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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur € 4,50 | www.fi www.filmdienst.de lmdienst.de 66. Jahrgang | 19.12.2013

26|2013 Zum Start von „Blau ist eine warme Farbe“

abDellatIF KeCHICHe kInO Der InTIMITÄT: eIn POrTrÄT DeS TUneSIScH-FrAnZÖSIScHen regISSeUrS

Zu Weihnachten

KINDeRFIlM SPecIAL: DVD-TIPPS, TV-TIPPS

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JiM JarMUsChs Die Blutsauger-Romanze „Only Lovers Left Alive“ liefert eine eigenwillige Variante eines alten Genres. Eine Einordnung.

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Filmdienst 26 | 2013 Alle Filme im TV vom 21.12. bis 3.1. Das extraheft 88 Seiten Extra-Heft: Alle Film e im TV 80.000 Film-Kriti k e n u n t e r w w w. f i lmdienst.d

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elegy oDer Die Kunst zu lieben 30.12. SRF 1

Ständige Beilage

FiLm

Der letzte Kaiser 27.12. TELE 5

Jim Jarmusch macht sie endgültig unsterblich: tilda swinton als Vampirin in „only lovers left Alive“

im TV 21.12.2013–3.1.2014

MicMacs - uns gehört paris! 28.12. rbb Fernsehen

zoDiac - spur Des Killers 29.12. RTL II

Tim Burton’s Nightmar e Before Christmas Puppen-Grus ical Tiger&Dragon Spektakuläre s Kampfkunst-Drama von Ang Lee moderne Zeiten Wie Charlie Chaplin unter die Räder geriet

[21.12. Super rTL] [25.12. ZDF.KuLTur] [28.12. arTe]

Der letzte Kaiser 27.12. TELE 5 Micmacs - Uns gehört Paris 28.12. rbb Fernsehen Zodiac - Spur des Killers 29.12. RTL II

Kino

Akteure

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Graf Dracula war gestern. Wie aktuell von Jim Jarmusch wird der untote Blutsauger im Film immer wieder auf unkonventionelle Art neu gedeutet. Ein Streifzug auf den blutigen Spuren des Genres. Von Kathrin Häger + besondere Vampirfilm-Soundtracks Von Jörg Gerle

Wie aktuell in „Blau ist eine warme Farbe“ erzählt der cineastische Aufklärer von Lernprozessen und der Freiheit der Entscheidung. Ein Porträt. Von Rüdiger Suchsland

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ANNE RATTE-POLLE

VAMPIRE & KINO

BILDER & BÜCHER Andrew Birkins Foto-Dokumentation der Beziehung seiner Schwester Jane zu Serge Gainsbourg sowie Kataloge zu Ausstellungen in New York und Berlin. Drei herausragende Bildbände. krisengebiete und kulturelle Zusammenstöße sind die themen von regisseur Ali samadi Ahadi. Auch in seinem aktuellen Film „45 minuten bis ramallah“.

ABDELLATIF KECHICHE

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Die viel beschäftigte Theaterschauspielerin kommt im deutschen Film noch zu kurz. Ihre wenigen Kinorollen sind dafür umso eindrucksvoller. Von Alexandra Wach

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ALI SAMADI AHADI Der Regisseur erzählt in seiner Komödie „45 Minuten bis Ramallah“ vom Nahostkonflikt. Ein Gespräch über das Bewahren von Freiheit. Von Heidi Strobel

Neue Filme auf DVD/Blu-ray 4

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Fotos: TITEL: Pandora. S. 4/5: Zorro, TASCHEN Pandora, Alamode Prokino Kinowelt, Ascot Elite, RealFiction, Twentieth Century Fox

Mullewapp 24.12. KiKA


Neue Filme

Film-Kunst 28

+ ALLE STARTTERMINE

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GERHARD LAMPRECHT Der Regisseur und Gründer der Deutschen Kinemathek war ein „totaler Filmemacher“. Seine angemessene Würdigung steht immer noch aus. Von Josef Schnelle

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IN MEMORIAM Sie begeisterten mit ihren Filmen nicht nur in Frankreich ein Millionenpublikum: Die Regisseure Georges Lautner und Edouard Molinaro sind gestorben.

