Filmdienst 5 2017

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

05 2017

www.filmdienst.de

MARTIN SCORSESE

Sein Film »Silence« war dem Regisseur eine Herzensangelegenheit. Dabei konzentriert er sich ganz auf sein Sujet und die religiösen Fragestellungen.

LUCA BIGAZZI

Der italienische Kameramann ist ein prägender Akteur der europäischen Filmgeschichte. Nun erhält er den Marburger Kamerapreis.

CAROLA NEHER

Die Schauspielerin war einst ein umjubelter Star, nicht nur in der »Dreigroschenoper«. Bis sie ins grausame Räderwerk der Politik geriet.


FILMDIENST 05 | 2017 Die NeUeN KiNoFiLMe NEU IM KINO ALLE STARTTERMINE

41 Barakah Meets Barakah 9.3. 38 Certain Women 2.3. 51 Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe 9.2. 37 Die Frau im Mond – Erinnerung an die Liebe 2.3. 48 Der junge Karl Marx 2.3. 44 Life Saaraba Illegal 2.3. 46 Little Men 2.3. 49 Logan – The Wolverine 2.3. 42 Marija 9.3. 36 Moonlight 9.3. 40 Neo Rauch – Gefährten und Begleiter 2.3. 51 Original Copy – Verrückt nach Kino 9.3. 51 Recep Ivedik 5 16.2. 43 Silence 2.3. 39 Sleepless – Eine tödliche Nacht 9.3. 51 The Book of Gabrielle 9.3. 47 Tour de France 2.3. 45 Wien vor der Nacht 9.3. 50 Wilde Maus 9.3.

38 CERTAIN WOMEN

45 WIEN VOR DER NACHT KINOTIPP

der katholischen Filmkritik

36 MOONLIGHT Die eindrucksvolle Geschichte eines Heranwachsenden, der bei seiner drogenabhängigen Mutter lebt.

FERNSEH-TIPPS 56 Am 6. März feiert der Dokumentarist Hans-Dieter Grabe seinen 80. Geburtstag. 3sat ehrt den begnadeten »MenschenRegisseur« mit zwei Filmen. Und am 8. März zelebrieren 3sat und arte den Weltfrauentag mit einem umfangreichen Filmprogramm.

4

46 LITTLE MEN

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50 WILDE MAUS

Fotos: TITEL: Concorde; S. 4/5: DCM, Peripher, Salzgeber, Majestic, »Berlinale« 2017, FD-Archiv

+


05 | 2017 Die ArtiKeL INHALT KINO

AKTEURE

FILMKUNST

10 BERLINALE 2017

24 PIA HIERZEGGER

28 CAROLA NEHER

10 »BERLINALE« 2017

Rund 400 Filme versammelte die diesjährige Ausgabe des wichtigsten Filmfestivals in Deutschland. Dabei stand die Rolle von Künstlern in politisch schwierigen Zeiten im Zentrum, ebenso die Suche nach kleinen Utopien im großen Chaos. + Restaurierte Klassiker + Caligari-Preis 2017 + 40 Jahre Kinder- und Jugendfilmsektion + Interview mit Sebastián Lelio Von Felicitas Kleiner, Marius Nobach, Jörg Gerle, Kathrin Häger, Margret Köhler und Kirsten Taylor

18 LUCA BIGAZZI

Ohne ihn wäre »Die große Schönheit« weniger schön: Der Kameramann Luca Bigazzi ist seit Jahren ein bewährter Mitstreiter des Regisseurs Paolo Sorrentino. Er hat aber auch andere Filme visuell geadelt. Dafür wird er jetzt mit dem Marburger Kamerapreis geehrt. Von Kathrin Häger

22 MARTIN SCORSESE

Mit seinem neuen Film »Silence« stößt der Regisseur nach »Die letzte Versuchung Christi« erneut zu religiösen Grundfragen vor. Die im Japan des 17. Jahrhunderts spielende Geschichte fragt nach Sinn und Unsinn des Bekennertodes. Von Charles Martig

24 PIA HIERZEGGER

Die 1972 geborene Schauspielerin ist eine feste Größe in der österreichischen Theaterund Filmszene. Aktuell ist sie an der Seite ihres Partners Josef Hader in »Wilde Maus« zu sehen. Ein Gespräch über die Herausforderungen und Freuden ihres Berufes. Von Thomas Klein

26 IN MEMORIAM

Erinnerungen an Inge Keller, Mike Connors, Barbara Hale, Miguel Ferrer und Alec McCowen

Von Rainer Dick

26 LITERATUR

Ein Buch zur frühen Filmtheorie in Frankreich: »Die Zeit des Bildes ist angebrochen« Von Thomas Brandlmeier

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Nach einer horrenden Verlustabschreibung für das Jahr 2016 stellt sich bei Sony die Frage nach der Zukunft. Von Franz Everschor

28 CAROLA NEHER

In der Weimarer Republik war sie ein gefeierter Schauspielstar, bis das NSRegime und der Stalinismus ihrer Karriere und ihrem Leben ein Ende setzten. Erinnerungen an Carola Neher. Von Silke Kettelhake

32 SIEGFRIED KRACAUER

Eine neue Biografie beschäftigt sich mit dem Intellektuellen (1889 – 1966), der Filmkritik und Filmtheorie zentrale Impulse gab. Von Wilfried Reichart

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RUBRIKEN EDITORIAL INHALT MAGAZIN DVD-KLASSIK DVD/BLU-RAY TV-TIPPS FILMKLISCHEES VORSCHAU / IMPRESSUM

Passagen durch das Programm der 67. Internationalen Filmfestspiele

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KINO BERLINALE

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»Una mujer fantástica« von Sebastián Lelio, ausgezeichnet mit dem »Silbernen Bären« fürs beste Drehbuch

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BERLINALE KINO

D IE WE LT M I T P OE S IE RE TTE N Filmdienst 05 | 2017

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J

ames Lord (Armie Hammer) muss seinen Rückflug in die USA immer wieder verschieben. Die Sitzungen im Pariser Atelier des Künstlers Alberto Giacometti (Geoffrey Rush) ziehen sich in die Länge: Das Porträt, für das der Autor und Kunstkenner dem alten Meister Modell sitzt, will einfach nicht so gelingen, dass Giacometti zufrieden ist. Wieder und wieder übermalt er das Geschaffene mit Grau, vertieft sich ins Gesicht seines Gegenübers und fängt von vorne an. So viel Aufwand für ein einziges Porträt! Stanley Tuccis »Final Portrait«, der von diesem Schaffensprozess erzählt, spielt 1964. Das war während des VietnamKriegs, und das Jahr, in dem in der Sowjetunion Chruschtschow abgesetzt wurde. Hatte Giacometti, der damals schon als einer der wichtigsten Künstler seiner Zeit galt, da nichts Bedeutenderes zu tun? Und: Hat ein Festival wie die »Berlinale« nichts Besseres zu tun, als solch einen Film (außer Konkurrenz) zu zeigen?

