlagen zurück. „Heidi“ war der Beginn einer Reihe bedeutender Literaturverfilmungen, die unter dem Titel „World Masterpiece Theater“ bekannt wurde. Nach „Heidi“ zeichnete Takahata als Regisseur auch für die Serien „Marco“ (1976), eine Adaption der Novelle „Von den Apenninen zu den Anden“ von Edmondo De Amicis, und „Anne mit den roten Haaren“ (1979) nach den „Anne“-Romanen von Lucy Maud Montgomery verantwortlich.

takahata im Juni 2014 beim Animationsfilmfestival in Annecy. Dort wurde er mit dem „Special Cristal Award 2014“ geehrt, „um seine vielen Beiträge zur Welt des Animationsfilms zu feiern“.

Schon in diesen frühen Auftragsarbeiten fürs Fernsehen wird Takahatas Interesse an Alltagsbeobachtungen und den kleinen Gesten spürbar. Die Struktur der Serien, die auf jeweils 52 Folgen angelegt sind und über die Dauer eines Jahres ausgestrahlt werden, lässt ihm dafür genügend Raum. So sind diese auch nicht so atemlos erzählt, sondern nehmen sich immer wieder Zeit für atmosphärische Einschübe. Das Schicksal und die Lebensumstände der einfachen, armen Leute interessieren Takahata. Er macht sie zu seinen Helden, rückt ihren Alltag, ihre Arbeit und ihre Probleme so anschaulich in den Mittelpunkt, dass auch Kinder diese nachvollziehen können. Mit dem Mittel des Zeichentricks zeigt Takahata das echte Leben, ganz so wie seine Vorbilder aus dem europäischen Arthouse-Kino: die französische Nouvelle Vague und der italienische Neorealismus. Mit der Gründung des Studio Ghibli durch Takahata und Miyazaki im Jahr 1985, das beide fortan leiten, beginnt eine neue Phase künstlerischer Freiheit und Unabhängigkeit für die beiden Regisseure. Das Antikriegsdrama „Die letzten Glühwürmchen“ (1988) ist Takahatas erste Ghibli-Regiearbeit und erzählt vom Überlebenskampf zweier Geschwister in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs in Japan. Ebenso aufrichtig wie schonungslos setzt Takahata die Gräuel des Kriegs sowie dessen Folgen ins Bild. Dabei berührt der Film auch so sehr, weil er die Beziehung zweier Geschwister in den Mittelpunkt stellt und einfühlsam zeigt, wie sich der 14-jährige Seita nach dem Tod der Mutter um seine schwerkranke vierjährige Schwester kümmert und versucht, ihr Mut zu machen. Wenn Takahata kurze poetisch-magische Momente in diese Geschichte einfließen lässt und damit den realistischen Stil auflöst, so wirkt dies keineswegs fehl am Platz. Denn das Träumerische wird nie märchenhaft. Takahata veranschaulicht damit vielmehr die Kraft der Hoffnung in einer überaus belastenden Realität. Der Darstellung der Wirklichkeit bleibt Takahata auch in „Tränen der Erinnerung – Only Yesterday“ (1991) verhaftet, einem ebenso melancholischen wie nostalgischen Drama über die Reise einer 27-jährigen Tokioter Büroangestellten aufs Land – und in die Erinnerung an ihre Kindheit, die sie dort verbracht hat. Genaue Beobachtungen und Details bestimmen die ruhig inszenier-

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Fotos: Universum, AV Visionen, Filmfestival Annecy

tV-Hinweis takahatas Meisterwerk „Die letzten Glühwürmchen“ wird am 2.12. auf zdf.kultur ausgestrahlt (vgl. tV-tipps)

ten Szenen und vermitteln ein Gespür für Atmosphäre. Alltag statt Eskapismus, Ruhe und Kontemplation anstelle von Action. Ein „Slice-of-life-Anime“, das sanft die ganz großen Fragen stellt: nach dem eigenen Weg im Leben und nach dem Preis des Fortschritts.