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Ayas [21.11.] Beware of Mr. Baker [19.12.] Blau ist eine warme Farbe [19.12.] Buddy [25.12.] De Martes a Martes [5.12.] Dinosaurier 3D - Im Reich der Giganten [19.12.] Dügün Dernek [5.12.] Ella und das große Rennen [25.12.] Genug gesagt [19.12.] Der Hobbit: Smaugs Einöde [12.12.] Les Salauds - Dreckskerle [26.12.] Machete 2: Machete Kills [19.12.] Das Mädchen und der Künstler [25.12.] Der Medicus [25.12.]

Das aktuelle kinoprogramm wartet mit Filmen der regisseurinnen claire Denis („Les Salauds“) und nicole Holofcener („genug gesagt“) auf. Im gewinner der „goldenen Palme“ 2013, „Blau ist eine warme Farbe“, spürt dagegen ein männlicher regisseur weiblicher Sexualität nach.

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s. LES SALAUDS - DRECKSKERLE

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KINDERFILME

Fotos: TITEL: Pandora. S. 4/5: Zorro, TASCHEN, Pandora, Alamode, Prokino, Kinowelt, Ascot Elite, RealFiction, Twentieth Century Fox

Das Fernsehen zeigt zu Weihnachten wieder aufwändige Märchenfilme. Auch Dokumentationen richten sich immer öfter an ein junges Publikum.

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s. BLAU IST EINE WARME FARBE

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MAGISCHE MOMENTE Jim Jarmusch machte in „Stranger than Paradise“ die Pose der Coolness zum Akt poetischer Selbstbehauptung. Von Rainer Gansera

KinotiPP der katholischen Filmkritik

s. 38 BELLE & SEBASTIAN [19.12.] Abenteuerfilm von Nicolas Vanier

36 Only Lovers Left Alive [25.12.] 46 Puro Mula [5.12.] 47 Su ve Ates - Wasser und Feuer [21.11.] 45 Tiempos Menos Modernos [5.12.] 47 Torrente 4 [5.12.]

RUBRIKEN Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau Impressum

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Hollywood-Korrespondent Franz Everschor über personelle Umstrukturierungen der Studios, mit denen diese auf unerwartete Misserfolge im Jahr 2013 reagieren (S. 27).

kurswechsel in

Hollwood Kritiken und Anregungen?

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Weihnachten mit Schwein: Am 24.12. strahlt kikA den Zeichentrickfilm „Mullewapp“ aus. Stolze 1.931 Spielfilmausstrahlungen haben wir im Weihnachts-TV-Programm gezählt. Welche sich davon sich für kinder eignen, lesen Sie auf Seite 32.

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s. GENUG GESAGT

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ein tropfen Blut wird in „Only Lovers Left Alive“ nicht aus Hälsen, sondern aus zierlichen Kelchen genossen - um eine Liebe zu ermöglichen, die die Jahrhunderte überdauert.

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Jim Jarmusch hat seinen neuen Film „Only Lovers Left Alive“ als „crypto-vampire love story“ bezeichnet. Mit Graf Dracula & Co. hat das nicht mehr viel zu tun. Ohnehin hat die Figur des untoten Blutsaugers in den letzten Jahrzehnten interessante Umdeutungen und Aneignungen erfahren. Spannend sind vor allem jene Filme, die sich jenseits gängiger Genremuster mit dem Drama des vampirischen Daseins befassen - als Zerrspiegel der menschlichen Existenz.