Politisch unsichere, krisenhafte Zeiten sollen Künstler dazu herausfordern, sich einzumischen: Dies legte Agnieszka Holland, die polnische Regisseurin und Präsidentin der Europäischen Filmakademie, ihren Zuhörern nahe. Sie nutzte die Preisverleihung des Festivals, bei der sie selbst für ihren Wettbewerbsbeitrag »Pokot« (»Alfred-Bauer-Preis« für neue Perspektiven) geehrt wurde, um den Anwesenden mit auf den Weg zu geben, dass jetzt die Zeit dafür sei, die »wichtigen« Themen anzugehen. Und Laura Poitras (»Citizenfour«), Mitglied der Jury des erstmals verliehenen »Glashütte Original Dokumentarfilmpreis«, erklärte als Replik auf den letzten Verbalausfall von US-Präsident Donald Trump gegen die Medien (als »Feinde des Volkes«) die Filmemacher zu »Feinden von Nationalismus und Exklusion«. Filme als geduldige cineastische Exorzisten Wie genau aber manifestiert sich das in einem Film, und was ist »wichtig«? Vielleicht ja doch ein durch geduldige Arbeit entstandenes Porträt. Im »Panorama«Programm lief zum Beispiel eine Dokumen-

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»Silberner Bär« für eine herausragende künstlerische Leistung: Dana Bunescu für den Schnitt von »Ana, mon amour«

»Silberner Bär« für das beste Drehbuch: Sebastián Lelio, Gonzalo Maza für »Una mujer fantástica« (A Fantastic Woman)

»Silberner Bär« für den besten Darsteller: Georg Friedrich für »Helle Nächte«

»Silberner Bär« für die beste Darstellerin: Kim Min-hee für »Bamui haebyun-eoseo honja« (On the Beach at Night Alone)

»Silberner Bär« für die beste Regie: Aki Kaurismäki für »Toivon tuolla puolen« (Die andere Seite der Hoffnung)

»Silberner Bär«, Alfred-Bauer-Preis: »Pokot« (Spoor), Regie: Agnieszka Holland

»Silberner Bär«, Großer Preis der Jury: »Félicité«, Regie: Alain Gomis

»Goldener Bär« für den besten Film: »Teströl és lélesköl« (On Body and Soul), Regie: Ildikó Enyedi

Internationale Jury – Wettbewerb

Bären & Co: Die Preise der 67. Berlinale

»Final Portrait«

tation über einen gewissen James Gordon »Bo« Gritz, einen Vietnam-Veteranen, der dadurch bekannt wurde, dass er die Inspiration zur Kinofigur Rambo gewesen sein soll. In seiner Heimat wird Gritz, der in einer Spezialeinheit rund 400 Menschen getötet haben will, bis heute als Kriegsheld verehrt. Clint Eastwood und William Shatner unterstützten ihn finanziell bei seinem Vorhaben, angeblich noch in Vietnam verbliebene US-Kriegsgefangene aufzuspüren. Zudem wurde Gritz zum Kritiker der Washingtoner Militär- und Polit-Elite und zu einer Ikone der Rechten. Regisseurin Andrea Luka Zimmerman hat ihn zehn Jahre lang immer wieder begleitet und interviewt. Die daraus entstandene Dokumentation »Erase and Forget« entwickelt (auch mit Hilfe nachgespielter Szenen und Archivmaterial) ein fesselndes Bild dieses Mannes. Und nebenbei das Porträt eines ganzen Milieus, das der dem Vietnam-Krieg folgenden Desillusionierung über »die da oben« einen archaischen Nationalismus entgegenhält. Ein ebenso faszinierender wie erschreckender Erkundungsgang über den Nährboden, auf dem letztlich die »Ära Trump« erblüht ist. »Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa«, formulierte Festival-Chef Dieter Kosslick. »Ratlosigkeit als Folge des offensichtlichen Scheiterns der großen Utopien und der Entzauberung der globalisierten Welt.« Filme wie »Erase and Forget«, die aus der Fülle der etwa 400 Filme des diesjährigen Jahrgangs herausstachen, erwiesen sich als geduldige cineastische Exorzisten, die den Angst-Phantomen, der um sich greifenden kollektiven Aufgeregtheit und den kurzatmigen Social-MediaDebatten die Kunst des genauen Hinsehens und die Eigenwilligkeit individueller künstlerischer Perspektiven entgegenhalten. Sei es, um »nur« ein Porträt zu zeichnen, oder um ein Stück Gegenwart genau und differenziert zu beleuchten. In dieser Hinsicht stach auch »Combat au bout de la nuit« (in der »Panorama«-Sektion) hervor, der sich fünf Stunden lang der Wirtschafts- und Flüchtlingskrise in Griechenland widmet. Ursachenforschung jenseits der Tagesaktualität Weiter in die Vergangenheit schaute zum Beispiel der brasilianische Wettbewerbsbeitrag »Joaquim« von Marcelo Gomes, der wohl zu irritierend war, um mit einem


BERLINALE KINO Caligari-Preis 2017:

EL MAR LA MAR

Lobende Erwähnung: El mar la mar von Joshua Bonnetta und J.P. Sniadecki, USA 2017

Wettbewerb: Teströl és lélekröl (On Body and Soul) von Ildikó Enyedi, Ungarn 2017 Begründung: Viele unter uns kämpfen mit irgendwelchen Schwächen, ob physischer oder mentaler Natur. 'On Body and Soul' (Von Körper und Seele) erzählt eine berührende, komplizierte Liebesgeschichte, die in einem Schlachthaus beginnt. Die Seelen der beiden Hauptfiguren scheinen miteinander verknüpft zu sein, aber sie streben auch nach physischer Berührung. Mit subtilen Bildern schärft Ildikó Enyedi unsere Sinne und setzt zugleich Fragen nach unserer Beziehung mit anderen in Gang. Der Film zeigt, wie wir unsere Unvollkommenheit überwinden und uns mit anderen kreatürlichen Wesen verbinden können.

Preise der ökumenischen Jury

Nicht nur in Stanley Tuccis »Final Portrait« und im Eröffnungsfilm »Django«, sondern quer durch die Festival-Sektionen rückten

Forum Maman Colonelle (Mama Colonel) von Dieudo Hamadi, Demokratische Republik Kongo/Frankreich 2017

Filme, in denen ein widerständiger Funke brennt

Womit Félicité materiell bis auf ihre kleine Gage wenig erreicht – anders als Jazzmusiker »Django« Reinhardt, der in einer Schlüsselsequenz um nichts weniger als um ein Leben spielt, wenn er die versammelten Nazis von einem Flüchtling ablenkt. Und doch geht es auch bei Félicités Gesang um alles: um die Verteidigung ihrer Würde gegen die ökonomischen Zwänge und die latente Brutalität der Welt – ein widerständiger Funke, der umso heißer zu brennen scheint, je düsterer die Verhältnisse werden. Felicitas Kleiner

Lobende Erwähnung: I Am Not Your Negro von Raoul Peck, Frankreich/USA/ Belgien/Schweiz 2016

Die Folgen von Kolonialismus, Faschismus, kapitalistischer Ausbeutung, aber auch das Scheitern der kommunistischen Utopie: Immer wieder ging es bei der »Berlinale« darum, jenseits der Tagesaktualität Ursachenforschung zu betreiben und, wie Dieter Kosslick es ausdrückte, »die verunsicherte Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte zu verstehen«. So auch in der Literaturverfilmung »In Zeiten des abnehmenden Lichts« von Matti Geschonneck und dem Biopic »Masaryk« von Julius Sevcik als »Berlinale Special« oder im »Panorama«-Beitrag »Hostages« um die Flugzeugentführung von Tiflis im Jahr 1983.

