Filmdienst 24 2016

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

24 2016 LÜGE & KINO Eine kurze Geschichte der Lüge im Film – und des Lügens durch Film HO FE R F IL MTAGE 50 Jahre im „Wohnzimmer“ des deutschen Films WA LT DISNEY Ein neuer Bildband belegt: Das Disney-Studio schuf ganz große Kinokunst

www.filmdienst.de 24. November 2016 € 5,50 69. Jahrgang

Durch „Star Wars: Das Erwachen der Macht“ wurde er zum Hollywood-Star. Doch wie sein großartiger Auftritt in „Paterson“ von Jim Jarmusch zeigt, hat der Schauspieler nichts von seinem Gespür für anspruchsvolle Rollen in Filmen interessanter Regisseure verloren.


InHALt die neUen KinoFilme nEu Im KIno ALLE STARTTERMInE

47 Alipato - The very brief Life of an Ember 24.11. 39 Aloys 24.11. 38 Arrival 24.11. 51 Benim Adim Feridun 10.11. 47 Boruto: Naruto - The Movie 10.11. 47 Dark Blood 17.11. 42 Deepwater Horizon 24.11. 49 Drei Wünsche von Handloh 10.11. 47 Ediths Glocken - Der Film 27.11. 37 Einer von uns 24.11. 51 Ekşi Elmalar 3.11. 43 Florence Foster Jenkins 24.11. 41 Die Habenichtse 1.12. 45 Die Hände meiner Mutter 1.12. 49 Haunted 24.11. 36 Ich, Daniel Blake 24.11. 48 Kater 24.11. 51 Ein Lied für Nour 1.12. 44 Marie Curie 1.12. 46 Marketa Lazarová 1.12. 47 Das Morgan Projekt 1.12. 51 Die Norm 17.11. 50 Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind 17.11. 51 Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt 1.12. 51 Sparrows 24.11. 40 Sully 1.12. 49 Die Weihnachtsgeschichte 27.11. 47 Wovon träumt das Internet? 24.11.

KInotIPP

40 sully

47 dAs morgAn Projekt

der katholischen Filmkritik

38 ArrivAl

41 die hAbenichtse

SciFi-Drama um die Versuche einer Linguistin, auf der Erde gelandete Aliens zu verstehen, bevor das Militär Waffen sprechen lässt.

FERnSEH-tIPPS 56 Zum 100. Geburtstag feiern die Sender den amerikanischen Kino-Haudegen Kirk Douglas. Das arte-FilmFestival präsentiert 18 Fernsehpremieren anspruchsvoller ArthouseFilme in zehn Tagen.

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florence foster jenkins

Fotos: TITEL: Weltkino. S. 4/5: Warner, Twentieth Century Fox, Real Fiction, Constantin, Walt Disney, Sony, DEFA-Stiftung, ABC

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24 | 2016 die arTiKel InHALt

RUBRIKEN EDITORIAL 3 InHALT 4 MAGAZIn 6 DVD-KLASSIK 34 DVD/BLU-RAY 52 TV-TIPPS 56 P.S. 66 VORSCHAU / IMPRESSUM 67

KIno

AKtEuRE

FILmKunSt

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Aliens und sPrAche

10 DIE LÜGE UND DAS KINO

mAnfred krug

20 ADAM DRIVER

e-mAil Aus hollyWood

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Jean-Luc Godard stellte die berühmte Gleichung „Film = Wahrheit“ auf. Doch das Kino besitzt auch eine große Affinität zur Lüge. Eine essayistische Annäherung an die Geschichte von Lüge und Täuschung im Film.

Der hochgewachsene Schauspieler macht in Independent-Filmen ebenso eine gute Figur wie als „Star Wars“-Schurke. Aktuell glänzt Adam Driver als dichtender Busfahrer in Jim Jarmuschs „Paterson“. Ein Porträt.

In der US-Serie „Designated Survivor“ wird ein Abgeordneter unvermittelt Präsident. Mit dem Start in der Endphase des realen Wahlkampfs zeigt sich das US-Fernsehen näher am Polit-Geschehen als das Kino.

Von Jens Hinrichsen

Von Kathrin Häger

Von Franz Everschor

16 50 JAHRE HOF

23 MANFRED KRUG

28 WALT DISNEY

Das Festival in der fränkischen Kleinstadt fand erstmals nicht unter der Leitung seines verstorbenen Gründers Heinz Badewitz statt. neben Rückblicken wurden dabei auch Zeichen für die Zukunft gesetzt.

Der am 21. Oktober verstorbene Schauspieler besaß leinwandfüllende Präsenz und eine einzigartige Spielweise. Eine Erinnerung an den Darsteller, der in der DDR genauso zum Star wurde wie in der Bundesrepublik.

Von Margret Köhler

Von Ralf Schenk

18 ALIENS UND SPRACHE

24 FLORIAN EICHINGER

Kann die Kommunikation mit Außerirdischen funktionieren, wenn sie eine andere Wahrnehmung haben als die Menschen? Filme wie „Arrival“ zeigen sich optimistisch: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg zur Verständigung. Eine Hommage an die Lust des SciFi-Kinos an der Sprache. Von Felicitas Kleiner

Der Regisseur erzählt in „Die Hände meiner Mutter“ vom Missbrauch innerhalb einer Familie. Ein Gespräch über den Umgang mit einem filmischen Tabu. Von Michael Ranze

26 IN MEMORIAM

Disneys Zeichentrickfilme wurden in den 1930er-Jahren als Kunst rezipiert, bevor sie Teil der Popkultur wurden. Ein monumentaler Bildband entreißt den frühen Disney dem Vergessen. Von Stefan Stiletto

32 HANS-JOACHIM SCHLEGEL

Der Journalist und Autor setzte sich zeitlebens für die Förderung des osteuropäischen Kinos ein. Eine Würdigung des Ende Oktober verstorbenen Publizisten. Von Ralf Schenk

32 FESTIVALS

nachrufe auf den britischen Kameramann Wolfgang Suschitzky und den französischen Komiker Pierre Étaix.