ewIGKeIt AuF den BlutiGen spuren des VAmpirFilm-Genres Von Kathrin Häger

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Neue Vampir-Filme

Wie im Rausch liegen Adam und Eve auf ihren Schlafstätten – eingefangen von einer Kamera, die sich von oben auf sie zudreht, als würde sie die Bewegung der rotierenden Schallplatte aufgreifen, deren Klängen Adam lauscht. Umzingelt sind beide von Büchern bzw. Musikinstrumenten, die sie sich über die Jahrhunderte hinweg angeeignet haben. Nachts streift Eve mit weißer Löwenmähne und dunkler Ray-Ban-Sonnenbrille durchs marokkanische Tanger. Wissbegierig „verschlingen“ ihre rasant über die Seiten fahrenden Fingerkuppen Bücher verschiedenster Sprachen. Adam hingegen hat sich auf der anderen Seite des Atlantiks in seiner Villa in einem Randbezirk von Detroit vergraben, um in völliger Anonymität quasigöttliche Gitarrenmusik zu erschaffen und seiner Lebensmüdigkeit nachzuhängen. Diese könnte eine Todessehnsucht sein, wäre Adam nicht schon längst (un-)tot. Eve und ihr „Todesgefährte“ Adam bilden das Vampirpärchen der Moderne in „Only Lovers Left Alive“, den Jim Jarmusch als seine „crypto-vampire love story“ bezeichnet. Kutschen, Särge und Gruften sind hier ebenso passé wie promiskuitiv angeknabberte Frauenhälse. Jarmuschs Blutsauger führen eine zutiefst romantische Paarbeziehung, buchen nächtliche Interkontinentalflüge, besorgen sich gereinigte Blutkonserven im Krankenhaus und leben in einem Sammelsurium von Hoch-, Pop- und Underground-Kulturgütern. Mit den Schreckfiguren, die in F.W. Murnaus „Nosferatu“ (1922), den Klassikern von Tod Browning („Dracula“, 1930) oder Terence Fisher („Dracula“, 1958) und in zahlreichen daran anknüpfenden Horrorfilmen den Mythos des Vampirismus auf der Leinwand fortschrieben, haben die beiden kaum noch etwas gemein: Sie erregen nicht Furcht und Schrecken, sondern Sympathie und Anteilnahme. Damit erfindet Jarmusch das Genre Vampirfilm nicht neu, sondern knüpft an Transformationen an, die die Figur des untoten Blutsaugers vor alllem seit den 1970er-Jahren durchgemacht hat. Die noch aus dem 19. Jahrhundert stam-

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menden Blutsauger-Vorfahren – der Gentleman-Vampir à la Graf Dracula, der als angst(lust)besetztes Gegenbild eines prüden Bürgertums nachts Jungfrauen heimsucht, und sein weibliches Pendant, der männerverschlingende „Vamp“ – büßten im Zuge der sexuellen Revolution vor allem für die Jugendund „Counter Culture“ ihre negative Aura ein. Stattdessen wurde die Vampir-Gestalt als rebellische Heldenfigur adoptiert, in deren antibürgerlicher Existenz sich die eigenen Befindlichkeiten spiegelten. So als hätte man die aristokratischen Blutsauger in einem Akt der Verbrüderung vom Thron gestoßen, nur um sie daraufhin in den Pop-Olymp zu erheben. Während Rock-Bands „Sympathy for the Devil“ (The Rolling Stones) bekundeten oder mit „Nosferatu“ liebäugelten (Blue Öyster Cult) und schließlich die Gothic-Szene entstand, die sich die Ikonografie der Schauerromantik aneignete, fand auch das Kino neue, aktualisierte Zugriffe auf die VampirFigur. So spiegeln in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren Filme wie Tony Scotts „Begierde“ (1982), Michael Almereydas „Nadja“ oder Abel Ferraras „The Addiction“ (beide 1994, gedreht in Schwarz-Weiß) die emanzipatorischen Entwicklungen der Dekade: Die einstige Klischee-Figur des weiblich-teuflischen „Vamps“ verwandelt sich in interessante, widerständige Filmheldinnen, die sich wehrhaft gegen männliche Dominanz behaupten und sich eine gleichgeschlechtliche Gefolgschaft schaffen. Nicht umsonst singt die Dark-WaveBand Bauhaus in der anfänglichen ClubSzene von „Begierde“ „Bela Lugosi’s Dead“, während Catherine Deneuve und David Bowie als Vampir-Pärchen ihre nächsten Opfer sondieren. Das ist der Abgesang auf den männlich besetzten Vampir im Frack, der seine Opfer in der Oper findet, nicht im düsteren Underground-Club. Bela Lugosis Dracula hielt sich einen Vampirbräute-Harem in der Gruft. Deneuves jahrtausendealte Vampirin Miriam hingegen verstaut ihre verwandelten und wieder „abgelegten“ Geliebten in Kisten auf dem Dachboden.

