Kinder- und Jugendfilmkorrespondenz 04 15

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KInDER JugEnD

FILm Korrespondenz

04 2015

DÜSTERE ZUKUNFT „Die tribute von Panem“ und andere Filme handeln vom Erwachsenwerden in einer dystopischen gesellschaft.

JUGEND UND TOD

Dem tod schon früh nahe? Überraschend viele aktuelle Jugendfilme erzählen über das Sterben.

„ 4 KÖ N I G E “

Heiligabend in der Psychiatrie: Jugendliche erleben ihr ganz eigenes „Fest der Liebe“.

Regelmäßige Beilage

FILm des FILMDIENST DIEnSt www.filmdienst.de www.fi lmdienst.de

infos 01_Titel_KJK_04_2015.indd 1

KuRAtORIum JungER DEutScHER FILm FÖRDERVEREIn DEutScHER KInDERFILm AKADEmIE FÜR KInDERmEDIEn StIFtung LESEn

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Inhalt

DEBATTE 6 eine bunte Herausforderung Von anja Flade-Kruse IN KÜRZE 8 Aktuelle infos & meldungen EIN FILM, AUF DEN WIR UNS FREUEN 24 „Arlo & spot“

26 „DAS SCHICKSAL IST EIN MIESER VERRÄTER“

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„DIE TRIBUTE VON PANEM“

IM FOKUS 26 Herbst im frühling. Jugendliche und sterben Von stefan stiletto 28 erwachsenwerden in Dystopia Von natália Wiedmann 34 fBW Jugend filmjury: es geht voran Von Holger twele 35 fBW Jugend filmjury: Beträchtliche lernerfolge Von reinhard Kleber 36 Den kenn ich doch! (4) Von Christian exner 38 schlafenszeit! „unser sandmännchen“ Von Marguerite seidel 39 Das tschechische Abendmännchen Von Volker Petzold 42 festivals: münchen, lucas und schlingel Von Holger twele 44 festival: doxs! Von Barbara Felsmann 45 festival-entdeckungen Von Katrin Hoffmann, Holger twele, Christel strobel AKTEURE 32 interview mit theresa von eltz zu „4 Könige“ Von Barbara Felsmann 37 reihe: Der persönliche Klassiker (4) „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ Von Christel strobel 40 schnittstelle europäischer Kinderfilm: KiDs regio Von reinhard Kleber BREVIER 46 förderverein Deutscher Kinderfilm e.v. 48 Akademie für Kindermedien 50 STIFTUNG LESEN

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„FACK JU GÖHTE!“

KURATORIUM JUNGER DEUTSCHER FILM INFORMATIONEN NO. 72 52 talente fördern, talente begleiten Von Diana Iljine 55 Kino für flüchtlingskinder 56 Huhn oder ei? case-study zu „Der Pfad“ Von rüdiger Bertram 58 „5 filme...“ Von ayat najafi 60 Projekt „ein Aus Weg“. Von Hannah stragholz und simon steinhorst 62 news 63 DvD-tipps

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„KAUWBOY“

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Inhalt

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KRITIKEN (KINO & DVD) VORSCHULE 10 ritter trenk Von thomas lassonczyk 6+ 11 12 13 14 15 16

Der kleine Prinz Von Marguerite seidel Der Junge und die Welt Von stefan stiletto v8 – Die rache der nitros Von thomas lassonczyk Die melodie des meeres Von stefan stiletto Hilfe, ich hab meine lehrerin geschrumpft Von natália Wiedmann in Kürze 6+

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„DIE MELODIE DES MEERES“

10+ 16 Der große tag Von Marguerite seidel 17 Pan Von Felicitas Kleiner 18 conducta – Wir werden sein wie che Von Holger twele 19 erinnerungen an marnie Von Jörg gerle 20 familienbande Von Kirsten taylor 21 Buenos Dias, Prinzessin Von Katrin Hoffmann 14+ 22 the Diary of a teenage Girl Von Kathrin Häger 23 4 Könige Von Kirsten taylor

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„4 KÖNIGE“

Die nächste KJK (1-2016) erscheint am 4. februar 2016.