Rückschauen auf die nordischen Filmtage Lübeck, das Filmfestival Cottbus und die Hofer Filmtage. Von Daniel Benedict,

Von Thomas Brandlmeier und Rainer Dick

Wolfgang Hamdorf und Margret Köhler

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Wenn es schon mit Deutschkursen für Ausländer Probleme gibt, wie soll erst die Verständigung klappen, wenn der erste Kontakt mit Außerirdischen auf uns zukommt? SciFi-Filme wie aktuell Denis Villeneuves „Arrival“ sind optimistisch: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg zur Verständigung. Von Felicitas Kleiner dA S Science-fic tion-Kino und Seine LuS t An der Spr Ache

oder: AuSSerirdiSch für Anfänger

„Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“, schrieb Ludwig Wittgenstein in seinen „Philosophischen Untersuchungen“. Will sagen: Selbst wenn der Löwe Wörter brüllen könnte, wären seine Lebensform und seine Wahrnehmungswelt einfach zu verschieden von der unsrigen, um eine gemeinsame

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Basis für eine Verständigung zu finden. Was ein pessimistischer Ansatz ist für die Aussicht, mit andersartigen Wesen eine sinnvolle Unterhaltung führen zu können: Wenn es schon mit Löwen nicht klappt, wie dann erst mit Marsianern, Klingonen, Kree, Bogloditen – oder wie immer sich die Kreaturen nennen, die auf fremden Planeten in

den Weiten des Weltraums auf den ersten Kontakt mit uns warten? Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg – meinen die Schriftsteller, Filmemacher und Fans der Science Fiction. Das Genre, das nicht nur ein Faible für Technik-, sondern auch für Sprachfantasien hat, scheint Wittgensteins Pessimismus nicht zu teilen: Es wird


Fotos: Sony, Twentieth Century Fox, Walt Disney, Buena Vista, UPI

alien-sprache fiLmKunSt

nicht müde, sich die Sprachen außerirdischer Lebensformen und die Kommunikation zwischen ihnen und den Menschen auszumalen. Und setzt dabei voll auf die Sprachkompetenz seiner Helden: Klar kann Han Solo die gutturalen Laute seines Wookies Chewbacca verstehen; klar ist E.T. in der Lage, die wenigen Brocken Englisch zu erlernen, die er braucht, um dem Erdenkind Elliot zu sagen, dass er gerne nach Hause telefonieren würde; klar gelingt es dem Helden in „Unheimliche Begegnung der dritten Art“, die melodiöse Tonfolge zu übersetzen, mit der sich die außerirdischen Besucher zu Wort melden. Und auch wenn Dennis Quaid in „Enemy Mine“ den in rollenden KnurrLauten sprechenden Drac Jeribah zunächst hasserfüllt anpflaumt, ob das „Krötengesicht“ denn kein Englisch verstünde, wächst durch die erzwungene Nähe der als Notgemeinschaft zusammengeschweißten Feinde nicht nur das Sprach-, sondern auch das allgemeine Verständnis füreinander. Genre-Fans lassen sich nicht lumpen und lernen munter mit. Im Computerspiel „No Man’s Sky“ etwa, das den Spieler auf Expedition in allerlei fremde Welten schickt, schlägt man sich nur gut, wenn man sich mit diversen Alien-Sprachen beschäftigt und kulturell adäquat mit den Außerirdischen interagiert. Und selbstverständlich kann man bei der Star-Trek-Convention auf Klingonisch nach der Toilette fragen: „NuqDaq ‘oH puchpa’’e’?“ So viele unterschiedliche Zukunftsängste das SciFi-Genre in seinen dystopischen Ausprägungen auch heraufbeschwören mag: die Angst vor einer neuen babylonischen Sprachverwirrung gehört nicht dazu. Schließlich gibt es für den Ernstfall Wunderdinge wie Übersetzungsdroiden, die „Babelfische“ aus „Per Anhalter durch die Galaxis“, die sich im Ohr einnisten und dort als Allround-Übersetzer fungieren, oder gleich die vulkanische „Gedankenverschmelzung“, die das Sprechen überflüssig macht. Wenn Sprachexperten für Games oder für Filme herangezogen werden, um eine Alien-Sprache zu entwickeln, scheinen sie von der optimistischen These auszugehen, dass es bestimmte Sprachuniversalien gibt, die Besucher von anderen Planeten mit uns teilen werden. Jedenfalls übernehmen sie Muster irdischer Sprachen für ihre Alien-Idiome. Der Linguist Paul Frommer entwickelte für James Camerons „Avatar“

Sprachkompetente Helden: Der Drac in Wolfgang Petersens „Enemy Mine“ (1985) lernt zügig genug Englisch, um sich mit Gegenspieler Dennis Quaid gütlich zu einigen.

Mit gutem Willen reichen auch wenige Worte, um sich zu verstehen. In „Guardians of the Galaxy“ (2014) drückt das Baumwesen Groot mit einem einzigen Satz („I am Groot“) eine ganze Palette an Gefühlen aus.

Manchmal kann Alien-Sprache auch wehtun. Vogonische Dichtkunst gilt in „Per Anhalter durch die Galaxis“ (2005) als Foltermethode.

In Michael Bays „Transformers“ (2007) kann sich der freundliche Bumblebee sogar mit demoliertem Sprechapparat verständlich machen: mittels aus dem Autoradio aufgeschnappten Satzschnipseln.

Eine melodiöse Tonfolge entpuppt sich in Steven Spielbergs Klassiker „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) als Kommunikationsmittel der grazilen Besucher.

die Sprache der Na’avi und benutzte für deren Grammatik polynesische Sprachen als Vorbild. Ben Burtt, legendärer Soundund Sprachdesigner der „Star Wars“-Filme, bekannte in einem Interview, dass seine Arbeit vor allem bedeute, „eine oder mehrere schon existierende Sprachen zu finden, die exotisch und interessant sind und die unser Publikum – 99 Prozent davon – nicht versteht“. So soll für die Sprache der putzigen Ewoks („Die Rückkehr der Jedi-Ritter“) eine 70-jährige Immigrantin aus der inneren Mongolei, die Burtt Volksmärchen in ihrer Muttersprache erzählte, Patin gestanden haben. Offensichtlich haben sich auch „Arrival“Regisseur Denis Villeneuve und seine Drehbuchautoren viele Gedanken über das Thema gemacht und eine nicht nur besonders hübsche, sondern auch besonders originelle Sprache entwickelt. Die seltsamen, vage krakenförmigen Aliens, die auf der Erde landen, tuschen mit ihren seestern-artigen „Händen“ zarte Kreis-Zeichen in die Luft, die es für die Hauptfigur, eine Linguistin (Amy Adams), zu dechiffrieren gilt – was sich als äußerst schwierig erweist, da die Sprache der Fremden nicht-linear ist. In dem Film wird die so genannte Sapir-Whorf-Hypothese zitiert, die seit den 1950er-Jahren in der Linguistik diskutiert wird. Sie besagt, dass unser Denken und die Art, wie wir die Welt verstehen, bestimmt und limitiert werden durch unsere Muttersprache, durch ihre Struktur und ihren Wortschatz. Die Heptapoden, die in „Arrival“ auf der Erde landen, kommunizieren also nicht nur ganz anders als wir, sie leben auch in einer ganz anderen, zeitlich nicht-linearen Wahrnehmungswelt – womit wir wieder bei Wittgenstein und den Löwen wären. Allerdings lässt der Film seine Protagonistin bei ihren Kommunikationsversuchen nicht an den Grenzen ihres Denkhorizonts scheitern. Vielmehr postuliert er, dass man durch die Beschäftigung mit einer neuen Art, sich auszudrücken, auch eine neue Art des Denkens und Weltverständnisses lernen könne. Was im Film zum Lösungsansatz wird, mit dessen Hilfe sich das drohende Szenario einer gewaltsamen Konfrontation vermeiden lässt. Eine hoffnungsvolle (Sprach-)Utopie, von der sich das Kinopublikum eine Scheibe abschneiden könnte. Auf zum nächsten Fremdsprachenkurs! •