Nach einem urplötzlich einsetzenden Alterungsprozess vegetieren ihre Schöpfungen unsterblich vor sich hin. Auch der androgyne David Bowie als ihr aktueller Partner wird dieser Vergreisung anheimfallen und von Miriam kurzerhand durch eine hochintelligente Frau ersetzt. Anhand von Blutproben infizierter Affen spürt die Forscherin Sarah dem Prozess des Alterns nach, während in ihren Adern der tödliche Kampf zwischen ihrem und Miriams Blut entbrennt. Und das in einer Zeit, in der die Angst vor AIDS gerade Gestalt annahm. Emanzipierte Vampir-Damen wie Miriam scheinen bei der Gestaltung ihres Speiseplans nicht nur effizienter und egozentrischer als ihre männlichen Vorgänger. In „The Addiction“ sind sie in ihrem Wissens- und Blutdurst auch noch schier unersättlich. Bilder des Grauens, von Leichenbergen und menschlichen Monstern der NS-Zeit durchschneiden die Agonie der Philosophie-Studentin Kathleen, die in New York unkontrolliert ihren Blutdurst stillt und zugleich über ihrer Dissertation über das Böse im Menschen brütet. Kathleens Übergriffe sind wie Recherchen, ihr Blutkonsum mittels Spritzen gleicht dem von Heroin. Von Rap-Klängen geschwängert und gewalttätig wirken die Straßen in New York, in denen Drogen so alltäglich scheinen wie anzügliche Übergriffe. Was Kathleen, Miriam und „Nadja“ mit ihren männlichen Artgenossen eint, ist die Vernichtung, die sie letztlich als Strafe für die Aneignung eines Schöpfungsakts abseits der natürlichen Fortpflanzung ereilt.

Fotos: S. 10/11, S. 14/15: Pandora. S. 13: Universum, Ascot Elite.

kino

Das widerständige Potenzial dieser Popkultur- oder Subkultur-Blutsauger hat sich allerdings inzwischen bereits abgeschliffen bzw. ist vom Mainstream aufgesogen worden. In der aktuellen Medienlandschaft kommen Vampire vor allem in zwei gegensätzlichen Varianten vor: als Monster, das in Richtung Zombie tendiert und in Filmen wie „From Dusk Till Dawn“ (1995), „John Carpenters Vampire“ und „Blade“ (beide 1998) oder auch in Computerspielen Kano-

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Fotos: S. 10/11, S. 14/15: Pandora. S. 13: Universum, Ascot Elite.

Vampir-Film trifft Emile Zola: Frei nach dem französischen Romancier entwirft Park Chan-Wook in „Durst“ (2009) anhand der Figur eines katholischen Priesters, der zum Vampir wird, ein packendes Schuld-und-Sühne-Drama.

In „Byzantium“ (vgl. S. 49) führt Neil Jordan ein Thema weiter, das bereits Vampir-Filme wie „Begierde“ (1982) und „Nadja“ (1994) beschäftigte: der Widerstand weiblicher Vampire gegen die männliche Dominanz.

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nenfutter liefert; oder als romantisierte Figur, die Filmproduzenten in der Verbindung von Vampir-Genre und TeenieDrama entdeckt haben: In der „Twilight“-Reihe nach Stephenie Meyers Romanen wird ein junger Vampir zum Mädchenschwarm, der brav zur High School geht, in der Sonne glitzert und das geliebte Mädchen standhaft vor den eigenen wie auch fremden Beißgelüsten behütet. Das Fernsehen bemüht in den „Vampire Diaries“ eine ähnliche TeenieKonstellation. In „True Blood“ geht es zwar sexuell verruchter zu, gleichwohl sind die Vampire keine freakigen Außenseiter, sondern längst integriert. Allerdings gibt es nach wie vor auch das, was Jarmusch in Bezug auf seinen eigenen Ausflug ins Genre so schön als