die gesellschaft auf die schippe nehmen So elegant ist es takahata nicht immer gelungen, über die Menschen an sich und die japanische Gesellschaft im Besonderen zu erzählen. In „Pom Poko“ (1994) etwa stehen sprechende Marderhunde im Mittelpunkt, die für ihren Wald und gegen die Bedrohung durch die Menschen kämpfen. Auch wenn das Thema Umweltschutz den Film bestimmt, so fehlt diesem doch deutlich, was „Die letzten Glühwürmchen“ und „Only Yesterday“ auszeichnet: das Gefühl der Lebensnähe und die Verankerung in einer real empfundenen Umwelt. Wie ein Gegenentwurf zu den bisherigen Filmen sieht „Meine Nachbarn, die Yamadas“ (1999) aus. Ein abstrakter, grober CartoonStil mit angedeuteten Hintergründen und Figuren im karikierenden Super-DeformedStil bestimmt die episodisch angelegte Familiengeschichte nach einem ComicStrip, in der die japanische Gesellschaft auf die Schippe genommen wird und die nach

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entlarvender Wahrhaftigkeit in der Komik und Übertreibung sucht. Auch in „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ (2013), einer Adaption der japanischen Erzählung „Die Geschichte vom Bambussammler“ aus dem 9. Jahrhundert, verweigert sich Takahata dem typischen Anime-Zeichenstil. Vielmehr imitiert „Kaguya“ mit entsättigten Farben und reduzierter Gestaltung der Figuren und Hintergründe die Ästhetik alter japanischer Bilderrollen. Aus künstlerischer Sicht ist der Film sicherlich die bislang reifste Arbeit von Takahata, weil sie großen Wert darauf legt, eine Beziehung zwischen der Vorlage und der Bildgestaltung herzustellen und inhaltlich wie ästhetisch tief in der japanischen Kultur verwurzelt ist. Wenngleich die Erzählung oft ins Fantastische greift und vom rasanten Aufwachsen einer Mondprinzessin auf der Erde erzählt, tritt doch auch hier immer wieder Takahatas Vorliebe für die kleinen Gesten und das Alltägliche zu Tage. So konzentriert er sich auch in diesem historischen Stoff auf die zeitlose Geschichte über den Gegensatz von Freiheit und Zwang, von Anpassung und Auflehnung. Gegen ihren Willen soll aus dem Mädchen vom Mond, das ein armer Bambussammler im Wald gefunden hat, eine irdische Prinzessin werden. In dieser Gefangenschaft aber kann Kaguya nicht glücklich werden. Sie braucht die Freiheit. Und ist damit auch eine Seelenverwandte von Takahatas Heidi. •

Isao TakahaTas Werk auf DVD/BD serIen

marco. Japan 1976 anbieter: universum (dvd, staffel 1-2; 26 episoden) die abenteuer des kleinen Panda. Japan 1972 anbieter: universum (dvd) anne mit den roten Haaren. Japan 1979 anbieter: universum (dvd, staffel 1-2) Heidi. Japan 1975 anbieter: universum (dvd; mehrere serien-editionen) niklaas, ein Junge aus flandern. Japan 1975 (regie gemeinsam mit yoshio kuroda) anbieter: neW ksm (dvd, komplettbox) spIelfIlme

goshu, der Cellist. Japan 1982 (der 59 min. lange film ist als „bonusfilm“ auf der dvd zu „anja und die vier Jahreszeiten“ von yashuhiro yamaguchi enthalten. anbieter: picture lake) die letzten glühwürmchen. Japan 1988 anbieter: av visionen (deluxe edition – blu-ray) tränen der erinnerung. Japan 1991 anbieter: universum (dvd) Pom Poko. Japan 1994 anbieter: universum (dvd) meine nachbarn, die Yamadas. Japan 1999 anbieter: universum (dvd)