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in MeMoriaM AKteure

Fotos: DEFA-Stiftung

Manfred Krug in (v.o.l.) »Das Versteck«, »hauptmann florian von der Mühle«, »Wenn Du groß bist, lieber adam« und »spur der steine«

Manfred Krug 8.2.1937-21.10.2016 Manfred Krug war ein gesamtdeutscher Star: zunächst, bis in sein 40. Lebensjahr, in der DDR, nach seiner Übersiedlung auch in der Bundesrepublik. Sein Erfolg beim Publikum gründete sich auf einer unbedingten Authentizität. Krug schlüpfte keineswegs nur in verschiedene Rollen, sondern wandelte sich jede Figur konsequent an: „Ich bin immer, wie ich bin.“ Souverän, frech und frei nutzte er die von Drehbuchautoren wie seinen Freunden Jurek Becker und Ulrich Plenzdorf verfassten Dialoge als Spielmaterial, formte sie nach eigenem Duktus um, machte das flotte Understatement, die Lust an der Pointe zum Markenzeichen. Ob als anarchistischer Baubrigadier Balla in Frank Beyers lange verbotenem Film „Spur der Steine“ (1966/89), als Parteisekretär in „Wege übers Land“ (1968) oder als Rechtsanwalt in „Liebling Kreuzberg“ (ab 1985): Stets überzeugte er als „Sonderklasse-Schauspieler mit der Suggestion vollkommener Übereinstim-

mung von Darsteller und Held“ (Rosemarie Rehahn). Als junger Mann hatte er als Stahlschmelzer in einer Eisenhütte gelernt. Aus dieser Zeit stammt nicht nur, als Folge eines Unfalls, eine Narbe auf der Stirn, sondern eine proletarisch grundierte Körperlichkeit, eine leinwandfüllende physische Präsenz. Nachdem er seine Schauspielerkarriere 1955 als Eleve an Brechts Berliner Ensemble begonnen und eine Bühnenreifeprüfung abgelegt hatte, trat Krug ein Jahr später erstmals bei der DEFA auf. Wichtige Kinofilme drehte er mit Frank Beyer, der ihn u.a. in dem Spanienkriegsdrama „Fünf Patronenhülsen“ (1960), in „Königskinder“ (1962) und „Das Versteck“ (1977) besetzte. Krug spielte mehrfach bei Konrad Wolf, Herrmann Zschoche und Egon Günther. Mit jazzigen Gesangseinlagen überzeugte er bereits 1962 in Ralf Kirstens Lustspiel „Auf der Sonnenseite“, in dem er seinen eigenen Weg zum Schauspielerberuf ironisch nachempfand; später setzte er seine Gesangskünste auch in der „Tatort“-Krimireihe (ab 1984) ein. Wenig bekannt ist, dass Krug sogar auf der Opernbühne brillierte, als ihn Götz Friedrich 1970 für den Sporting Life in „Porgy and Bess“ an die Ost-Berliner Ko-

mische Oper verpflichtete. Stets legte Krug Wert auf maximale Unterhaltsamkeit, ob in Gegenwartsfilmen oder Historienspektakeln. Mit dem Kino der Bundesrepublik konnte er sich nach seiner Ausreise aus der DDR kaum anfreunden, Max Willutzkis „Die Faust in der Tasche“ (1978) und Lienhard Wawrzyns „Der Blaue“ (1993) blieben seltene Ausnahmen. Im Fernsehen dagegen galt Krug über Jahre als omnipräsent, von der Fernfahrerserie „Auf Achse“ (1978-92) über die „Sesamstraße“ bis zu zahllosen Werbespots für Bier, Kaffee oder TelekomAktien. 1998 trat er letztmalig für die Adaption seines Erinnerungsbuchs „Abgehauen“ vor die Kamera; hier erinnerte er noch einmal an jene Ereignisse, die mit seinem Engagement gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR, dem daraufhin über ihn verhängten faktischen Berufsverbot und der Übersiedlung in den Westen zusammenhingen. Danach konzentrierte sich Manfred Krug auf die Jazzmusik; seine Konzerte waren vor allem im deutschen Osten Kult. Ralf Schenk Lesetipp: „Hohe Schule. Zum 70. Geburtstag von Manfred Krug“ von Michael hanisch, in: fiLMDiensT 3/2007

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Drei Filme von Florian Eichinger: »Bergfest«, »Nordstrand« und »Die Hände meiner Mutter« (v.o.)

Interview mit Florian Eichinger über „Die Hände meiner Mutter“

Gewalt und Familie

Das Gespräch führte Michael Ranze

Fotos: Farbfilm/Filmfest München/Bergfilm

„Einer der Hauptmotoren meiner Arbeit ist es, der menschlichen Natur möglichst weit auf den Grund zu gehen.“

Mit „Die Hände meiner Mutter“ (Kritik in dieser Ausgabe) beendet Florian Eichinger seine Trilogie über familiäre Gewalt, subtile Geschichten über Schuld und Verlust, über die Vergangenheit und die Schwierigkeiten, einmal verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen.

