FILMDIENST 6/2013

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FILM

€ 4,50 www.filmdienst.de www.fi lmdienst.de 66. Jahrgang 14. März 2013

6|2013

DIENST

PORTRÄT

Jennifer Lawrence

DIE „OSCAR“GEWINNERIN beeindruckt mit ihrer enormen Bandbreite

Das Magazin für Kino und Filmkultur

Kinder ins Kino! Filme prägen fürs ganze Leben. Ein Plädoyer

NaCHLESE

Die „Berlinale“ 2013 •Wie Hitchcock das Horror-Genre neu erfand •Vor 50 Jahren kam sein spannendes Meisterwerk ins Kino

Hitchcocks „Die Vögel“

44

Seiten Extra-Heft

Alle Filme im TV vom 16. bis 29. März

06 4 194963 604507


„ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als realität.“

FilmDieNST 6 | 2013

Alfred Hitchcock

Kino 10 alle filme im tV vom 16.3. bis 29.3. das extraheft 44 Seiten Extra-Heft: Kritike 80.000 Film-

Alle Filme im TV

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DER MANN DER ZUVIEL 17.3. ZDF

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DAS FENSTER ZUM HOF 24.3. ZDF

WUSSTE

Sonderbeilage

FILM ZWEI HINREISSENDE 23.3. ARD

SCHURKEN

PULP FICTION 28.3. VOX v

IM TV

LandsCHaFt Mit VÖgEL Die B-Movies der 1950er-Jahre strotzten nur so vor monströsen Tieren - von der Riesenspinne „Tarantula“ über „Die Fliege“ bis zur „Wespenfrau“. Doch was wäre, wenn sich das Harmlose plötzlich in das Böse verwandeln würde, ohne seine Gestalt zu ändern? Hitchchocks Antwort: „Die Vögel“ (1963). Ein Film, der das Horrorgenre revolutionierte. Von Daniel Kothenschulte

staunEn & LaCHEn

FISH TANK 22.3. EinsFestival

DON CAMILLO UND PEPPONE 16.3. ARD

DIE LEGENDE VON PAUL 26.3. mdr

UND PAULA

-Trauma Zwei Liedermacher im Post-68er

Land Wader Wecker Vater bei den Indios De Niro als Jesuitenpater Die Mission Robert Martin Scorsese tes Gangsterdrama von Departed Fulminan

Akteure

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16.–29.3.2013

[16.3. 3sAt]

] [18.3. Hr FernseHen

[23.3. rBB FernseHen

]

Wader Wecker Vater Land Musik-Dokumentation 16.3. 3sat Die Mission Historiendrama 18.3. HR Das Fenster zum Hof | Krimi 24.3. ZDF

Kurzfilme sind kleine Meisterwerke, unterhaltsam, spannend, innovativ. Schade nur, dass sie so selten im Kino zu sehen sind. Galerien und Museen haben dies längst erkannt; mancher Kurzfilmer stellt seine Arbeiten deshalb einfach ins Netz. Wie wunderbar wäre es, wenn sich Kinobetreiber und Kreative zusammen tun würden. Einige Beispiele aus der Praxis. Von Andrea Dittgen

Franz Everschor bemängelt Hollywoods „männliches“ Klischeedenken

frauen müssen um jede film-regie kämpfen

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diE stEHauF-Frau Für ihre Rolle in „Silver Linings“ wurde Jennifer Lawrence mit dem „Oscar“ als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Porträt einer starken Aufsteigerin. Von Kathrin Häger

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EinE PrÄgung FÜrs LEBEn Kinderfilm ist nicht gleich Kinderfilm. Davon kann der Produzent Philipp Budweg ein Lied singen. Er kämpft für innovative Stoffe. Ein Interview. Von Horst Peter Koll

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iHrEr sPraCHE BErauBt Ein neues Buch versammelt Dokumente und Briefe zum amerikanischen Exil deutscher Filmschaffender. Von Volker Baer

Die „Berlinale“ ist vorbei - doch viele Filme harren ihrer Entdeckung. 4

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S. 28


+ Unsere Tipps für Heimkino: Neue DVDs/Blu-rays (S. 25)

Neue Filme + aLLE starttErMinE

Film-Kunst 27

KEinE rEgissEurinnEn Frauen müssen um jede Filmregie kämpfen; wenn sie als Filmemacherinnnen Erfolg haben wollen, brauchen sie unabhängige Produzenten. Von Franz Everschor