IMPRESSUM Kinder- und jugendfilm Korrespondenz (KjK)

dreipunktdrei mediengesellschaft mbH, Heinrich-Brüning-Straße 9, 53113 Bonn (0228) 26 000-163 (Redaktion), (0228) 26 000-257 (Anzeigen), (0228) 26 000-251 (Vertrieb) Die KJK erscheint viermal im Jahr als ständige Beilage des FILMDIENST Geschäftsführer: Theo Mönch-Tegeder Chefredakteur: Horst Peter Koll Redaktion: Stefan Stiletto Layout: Wolfgang Diemer, Köln Anzeigenverkaufsleitung/Verantwortlich für den Inhalt der Anzeigen: Martin Werker (werker@dreipunktdrei.de) Vertriebs- und Marketingleitung: Urs Erdle (erdle@dreipunktdrei.de) Bestellungen und Anfragen: vertrieb@filmdienst.de E-Mail: redaktion@filmdienst.de, Internet: www.filmdienst.de Gefördert durch:

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DEBAttE: WAS ISt KInDERFILm?

Eine bunte

In Abwandlung von André Bazins „Was ist Film?“ fragen wir regelmäßig an dieser Stelle: „Was ist Kinderfilm?“ Womit wir zur Debatte über das beitragen wollen, was Kinderfilm ist, was er nicht ist, was er sein kann und sein sollte. Im Fokus des aktuellen Beitrags steht eine persönliche Reflexion über das Schreiben für Kinder. Von Anja Flade-Kruse

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Debatte: Was ist Kinderfilm?

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Herausforderung!

Foto: „Der stärkste Mann der niederlande“, 2011, nl Film

ich erinnere mich. filmhochschule. innen. tag. im großen Kino schnattern schulklassen bunt durcheinander. sie sind eingeladen zur Premiere des Kinderfilms „flachschwimmer“. Mein erstes Drehbuch, das verfilmt wurde! Ob sie merken werden, dass ich am anfang meines studiums eigentlich gar nicht genau weiß, wie Drehbuchschreiben geht? Dass die geschichte viel mit mir und meinem erleben als Kind zu tun hat? Ich sitze aufgeregt zwischen den Kindern. unerkannt. es wird dunkel im saal, der Film beginnt. anfängliches Quatschen und Kichern legt sich, als die geschichte Fahrt aufnimmt: eine Dreiecks-liebesgeschichte. zwei unterschiedliche Jungs, ein selbstbewusstes Mädchen. Jeder Witz, der nicht zündet, bereitet mir förmlich körperliche schmerzen. Über ein Jahr haben wir das Drehbuch entwickelt, hätten beinahe die grundidee verloren, als die redakteurin befürchtete, dass das schreiben von liebesgedichten zu unmodern wirkt, und sie fragte, ob nicht stattdessen tolle e-Mails verfasst werden könnten. ein langer, steiniger entwicklungsprozess liegt hinter mir, uns, den jetzt auf der leinwand keiner sehen kann. es wird hell, die Kinder klatschen. Ich bin erleichtert. scheinbar hat es ihnen gefallen. Kinder zeigen sehr deutlich, wenn sie gelangweilt sind oder etwas doof finden. es ist kein Verstecken möglich hinter intellektuellen ergüssen zu eigentlich missglückten szenen. Weil Kinder nur interessiert, was sie sehen, filmisch erleben. und nicht, was sich irgendwann irgendwer dabei gedacht hat. Fast 15 Jahre später, um einige erfahrungen im schreiben reicher, glaube ich noch immer an das authentische, das Wahrhaftige, das kleine und große zuschauer in einem Film erspüren

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können, das gute von schlechten Filmen unterscheidet. Ich glaube an starke, überraschende Figuren. und an Konflikte, Konflikte, Konflikte. Weil Menschen daran wachsen, manchmal sogar über sich hinauswachsen. Weil Kinder manches als bedrohlich empfinden, Konflikte weh tun können und manchmal unlösbar erscheinen, aber Filmhelden ihnen zeigen können, wie sie damit umgehen, wenn nicht alles glatt läuft. anders als im wirklichen leben können sich im Film Probleme sehr schnell in luft auflösen. zwischen einem Happy end und der nicht allzu einfachen lösung einer geschichte die Balance zu finden, ist schwer. Herausfordernde geschichten leicht und heiter erzählen und eine authentische, reale lebenswelt kreieren, das will ich schaffen. Keine BaumhausVillen-Idylle mit vorhersehbaren geschichten und Bildern wie aus der Werbung. aber auch keine Problemfilme für Kinder erzählen, die sie nur notgedrungen anschauen. Jeder will eine herausfordernde geschichte bunt, lustig und spannend aufschreiben, könnte man jetzt dazwischenrufen. stimmt, aber nur wenigen gelingt das. Weil im entwicklungsprozess eines Drehbuches dann eben doch die alleinerziehende, gern mal eine Flasche rotwein trinkende Mutter mit Hang zum Chaos, die am rande eines hässlichen Industriehafens mit ihrem sohn lebt, zu deprimierend erscheint und durch eine farblosere oder überzeichnete Figur ersetzt wird. In dem fantastischen Film „Der stärkste Mann der niederlande“ (niederlande 2011) wird gezeigt, wie eben diese Mutter sehr sympathisch wirken kann.