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florian eichinger AktEurE

Ihre Filme „Bergfest“, „Nordstrand“ und „Die Hände meiner Mutter“ gehören zu einer Trilogie über Gewalt in der Familie. Woher kommt bei Ihnen dieses Interesse, das Thema derart intensiv aufzuarbeiten? Eichinger: Ich komme aus einer großen Patchwork-Familie, wuchs mit zwei Halbgeschwistern, zwei Stiefgeschwistern, Stiefeltern und leiblichen Eltern auf. So habe ich viele Konflikte mitbekommen, direkt oder aus naher Distanz, auch Gewalt in verschiedener Form. Irgendwann kam das Gefühl auf, dass ich da etwas zu erzählen habe und mich zugleich damit auseinandersetzen kann. In der Öffentlichkeit wird Gewalt oft eher platt und ohne die Folgen dargestellt, manches wird auf sehr schwarz-weiße Art kolportiert, um möglichst stark zu emotionalisieren. Das deckt sich nicht mit meiner Erfahrung. Deshalb versuche ich, so gut ich kann, Filme zu machen, die genauer hinschauen. Wie sind die Filme miteinander verbunden, was trennt sie? Eichinger: Es geht in allen drei Filmen um die Folgen und Verstrickungen von Gewalt in der Familie. Die Hauptbetroffenen sind jeweils Männer – was nicht gerade dem typischen Rollenbild entspricht. Bei „Bergfest“ geht es im Kern um einen Vater-SohnKonflikt, aber auch darum, wie sich alles auf die Partnerinnen der beiden auswirkt. Bei „Nordstrand“ stehen zwei Brüder im Zentrum, und im neuen Film erinnert sich ein Mann daran, was seine Mutter ihm als Kind angetan hat. Und er versucht dann gemeinsam mit seiner Frau, damit klarzukommen. Wie bringt man solch ein schweres Thema in einem narrativen Spielfilm unter, der ja auch unterhalten soll? Eichinger: Die größte Herausforderung beim Drehbuch ist vielleicht, nicht zu konzepthaft an solche Stoffe heranzugehen; weder zu beschönigen noch zu verteufeln und einen möglichst aufrichtigen Blick auf die Charaktere und ihre Beziehungen zu werfen. Und doch bedeutet Film immer auch Vereinfachung. Die Kunst ist, dass dieser Vereinfachung nicht Dinge zum Opfer fallen, die dann die Wirklichkeit arg verzerren. Deshalb will ich bei den Charakteren auch ihre inneren Widersprüche nicht aussparen. Einer der Hauptmotoren meiner

Arbeit ist es, der menschlichen Natur möglichst weit auf den Grund zu gehen. Ich wollte schon immer wissen, wie wir sind und warum – ob gut oder böse, hässlich oder schön oder alles in einem, wie in den meisten Fällen. Wie haben Sie für „Die Hände meiner Mutter“ recherchiert? Eichinger: Ich habe viel mit Betroffenen und Psychologen gesprochen. Das war sehr spannend, zumal man aufpassen muss, dass man dann nicht einen reinen Lehrfilm macht, bei dem alles so ist wie in den Studien. Ich habe mich zum Beispiel dafür entschieden, dass die Mutter recht früh die Tat zugibt. Statistisch gesehen ist das eher eine Seltenheit. Auch wäre in vielen Filmen die gängige Dramaturgie, dass der Täter erst am Ende überführt wird. Interessanter fand ich, den Fokus auf die Frage zu legen: Wie geht man damit um, wenn einem so etwas widerfahren ist? Wenn man weiß: Es war nicht nur ein böser Traum. Interessant ist dabei, dass die Mutter zwar gesteht, aber doch unbeteiligt bleibt. Eichinger: Ja, sie ist ziemlich speziell. Ich habe in Interviews mit Betroffenen von Menschen gehört, die genau auf diese Art mit Schuld umgehen. Sie bringt auch etwas Fatalistisches mit sich, vielleicht um sich der eigenen Verantwortung ein Stück weit zu entheben. Nach dem Motto: So ist die Welt, und ich bin auch nicht besser. Es ist ja auch alles andere als einfach, mit schwerer Schuld umzugehen. Ein anderes wichtiges Thema ist die Verdrängung und damit einhergehend die Erinnerung, die in diesem Fall sehr spät ausbricht. Eichinger: Tatsächlich hat sich in einem der Fälle, die ich recherchiert habe, der Betroffene erst mit 40 Jahren an das erinnert, was ihm als Kind zustieß. Zwei Psychologen haben mir bestätigt, dass sich manche Erlebnisse dem Bewusstsein komplett entziehen und erst viel später auf den Plan kommen, wenn es einem zum Beispiel gerade besonders gut geht – in einer Situation also, die es einem erlaubt, sich damit zu konfrontieren. Das Phänomen der Verdrängung, auch im gesellschaftlichen Kontext, spielt in unserer Kultur schon lange eine große Rolle. Vielleicht ist es zu einfach zu

sagen, dass man immer alles aufarbeiten muss, doch oft liegt darin eine Chance auf so etwas wie Würde und Heilung. Wie kam es zur Entscheidung, den Jungen und den Mann vom selben Schauspieler, Andreas Döhler, verkörpern zu lassen? Eichinger: Die Idee kam von einem anderen Schauspieler, der zuerst für die Rolle des Markus vorgesehen war. Wir haben das bei einem Probedreh getestet, weil mich diese ungewöhnliche Setzung, die man eher aus dem Theater kennt, faszinierte. Wir fanden dann, dass es bei aller Künstlichkeit erstaunlich gut funktioniert, vermutlich weil es die Vergangenheit so greifbar in die Gegenwart holt. Gerade wenn etwas Traumatisches noch unverarbeitet ist, bleibt es für den Menschen in gewissem Sinne gegenwärtig – ganz gleich, wie lange das Geschehnis schon zurückliegt. Neben diesem poetischen Bild war ich auch froh, die heftigen Szenen trotz aller denkbaren Vorsichtsmaßnahmen nicht mit einem Kind drehen zu müssen. Welche ästhetischen Entscheidungen mussten Sie sonst treffen, um das Thema des Missbrauchs nicht zu deutlich zu zeigen? Eichinger: Es stand früh fest, dass wir die Missbrauchsszenen alles andere als voyeuristisch zeigen wollten. Die Kamera ist auf großem Abstand, wir zeigen nichts Explizites. Trotzdem merkt man, was passiert. Auch in erzählerischer Hinsicht ist es oft sinnvoll, dem Zuschauer solche Szenen nicht zu drastisch zu präsentieren oder sogar mit Musik zu intensivieren, sie vielmehr zurückgenommen und nüchtern, mit einer gewissen Sachlichkeit zu zeigen – was ja auch verstören kann. Die Inszenierung lässt dem mündigen Zuschauer so die Wahl, zu schauen, wie weit er sich dem öffnen will. Ich möchte niemanden überrumpeln. • Florian Eichinger geb. 14.7.1971 in ludwigsburg ausbildung und arbeit als fernsehredakteur Seit 1998 autor, Produzent und regisseur von Kurzfilmen, Musikvideos und Werbespots 2008 erster Spielfilm „Bergfest“ 2013 nordstrand 2016 Die hände meiner Mutter