38 3096 Tage [28.2.] 46 Bardsongs [14.3.] 39 Die Croods [21.3.] 46 Gegenwart [7.3.] 49 Hai-Alarm am Müggelsee [14.3.] 41 Hitchcock [14.3.] 43 Imaginaerium [18.3.] 46 Immer Ärger mit 40 [14.3.] 46 Kon-Tiki [14.3.]

der Filmkommission

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Fotos: Getty Images, ddp images/SIPA, Berlinale Titel: picture-alliance/dieKLEINERT.de

Bei der „Berlinale“ präsentierte sich das aktuelle Weltkino mit vielen Themen, die im Mainstreamkino keinen Platz haben. Eine Nachlese unserer Autoren.

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wiE in EinEM sPiEgEL Teil 3 der Serie „Was ist ein guter Film?“ Qualität hängt auch von der „Kamera-Kompetenz“ und der Suche nach glaubwürdigen Bildern ab. Von Jakobine Motz

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s. BardsOngs [stArt 14.3.]

eMPfehlung

s. 45 untEr MEnsCHEn [21.3.] Ein Dokumentarfilm von Christian Rost

diE wELt durCH diE augEn dEs KinOs

im März startet der zweite teil von ulrich seidls „Paradies“trilogie: „Paradies: glaube“. Ein herausforderndes werk. auffällig ist überdies die hohe Zahl an Kinder- und Jugendfilmen, die in den nächsten wochen starten.

43 47 43 44 43 44 48 43 46 40

Eine Liebe fürs Leben [21.3.] Der Mondmann [14.3.]

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s. sPring BrEaKErs [stArt 21.3.]

Ein Mordsteam [21.3.] Der Nächste, bitte! [21.3.] Ostwind [21.3.] Paradies: Glaube [21.3.] Paulista [14.3.] Rubinrot [14.3.] Song for Marion [14.3.] Sofia‘s Sofia‘s last Ambulance

[14.3.]

42 Spring Breakers [21.3.] 47 The Best Offer Offer [21.3.]

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MagisCHEr MOMEnt „Pulp Fiction“. Zwei Killer, endloses Palaver, literweise Blut. Ein Meisterwerk der coolen Emphase. Von Rainer Gansera

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s.. s dEr MOndMann [stArt 14.3.]

ruBriKEn Editorial Inhalt Magazin E-Mail aus Hollywood Im Kino mit ... Vorschau + TV-Beilage

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Wortgewandter Jungstar Auch ein Stolperer konnte Jennifer Lawrence auf ihrem Weg zum „Oscar“ nicht aufhalten.

Kinder ins Kino!

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„In einer Dokumentation wurde das Ausgangsmaterial von Gott geschaffen. Im fiktionalen Film ist der Regisseur ein Gott: Er muss Leben erschaffen.“ alfred Hitchock, im interview mit françois truffaut („Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht?“)

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Hitchcock

KiNO

Landschaft mit Vögeln Am 28. März jährt sie die Premiere von „Die Vögel“ zum 50. Mal. Von seinem Schrecken hat der Film nichts verloren. Wie Alfred Hitchcock das Horror-Genre revolutionierte.

Von Daniel Kothenschulte

A

lfred Hitchcocks Erfolgskarriere hatte ihre eigene Tragik. Unter zwei Dingen litt der „Master of Suspense“ besonders: dass er sich wie Cary Grant fühlte – aber wie Alfred Hitchcock aussah. Und dass niemand in Hollywood Anstalten machte, ihn als Künstler anzuerkennen. Dieses Trauma löste sich erst, als er die Verehrung seines jungen Kollegen François Truffaut erlebte, der im August 1962 nach Hollywood reiste, um ihn für sein legendäres Filmbuch „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ zu interviewen. Da hatte „Hitch“ gerade die Dreharbeiten seines

ebenso beklemmender wie sachlicher Horror technisch anspruchsvollsten Films abgeschlossen, der wie viele andere seiner Meisterwerke Filmgeschichte schreiben sollte: „Die Vögel“. Inzwischen ist „Die Vögel“ 50 Jahre alt. Trotzdem ist der Film ein bis heute selten erreichtes Vorbild an Realismus im fantastischen Kino, im Katastrophen- wie auch im Monsterfilm. Truffauts eigener Science-Fiction-Thriller „Fahrenheit 451“, der vier Jahre nach „Die Vögel“ entstand, scheint von seiner ebenso beklemmenden wie sachlichen Stimmung inspiriert. Mittlerweile kann man Truffauts Filmbuch-Beststeller nicht nur lesen, sondern auch hören: Die Tonbänder des Interviews sind frei im Internet zugänglich. Und wie so