„crypto-vampire story“ charakterisiert: Vampir-Filme abseits des Genre-Mainstreams. Interessant sind vor allem Filme, die man als „Vampir-Dramen“ bezeichnen könnte und die sich mit den Bedingungen vampirischer Existenz auseinandersetzen, um sie als Folie für Reflexionen über das Menschsein, die Bedeutung von Leben und Tod, Schuld und Erlösung, Sinn und Unsinn des Daseins zu nutzen. Jarmuschs Adam und Eve sind nicht die ersten Film-Vampire, die der Tristesse des eigenen übernatürlich langen Daseins, die Wahnsinn und Todessehnsucht in sich birgt, mit der Flucht in Kunst und Kreativität begegnen. In „Die Weisheit der Krokodile“ (1998; Regie: Po-Chih Leong) legt der von Jude Law gespielte Protagonist

Steven Grlscz Skizzenbücher über seine Affären an, deren mit Liebe überschwemmtes Blut ihn am Leben erhält. Er sei ein Krokodil, das Arbeit, Wohnung und Kreditkarte brauche, sagt Steven einmal. Mehr jedoch verlangt es das einsame Monster nach menschlichen Emotionen, ohne die es zerfallen würde. Im Großstadtdschungel Londons wäre Steven ohne diese Empfindungen ein Nichts. Er selbst ist wie alle Vampire unfähig, zu lieben ohne zu zerstören. Daher wird ihn die selbst empfundene, in Enthaltsamkeit mündende Liebe zur Tiefbauingenieurin Anne letztendlich töten. Der alte Vampir-Mythos wird hier zum Spiegel moderner urbaner Isoliertheit. Auch anderen Facetten von Isolation und Außenseitertum dient das

die schönste nachtmusik: vampirfilm-soundtracks

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(ausgewählt von Jörg Gerle)

DRACULA…

TANZ DER VAMPIRE (1967)

BEGIERDE - THE HUNGER (1982)

Der Klassiker von 1958, den James Bernard mit seinen unverwechselbaren Streicher-Crescendi unsterblich gemacht hat. Auf der Kompilation „Dracula – Classic Scores from Hammer Horror“ sind die schönsten Suites seiner VampirMusiken zu hören und zudem der „Prologue“ aus dem psychedelischen „Vampire Circus“. Britische „Gothic“-Musik, die das Genre prägte. (Anbieter: Silva Screen; 1993, 55 Min.)

Dass Roman Polanskis Film zu den wenigen wirklich gelungenen Mischungen aus Horror und Komödie gehört, liegt auch an der Musik von Krzysztof Komeda. Unheilvoll schweben hier die Choräle und der Klang des Spinetts über der absurden Szenerie und verbreiten wohligen, wunderbar orchestrierten Schrecken. Leider ist der Soundtrack auf CD nur schwer zu finden. (Anbieter: India/Harkit; 2012, 32 Min.)

Die beißenden, experimentellen elektronischen Klangschübe von Rubini & Jaeger sorgen hier für befremdlichen Horror. Dominiert werden Score und Film aber von wohliger Klassik von Schubert, Bach und vor allem Léo Delibes, dessen Oper „Lakmé“ die zentrale Verführungssequenz zwischen Catherine Deneuve und Susan Sarandon krönt. (Anbieter: Colosseum/Varèse Sarabande; 1983, 36 Min.)

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Fotos: Jeweilige Anbieter

„Für unseren Film ist der Vampir eine resonierende Metapher – eine Möglichkeit, die tieferen Intentionen der Geschichte zu transportieren. Es ist eine Liebesgeschichte, aber auch die Geschichte von zwei außergewöhnlichen Außenseitern, die durch ihre ungewöhnlichen Lebensumstände einen enormen Überblick über die Menschheits- und Naturgeschichte mit all ihren erstaunlichen Leistungen und tragischen und brutalen Fehlschlägen haben.“ (Jim Jarmusch)

Pubertät zum Vampir verwandelt, bleiben die Mädchen in den Körpern von Kindern gefangen, denen nach Jahrhunderten der Geist von Greisen innewohnt.