bei der diesjährigen » Berlinale« auffällig oft reale oder fiktive Kunstschaffende unterschiedlichster Sparten in den Fokus. Damit blieb der Versuch, die Rolle und Aufgabe von Künstlern in gesellschaftlich unsicheren Zeiten zu definieren, nicht nur eine Frage von Statements, sondern wurde in unterschiedlichsten Varianten sinnlich durchgespielt. Höchst bewegend gelang dies zum Beispiel Alain Gomis mit einem Drama um eine kongolesische Sängerin, die in den Straßen Kinshasas dem Geld für eine Operation ihres Sohns nachjagt: »Félicité« unterbricht seine Handlung immer wieder, um in langen Szenen zuzusehen, wie die Titelheldin am Abend in einer Bar ihrem Handwerk nachgeht und sich förmlich die Seele aus dem Leib singt. Während das Gesicht der Hauptdarstellerin Véro Tshanda Beya tagsüber oft wie versteinert erscheint, vibriert es in diesen Szenen vor Energie und Gefühlsintensität.

Lobende Erwähnung: Una mujer fantástica (A Fantastic Woman) von Sebastián Lelio, Chile/ USA/Deutschland/Spanien 2017 Begründung: Der Film erzählt eine bewegende Geschichte über eine transsexuelle Frau in Chile. Trotz gesellschaftlicher Ächtung und persönlicher Demütigung kämpft Marina für ihre Rechte und ihre menschliche Würde. Einerseits wehrt sie sich gegen eine Reduzierung auf ihr Geschlecht und kämpft zugleich für die Freiheit, ganz sie selbst sein zu können.

Preis geehrt zu werden. Selten hat man ein Epos über einen Nationalhelden – Joaquim José da Silva Xavier (1746–1792) – gesehen, das so radikal mit allen Erwartungen an seinen Stoff bricht: Gomes feiert nicht den Unabhängigkeitskampf gegen die portugiesischen Kolonialherren, beklagt vielmehr, wie Gier, Egoismen, ethnische Aversionen und die generelle menschliche Unfähigkeit, jenseits der eigenen Partikularinteressen an einem Strang zu ziehen, die Verwirklichung einer Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit boykottieren.

Panorama Tahiqiq Fel Djenna (Investigating Paradise) von Merzak Allouache, Frankreich/Algerien 2017

»Combat au bout de la nuit«

Halb erodiert, halb vom Sand verschluckt liegen sie da: ein Handy, eine Brille, ein Rucksack – Dinge, die ihre Besitzer niemals ohne weiteres zurückgelassen hätten. Joshua Bonnetta und J. P. Sniadecki haben sie in der Sonora-Wüste zwischen Mexiko und den USA aufgespürt, in Close-Ups gepackt und neben »naturgewaltige« Totalen auf 16mm gestellt. Es sind Zeugnisse von Menschen, die von einem besseren Leben träumten, dann aber zu Hunderten in einem der größten Sandmeere der Welt verdursteten. In »El mar la mar« bleiben die Überlebenden wie die Toten, die Aktivisten wie die Grenzschützer ohne Gesicht. Allein ihre teils stockenden Berichte liegen über langen Schwarzblenden und zeugen von surrealen, horrenden Grenzerfahrungen, aber auch von Empathie und Engagement, die in ihrer berührenden Menschlichkeit im krassen Gegensatz zu den Mauerbauplänen des aktuellen US-Präsidenten stehen. Für ihre poetisch-kontemplative Dokumentation wurden der in Kanada geborene Bonnetta und der US-Amerikaner Sniadecki, die sich einst im »Berlinale«-Forum kennenlernten, mit dem seit nunmehr 31 Jahren verliehenen »Caligari«-Preis ausgezeichnet. Vom FILMDIENST und dem Bundesverband kommunale Filmarbeit gestiftet, soll die Auszeichnung an einen auch stilistisch innovativen Forums-Beitrag gehen. In »El mar la mar« hat sie einen Preisträger gefunden, der so lautmalerisch ist wie sein Titel: dort ein Zirpen, dann das Hufgetrappel des Pferdes eines Grenzschützers – immer wieder brechen die Geräusche der Wüste in die wortlosen Aufnahmen, bis sich die Spannung am Ende mittels in der Ferne einschlagender Blitze entlädt. Rio, Costas, Tormenta – Fluss, Küsten, Gewitter, so lauten die den Film zerteilenden Kapitel, die in ihrer assoziativen Form selbst zur aufrüttelnden Erfahrung werden: Gesichts- und namenlos bleiben diese Schicksale und geben damit all jenen Menschen einen Ausdruck, die sich weltweit in lebensgefährliche Transitgebiete begeben – egal ob aus Sand oder aus Wasser. Kathrin Häger

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Martin Scorsese und Andrew Garfield, Hauptdarsteller in »Silence«

Leiden und FegeFeuer g L a u b e i n Z e i t e n d e r V e r F o Lg u n g : t h e o Lo g i s c h e s p u r e n i n »s i L e n c e « V o n M a r t i n s co r s e s e

Nicht viele andere Spielfilme des Jahres 2017 dürften Martin Scorseses neues Werk an Bedeutung übertreffen können. Und zugleich so viel Anlass zu Diskussionen bieten: »Silence« konzentriert sich ganz auf religiöse Fragestellungen und fordert auch zur theologischen Deutung auf. Von Charles Martig »Silence« beginnt mit einer beklemmenden Stille, und er endet mit einer Bestattung, in der nur noch das Geräusch von Flammen zu hören ist. Diese Reduktion der Mittel ist ungewöhnlich, man würde diese Filmsprache von Martin Scorsese nicht erwarten. Einfache und klare Einstellungen, eine äußerst ruhige und kontinuierliche Montage, der vollständige Verzicht auf Filmmusik, keine 360-Grad-Schwenks von Michael Ballhaus: Scorsese hat alles fallen gelassen, was seine früheren Filme so virtuos und sehenswert machten. Vieles an diesem Film enttäuscht die Erwartungen – in positivem Sinne. Die Erfahrung dieses Filmerlebnisses ist nachhaltig, weil es keine opulente Inszenierung von Szenen gibt. »Casino«, »Gangs of New York« und »The Wolf of Wall Street« sind

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ein ganzes Erzähluniversum entfernt vom Arthouse-Drama »Silence«.