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KRItIKEn neUe Filme

Der britische Regisseur Ken Loach erzählt von einem verwitweten Zimmermann aus Newcastle im Nordosten Englands. Daniel Blake kommt bald ins Rentenalter; kürzlich hat er einen leichten Herzinfarkt erlitten. Er kann und möchte wieder arbeiten, doch einen legalen Job zu bekommen, erweist sich aus formalen Gründen als überaus schwer. Mit viel Interesse am Detail nimmt der Film an Daniels Kampf mit den Behörden teil, der ungeachtet seiner Realitätshaltigkeit zunehmend absurde Züge trägt. Denn Daniel braucht eine Arbeitslosenversorgung, und er braucht eine Arbeitsfähigkeitsbescheinigung. Arbeitsamt und Gesundheitsbehörde wollen ihm das eine aber nicht ohne das andere ausstellen, womit sie sich gegenseitig lahmlegen; der alte Mann fällt durchs Netz der Vorschriften ins Bodenlose. Es ist ein aussichtsloser Kampf mit einer staatlichen Hydra, der zusätzlich deprimiert, weil Blake offenbar noch nie mit einem Computern gearbeitet

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Ich, Daniel Blake „Goldene Palme“ für Ken Loachs Kino als moralische Anstalt hat und deshalb nicht weiß, wie man beispielsweise eine Maus bedient. Seine Überforderung rührt, entlarvt aber auch Loachs Blick auf die „Lower Class“Figuren als arg paternalistisch und idyllisierend. Sind doch die meisten „kleinen“ Leute heute längst nicht so unerfahren mit modernen Techniken noch derart selbstlos und moralisch vorbildlich, wie es die weiteren Erzählstränge nahelegen. Vor allem in der Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihren zwei Kindern Opfer einer Zwangsräumung wurde. Blake kümmert sich rührend um sie, bastelt den Kindern Spielzeug, vermittelt Kontakt zu Sozialhelfern und lädt die Familie zum Essen ein. Es ist kein Zufall, dass Loach seine Figur auch mit christlichen Attributen dekoriert: Daniel ist Zimmermann von Beruf, und er

schnitzt den Kindern ausgerechnet Fische. Ebenso erlebt man Blake im Umgang mit Nachbarn als guten Mensch von Newcastle: immer fair, nie aufbrausend, zornig oder sonstwie emotional – ein harscher und beschämender Kontrast zu den frustrierenden Erfahrungen auf den Ämtern. Auch wenn die Inszenierung immer wieder versucht, der Geschichte Momente der Leichtigkeit und des Komödiantischen zu geben, liegt die Stärke im politischen Zorn. Loach zeigt, was die Soziologie mit akribischen Begriffen herausgearbeitet hat: Dass der deregulierte Markt unendlich viel mehr formale Vorschriften und Regularien zur Disziplinierung der Menschen produziert als frühere Ökonomien, und dass Bürokraten zugleich mitleidsloser denn je agieren.

Das Individuum und dessen besondere Umstände gelten immer weniger. Am Beispiel des Kämpfers Daniel Blake, dessen Mut und Witz, Energie und Enthusiasmus in der Mühle der verwalteten Welt zermahlen werden, beschreibt Loach eindringlich, wie die Bürokratie Menschen kaputtmacht, wie sich die Sozialämter hinter ihren Callcentern und Internetauftritten verstecken, neue, absurde Beschäftigungsspiele erfinden und Komplexität der Formulare und Verfahren derart steigern, dass viele so genannte Sozialhilfeempfänger frustriert aufgeben oder scheitern – jedenfalls die Statistik „befreien“. „Es ist eine monumentale Farce“, erkennt Daniel, „wir schreiben Bewerbungen für Jobs, die es gar nicht gibt.“ Auch die Verantwortlichen werden benannt: „All those fucking Tories.“ Es ist ein unaufhaltsamer Weg auf einer absteigenden Ebene. Daniel scheitert an allen Fronten. Am Ende, kurz vor einem entscheidenden Sozialverfahren, stirbt er an seinem zweiten Infarkt - auf der Behördentoilette. Die Botschaft, dass der Staat


neUe Filme KRItIKEn der Feind sei, die der selbsternannte Trotzkist Loach paradoxerweise mit den Neoliberalen teilt, ist da schon überdeutlich formuliert: „The state digged him to an early grave“. In einer sehr pathetischen Beerdigung wird am Schluss ein Brief des Verstorbenen verlesen: „Ich bin kein ,Kunde‘, ich bin kein ,Klient‘, ich bettle nicht. Ich bin ein Bürger. Nicht mehr, nicht weniger.“ Die Mischung aus Idealisierung und Stereotypisierung widerspricht dem verbreiteten Eindruck des „Realismus“, ja des „Naturalismus“ in den Filmen des britischen Regisseurs. Nichts könnte falscher sein. Ken Loach steht in jeder Hinsicht für ein Kino als moralische Anstalt. Rüdiger Suchsland

BEwERtung DER FILmKommISSIon

Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe

ein britischer Zimmermann erleidet kurz vor dem Rentenalter einen leichten Herzinfarkt und ist erstmals in seinem leben auf staatliche Hilfe angewiesen. Beim Kampf mit Anträgen und Formularen lernt er eine alleinerziehende mutter kennen, die ähnlich erniedrigende erfahrungen mit der Bürokratie gemacht hat. Trotz komödiantischer Töne liegt die Stärke der inszenierung im politischen Zorn, mit dem Regisseur Ken loach die Herzlosigkeit der verwalteten Welt und auf den Deregulierungswahn der neokonservativen zurückführt. Biblische Anklänge in der Passionsgeschichte des Handwerkers sind dabei nicht zu übersehen. – Sehenswert ab 14.

i, DAniel BlAKe. Großbritannien 2016 Regie: Ken loach Darsteller: Dave Johns (Daniel Blake), Hayley Squires (Katie), micky mcGregor (ivan), Dylan mcKiernan, Sharon Percy

Einer von uns Ambitioniertes Adoleszenz-Drama Dank einer suggestiven Kamerafahrt zwischen endlosen Supermarktregalen wähnt man sich schon in der Eingangssequenz an einem Tatort. Als auf dem Boden tatsächlich die Leiche eines Jugendlichen neben einer riesigen blauen Pfütze auftaucht und eine Rückblende ansetzt, die Vorgeschichte zu erzählen, wundert man sich, dass man sich trotz der in Deutschland grotesk wuchernden Fernsehkrimi-Monokultur innerlich nicht abwendet. Das könnte an der seltsam distanzierten Atmosphäre liegen, die diese österreichische Filmperle von der ersten Minute an verbreitet. Die Welt des „White Trash“, die man von den Fotos und Filmen eines Larry Clark oder Tobias Zielony kennt, trifft hier auf eine ordentlich sortierte Konsum-Ödnis, die den entlarvenden Fotografien eines Andreas Gursky entstammen könnte. Für eine in einem Gewerbegebiet lebende Gruppe von Jugendlichen, überwiegend von Laien verkörpert, ist dieser Tempel des kapitalistischen Überflusses zum einzigen Referenzrahmen ihres prekären Lebens geworden. Auf dem Parkplatz des Supermarkts schlagen sie die Zeit mit Kiffen und Alkohol tot, legen sich mit Polizisten an, die ihre eigene Frustration an den eigentlich harmlosen „Abhängern“ abre-