Blutsauger-Motiv als Ausdrucksmittel: In „So finster die Nacht“ (2008) von Tomas Alfredson erschien ein VampirMädchen barfuß auf der verschneiten Bildfläche und wurde für den kleinen, von seinen Klassenkameraden bis aufs Blut gequälten Oskar zum düsteren Engel in der Not. Im Gegenzug verspricht Oskar, Eli sein Leben lang zu begleiten, um sie mit dem Blut seiner Mitmenschen zu versorgen – genauso wie Oskars Vorgänger, der sich zum Schutz seiner „Herrin“ sogar mit Säure das Gesicht verätzt. Die Kindheit der „zwölfjährigen“ Eli und des VampirKinds Claudia (Kirsten Dunst) in „Interview mit einem Vampir“ (1994) eröffnet einen neuen Kosmos der Tragik: den der vorenthaltenen Sexualität. Kurz vor der

Der Traum von ewiger Jugend, vom Bestreben, Alter und Verfall zu entkommen, wird hier zum Albtraum. In „Byzantium“ von Neil Jordan verweigert sich ein 16-jähriges Vampir-Mädchen ebenfalls dem Frischblut und der Liebe: Eleanor erlöst nur alte Menschen von ihrem Leid und ringt mit der Vergebung für ihre Mutter, die sie zur ewig flüchtenden Vampirin machte. Den Annäherungen eines gleichaltrigen, an Leukämie erkrankten Jungen entzieht sie sich, um ihn zu schützen. Die seit „Twilight“ etablierte Enthaltsamkeit der

Teenie-Vampire zum Schutz ihrer Liebsten scheint in einer Gesellschaft, die ihren Mitgliedern strikte Selbstkontrolle abfordert, Sinn zu machen. Der alten Natur des Wiedergängers, der sündigen muss, um die Ewigkeit schon auf Erden zu erleben, laufen solche Erzählmuster freilich gründlich zuwider. Im Interesse des Vampir-Genres muss man wohl hoffen, dass in künftigen Transformationen des alten Mythos der Hunger wieder ein Wörtchen mitzureden hat, um der ambivalenten Existenz des Vampirs neues Leben einzuhauchen. So wie bei der Sündenfallszene von „Only Lovers Left Alive“, in der zwei Halsschlagadern für Adam und Eve zum verführerisch rot leuchtenden Apfel werden.

BRAM STOKER’S DRACULA (1992)

INTERVIEWMITEINEMVAMPIR(1994)

ONLY LOVERS LEFT ALIVE (2013)

Nach Komeda ist es erneut ein Pole, der in Hollywood exemplarische Vampir-Musik komponiert: Wojciech Kilars mit Chorälen durchsetzter Score für Francis Ford Coppolas Film ist beseelt von der Dominanz der tiefen Saiten der Streicher, die selbst ein Liebesthema wie ein Adagio für eine Begräbniszeremonie wirken lassen. (Anbieter: Columbia; 1992, 55 Min.)

Elliot Goldenthal schuf in den 1990er-Jahren mit Musiken zu „Batman Forever“ und „Alien 3“ wichtige Genrewerke. „Interview mit einem Vampir“ wird dabei häufig übersehen – zu Unrecht! Der Score bietet große Filmsinfonik und ein lyrisches Leitthema, das gleichzeitig gruselt und anrührt. Kein stereotyper Horror, sondern abwechslungsreiche, moderne Angstmusik. (Anbieter: Universal; 1994, 49 Min.)

Wieder verantwortet Jim Jarmusch den Score teilweise selbst. Seine Band Sqürl ist ebenso mit dabei wie Klassik, Alternative Pop und Lautenspieler Jozef van Wissem. Dass keine Veröffentlichung eines Soundtracks geplant ist, ist ein kleiner Skandal! Den übernatürlich schönen weltmusikalischen Geist des Films erfährt man indes auf der CD „Ya Nass“ von Yasmine Hamdan, die auch im Film auftritt.