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KiNO

Hitchcock vieles in Hitchcocks Werk haben sie nicht nur ihre Faszination behalten, sondern – erschlossen durch die modernen Medien – noch weitere Facetten hinzugewonnen. Man hört, wie Truffaut seine Eindrücke unmittelbar nach der Privatvorführung einer vorläufigen Fassung von „Die Vögel“ noch bündeln muss, doch Hitchcock überfällt ihn geradezu mit dem Stolz auf die erreichten Raffinessen. Auf die „neue elektronische Musik

„Die Vögel repräsentieren alles, was wir nicht verstehen und nicht kontrollieren können.“

robin Wood (in der dokumentation „alles über ‚the Birds‘“)

aus Deutschland“ zum Beispiel, die Truffaut gar nicht aufgefallen war: Komponiert und eingespielt auf einem neuartigen Instrument, dem Trautonium von Remi Gussman und Oskar Sala, ersetzt sie die Vogelstimmen und untermalt den Horror in der Klangsprache Neuer Musik. Oder einen Regieeinfall aus Stummfilmtagen, einen Live-Musiker auf dem Set: Ein Schlagzeuger hatte höchst wirkungsvoll zur Verunsicherung der Darsteller in jener Szene beigetragen, in der sie, in einem Haus verschanzt, den Angriff der Vögel erwarten. Noch dreieinhalb Jahrzehnte später wird die Hauptdarstellerin Tippi Hedren im abendfüllenden „Making of“-Dokumentarfilm (zu finden auf der DVD- und Blu-ray-Edition zu „Die Vö-

Bitte füllen Xextexxx Blindtesre Mchexx

Ein fulminantes Beispiel für Hitchcocks Genie im Spannungsaufbau: Hinter dem Rücken von Tippi Hedrens Figur braut sich wirkungsvoll das Unheil in Gestalt der Vögel zusammen.

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gel“) über die aufreibende Wirkung dieser Lärmattacken klagen. Wie immer ahnt man als Zuschauer nichts vom Aufwand hinter dem Ergebnis. Und wie immer ist das Vergnügen im Nachhinein noch größer, wenn man darüber weiß. Heute spricht Tippi Hedren noch offener über die Schrecken der Dreharbeiten. Etwa die Szene, in der sie allein einen Dachboden voller Vögel betritt, bei denen es sich nicht, wie abgesprochen, um mechanische Nachbildungen handelte. „Jeder hatte mich belogen. Erst am Drehtag kam ein Regieassistent auf mich zu und sagte, die mechanischen Vögel hätten nicht funktioniert, also hätte man echte beschaffen müssen“, erzählte die heute 83-Jährige im Dezember 2012 gegenüber dem „Daily Telegraph“. Die Tortur, bei der Hitchcock nur selten persönlich anwesend war, dauerte eine Woche. Als ein Arzt die körperlich und seelisch verletzte Debütantin krank schrieb, mussten die Dreharbeiten unterbrochen werden. „Hitchcock sagte: ‚Sie kann sich nicht ausruhen, wir haben niemand sonst für die Rolle.‘ Der Doktor entgegnete: ‚Was haben Sie denn vor? Versuchen Sie, sie umzubringen?‘“ Zuletzt behandelte Sasha Gervasis’ Bio-Pic „Hitchcock“ die Dreharbeiten


Der Schrecken war echt: Für den Dreh der legendären Dachboden-Attacke der Vögel schickte Hitchcock seine Hauptdarstellerin durch ein wahres Martyrium.

von Hitchcocks Film „Psycho“ (ab 14.3 im Kino), doch die Darstellung der Titelfigur durch Anthony Hopkins wirkt geradezu verklärend. Die Produktion von „Die Vögel“ und dem Folgefilm „Marnie“ (1964) steht im Mittelpunkt eines besseren, wenn auch deutlich kritischeren Spielfilms über Alfred Hitchcock: In der HBO-Fernsehproduktion „The Girl“ (Regie: Julian Gerald, in Großbritannien gerade auf DVD erschienen) geht es um das von dauer-

schattenseiten des regie-Großmeisters hafter sexueller Belästigung geprägte Verhältnis Hitchcocks zu seiner Entdeckung Tippi Hedren: „Damals gab es keine Gesetze dagegen, aber wäre es mir heute passiert, wäre ich reich an Entschädigung.“ Lange hatte Hedren darüber geschwiegen. Noch 1999 ließ sie sich von der Produktionsfirma Universal engagieren, um beim Filmfestival Locarno eine restaurierte Fassung von „Die Vögel“ vorzustellen und verzierte Autogramme mit Vogelbildern.