ScorSeSeS religiöSeSter Film Scorsese konzentriert sich ganz und gar auf sein Sujet und die religiösen Fragestellungen, die sich daraus ergeben. Diese Konzentration auf das Wesentliche des Dramas fordert eine theologische Interpretation heraus. »Silence« war offensichtlich eine Herzensangelegenheit von Scorsese, der bereits seit rund drei Jahrzehnten versucht hat, diesen Film über die Jesuiten in Japan und die Christenverfolgung in Asien zu realisieren. Im Mittelpunkt stehen zwei junge Jesuiten, die im Japan des 17. Jahrhunderts auf der Suche nach ihrem Mentor Cristóvão Ferreira (Liam Neeson)

sind. Dabei sind sie brutaler Gewalt und Verfolgung durch den Inquisitor Inoue Masashige (Issei Ogata) ausgesetzt, der im Auftrag des Shogunats handelt. Dennoch versuchen die jungen Priester, dem japanischen Volk, einfachen Fischern an der Westküste, den christlichen Glauben näherzubringen. Nach Scorseses »Die letzte Versuchung Christi« (1988) ist dies der religiöseste Film des italo-amerikanischen Katholiken. »Silence« beruht auf der literarischen Vorlage des Japaners Shusaku Endo. Der Roman schildert die Verfolgung der Katholiken aus der Perspektive des portugiesischen Missionars Sebastian Rodrigues (Andrew Garfield). Der Jesuit schreibt Briefe an seinen Provinzial und berichtet, wie katholische Konvertiten gekreuzigt, lebendig verbrannt und ertränkt werden.


MArtiN ScorSeSe akteUre

FünFFache erzählperSpektive zwiSchen den kulturen Aus der literarischen Vorlage übernimmt Scorsese die Erzählung durch Briefe, die aus der Christenverfolgung in der Region Nagasaki berichten. Es ist die Perspektive des jungen Jesuiten-Priesters Rodrigues, dem man in der Narration folgt. Damit wird eine erste Erzählebene konstruiert. Voraus geht ihr der Blick des früheren Missionars Ferreira, der am Anfang des Films die Kreuzigung und Folter von Mitbrüdern mitansehen muss. Dieser angsterfüllte und leidende Blick gibt den Grundakkord und weckt eine Vorahnung auf die Ereignisse, die sich in den folgenden Szenen weiter entfalten und in ein regelrechtes Fegefeuer münden. Als weitere Ebene kommt zum Schluss die Außenperspektive eines holländischen Handelsmanns hinzu, der das Schicksal der Priester aus der dritten Person – sozusagen aus neutraler Perspektive – berichtet. Diese dreifache Ausfaltung wird als Roman im Jahr 1966 durch den Japaner Shusaku Endo erzählt und nun im Film inszeniert durch Martin Scorsese.

Fotos: Concorde

chriStentum — loSt in tranSlation? Es handelt sich bei »Silence« um das Aufeinandertreffen von Religionen und Kulturen, das zu heftigen Verwerfungen führt. Theologisch gesprochen, geht es um die Frage, wie die Inkulturation des Christentums in Japan möglich ist. In einer Schlüsselszene kommt es zum Disput zwischen Rodrigues und dem Inquisitor. Inoue ist überzeugt, dass das Christentum im japanischen Sumpf nicht Wurzeln schlagen kann. Rodrigues hält dagegen, dass bereits Hunderttausende den Glauben angenommen haben und grausam zu Tode gekommen sind. Sein Argument gegen die Religionspolitik des Shogunats wird jedoch pervertiert. Inoue will Rodrigues zum Abfall vom Glauben zwingen und findet grausame Mittel, diese Herrschaftspolitik durchzusetzen. In der Erzählung wird sichtbar, dass die Portugiesen als Imperialisten in Japan eingedrungen sind und mit Hilfe der Jesuiten, seit der Ankunft von Francis Xavier SJ, den christlichen Glauben verbreiten. Die Gegenreaktion der japanischen Herrscher ist rigoros. Hunderttausende fallen

der Christenverfolgung zum Opfer. In der Folge stellt sich die Frage, ob das Christentum im Land der aufgehenden Sonne überhaupt Fuß fassen kann, oder ob der naturreligiöse Shintoismus und der Buddhismus für das japanische Volk nicht die besseren Alternativen sind. Die katholische Kirche hat sich über Jahrhunderte intensiv mit der »propaganda fide«, der Mission und im 20. Jahrhundert mit der Inkulturation des christlichen Glaubens auseinandergesetzt. Aus der Sicht des Romans und des Films handelt es sich um eine ausweglose Situation, sozusagen ein Christentum »lost in translation«.

gende Frage, ob die Idee des christlichen Martyriums durchzuhalten ist, wenn der Weg bis zum schmerzhaften Tod weder heilig noch richtig ist. Das Dilemma in der Erzählung besteht darin, dass Pater Rodrigues feststellt, dass die japanischen Christen nicht für ihren Glauben sterben, sondern für ihn als Priester geopfert werden, um ihn zum Akt des Glaubensabfalls zu zwingen. Solange das Märtyrertum rein religiös verstanden wird, ist es in sich schlüssig. Wird es jedoch instrumentalisiert, sei es von der Glaubensgemeinschaft oder von politischen Mächten, gerät es auf die schiefe Bahn.

daS heilige Bild

rechtFertigung

Der Film fragt nach der Bedeutung von heiligen Bildern für den christlichen Glauben. Wie stark sind Katholiken auf die Verehrung von Christus- und Marienbildern verpflichtet? Ist diese religiöse Verehrung der Kern ihres Glaubens? Darauf hinaus läuft die Methode der japanischen Inquisition: Christen müssen mit dem Fuß auf ein Christusbild stampfen und so ihrem Glauben entsagen. Nur so können sie der Folter und dem sicheren Tod entgehen. Zu diesem Zweck hat das Shogunat das so genannte »fumie« entwickelt, ein Heiligenbild aus Kupfer, auf das die Konvertiten treten müssen, um den neuen Glauben abzuschwören. Bald zeigt sich, dass dieser äußere Akt nicht vollständig identisch mit der religiösen Gesinnung ist. Es gibt die Wahl, das Heiligenbild zu entehren und trotzdem Christ zu bleiben.

Die dahinterliegende theologische Fragestellung lautet: Dürfen wir einen zutiefst bösen Akt begehen, wenn sich daraus etwas Gutes ergibt? Wenn es dazu dient, sich selbst zu retten, müsste die Antwort »Nein« sein. Können jedoch damit andere gerettet werden, wie der Roman und der Film unterstellen, so könnte diese Handlung durchaus gerechtfertigt sein. Diese Frage ist nicht nur auf den historischen Kontext Japans bezogen, sondern ist universal gültig. Scorsese stellt damit das Märtyrertum in den Kontext eines ethischen Dilemmas. Pater Rodrigues entweiht schlussendlich das Christusbild und tut dies, um seine Gläubigen zu retten. Aus ethischer Sicht ist er damit gerechtfertigt. Aus theologischer Sicht gibt er sich selbst auf – und tritt den Weg in die Hölle an, um andere zu retten. Im Sinne des stellvertretenden Leidens und der Nachfolge Christi handelt der junge Jesuit richtig, auch wenn bis zum Schluss offenbleibt, ob er seinen Glauben bewahren oder vollständig verlieren wird. Martin Scorsese hat eine starke Verbindung zum Leiden als Prüfstand im Leben: Seine frühen Filme »Taxi Driver« (1975), »Wie ein wilder Stier« (1979) und »Good Fellas« (1989) sind Dramen über das Leiden im Fegefeuer. So auch »Silence«, in dem das Leiden für den Glauben eine große Rolle spielt. Mitten in der Verfolgung stellt der Film wichtige Fragen zum Glaubensakt, zur Verehrung von Bildern, zum Rückzug des Glaubens in die Innerlichkeit und zur Bedeutung von Christenverfolgung, auch in der heutigen Zeit. —

märtyrer BiS zum Bitteren ende In Syrien, Ägypten, Pakistan und China gibt es eine Vielzahl von Menschen, die wegen ihres christlichen Glaubens unterdrückt oder verfolgt werden. In diesem Umfeld hat das christliche Märtyrertum wieder eine neue Bedeutung bekommen. »Silence« stellt nun aber die beunruhi-