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neue Filme

im Kino Gitarren her. Die Wohnung des Einsiedler-Rockstar-Vampirs ist vollgestopft mit Instrumenten, Vinyl-Platten und derangiertem Soundequipment. Wenn beide mit Menschen zu tun haben, geben sie sich literarische Tarnnamen wie Dr. Faustus, Stephen Dädalus oder Daisy Buchanan. So inbrünstig beide die Erzeugnisse von Kunst, Popkultur und Wissenschaft lieben, die die Menschheit – und die Vampire (z.B. Eves Freund Christopher Marlowe) – im Lauf der Jahrhunderte hervor gebracht haben, so schwer leidet Adam an allem, was der kulturellen Blüte gefährlich GB/Dt./F/Zypern/USA 2013 regie, Buch: Jim Jarmusch kamera: Yorick Le Saux Musik: Jozef van Wissem Schnitt: Affonso Gonçalves

only lovers left alive [25.12.]

Verweile doch, Du bist so schön Jim Jarmuschs feingeistige Blutsauger ringen mit dem alterslosen Dasein in einer sterblich-brutalen Welt

Sie trägt weiß von den Schuhen bis in die Haarspitzen; er schwarz. Sie streift durch die Gassen in Tanger; er verbarrikadiert sich in einem alten Haus in Detroit. Sie liebt es, am Leben zu sein; er besorgt sich die Munition für den Selbstmord. Eve und Adam sind Vampire, und sie sind Yin und Yang, die perfekten Liebenden. Wie alt sie sind, erfährt man nicht. Äußerungen lassen darauf schließen, dass Eve bereits das Mittelalter miterlebt hat; Adam ist jünger, aber alt genug, um in den 1860erJahren Eve bereits zum dritten Mal geheiratet zu haben und aus persönlicher Erfahrung zu wissen, dass Lord Byron ein „selbstgerechtes Ekel“ war. Zu Beginn des Films trennt beide der halbe Erd-

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ball, doch als Eve bei einem Telefonat merkt, wie lebensmüde ihr Gefährte ist, bucht sie ein Ticket für einen Interkontinentalflug und steht bald darauf vor der Tür von Adams Anwesen. Die durch Gespräche, nächtliche Fahrten durch Detroit und in-, über- und umeinander geschlungene Körper zelebrierte Zweisamkeit wird allerdings empfindlich gestört, als Eves jüngere Schwester sich bei ihnen einnistet. Ava ist ebenso erlebniswie bluthungrig, weshalb es mit der Ruhe und Diskretion, die Adam so schätzt, bald vorbei ist. Vampire müssen Menschenblut trinken; das ist auch bei Jarmuschs Kreaturen nicht anders. Allerdings hat sich ihr Appetit sublimiert. Sie schlachten nicht selbst, sondern

kaufen sich ihr Essen in Flaschen; genossen wird es in zierlichen Likörgläsern. Das hat nichts mit moralischen Skrupeln oder Menschenliebe zu tun – Adam bezeichnet die Sterblichen verächtlich als „Zombies“ –; vielmehr geht es um Hygiene und Sicherheit: In den Straßen nach Frischblut zu jagen, birgt das Risiko, an „unreinen“ Stoff zu kommen. Während die Vampire ihre Lust an der Nahrungsaufnahme stark kontrollieren, lassen sie sich in anderer Hinsicht freien Lauf: Eves und Adams Gier gilt der Kultur. Statt Blut saugt Eve mit Fingern und Augen die Schrift aus Büchern in allen Sprachen auf; und Adam macht sich statt über Frauenhälse zärtlich über die Hälse und die Klangkörper von Vintage-

Darsteller: Tom Hiddleston (Adam), Tilda Swinton (Eve), Mia Wasikowska (Ava), John Hurt (Marlowe), Anton Yelchin (Ian) Länge: 123 Min. | FSk: ab 12; f Verleih: Pandora | kinostart: 25.12.2013 FD-kritik: 42 105 HANDWERK INHALT DARSTELLER

BeWerTUng Der FILMkOMMISSIOn Eine Vampirin verlässt ihr Quartier in Tanger, um ihrem lebensmüden Gefährten in Detroit neuen Geschmack am Dasein zu vermitteln. Die alterslosen Liebenden zehren nicht nur von Blut, sondern von Kunst, (Pop-)Kultur und Wissenschaft. Doch dann sorgt eine junge Vampirin für Unruhe. Vampirfilm von Jim Jarmusch, der kongenial den Lebensrythmus und den kulturellen Horizont der uralten Feingeister imaginiert und in der Spannung zwischen Melancholie und Lakonie, Statik und Bewegung ein Hohelied der Gegensätze entfaltet, deren Anziehungskräfte alles lebendig halten. - Sehenswert ab 16.