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nadav schirman kino

Ist diese Art von Freundschaft zwischen Informant und „Betreuer“ üblich? Schirman: Alle Kontaktagenten betonen, dass sich oft eine Art Vater-Sohn-Verhältnis aufbaut – und sie ihre Informanten lieben. Ziemlich verrückt, weil sie die auch in den Tod schicken. Als Motivation zählen weniger Geld und Gefälligkeiten als die persönliche Beziehung. Oft wird der Agent zur Vaterfigur, wenn in der patriarchalisch ausgerichteten palästinensischen Gesellschaft der leibliche Vater nicht präsent, vielleicht tot oder im Gefängnis ist. Zusätzlich fördert das Teilen von Geheimnissen Nähe. Die Karten hat aber eindeutig der Betreuer in der Hand. Warum konnte Mosab Hassan Yousef diese Bedeutung bekommen? Schirman: Der israelische Geheimdienst setzt ein Puzzle aus mehreren Komponenten zusammen. Da sind die Drohnen, welche die visuelle Kontrolle abdecken, dann Überwachung von Gesprächen und E-Mails und die Informanten, die „human intelligence“. Ohne sie ist es schwierig, die Informationen zu interpretieren. Ein Beispiel: Da hörte der Geheimdienst eine wichtige Hamas-Terrorzelle ab, und in den Gesprächen des Anführers tauchte ständig der Begriff „7Up“ auf. Die Israelis dachten an einen neuen Geheimcode und versuchten, ihn zu knacken. Bis der Informant darlegte, einer der Hamas-Leute trank ganz einfach gerne die Limonade „7up“. Leute wie Mosab helfen Shin Bet, Dinge aus dem inneren Kreis zu erklären, in den Kontext zu setzen. Wie erklären Sie sich seine Konvertierung zum Christentum? Schirman: Er kommt aus einer sehr religiösen Familie, kannte nur den Koran. Als er für Shin Bet arbeitete, erfuhr er erstmals

etwas über den Aufbau von Verfassungen und die westliche Philosophie. So etwas vom Feind zu lernen, war irritierend. Die christliche Botschaft „Liebe deine Feinde“ machte für ihn Sinn, holte ihn zu Beginn seines Aufenthalts in Amerika aus dem Dilemma. Er hat weniger die Religion adaptiert als die christliche Philosophie. Inzwischen lehnt er Religionen ab, lernt über Yoga eine neue Spiritualität.

interview mit nadav schirman zu seinem film „the green Prince“

Welche „Botschaft“ transportiert Ihr Film in diesen konfliktreichen Zeiten? Schirman: Er zeigt, dass eine Beziehung unter „Feinden“ möglich ist, wenn man politische und religiöse Grenzen überschreitet. Das ist ein Wagnis und verlangt Vertrauen. Heute fehlt es in der Politik an risikofreudigen Führungspersönlichkeiten. Als Menachem Begin und Anwar as-Sadat 1979 den Friedensvertrag unterzeichneten, gingen sie ein immenses Risiko ein. Sie bewiesen Mut, und es funktionierte. Die Hamas, die PLO, die israelische Regierung müssen Vertrauen aufbauen, ins Risiko gehen. Sonst ändert sich nichts.

unter „feinden“ basierend auf der autobiografie „Sohn der hamas: mein leben als Terrorist“ von mosab hassan Yousef, inszenierte nadav Schirman mit „The Green Prince“ (Kritik in dieser ausgabe) einen spannenden mix aus doku und Thriller: eine Geschichte um Verrat und Terror, vor allem um die Freundschaft zwischen einem palästinensischen informanten und seinem israelischen Kontakt-agenten. Das Gespräch führte Margret Köhler

Fotos: Rapid Eye Movies

Was bringt Sie zum thema Spionage und der Welt der Geheimdienste? Schirman: Durch meine Doku-Features „DerChampagner Spion“ und „In the Darkroom“ bin ich auf die psychologische Seite der Spionage gestoßen. Politik bildet die Basis, primär aber geht es um familiäre Beziehungen, um Freundschaft und Vertrauen. „The Green Prince“ ist der dritte Teil der Trilogie. Mosab Hassan Yousefs Buch „Sohn der Hamas“ habe ich in zwei Stunden gelesen. Ich fand es erschreckend, wie wenig Israeli über die Hamas und ihre Kultur eigentlich wissen.