Mehr Horrorfilm als Thriller, hat „Die Vögel“ so viele Nachahmer gefunden, dass man leicht übersehen kann, wie neuartig die Kombination von GenreElementen auf das Premierenpublikum vor 50 Jahren gewirkt haben muss. Schon in seinem vorausgegangenen Thriller „Psycho“ hatte Hitchcock Stilmittel des B-Films der Autokinos aufgenommen und dabei die „Exploitation“, das Spekulative, ins Künstlerische überhöht. Nun nahm er eine Kurzgeschichte der britischen Bestseller-Autorin Daphne du Maurier, deren Roman „Rebecca“ Hitchcock 1940 verfilmt hatte, zum Anlass, weiter ins HorrorGenre vorzudringen. Das B-Kino der 1950er-Jahre strotzte nur so von monströsen Tieren – von der Riesenspinne „Tarantula“ über die „Fliege“ bis zur „Wespenfrau“. Doch was wäre, wenn sich das Harmlose plötzlich ins Böse verkehrte, ohne dabei seine Gestalt zu verändern? Was geschähe, wenn sich die friedliche Allgegenwart der Vögel plötzlich gegen eine Menschheit richtete, die

endlich im richtigen format Auf den bisherigen DVD-Editionen von „Die Vögel“ war ein beschnittenes 4:3-Format zu sehen. Die neue Blu-ray (Universal) bietet das originale Breitwand-Format (1.85:1).

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Hitchcock

Jahrtausende lang Hähnchenschenkel und Hühnereier verzehrte – ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen? Zwar enthält sich die Filmerzählung um eine junge Frau, die sich nach dem Erwerb zweier Singvögel den Angriffen mordlustiger Vögel ausgesetzt sieht, die eine malerische nordkalifornische Kleinstadt terrorisieren, der

seitenhieb auf menschliche Untaten Moralisierung. Doch in den Trailern, die Hitchcock im Stil seiner Fernsehmoderationen inszeniert, sinniert der Meister offen über die Fragen von Huhn und Ei – und beklagt mit treuem Blick die menschlichen Missetaten am Federvieh. Schließlich muss sich das Publikum selbst schuldig fühlen am Unheil, das es erwartet. Nach seinem erst posthum anerkannten Meisterwerk „Vertigo“ (1958) verlässt Hitchcock in „Die Vögel“ abermals die sicheren Gefilde eines psychologischen Unterbaus, mit dem seine Thriller Maßstäbe gesetzt hatten. Und

Hitchcock: die Blu-rayCollection Universal bietet in einer Collection auf 14 Blu-rays zahlreiche Meisterwerke Hitchcocks. Das Ergebnis überzeugt mehr als alle bislang erschienenen DVDEditionen. „Marnie“ und „Die Vögel“ können endlich im richtigen Breitwandformat genossen werden. Außerdem ist es nun möglich, die HD-Abtastung, die Farben, Kontraste und Kadragen, sprich: die Bilder insgesamt neu zu entdecken. Die hohe Bildqualität lässt zwar die Künstlichkeit der MattePaintings und der Rückpro-

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Horror mittels „composite shot“

Wie ein Trickspezialist der Disney-Studios Hitchock dabei half, Tippi Hedren mittels Rückprojektion aufs Wasser zu bringen, erfährt man in der Dokumentation „Alles über ‚The Birds“ (siehe unten).

jektionen klarer zutage treten – insgesamt aber profitiert der Filmgenuss. Bedauerlich ist nur, dass die Blu-ray von „Topas“ (1969) nur eine gekürzte Fassung

enthält. Außerdem ist es unpraktisch, dass die Filme nur als Paket zu haben sind: Bis auf „Psycho“ gibt es keine Einzelausgaben der Filme. jög