agieren, und finden in KleinDealern und desorientierten Gefängnisrückkehrern Vorbilder, die sich „nichts gefallen lassen.“ Auf dem Dach des Warenhauses erleben manche ihre ersten Rendezvous. Einer von ihnen findet sogar den Weg ins „System“ und schafft es trotz Schulabbruch, zum Mitarbeiter des Filialleiters aufzusteigen, der mit Überwachungskameras und freundlich abweisenden Ansprachen vergeblich versucht, die klauenden Teenager von seiner bescheidenen Existenzgrundlage fernzuhalten. Natürlich kommt es in diesem absurd den Horizont einengenden Mikrokosmos zu einem Drama. Die Gruppendynamik aus Kapuzenpulli-Coolness, Hip-Hop-Mantra und „Du Opfer“-Provokationen peitscht drei dieser perspektivlosen, um gegenseitige Anerkennung buhlenden Jungs im Alter von 14 bis 18 Jahren dazu an, nachts mit dem Auto im Vollrausch durch den menschenleeren AsphaltVorort zu rasen, ehe sie auf der Suche nach nicht-alkoholischen Getränken in den Supermarkt einbrechen. Es dauert nicht lange, bis eine Polizeistreife auf den in den Geschäftsräumen nicht hörbaren Alarm reagiert und beim Kontrollgang einen der Jungs erschießt. Der 1980 in Dresden geborene Regisseur Stephan Richter, der in Wien an der Universität für angewandte Kunst studiert hatte, ließ sich für seinen zwischen Hyperrealismus und einer latent künstlichen Bedrohlichkeit changierenden Debütfilm von einem tatsächlichen Fall in Krems inspirieren. Sein formal bis ins Detail kunstvoll

durchdachtes, mit Milieuslang nicht geizendes und beeindruckend fotografiertes Drama könnte man auch als Hommage an Nicholas Rays Klassiker „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) deuten, nur dass die Rebellion und das Streben nach Freiheit zwischen vakuumverpackter Fleischware und jeden Schandfleck sterilisierenden Putzmaschinen derart hanekeesk hoffnungslos gerät, dass man selbst mit dem von Andreas Lust gespielten Polizisten Mitleid hat. Dieser muss sich künftig nicht nur mit einem schlecht bezahlten Job und drohendem Burnout, sondern auch noch mit seiner Schuld herumplagen. In der besten aller Produktwelten ist jeder ein „Opfer“. Wehe dem, der im Warentausch das ultimative Abenteuer sucht. Alexandra Wach BEwERtung DER FILmKommISSIon

in einer österreichischen Provinzstadt schlagen die gegenseitig um Anerkennung buhlenden Jugendlichen auf dem Parkplatz eines Supermarkts ihre Zeit mit Kiffen und Alkohol tot, bis drei von ihnen etwas anderes erleben wollen und darüber in eine Katastrophe rutschen. Der zwischen Hyperrealismus und stilvoll unterkühlter Bedrohung schillernde Debütfilm wurde von einer wahren Begebenheit inspiriert, verwandelt das Adoleszenz-Drama aber in eine bis ins Detail durchdachte und beeindruckend fotografierte Studie über die Folgen gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit. – Sehenswert ab 16.

Österreich 2015 Regie: Stephan Richter

Länge: 101 min. | Kinostart: 24.11.2016

Darsteller: Jack Hofer (Julian), Simon morzé (marko), Christopher Schärf (Victor), Dominic marcus Singer, markus Schleinzer, Andreas lust

Verleih: Prokino | FSK: ab 6; f

Länge: 86 min. | Kinostart: 24.11.2016

FD-Kritik: 44 308

Verleih: little Dream | FD-Kritik: 44 309

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KRitiKen AUF DVD/BLU-RAy

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mäßige Fabel der Gründung des „Free State of Jones“, sondern beleuchtet ausführlich auch die Jahre nach dem Krieg. Die Südstaaten sind zwar besiegt, und überall herrscht (theoretisch) das Gesetz der Vereinigten Staaten, doch in Mississippi ziehen trotzdem die alten Eliten an den Strippen, zur Not gewaltsam mit Hilfe des Ku-Klux-Klans. Eine neue Kriegsfront für Newton, der auf Seiten der ehemaligen Sklaven für deren Recht auf Freiheit und politische Partizipation eintritt (und in zweiter Ehe mit einer ehemaligen Sklavin verheiratet war). Zudem spannt die Rahmenhandlung einen Bogen in die (wenig glorreiche) Historienfilm um eine Episode Zukunft, in der sich gut 80 Jahre später ein Urenkel von Knight des amerikanischen Sezessionskriegs und seiner zweiten Frau vor Gericht verteidigen muss, weil er Chauvinismus, die nationalisund gemeinsam gründen sie eine Weiße geheiratet hat, was tische Geltungssucht und die schließlich den „Free State of gegen die rassistischen Gesetze dumpfe Verachtung für alles, Jones“, eine Enklave in Mississip- des Staates Mississippi ist. was nicht weiß, männlich und pi, die sich während des Kriegs Obwohl die Inszenierung der amerikanisch ist, denen der auf die Seite der Union schlägt. Hauptfigur viel Respekt entneue US-Präsident in seinem Über die reale Gestalt des gegenbringt, ist der Film keine Wahlkampf das Wort geredet Newton Knight ist nicht allzu viel „strahlende“ Heldengeschichte. hat. Newton steht für das Ideal dokumentiert, Drehbuchautor Farbdramaturgie und Lichtstimvon Freiheit und Gleichheit, das und Regisseur Gary Ross musste mung dämpfen die Atmosphäre mit dem Anspruch daherkommt, sich also notgedrungen einige von Anfang an; und die absurde für alle Menschen zu gelten – in Freiheiten nehmen. Zusammen Gerichtsverhandlung der RahNewtons Fall vor allem auch mit dem gewohnt menerzählung setzt für die versklavten Schwarzen. intensiven Hauptdareinen bitteren Akzent, Mit denen solidarisiert er sich steller Matthew Mcweil sie in Erinnerung ebenso wie mit den anderen Conaughey gestaltet hält, wie hartnäckig Kleinbauern, organisiert den beer den Protagonisten Mechanismen der waffneten Widerstand, bei dem als unprätentiöUnterdrückung über auch Frauen zur Waffe greifen, sen Helden wider die Zeit von Newton Willen, der in einer Knight hinausragen. Zeit, in der in einem Das Ringen um brutalen Bürgerkrieg Freiheit und Gerechzentrale Weichen tigkeit erschöpft FREE STATE OF JONES. USA sich eben nicht in der US-Geschichte 2016 gestellt werden, von einigen gewonnenen einem unbeugsamen Regie: Gary Ross Schlachten; es ist Gerechtigkeitsgefühl Darsteller: Matthew McCovielmehr eine Lebensgeleitet wird. Zeitlich naughey, Gugu Mbathahaltung und vor allem spannt der Film einen Raw, Mahershala Ali, Keri harte, zähe (Überzeurelativ weiten Bogen. Russell, Christopher Berry, gungs-)Arbeit, die imJacob Lofland Er konzentriert mer wieder aufs Neue Länge: 140 Min. | FSK: ab 16 geleistet werden sich nicht nur auf Anbieter: EuroVideo die verwegene, ein muss. – Sehenswert FD-Kritik: 44 333 wenig Robin-Hoodab 16. Felicitas Kleiner

Free State of Jones

Fotos: Jeweilige Anbieter.