Liam Neeson als Pater Ferreira Filmdienst 05 | 2017

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KRITIKeN NEUE FILME

Sie küssten und sie schlugen ihn: Mitreißendes Drama und präzise Milieuschilderung

Nicht untergehen. Niemals. Nicht im Meer, nicht im Leben. Deshalb bringt Juan diesem Kind das Schwimmen bei. Die Wellen schwappen, das Licht flimmert, bald bedeckt sich der Himmel. Eine Art Taufe. Es ist wie in einem Traum. Die Streichermusik dazu trägt alles in sich. Die Angst, die Hingabe, die Gefahr, die Zärtlichkeit. Immer wieder wird diese Musik den Jungen Chiron begleiten, dessen Entwicklung Barry Jenkins in seinem filmischen Triptychon »Moonlight« nachzeichnet. Es ist eine Leidensgeschichte und eine Liebesgeschichte, und sie geht einem unter die Haut. Chiron, als Kind »Little« gerufen, wird in der Schule gejagt, gemobbt, geprügelt. Aber warum? Ist es, weil er zart wirkt, diesen fragenden Blick hat, den er als Teenager wie auch als junger Mann behalten wird? Ist es die Tatsache, dass er schwarz und arm ist und zuhause eine Mutter sitzt, die von ihrer CrackSucht zerfressen wird? Das alles ist nicht ungewöhnlich in Liberty City, dieser Sozialbausiedlung im Miami, in der fast nur Afroamerikaner leben und die als eine der gefährlichsten Gegenden der USA gilt. Hier sind auch Regisseur Barry Jenkins und Drehbuchautor Tarell Alvin McCraney aufgewachsen, auf dessen auto-

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biografischen Bühnenstück »In Moonlight Black Boys Look Blue« der Film basiert. Chiron steht im Abseits, weil seine Mitschüler etwas wittern, für das der Junge noch keine Worte hat. »Faggot!« – »Schwuchtel!«, wird er beschimpft. Schwarz sein, arm sein, alles okay in Liberty City. Aber homosexuell? Es ist hart, in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem (heterosexuelle) Männlichkeit aggressiv zur Schau gestellt wird. In Liberty City regieren Männer wie Juan, die die Süchtigen mit Drogen versorgt, auch Chirons Mutter. Juan ist gefährlich, skrupellos. Und er ist sanft, fürsorglich, wenn es um Chiron geht, den er in seine Obhut genommen hat. Was heißt es also, ein Mann zu sein? In drei Kapiteln spürt der Film dieser Frage nach und zeichnet auf, wie aus dem sensiblen Kind jemand wird, der sich einen Panzer aus Muskeln gebaut und den Mund mit Goldzähnen versiegelt hat. Man müsse sich an einem bestimmten Punkt entscheiden, wer man sein wolle, hat ihm Juan einst gesagt. Chiron trifft diese Entscheidung, als er verraten wird. In diesem Moment verhärtet sich etwas in ihm, und es schmerzt, dabei zuzusehen. Man kann »Moonlight« als individuelle Lebensgeschichte sehen

oder als Sozialdrama, das zeigt, wie Rasse und Klasse Lebensbedingungen vorgeben, Identitäten formen und Benachteiligung manifestieren. Das schwingt mit, die ganze Zeit. Der Film rückt eine afroamerikanische, zudem queere Lebenswirklichkeit ins Licht und damit ein Thema, das im Kino immer noch selten zu sehen ist. Doch so eigen Chirons Werdegang auch ist, so universell ist er auch lesbar, weil diese Figur allgemein für Menschen steht, die limitiert oder an den Rand gedrückt werden. »Who is you?« – »Wer bist du?«, wird Chiron alias Black von seinem Freund Kevin gefragt, nachdem sie sich jahrelang nicht gesehen haben. Es sind Chirons Augen, die all das Unausgesprochene und Unaussprechliche spiegeln und die mehr ausdrücken als jedes Wort. Barry Jenkins erzählt von einer harschen Welt. Er tut es voller Empathie für jede einzelne Figur und mit Sinn für die Schönheit des Lebens. »Moonlight«, bereits mit etlichen Filmpreisen überhäuft und für acht »Oscars« nominiert, öffnet einem gerade dafür die Augen. Es lohnt sich, genau hinzuschauen, Blicke und Gesten wahrzunehmen, etwa wie Chiron seiner untröstlichen Mutter eine Träne von der Wange streichelt. Die Kamera

Kirsten Taylor

BeweRTuNG DeR FILMKOMMISSION

Ein sensibler afroamerikanischer Junge wächst in Liberty City auf, einem »Problembezirk« Miamis, wobei die Crack-Sucht seiner Mutter und die Schikanen von Gleichaltrigen, die ihn mobben, sein Leben überschatten. Ein Dealer nimmt sich seiner an und wird zum Vaterersatz, doch die demonstrative Männlichkeit, die er dem Jungen vorlebt, bringt weitere Konflikte, vor allem mit der eigenen homosexuellen Identität. Der bildgewaltige, herausragend gespielte Film wird als Triptychon unterschiedlicher Lebensphasen erzählt. Dabei besticht er durch seine Sensibilität gegenüber den Gefühlen der Figuren ebenso wie durch sein Gespür für ihre Lebenswelt, verbindet präzise Milieuschilderung mit dem Sinn für die Schönheit des Lebens. – Sehenswert ab 16.

MOONLIGHT. Scope. USA 2016 Regie: Barry Jenkins Darsteller: Trevante Rhodes (Black), Ashton Sanders (Chiron), Alex Hibbert, Naomie Harris, Mahershala Ali, Janelle Monáe, André Holland, Jharrel Jerome Länge: 111 Min. | Kinostart: 9.3.2017 Verleih: DCM | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 44 519

Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe

Moonlight

erzeugt mit jedem Bild eine Intimität, der man sich nicht entziehen kann. Und man sollte hinhören, nicht nur, um mitzubekommen, wie Sprache ausgrenzt, sondern um das Verstummen zu hören, die Zikaden vor dem Fenster, die Musik aus dem Autoradio, darunter eine Ballade von Caetano Veloso, eine Hommage an Wong Kar-wais »Happy Together«. Der Film atmet, pulsiert, getragen von seinen herausragenden Darstellern. Jede Sekunde ist spürbar, wie sehr Chiron als der angenommen und geliebt werden möchte, der er ist. Und das ist eine Sehnsucht, die wohl in uns allen steckt.