HiTCHCOCK-„COlleCTiON“ 14 Blu-rays in Acryl-Box und Buch, mit Schmuckkarten und Booklet. Filme: „Saboteure“ (1942) „Im Schatten des Zweifels“ (1942) „Cocktail für eine Leiche“ (1948) „Das Fenster zum Hof“ (1954) „Immer Ärger mit Harry“ (1955), „Der Mann, der zu viel wusste“ (1955) „Vertigo (1958),,Psycho“ (1960), „Die Vögel“ (1963,), „Marnie“ (1964), „Der zerrissene Vorhang“ (1966), „Topas“ (1969), „Frenzy“ (1972), „Familiengrab“ (1976). Anbieter: Universal

er öffnet sich dem Unerklärlichen und Übernatürlichen. Fast möchte man in „Die Vögel“ einen Gegenentwurf zu den Tier- und Märchenfilmen Walt Disneys sehen: Wie waren Schneewittchen, Cinderella und Dornröschen die Vögel zu Diensten gewesen? Tatsächlich wäre Hitchcocks Film ohne das Disney-Studio nicht zu realisieren gewesen: Jeden Tag wurden die Aufnahmen dorthin geschickt, wo sie der Trickspezialist Ub Iwerks bearbeitete. Die Kombination von Tier- und Schauspieleraufnahmen entstand nach dem gleichen Prinzip, nach dem auch Disney seine „composite shots“ kreierte: Dort arbeitete man nicht mit BlueScreens, sondern mit gelben Sodiumlampen. So gab es keine störenden Farbränder beim Extrahieren der Komponenten. Der Aufstand der Vögel bot in der vom Existenzialismus geprägten Nachkriegskultur ein reiches Interpretationspotenzial: War er Ausdruck des Zorn Gottes nach den Verbrechen zweier Weltkriege? Oder im Gegenteil ein Beleg für eine gottverlassene Schöpfung? Drehbuchautor Evan Hunter, der sich weit von der Vorlage entfernte, verhandelt diese Fragen in einer eindrucksvollen Szene, die in einem Diner spielt. Angesichts der Attacken der Vögel, die sie durch die Glasfenster

Genrekino mit philosophischer Untiefe beobachten, debattieren die „Eingeschlossenen“ über die apokalyptischen Zeichen – während vor ihren Augen eine Tankstelle explodiert und sich die Protagonistin mit knapper Not in eine Telefonzelle flüchtet. Erst jetzt, in Reaktion auf die Verschwörung der Natur, kommt Hitchcocks Interesse an der Psychologie zum Tragen. Melanie, die von Tippi Hedren gespielte Protagonistin, wächst in der Not über sich hinaus, verliert ihre Selbstbezogenheit und entdeckt schließlich ihre Liebesfähigkeit. Aufatmen kann man mit den Darstellern allerdings erst bei der Schlusseinstellung: einem Sonnenaufgang mit Krähen.

Fotos: ddp images/SIPA, Universal (Screenshots aus “Hitchcock Collection - Limited Edition”), Archiv

KiNO


hitchcocK [14.3.]

Keine Vertragsblondine Wie Hitchcock den Horror entdeckte

Fotos: Jeweilige Filmverleihe

Ein dicker Mann tänzelt durchs Foyer. Durch die geschlossene Tür des Kinosaals dringt das Aufjaulen der Streicher und das Geschrei des Publikums. Der Film „Psycho“ ist bei seiner berüchtigten „Duschszene“ angelangt – und aus dem „Meister des Suspense“, der sich gerade schelmisch über den Horror freut, ist ein „Dirigent des Schreckens“ geworden. Man schreibt das Jahr 1960, als Alfred Hitchcock nach „Der unsichtbare Dritte“ und weiteren 45 Filmen bereits einige Nachahmer seiner düsteren Thriller ausgemacht hat. „Hitchcock“ erzählt von dieser Zeit des Umbruchs in der Karriere eines großen Mannes, die der Film an zwei Faktoren festmacht: dem Filmstoff, der Hitchcock mit Robert Blochs gleichnamigem Roman in die Hände fiel; und seiner Ehefrau, der Drehbuchautorin und Cutterin Alma Reville, die ihrem Mann

und seinen Filmen immer den Rücken stärkte. „Was wäre, wenn jemand wirklich Gutes einen Horrorfilm machen würde?“ Das fragt Hitchcock seine Frau Alma, die seinen Spleen für den blutigen Stoff von „Psycho“ ungefähr so „erfreulich“ findet wie die Vertreter der Paramount-Studios und die Zensoren. Hitchcock stößt auf Kopfschütteln und leere Hände, so dass er das gemeinsame Haus verpfänden muss, um „Psycho“ auf eigene Faust zu finanzieren. Die prekären Szenen machen die Dreharbeiten zum Kleinkrieg der Details, während „Hitchs“ Privatleben in einen Kalten Krieg abrutscht. Er unterhalte kleine FantasieAffären mit seinen „Vertragsblondinen“. So schimpft Alma, die sich nach Grace Kelly nun mit Janet Leigh konfrontiert sieht und von den „Spleens“ ihres Mannes endgültig die Nase voll hat. Unter Hitchs misstrauischem Blick versucht Alma, selbst