Wie haben Sie die visuelle Struktur entwickelt? Schirman: Form follows Function. Ich bin ein Geschichtenerzähler. Wir haben eine ökonomisch effiziente Form gesucht, auf der einen Seite den offiziellen Blick mit Bildmaterial, darunter seltenes Archivmaterial, auf der anderen die persönliche Perspektive durch die Interviews. Es gab noch viele weitere Interviews mit Leuten vom Shin Bet und anderen Führungsagenten. Im Schneideraum haben wir gemerkt: Der Fokus liegt auf der Beziehung. Was nichts damit zu tun hatte, wurde herausgeschnitten. Eine schwere Entscheidung. Es geht nur um die Geschichte zweier Menschen. Wenn die funktioniert, haben wir alles erreicht.

nadav Schirman drehte die Dokumentarfilme „Der Champagner Spion“ (2006) und „In the Darkroom“ (2012); „the Green Prince“ ist der Abschluss seiner trilogie über Spionage. 2012 gründete er in Frankfurt/Main die Produktionsfirma A-List Films, die auch „no Place On Earth – Kein Platz zum Leben“ (2012) von Janet tobias herstellte. nach der Premiere von „the Green Prince“ auf dem Sundance Film Festival erwarb die Firma Electric City die Rechte für ein Spielfilm-Remake.

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kritiken neue filme

the zero theorem

Qohen Leth von der „ontologischen Forschungsabteilung“ wartet auf einen Anruf. Auf den Anruf schlechthin: auf eine Stimme, die ihm offenbart, was der Sinn seines Lebens ist. Diesen Anruf zu verpassen, ist Qohens größte Sorge. Sie ist der Hauptgrund, warum er nicht mehr zur Arbeit gehen will. Zuhause, in seiner schäbigen, umfunktionierten Kirche wäre er nicht nur vor dem Höllenlärm und dem Menschen- und Bildergewimmel geschützt, die ihn in den Straßen und an seinem Arbeitsplatz plagen, er hätte überdies auch das Telefon stets in Reichweite. Qohens Arbeitgeber, ein Großkonzern namens „ManCom“, gewährt ihm einen Heimarbeitsplatz allerdings nur in Kombination mit einem besonders komplexen Auftrag: In der Abgeschiedenheit seiner Kirche soll der scheue, aber leistungsfähige Formelkünstler das sogenannte „Zero Theorem“ beweisen. Was sich als geradezu zynische Aufgabe entpuppt – besagt das Theorem doch nichts anderes, als dass alles – der Mensch, die Welt, das All – auf nichts hinausläuft: 0 = 0.

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Terry Gilliam wandelt in seinem neuen Film auf vertrautem Terrain. Einmal mehr reibt er sich an der menschlichen Natur, die es nicht lassen kann, sich nach dem Transzendenten und Sinnstiftenden zu verzehren und die sich doch auf den irdischvergänglichen Schlamassel zurückgeworfen sieht. Sein legendäres Don Quijote-Projekt hat Gilliam zwar immer noch nicht verwirklicht; in Qohen Leth, den Christoph Waltz als kahlköpfigen, mönchischen Sonderling spielt, hat der „Ritter von der traurigen Gestalt“ jedoch einen verhinderten Bruder. Auch Qohen kommt mit seiner schnöden Wirklichkeit nicht klar und sehnt sich danach, dass sich sein Dasein mit glanzvoller Bedeutung fülle. Nur fehlt ihm Quijotes Fähigkeit, sich mittels seiner Fantasie diese Bedeutung einfach selbst zu verleihen. Dazu ist Qohen zu skeptisch, selbst als sich mit der Cyber-Hure Bainsley eine schöne Dulcinea in sein Leben drängt, die ihm eine (wenn auch vielleicht nur illusorische) Erfüllung im Liebesglück in Aussicht stellt.