Könnte man sich Newton Knight (Matthew McConaughey) auch als Trump-Wähler vorstellen? Der Held, der im Zentrum des auf historischen Ereignissen beruhenden Dramas aus der Zeit des amerikanischen Sezessionskriegs steht, war zumindest im realen Leben auch ein Parteigänger der Republikaner (was im Film nicht vorkommt), und ebenfalls steht er für einen Aufstand im Namen des „kleinen Mannes“ gegen das Establishment, hier gegen die Südstaaten-Regierung, die die Bevölkerung zwischen 1861 und 1865 in den Sezessionskrieg gegen die Nordstaaten schickt. Nach dem Tod seines Neffen in den Schützengräben hat der Kleinfarmer Knight genug. Er sieht keinen Sinn darin, weiter in diesem Krieg zu kämpfen, der für etwas gefochten wird, an das er nicht glaubt: für die Trennung des Südens von der Union und das Recht der reichen Plantagenbesitzer auf Sklaven. Newton desertiert, bringt den Leichnam seines Neffen zu seiner Schwester, damit diese ihn bestatten kann, und kehrt auf seine Farm zurück. Alles, was Newton will, ist, als freier Mann in Ruhe sein Land bestellen. Was ihm und seinen Nachbarn von den Steuereintreibern und den Häschern, die nach Deserteuren suchen, nicht leicht gemacht wird. Was Newton im Vergleich zu den „Trumpisten“ fehlt, sind der


KRITIKEN fernseh-Tipps

07.40-09.10 mdr Blauvogel R: Ulrich Weiß Siedlerjunge wächst bei Irokesen auf DDR 1979 Ab 10 14.00-15.20 KiKA Hördur – Zwischen den Welten R: Ekrem Ergün Feinfühliger Coming-of-Age-Film Deutschland 2015 Sehenswert ab 12 20.15-22.05 Servus TV Keine Sorge, mir geht’s gut R: Philippe Lioret Junge Frau reagiert extrem auf Verschwinden des Bruders Frankreich 2006 Ab 16 22.00-23.45 One Willkommen bei den Rileys R: Jake Scott Trauernder Vater kümmert sich um junge Stripperin USA/GB 2010 Ab 16 23.30-02.15 BR FERNSEHEN Quellen des Lebens R: Oskar Roehler Familienchronik zwischen Melo und Groteske Deutschland 2012 00.25-02.05 SAT.1 The Hole R: Joe Dante Teen-Horror um ein mysteriöses Loch im Keller USA 2009 Ab 16 01.00-02.38 Das Erste Tödliche Versprechen – Eastern Promises R: David Cronenberg Intelligentes Russenmafia-Drama USA/Kanada 2007 Sehenswert

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SO

SAMSTAG 26. November

Filmdienst 24 | 2016

SONNTAG 27. November

10.15-11.45 Zwiebel-Jack räumt auf R: Enzo G. Castellari Treffsichere Westernparodie Italien/Spanien 1975

ERSTAUSSTRAHLUNG: 26. November, 14.00-15.20

KiKA

Hördur – Zwischen den Welten Die 16-jährige Aylin (Almila Bagriaçik) hat nach dem Tod ihrer Mutter die Erziehungsverantwortung für ihren kleinen Bruder übernommen, während Vater Hasan (Hilmi Sözer) als Tagelöhner ständig unterwegs ist. Nach einer Schlägerei auf dem Schulhof wird das Mädchen zu Sozialstunden auf einem Reiterhof verdonnert, wobei sich sein Schicksal durch die Begegnung mit einem Islandpferd wendet. Ein feinfühliger, umsichtig inszenierter Film über das Erwachsenwerden, in der Hauptrolle mit großer Glaubwürdigkeit gespielt. Mitunter fällt die Inszenierung von Ekrem Ergün sehr melodramatisch aus, doch nimmt sich das Debüt ausreichend Zeit, die Gefühlslagen der Figuren ebenso wie kleine Veränderungen in deren Beziehungen auszuloten.

26. November, 23.30-02.15

BR FERNSEHEN

Quellen des Lebens Der 2011 veröffentlichte Roman „Herkunft“ war für Oskar Roehler der Ausgangspunkt seines zwei Jahre später entstandenen Films, der in fast drei Stunden tief in die eigene Familiengeschichte und in die Historie der Bundesrepublik zwischen Kriegsende und 1980er-Jahren führt. „Quellen des Lebens“ entfaltet zunächst die Geschichte des Großvaters Erich (Jürgen Vogel), der aus Krieg und Gefangenschaft in Russland zu seiner Frau heimkehrt und in der Gesellschaft der sich neu formierenden Bundesrepublik Deutschland Fuß fasst, später geht der Fokus auf seinen Sohn Klaus (Moritz Bleibtreu) und schließlich auf den Enkel Robert (Leonard Scheicher) über. Dabei beschreibt Roehler ausführlich die Wiederaufbau-Generation und die 1968er, ohne einer der Strömungen die ungeteilte Zu- oder Ablehnung zu gönnen. Eine lohnende Sehherausforderung, auch wenn der Film mitunter krass zwischen Melodram und Groteske schwankt.

mdr

Ab 16

11.45-12.50 mdr Sechse kommen durch die Welt R: Rainer Simon Intellektuelle Märchenverfilmung DDR 1972 Ab 8 12.00-13.20 KiKA Drei Haselnüsse für Aschenbrödel R: Václav Vorlícek Erfrischend freche Märchen-Adaption CSSR/DDR 1973 Sehenswert ab 6 12.50-13.58 mdr Das singende, klingende Bäumchen R: Francesco Stefani Reizvolles Märchen DDR 1957 Ab 6 20.15-21.35 Diplomatie R: Volker Schlöndorff Historisches Kammerspiel Frankreich/Deutschland 2014

arte

Ab 16

20.15-23.25 RTL Der Hobbit – Smaugs Einöde R: Peter Jackson Fantasy-Abenteuer nach Tolkien USA/Neuseeland Ab 12 21.35-23.35 arte Michael Kohlhaas R: Arnaud des Pallières Intensive Kleist-Adaption Frankreich 2013 Sehenswert ab 14 21.45-23.40 3sat Manche mögen’s heiß R: Billy Wilder Glänzende Komödie USA 1959 Sehenswert ab 14 23.05-01.05 mdr Nackt unter Wölfen R: Frank Beyer KZ-Häftlinge entdecken Kind DDR 1963 Sehenswert ab 14