Scope | USA 2012

Musik: Danny Elfman

regie: Sascha Gervasi Buch: John J. McLaughlin, Stephen Rebello Kamera: Jeff Cronenweth

darsteller: Anthony Hopkins (Alfred Hitchcock), Helen Mirren (Alma Reville), Scarlett Johansson (Janet Leigh), Danny Huston (Whitfield Handwerk

InHalt

ein bisschen Glück beim gemeinsamen Überarbeiten eines Drehbuchs mit Hitchcocks ehemaligem Co-Autor Whitfield Cook zu finden. Weshalb bei den Hitchcocks die Zeichen bald auf Sturm stehen. Der umso heftiger bläst, als der reale Serienkiller Ed Grein, auf dem Blocks Roman „Psycho“ fußt, dem Regisseur in gruseligen Visionen erscheint. Dass nicht nur Whitfield ohne Almas Hilfe keinen Pfennig wert ist, sondern auch Hitchcock selbst, muss der Meisterregisseur bald einsehen und vor allem auch zugeben. Diese späte Hymne auf die starke Frau hinter dem erfolgreichen Mann im Rampenlicht ist denn auch das ganz persönliche Anliegen eines Films, der mit all seinen kleinen Anspielungen auf Hitchcocks Werk und Wirken zu mehr wird als zu einem Film über einen Filmdreh. In dieser Beziehung verläuft Sacha Gervasis Porträt ohnehin wesentlich glatter als seine fiktiv nachgestellten Chaos-Dreharbeiten am Set von „Psycho“: Die Besetzung der namhaften Schauspieler der

Vergangenheit ist genauso gelungen wie Anthony Hopkins‘ Darstellung des Ausnahmeregisseurs. Mit schierer Freude am Mimikry verschränkt Hopkins die Arme über dem gewaltigen Vorbau, geht ins Doppelkinn und wendet sich mit aufgeschürzten Lippen direkt an die Zuschauer. Spitzfindig versucht Hopkins’ Hitch sich durch die Zensur des HaysCodes zu winden oder den Verleih anzukurbeln, indem er Sicherheitspersonal fordert, falls Zuschauer Amok laufen. Hier wird nicht zuletzt auch vom Kampf für künstlerische Freiheit und gegen den finanziellen Ruin eines scharfsinnigen Onkels erzählt, der eher liebenswert verfressen als anzüglich manipulativ erscheint. Das Herz dieses AusstattungsKinos schlägt dabei ohnehin für Hitchs Liebesbeziehung zu Alma, für die kleinen Kabbeleien und die verletzende Eifersucht – was für Sacha Gervasis Hofknicks vor Hitchcocks Filmen ebenso gilt wie für den von Hitch vor seiner Frau Alma – keiner Vertragsblondine. Kathrin Häger

BeWertung der fiLMKoMission Als Alfred Hitchcock der Roman „Psycho“ in die Hände fällt, will er den Stoff gegen alle Widerstände adaptieren. Seine Frau Alma unterstützt ihn dabei, obwohl Hitchcock den Film aus eigener Tasche finanzieren muss und es auch um ihre Ehe nicht zum Besten bestellt ist. Eine Hommage an Hitchcock und seine Art des Filmeerzählens, wobei sich die anekdekotenreiche Verbeugung als späte Hymne auf Alma Reville erweist. Eine von starken Darstellern und einer anspielungsreichen Inszenierung getragene Ausstattungskomödie. – Ab 14.

Cook), Toni Colette (Peggy Robertson), Michael Wincott (Ed Gein), Jessica Biel (Vera Miles), James D’Arcy (Anthony Perkins) Länge: 98 Min.

fsK: ab 12; f Verleih: Twentieth Century Fox Kinostart 14.3.2013 fd-Kritik: 41 588

darsteller

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