NEUE FILME KRITIKeN

Die Frau im Mond – erinnerung an die Liebe Ein Frauenschicksal in der Provinz

Die Grillen zirpen, es ist Sommer in der Nachkriegszeit. Frankreich wie im Bilderbuch. Der Alltag ist von harter Arbeit und frohen Festen geprägt. Zur Weinernte kommen Saisonarbeiter über die nahe spanische Grenze. Gabrielle lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester in einem kleinen Dorf. Es sind einfache Leute, aber Gabrielle will mehr vom Leben, sie will raus aus den engen Verhältnissen. In ihrem Kopf schwirren romantische Vorstellungen von der vollkommenen Liebe. Mit ihrer leidenschaftlichen Schwärmerei für verheiratete Männer, etwa den Dorfschullehrer, verstößt sie gegen den Moralkodex der erzkonservativen Dorfgemeinschaft. Die Eltern möchten die Tochter verheiraten und bieten sie dem spanischen Erntehelfer José als Ehefrau mit einer stattlichen Mitgift an. Der wortkarge Maurer heiratet die widerstrebende Gasthaustochter und zieht mit ihr an die Küste, wo er eine erfolgreiche Baufirma aufbaut. Gabrielle aber leidet an ihrer Ehe, sie leidet an ihrer Existenz, bis sie wirklich krank wird. Der Arzt empfiehlt einen Sanatoriums aufenthalt in den Alpen. Hier lernt sie den jungen Offizier André kennen, der im

Indochina-Krieg schwer verwundet wurde. Nach Jahren einer frustrierenden Vernunftehe steigert sich Gabrielle in eine Liebesromanze hinein. Ihr Ehemann bleibt gelassen. Sie bekommt einen Sohn, und schreibt endlose Briefe an den vermeintlichen Geliebten. Sie offenbart ihrem Mann, dass sie sich trennen muss. Aber der wortkarge Spanier bleibt immer noch gelassen. Im Original heißt der Film einfach »Mal de pierres«, die Steinkrankheit. Er basiert auf dem höchst erfolgreichen Roman der italienischen Autorin Milena Agus. Regisseurin Nicole Garcia hat die Liebesgeschichte vom Originalschauplatz Sardinien nach Südfrankreich verlegt und führt das Schicksal der spanischen Leiharbeiter aus der benachbarten Franco-Diktatur als zusätzliches Element ein. Das Grundmotiv einer Frau, die mehr vom Leben erwartet, als ihr eine archaische Dorfgesellschaft bieten kann, ist geblieben. Gabrielle ist eine Art Madame Bovary im ländlichen Raum, die von höheren Gefühlen träumt und weder die harte Vernunft der Eltern noch die des Ehemannes erträgt. Stattdessen überträgt sie in morbider

Romantik alle ihre Gefühle auf einen Sterbenden. Parallel zur »éducation sentimentale« der Protagonistin erzählt der Film aber auch von der Verbürgerlichung der Armut, vom langsamen Aufstieg des Tagelöhners José zum erfolgreichen Unternehmer aus der Mittelschicht. Neubauten sind plötzlich möglich, Reisen und bescheidener Wohlstand, bis hin zur musikalischen Ausbildung der Kinder. Was zunächst wie das hunderttausend Mal gesungene Lied von der unerfüllten Liebessehnsucht einer jungen Frau klingt, erhält einen psychotischen Beigeschmack, insbesondere, wenn man am Ende begreift, dass José von Anfang an um die wahren Hintergründe wusste. In diesem Spiel zwischen Fantasie, Wahn, gesundem Menschenverstand und barmherziger Geduld, das sich intensiv im Zusammenspiel von Alex Brendemühl und Marion Cotillard spiegelt, liegt die große Stärke des Films, der nahezu beiläufig auch die Veränderung einer verarmten Agrargesellschaft zum kleinbürgerlichen Wohlstand skizziert. Die Schwäche der Inszenierung liegt in ihrem Hang zur ausgewalzten Schönheit, von den

angenehm illuminierten Landschaften in Südfrankreich und der Alpen, von der sehr hölzern inszenierten Folklore des ländlichen Frankreichs, der pittoresken Zerlumptheit der spanischen Landarbeiter, den Mützen, den Zigaretten, den immer gefüllten und schnell geleerten Rotweingläsern. Zwar fügt Nicole Garcia die Leiharbeiter in den Stoff ein, belässt Josés politische und soziale Hintergründe allerdings bei reiner Staffage. Wolfgang Hamdorf

BeweRTuNG DeR FILMKOMMISSION

In den 1940er-Jahren wird eine widerspenstige Gasthaustochter aus Südfrankreich mit einem spanischen Saisonarbeiter verheiratet, der mit ihr an die Küste zieht und eine Baufirma gründet. Die junge Frau aber sehnt sich nach Liebe und glaubt, während eines Aufenthalts in einem Schweizer Sanatorium in einem verwundeten Offizier ihre Erfüllung zu finden. Überzeugend gespielte, optisch brillante Romanverfilmung, die die »Éducation sentimentale« der Protagonistin mit dem wirtschaftlichen Aufstieg der unteren Schichten verbindet. Trotz der Neigung zu pittoresken Panoramen vermittelt die Inszenierung intensiv den Zwiespalt von Wahn und Wirklichkeit, Sehnsucht und Geduld. – Ab 14.

MAL De PIeRReS Scope. Frankreich/Belgien 2016 Regie: Nicole Garcia Darsteller: Marion Cotillard (Gabrielle), Louis Garrel (André), Alex Brendemühl (José), Brigitte Roüan (Adèle), Victoire Du Bois (Jeannine) Länge: 121 Min. | Kinostart: 2.3.2017 Verleih: StudioCanal | FSK: ab 6; f FD-Kritik: 44 520

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Train to Busan

Seoul Station

»Wäre ich doch nur nie an diesem verdammten Bahnhof in Seoul gestrandet.« Mit diesen Worten auf den Lippen gibt sich einer der eher sympathischen Protagonisten seinem Schicksal hin, ein Obdachloser, den die Gesellschaft am liebsten längst ausgesondert hätte. Weit weg von der Metropole mit ihren gefegten Straßen und ihrer aseptischen Fassade des Reichtums, war er Zeuge des Ausbruchs einer Seuche, die alle gleichermaßen befällt, keinen Unterschied macht zwischen Ober- und Unterschicht. Chaos zieht mit den Zombies durch die Straßen von Seoul. Der Obdachlose und eine Frau, die sich durch Prostitution vor dem Leben auf der Straße zu schützen versuchte, fliehen vor den Horden. Sie sind die Helden in einem Animationsfilm, der eigentlich keine Helden kennt. Und keine Hoffnung. Die Dystopie »Seoul Station« bezieht ihre Spannung aus dem kleinen Funken, dem Strohhalm, dass es den beiden doch gelingen möge, hinter die Absperrungen des Militärs zu kommen. Nach Hause aufs ruhige Land, zum Vater, zur Familie, der es besser gehen möge – eine trügerische Hoffnung. Yeon Sang-ho (»King of Pigs«, 2011) ist in seinem Heimatland Südkorea für seine sozialkritischen Animationsfilme bekannt. Mit »Seoul Station« schuf er einen

grimmigen Zombiefilm in grobem, fast kindlich abstraktem Zeichenstrich, der sich umso detaillierter und ernsthafter mit der Gesellschaft Südkoreas (eigentlich aller Industriestaaten) beschäftigt, die bereits weit vor der Plage ihre Menschlichkeit verloren hat. Ort und Zeit der Handlung von »Seoul Station« sind annähernd gleich mit Yeon Sang-hos Realfilm »Train to Busan«. Während man sich im Animationsfilm mit den Folgen der Seuche herumschlägt, bekommt man hier gleich zu Beginn beiläufig deren Ursprung offenbart: einen Störfall in einer Biotec-Anlage. Fondsmanager Seok-woo handelt mit Aktien dieser Anlage und würde sich viel lieber um deren Abwicklung kümmern als seine kleine Tochter Su-an nach Busan zu seiner Ex-Frau zu bringen. Als sie in Seoul den (letzten) Hochgeschwindigkeitszug besteigen, beginnt das Grauen. »Train to Busan« ist ein furioser Actionfilm, in dem die Zombies weniger für die seelenlose Gesellschaft stehen, als dass sie nicht minder seelenloser Motor für eine Hatz zu den letzten noch nicht verseuchten Arealen sind. Während der Zug nach Busan rauscht, bilden sich in den Waggons Allianzen zwischen Arm und Reich gegen die sich auch im Inneren immer weiter vermeh-