Gilliam lässt diesen Sinn-Sehnsüchtigen und die heruntergekommenen Überbleibsel christlicher Ikonografie, in deren Mitte Qohen Leth wohnt – Heiligenbilder, Fresken, Statuen –, mit einer dystopischen Zukunftswelt kollidieren, wie er sie auch schon in „Brazil“ oder „12 Monkeys“ gezeichnet hat. In „The Zero Theorem“ gestaltet er diese einmal mehr mit überwältigender visueller Kreativität; allerdings fehlen ihr der richtige Biss und eine eindeutige Stoßrichtung. Durch die bunten, drolligen Oberflächenreize der omnipräsenten Bildschirme dringt der Schrecken, den diese Lebenswelt für Qohen bedeutet, nicht wirklich zum Zuschauer durch. Was auch daran liegt, dass Qohen Leth ebenfalls allzu drollig und wunderlich bleibt, als dass einem die Tragik der Figur unter die Haut gehen könnte. Ähnliches gilt für die Darstellung des Konzerns „ManCom“, der als KonsumgutHeilsbringer und Ordnungssystem an die Stelle des alten christlichen Sinnsystems tritt – mit dem „Management“ in Form von Matt Damon als Gottvater,

einem renitenten TeenagerComputergenie als Sohn und einem virtuellen Psychiater und mentalen Coach in Gestalt von Tilda Swinton als Heiligem Geist. So richtig bedrohlichbeunruhigend wie etwa das Überwachungsstaats-Szenario aus „Brazil“ will das in seiner Skurrilität aber nicht geraten. Nichtsdestotrotz ist „The Zero Theorem“ ein sehenswerter und höchst unterhaltsamer Film. Denn auch wenn der große Entwurf emotional nicht wirklich mitreißt, tun dies doch die vielen wahnwitzigen Details: etwa versponnen-komische Dialogduelle zwischen dem schrulligen Qohen und all den „Unterstützern“, die ihn nicht in Ruhe lassen wollen, oder die anspielungsreichen Ausstattungsdetails, an denen man sich nicht satt sehen kann. Außerdem gelingen Gilliam immer wieder erstaunliche, oft witzig-ironische, bisweilen auch poetische Szenen, die die „Warten auf Godot“-Befindlichkeit der Hauptfigur aus unterschiedlichen Perspektiven kommentieren. In den schönsten Szenen tritt das Schrille des Sci-Fi-

Fotos S. 35-50: Jeweilige Filmverleihe

Paradies oder schwarzes loch? christoph Waltz plagt in Terry Gilliams schrill-schrulligem Zukunftsentwurf die Sinnfrage

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neue filme kritiken

Settings zugunsten der ganz normalen menschlichen Misere weitgehend in den Hintergrund: etwa wenn Qohen Leth neben dem Teenager-Sohn des Managements auf einer Bank sitzt und sich fragen lassen muss, warum das Erwachsenenleben so eintönig und deprimierend ist, oder wenn er mit Bainsley den künstlichen Sonnenuntergang eines virtuellen Inselparadieses genießt und kurz davor ist, den Sinn seines Daseins und das Zero Theorem zu vergessen und einfach nur glücklich zu sein. Felicitas Kleiner Bewertung der filmkommission

in einer lauten, bunten und chaotischen zukunftsstadt versucht ein geplagter mann, der einsiedlerisch in einer alten kirche wohnt, im auftrag eines konzerns das so genannte zero theorem zu beweisen. sein eigentlicher herzenswunsch ist es allerdings, einen anruf zu bekommen, der ihm den sinn seines lebens offenbart. als kritischer zukunftsentwurf und philosophische reflexion mangelt es dem szenario etwas an biss, nichtsdestotrotz gelingen dem vor schrulligen ausstattungsdetails, kuriosen charakteren und anspielungen nur so überbordenden film immer wieder ausdrucksstarke bilder und berührende szenen. - ab 14.

scope. großbritannien/rumänien 2014 regie: terry gilliam Buch: pat rushin kamera: nicola pecorini musik: george fenton

die legende der Prinzessin kaguya ein märchen als melancholische comingof-age-Geschichte Die nachricht, dass das japanische Ghibli-Studio demnächst die Produktion einstellt, betrübt viele Liebhaber der Zeichentrickkunst. Der mutmaßlich vorletzte Ghibli-Film macht den Abschied noch schwerer, ist „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ doch einer der bemerkenswertesten Zeichentrickfilme der letzten Jahre. Ein alter Bambussammler findet im Wald ein winziges Baby, das unnatürlich schnell zu einem Mädchen heranwächst. Da der Mann und seine Frau kinderlos sind, betrachten sie das Mädchen als himmlisches Geschenk, als ihre Prinzessin, die sie Takenoko, „Bambussprössling“, taufen. Das Kind genießt das Leben in den Bergen mit den anderen, das Spiel in der Natur und die Freundschaft zu dem Jungen Sutemaru. Als der Bambussammler aber Goldstücke in einem Gehölz findet, deutet er dies als göttliche Botschaft, das Kind zu einer echten Prinzessin zu machen. Die Familie zieht deshalb in die Stadt, in der das Kind von einem Adeligen auf den Namen Kaguya getauft wird. Doch die Erziehung zur