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

SA


fernseh-Tipps KRITIKEN

MO »Diplomatie«

27. November-6. Dezember

arte

arte-FilmFestival Die trübe Spätherbstzeit lädt nicht unbedingt zum Ausgehen ein, sodass es naheliegt, die Zuschauer vor den Fernseher zu locken. Arte nutzt die Gunst der Stunde, um sein diesjähriges „FilmFestival“ auszustrahlen – insgesamt 18 anspruchsvolle Filme, die innerhalb von zehn Tagen erstmals im Fernsehen gezeigt werden. Zum Auftakt sind am 27.11. zwei Werke zu sehen, die deutsche Geschichte aus französischer Perspektive zeigen: In „Diplomatie“ behandelt Volker Schlöndorff nach einer erfolgreichen Theatervorlage kammerspielartig die Verhandlungen des schwedischen Konsuls Nordling mit dem Nazi-General Dietrich von Choltitz, um die Zerstörung von Paris 1944 zu verhindern, in „Michael Kohlhaas“ versetzt der Franzose Arnaud des Pallières Kleists berühmte Novelle in die Cevennen und nimmt deutliche Anleihen beim Western. Weitere internationale Höhepunkte der Filmreihe sind der redefreudige türkische Cannes-Gewinner „Winterschlaf“ (28.11.), Xavier Dolans Film-noir-Drama „Sag nicht, wer du bist!“ (30.11.), Naomi Kawases poetischer Coming-of-Age-Film „Immer wieder das Meer“ (4.12.) oder Claire Denis’ Thriller „Dreckskerle“ (6.12.), als deutsche Beiträge sind u.a. „Jack“ von Edward Berger (1.12.) und „Hedi Schneider steckt fest“ von Sonja Heiss (2.12.) dabei. Ein höchst vielfältiges Programm, bei dem neben einer vertiefenden Sichtung von Arthouse-Highlights der letzten Jahre auch Neuentdeckungen winken, nicht zuletzt durch erstmals überhaupt in Deutschland zu sehende Filme wie „Missbrauch“ von Catherine Breillat (1.12.) oder Scott Grahams „Iona“ (28.11.).

27. November, 10.15-11.45

mdr

Zwiebel-Jack räumt auf „Il Cipollaro“ (von „Cipolla“, Zwiebel) heißt der komische Kautz, der mit seinem sprechenden Pferd Archibald nach Paradise City reitet, um dort als Farmer neu anzufangen. Das texanische Städtchen wird allerdings von einem skrupellosen Öl-Magnaten tyrannisiert, der die Bewohner mit roher Gewalt zum Verkauf ihres Bodens zwingt. Das ist der Ausgangspunkt einer kuriosen ItalowesternParodie, in der Enzo G. Castellari 1975 die Klassiker des Genres, insbesondere aber die TerenceHill-Klamotten persiflierte. In der Hauptrolle des bärbeißigen Zwiebelbauern darf „Django“Darsteller Franco Nero, der am 23.11. 75 Jahre alt wurde, komödiantische Seiten zeigen.

MONTAG 28. November

20.15-23.20 arte Winterschlaf R: Nuri Bilge Ceylan Nuancierte „Szenen einer Ehe“ Türkei 2014 Sehenswert ab 16 20.15-22.30 kabeleins Tödliche Weihnachten R: Renny Harlin Geena Davis als Vorstadtmutter mit Killer-Vergangenheit USA 1996 Ab 16 22.25-23.59 Zu Ende Leben R: Rebecca Panian Doku über einen Totkranken Schweiz 2015

3sat

Ab 16

23.15-00.45 NDR fernsehen Contact High R: Michael Glawogger Reigen psychedelisch-schräger Erlebnisse Österreich 2009 Sehenswert 23.55-01.50 mdr Simon R: Lisa Ohlin Vielschichtiges Identitätsdrama Schweden 2011 Sehenswert ab 14 00.00-01.45 hr fernsehen No Way Out – Es gibt kein Zurück R: Roger Donaldson Kevin Costner jagt sich selbst USA 1987 Ab 16 00.15-01.50 ZDF Schwerkraft R: Maximilian Erlenwein Rabiat-komisches Buddy-Movie Deutschland 2008 Ab 16 00.50-02.45 arte Schatten – Eine nächtliche Halluzination R: Arthur Robison Stummes Eifersuchtsdrama (vgl. fd 23/16) Deutschland 1923 Sehenswert

28. November, 23.15-00.45

NDR fernsehen

Contact High Zwei österreichische Tagdiebe werden auf eine Reise nach Polen geschickt, wo sie eine mysteriöse Tasche abholen sollen. Auf ihrer Tour nach Lodz entdecken sie bald, dass sie von anderen Ganoven überwacht werden, was das Duo aber nicht hindert, mit Rauschzuständen aller Art zu experimentieren. Als eine Art Sequel zu „Nachtschnecken“ (2003) entwirft der österreichische Regisseur Michael Glawogger einen „hippiesken“ Reigen psychedelischer Ereignisse, die sich am Rande des Utopischen austoben. Mit stimmig ausgewählter Musik, einem gut aufgelegten Darsteller-Ensemble und aberwitzig-surrealen Exkursen entwirft der Film ein Panoptikum ästhetisch heterogener Ausnahmezustände, die zwischen Karneval und Chaos frei oszillieren.

ERSTAUSSTRAHLUNG: 28. November, 23.25-00.50

arte

Iona Als Jugendliche hat sie die stickige, religiös aufgeladene Enge ihrer Geburtsinsel Iona verlassen, nun kehrt sie – inzwischen Mutter eines 15-jährigen Sohns – zurück in die ungeliebte Heimat. Ihr rebellisches Kind Billy, das sich lieber Bully nennt, hat auf dem Festland in Glasgow seinen Stiefvater ermordet, und seitdem sind die beiden auf der Flucht. Doch während Bully die christliche Gemeinschaft als erlösendes Moment begreift, brechen sich bei der Mutter nie verarbeitete Dramen aus der Vergangenheit Bahn. Das beklemmende Drama zehrt von seinen überwältigenden Landschaftsaufnahmen sowie den emotional zerrütteten Charakteren, die von den Darstellern mit verstörendem Understatement verkörpert werden. Ein packender Blick auf eine faulende Gesellschaft.

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