Zwei stilistisch außergewöhnliche Zombiefilme aus Südkorea

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renden Zombies. Auch hier lautet die Botschaft: Die Hauptübel auf der Welt sind Ignoranz und Egomanie. Die Filme sind als Doublefeature in einer »Special Limited Edition« erschienen. Das macht Sinn, bieten sie doch beide furioses, mal nachdenkliches, mal aktionsbetontes Endzeitkino. Spannend und eindringlich sind sie auf jeweils eigene Weise – und keinesfalls nur Stoff zum unbekümmerten Konsumieren. – Ab 16. Jörg Gerle Seoul Station SeOulYeOK Südkorea 2016 Regie: yeon Sang-ho Animationsfilm länge: 93 Min. | fSK: ab 16 Anbieter: Splendid (doublefeature mit »Train to busan«, auch als Einzelausgabe) fD-Kritik: 44 538

Regie: yeon Sang-ho Darsteller: Gong yoo, Ma dong-seok, Jung yu-mi, Kim Soo-an länge: 118 Min. | fSK: ab 16 Anbieter: Splendid (double-feature mit »Seoul Station«, auch als Einzelausgabe) | fD-Kritik: 44 539

Fotos: Jeweilge Anbieter

Train to Busan BuSAnHAenG Südkorea 2016


KRITIKEN FERNSEH-TIPPS SAMSTAG 4. MÄRZ

14.00 – 15.20 Karla & Katrine R: Charlotte Sachs Bostrup Vorpubertäre Probleme und Detektivgeschichte Dänemark 2009

KiKA

Ab 10

20.15 – 22.15 Servus TV Before Midnight R: Richard Linklater Fortsetzung der redefreudigen Romanze USA 2013 Ab 14 20.15 – 21.55 zdf_neo Meine Stiefmutter ist ein Alien R: Richard Benjamin Bezaubernde Komödie über eine Außerirdische USA 1988 Ab 12 21.55 – 23.25 zdf_neo Der Krieg des Charlie Wilson R: Mike Nichols Politsatire mit Tom Hanks USA 2007 Ab 16 22.15 – 23.55 Servus TV Dead Girl R: Karen Moncrieff Packender Ensemblefilm um verknüpfte Schicksale USA 2006 Ab 16 23.40 – 01.30 Nacht über Berlin R: Friedemann Fromm Aufwändiges Drama über die frühen 1930er Deutschland 2013

Das Erste

Ab 14

23.50 – 02.05 rbb Fernsehen Vier im roten Kreis R: Jean-Pierre Melville Ausgefeilte fatalistische Parabel Frankreich 1970 Sehenswert ab 16 00.00 – 02.05 Der Unbestechliche R: Cédric Jimenez Außergewöhnlich intensiver Thriller Frankreich 2014

mdr

Ab 16

01.35 – 03.08 Das Erste Rekruten des Todes R: Philippe Haïm Schnörkelloser GeheimdienstThriller Frankreich 2008 Ab 16

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4. März, 20.15 – 22.15

Before Midnight

Servus TV

In »Before Sunrise« (1994) und »Before Sunset« (2004) haben Julie Delpy und Ethan Hawke zwei charmant-realistischen, spleenig-überspannten Romanzen Gestalt gegeben, mit denen Regisseur Richard Linklater ein Porträt der alternden »Generation X« zeichnete. Im dritten Teil der fiktiven Langzeitbeobachtung aus dem Jahr 2013 sind der Amerikaner Jesse und die Französin Céline nun ein Paar mit Kindern, das während eines sechswöchigen Urlaubs in Griechenland sein Zusammenleben hinterfragt. Trotz des nivellierenden Alltags haben sich die Beiden eine geradezu kindliche Unschuld bewahrt. Noch immer kommen sie in ihren endlosen Dialogen mühelos von Hölzchen aufs Stöckchen, von Alltagsproblemen zu den letzten Dingen. Allerdings spielt die Frage, ob die beiden füreinander geschaffen sind, keine große Rolle mehr. Fraglich ist eher, ob sie es miteinander schaffen. Man spürt, dass alle drei, Linklater, Delpy und Hawke, sich während dieser knapp zwei Jahrzehnte deutlich weiterentwickelt haben. Ihre eigenen Erfahrungen finden Eingang in die Figuren; Delpy bringt eine körperlichere Komik ein, Hawke hat eine unaufdringliche Lässigkeit entwickelt, zusammen strahlen sie eine Vertrautheit aus, die dem Film Glaubwürdigkeit verleiht, aber auch Dramatik. Schwerer tut sich die Inszenierung, eine angemessene Sprache für die Intimität der Langzeitbeziehung zu finden. Dennoch beeindruckt die formale Konsequenz, sich in langen Sequenzen ganz der Dynamik von Dialogen zu überlassen.

4. März, 21.55 – 23.25

zdf_neo

Der Krieg des Charlies Wilson

Nicht Ronald Reagan, sondern ein versoffener texanischer Kongress-Abgeordneter hat den Sowjets in Afghanistan den Sieg vermasselt. So erzählt es jedenfalls die schwungvolle Politsatire von Mike Nichols, der sich weitgehend an der Biografie des republikanischen Politikers Charlie Wilson (1933 – 2010) orientiert. Der von Tom Hanks gespielte Abgeordnete versorgte die Mudschaheddin quasi im Alleingang mit Waffen, auch wenn er mit seinen Aktionen gegen USRecht verstieß. Die schillernde Komödie kreist um ein realpolitisches Debakel: Bis heute sind Wilsons Waffen im Mittleren Osten im Umlauf. Die Inszenierung schiebt die Frage der Folgen von Wilsons Tun (und generell der US-amerikanischen Außenpolitik) so lange wie möglich hinaus. Tom Hanks spielt den irrlichternden Protagonisten mit aufrichtigem Charme, Julia Roberts mimt mit platinblonder Perücke eine Salonlöwin und Philip Seymour Hoffman reißt als cholerischer CIA-Agent alle Szenen an sich. Die Mechanismen der Macht und ihre mitunter grotesken Auswüchse setzt Nichols allerdings weder thesenhaft noch moralinsauer in Szene.