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wird: an Kriegen und Gewalt rung. Außerdem ist „Only und an dem Niedergang, den er Lovers Left Alive“ alles andere in der ehemaligen Auto-Metroals trockenes Verweiskino: Es pole Detroit direkt vor der gibt ja nicht nur Devotionalien Haustür hat. von Musikern, sondern auch Mit Vampir-Romanzen à la einen wunderbaren Sound„Twilight“ hat dieser Film so viel track (von den hypnotischen zu tun wie „Ghost Dog“ mit Klängen von Jozef van Auftragskiller-Filmen und Wissem bis zur herzzerrei„Dead Man“ mit dem klassischen ßenden Performance der SänWestern. Einmal mehr ist Jargerin Yasmine Hamdan), und muschs neues Werk nicht daran nicht nur literarische Anspieinteressiert, einen Plot voran zu lungen, sondern die grazile treiben, sondern lässt sich entKörperlichkeit und das nuanspannt von Szene zu Szene, von cierte Spiel von Tilda Swinton Musik zu Musik, von Gespräch und Tom Hiddelston sowie die zu Gespräch treiben. Im Gegen- atmosphärische Präsenz der satz zu den Figuren früherer Orte und Dinge. Filme scheinen allerdings die Die Wahl von Detroit als Protagonisten erstaunlich sessSchauplatz sowie Adams Verhaft; das Sammelsurium, das achtung für die menschliche sie besitzen, lässt sich vielleicht „Banalität des Bösen“, für die auch als Ballast verstehen. Die Vergeudung von Ressourcen Bewegung der Kamera, die zu und die Zerstörung der Beginn das Drehen eines PlatLebensräume, lassen sich tentellers aufgreift und aus der durchaus gesellschaftskritisch Vogelperspektive über den verstehen. Andererseits wird ruhenden Figuren kreist, deutet Adams Haltung gegenüber ein In-sich-geschlossen-Sein an, den „Zombies“ aber ebenfalls das Jarmusch-Figuren bisher (selbst-)ironisch gezeichnet: wesensfremd war. Allerdings der gepflegte Weltschmerz täuscht dieser erste Eindruck, des sensiblen Feingeistes und bald werden doch Fluchtlischlägt verblüffend schnell in nien sichtbar, die aus dem Kreis derben Pragmatismus um, hinausstreben, und Kollisionen, wenn es um die eigene Haut die die Figuren aus ihrer geht und eine Leiche spurlos Umlaufbahn schubsen. Nur entsorgt werden muss oder dauert das diesmal eine Weile, das Flaschenblut knapp wird. denn Jarmusch gelingt es ganz Eine Ambivalenz , die wunderbar, in den somnambubezeichnend ist für diesen len Schwebezustand der vamdialektischen Film mit seinem pirischen Existenzen einzutaubipolaren Liebespaar und chen, die ja alterslos und damit dem Gegeneinander von lakogänzlich ohne Zeitdruck sind. nischem Abgesang und Die großzügig verteilten (pop-) respektvoller Liebeserklärung, kulturgeschichtliche Huldivon Komik und Melancholie. gungen – das Haus von Jack Schwarz und Weiß, Mann und White, die Gitarre von Eddie Frau, Statik und Bewegung, Cochran, ein Foto Kafkas etc. – Kreise und Linien: Jarmuschs mögen manchen abschrecken; Vampirfilm liebt die Gegenein „Insider-Witz“ oder ein sätze. Denn sie ziehen sich an. eitles Name-Dropping sind sie Und diese Anziehung ist es, aber schon deshalb nicht, weil die alles am Leben hält: „Only es Jarmusch wie den Figuren Lovers Left Alive“. Felicitas Kleiner viel zu ernst ist mit ihrer Vereh-

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