Prinzessin unterliegt einem strengen Reglement, das Kaguya zunehmend unglücklicher werden lässt. Regisseur und Drehbuchautor Isao Takahata greift hier ein japanisches Volksmärchen aus dem zehnten Jahrhundert auf; seine Interpretation ist gleichwohl sehr persönlich. Ihn interessieren weniger die mythischen Dimensionen als vielmehr, was Menschlichkeit ausmacht und was es bedeutet, ein Kind zu sein. Es ist Takahatas erster Ghibli-Film seit 14 Jahren; fast acht Jahre befand sich „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ in der Entwicklung. Das Ergebnis ist ein melancholischer, von intellektueller Traurigkeit geprägter Film, der sich eher an ein etwas älteres als an ein kindliches Publikum richtet: Mit über zwei Stunden Laufzeit hat die Geschichte einen epischen Atem, der die Konzentrationsfähigkeit vieler Kinder überfordern würde. Bemerkenswert ist auch die Ästhetik des Films. Der Zeichenstil wirkt zunächst vergleichsweise grob; Konturlinien bleiben ungeschlossen, Füllfarben erreichen die Konturlinien nicht, dann wieder überlappen sie. Zeichenkohle und Wasserfarben bestimmen die Bilder, die manchmal an Skizzen oder Storyboard-Zeichnungen erinnern. Doch der erste Eindruck verliert sich schon bald, denn die Animation ist anmutig und voller Charme, während die nahezu minimalistischen Hintergründe genug andeuten, um sie

mit eigener Fantasie füllen zu können. Zudem variiert der Stil und passt sich dem Innenleben Kaguyas an: Wenn sie hört, wie die Adeligen ihre Ehrbarkeit in Frage stellen, und sie daraufhin in ihre Heimat zurück flüchtet, werden die Bilder expressiv und wild. Hektische Striche illustrieren ihren Wunsch, aus dem gesellschaftlichen Korsett auszubrechen. Im Dorf wähnt Kaguya ihren Jugendfreund, doch auch dort hat sich das Leben weiterentwickelt, und die Menschen sind fortgezogen, um dem gerodeten Berg Erholung zu gönnen. So ist der Film vor allem eine Parabel über den Verlust der Kindheit, über das Verlorensein in einer ebenso fremdartigen wie fremdbestimmten Welt. Ein wunderbarer, nachdenklicher Film, der berührt und voller Abschiede zu sein scheint, ohne dabei je in Sentimentalität abzugleiten. Sascha Koebner Bewertung der filmkommission

ein bambus-sammler findet im Wald ein rasch wachsendes mädchen, das er und seine frau aufziehen. nach einem unerwarteten goldsegen will er das kind zur prinzessin ausbilden lassen, doch die erziehung gehorcht einem strengen reglement, unter dem das mädchen zunehmend leidet. poetischnachdenkliche interpretation eines japanischen volksmärchens. klug, berührend und geprägt von leiser melancholie erzählt der hervorragend gezeichnete animationsfilm vom verlust der kindheit und dem „hineinwachsen“ in gesellschaftliche zwänge. – sehenswert ab 14.

schnitt: mick audsley darsteller: christoph Waltz (Qohen leth), david thewlis (Joby), mélanie thierry (bainsley), lucas hedges, matt damon, tilda swinton, peter stormare, ben Whishaw länge: 107 min. | kinostart: 27.11.2014

Japan 2014 regie: isao takahata länge: 138 min. | kinostart: 20.11.2014

verleih: concorde | fsk: ab 12; f

verleih: universum | fsk: ab 0; f

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