4. März, 23.40 – 01.30

Das Erste

Nacht über Berlin

Ein engagierter jüdischer SPD-Abgeordneter verliebt sich Anfang der 1930er-Jahre in eine lebenslustige Sängerin. Zwar befürchtet er bereits den Verlust demokratischer Werte, rechnet aber dennoch nicht mit dem menschenverachtenden Durchsetzungswillen der Nazis. Als am 27. Februar 1933 der Reichstag in Flammen steht, eskalieren die Ereignisse. Regisseur Friedemann Fromm drehte 2013 ein aufwändig gestaltetes historisches (Fernseh-)Drama, in dem sich das Berliner Lebensgefühl in den Wochen vor dem folgenschweren Brand spiegelt. Zugleich erzählt der Film von den blutigen Spannungen zwischen linken und rechten Kräften, die mit zum Zusammenbruch der Weimarer Republik führten.

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

SA


FERNSEH-TIPPS KRITIKEN

SO 12.00 – 13.25 Die zwölf Monate R: Karel Janák Wintermärchen mit viel Herz Tschechien 2012 5. März, 20.15 – 23.35

Disney Channel

The Sound of Music

Dieser Film ist eine reine Herzensangelegenheit: Entweder man liebt ihn bis in alle Ewigkeit, oder man fühlt sich gelinde gesagt »irritiert« angesichts von so viel Kitsch und knalliger Emotionalität. Die Verfilmung des Musicals von Oscar Hammerstein II und Richard Rodgers entstand nach Motiven aus den Aufzeichnungen der Baronin von Trapp (»Vom Kloster zum Welterfolg«) und spielt in Salzburg. Die lebensfrohe junge Novizin Maria (grandios: Julie Andrews) kommt als Erzieherin ins Haus des verwitweten Barons von Trapp (Christopher Plummer), gewinnt seine Liebe sowie die seiner sieben Kinder und heiratet ihn. Der »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich im Jahr 1938 zwingt den heimattreuen Ex-Offizier und seine Familie, die inzwischen als »singende Familie« berühmt wurde, zur Auswanderung nach Amerika. Der mit immensem äußerem Aufwand produzierte Unterhaltungsfilm fesselt durch eindrucksvoll fotografierte und arrangierte Breitwand-Panoramen sowie (besonders im amerikanischen Original) mitreißende Songs. Hierzulande wurde der Film nach der Erstauswertung rücksichtslos zusammengekürzt, um alle politischen Elemente zu eliminieren. Dadurch wollte man das Werk »freundlicher« und konsumierbarer machen, zerstörte es in seiner Konzeption aber gänzlich. 5. März, 00.20 – 01.50

SONNTAG 5. MÄRZ KiKA

Ab 8

14.05 – 15.30 rbb Fernsehen SOS – Petter ohne Netz R: Arne Lindtner Næss Liebenswerter Kinder-Freundschaftsfilm Norwegen 2004 Ab 10 20.15 – 23.45 arte Die zehn Gebote R: Cecil B. DeMille Monumentale Bibelverfilmung USA 1956 Ab 14 20.15 – 23.35 Disney Channel The Sound of Music R: Robert Wise Familienfreundlicher Musicalklassiker USA 1964 Ab 10 22.25 – 00.35 TELE 5 Carrie – Des Satans jüngste Tochter R: Brian de Palma Horrorfilm nach Stephen King USA 1976 Ab 16

00.20 – 01.50 WDR Fernsehen Searching for Sugar Man R: Malik Bendjelloul Doku als Enthüllungskrimi über Musiker Schweden 2012 Sehenswert ab 12 00.35 – 02.08 Fraktus R: Lars Jessen Porträt einer fiktiven Techno-Band Deutschland 2012

Das Erste

Ab 16

00.35 – 02.05 NDR fernsehen Fluss ohne Wiederkehr R: Otto Preminger Brillantes Western-Melodram USA 1954 Ab 14 01.30 – 02.40 hr fernsehen Versicherungsvertreter 2 R: Klaus Stern Makler macht nach Konkurs halblegal weiter Deutschland 2015 Ab 12

WDR Fernsehen

Searching for Sugar Man

Wer ist Sixto Díaz Rodríguez? Der schwedische Filmemacher Malik Bendjellouls sucht in seiner hinreißenden Dokumentation den der Welt abhanden gekommenen Singer/Songwriter, von dem einer seiner amerikanischen Produzenten einmal flapsig sagt, dass in den USA vielleicht sechs Personen seine Platte gekauft haben. Ist jener Musiker, der in den frühen 1970er-Jahren gerade mal zwei LPs produzierte, inzwischen vielleicht sogar tot? Es kursieren Gerüchte, die aufhorchen lassen: Er habe sich auf der Bühne selbst angezündet, sich eine Kugel durch den Kopf geschossen; oder ist er doch an einer Überdosis gestorben? Natürlich weiß Malik Bendjelloul, dass alles ganz anders ist. Er erzählt vom ungeheuerlichen, berührenden Einzelschicksal eines vergessenes Mannes, indem er virtuos Interviews, Song-Fragmente, Fotos und Filmschnipsel zu einem investigativen Road Movie montiert – mit einem geradezu aberwitzigen Happy End. 5. März

3sat

Hans-Dieter Grabe

Am 6. März feiert der Dokumentarist Hans-Dieter Grabe seinen 80. Geburtstag. 3sat ehrt den begnadeten »Menschen«Regisseur mit zwei Filmen, die in ihrer Klarheit wie Bescheidenheit prototypisch für sein umfangreiches Werk sind. Grabe ging es stets um unbekannte Menschen, aus deren Lebens- und Zeiterfahrungen er berührende Porträts gestaltete. »Geschichten vom Essen« (10.50 – 11.50) erzählt beispielsweise von fünf Menschen und ihren Kämpfen um das tägliche Brot. Das Material zu den einzelnen Episoden stammt aus Recherchen für andere Filme während der Jahre zwischen 1967 und 1998. Grabe, der im und nach dem Zweiten Weltkrieg am eigenen Körper Hunger erlebt hat, wollte damit der Flut an Ess- und Kochsendungen »eine nachdenklichere Sichtweise auf Nahrungsmittel und die Bedeutung des Essens« zur Seite stellen. In »Raimund – ein Jahr davon« (11.50 – 12.30) beobachtet er seinen Nachbarn, der Holz für den Winter hackt. Eine Woche lang filmt Grabe den Mann von nebenan, wie er mit Säge, Stemmeisen, Axt und Keil riesige Buchenstämme unnachgiebig klein bekommt. Einige Monate später aber stirbt seine Frau, was dem zähen Handwerker den Boden unter den Füßen wegzieht und in den Freitod treibt. Am Schneidetisch sah Grabe seine Aufnahmen nun mit neuen Augen: »Sie zeigen sehr deutlich, was für ein Mensch mein Nachbar war, ein Jahr davor, bis er, und das kann vielen von uns passieren, in eine Situation geriet, in der er die Kraft zum Weiterleben verlor. Bei den Dreharbeiten und im Schneideraum haben sich mir die Bilder von Raimund, der zäh mit den Stämmen ringt, tief eingeprägt. Noch lange werde ich ihn sagen hören: ›Wenn die ganz Dicke komme, das wird ’n bisschen schwieriger. Aber die krieg ich auch noch klein. Ist mir’s gar keen Angst.‹«

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