ten. um sie stark zu machen für das, was leben heißt. Wie großartig, wenn die Menschen im Kino lachen und weinen. Diese emotionen möchte ich Kindern nicht vorenthalten. Dabei fühle ich mich beim schreiben immer wieder wie damals, an der Filmhochschule: unsicher, von Versagensängsten geplagt, angewiesen auf Mitstreiter, die mir den rücken stärken, mit mir gemeinsam diesen Weg gehen wollen. und ertrage tapfer, wenn meine Kinder die bunten, omnipräsenten großproduktionen und eben nicht die kleinen Filmproduktionen ohne geld für viel Werbung als ihre lieblingsfilme nennen. sie sollen dennoch beides kennenlernen. schließlich schaue ich auch viele verschiedene Filme und kann doch sagen, welcher Film mich wirklich tief berührt hat und mir im gedächtnis bleibt. solche Filme möchte ich für Kinder schreiben. Mit der Gefahr, zu scheitern. •

anja flade-Kruse Geb. 1978 in Jena, freie Drehbuchautorin seit 2006. Studium der Dramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf; Abschlussfilm: „Seemansbräute“ (2006, mit Solveig Willkommen). Das im Rahmen der Spielfilmgruppe der Akademie für Kindermedien 2007/08 entwickelte Drehbuch „Jump for Life“ wurde mit dem Preis der Mitteldeutschen Medienförderung ausgezeichnet. 2013 erhielt ihr Treatment zu „Die Brüder Boateng“ eine Projektförderung im Rahmen der Initiative „Der besondere Kinderfilm“. Seit mehreren Jahren schreibt sie zudem für die Fernsehserien „Kikaninchen“ und „Löwenzähnchen“ sowie für „Großstadtrevier“.

filmografie (Auswahl) „Änderungen vorbehalten“ (1997, mit Anne-Kristin Jahn) „flachschwimmer“ (2001) „Bei uns“ (2002) „micha – jetzt lebe ich“ (2013) „die Brüder Boateng“ (2013/14)

Ich wünsche mir, dass ich als Drehbuchautorin mehr wage, dass ich mehr in die alltagsfähigkeiten der Kinder vertraue, mehr Mut aufbringe, ihnen etwas zuzutrauen, gar zuzumu-

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Kritiken Vorschule

Ritter trenk in den Kinderzimmern hat sich „ritter trenk“ dank Büchern und fernsehserie längst als populäre marke breit gemacht. Jetzt wurde mit der umsetzung in einen Kinofilm die nächste stufe der Verwertungskette erreicht. ganz wie in den Vorlagen der autorin Kirsten Boie steht auch in der leinwandversion der arme, aber sehr mutige Bauernjunge trenk tausendschlag im zentrum des geschehens. als dessen Vater vom ausbeuterischen lehnsherren Wertolt unschuldig in den Kerker geworfen wird, entschließt er sich, ritter zu werden. Kein einfaches unterfangen, denn dafür muss er zunächst einmal das ritterturnier des Fürsten gewinnen. Kann er dann auch noch einen Drachen, der im tiefen Wald sein unwesen treibt, besiegen, hat trenk einen Wunsch frei, mit dem er dann die Freiheit seines Vaters wiedererlangen will. auf seiner abenteuerlichen Mission wird der tapfere Knabe von vielen getreuen gefährten unterstützt, darunter das lustige Hausschwein Ferkelchen, der listige gaukler Momme-Mumm und thekla, die tochter des edlen ritters Hans von Hohenlob, die alles andere als ein braves Burgfräulein ist. sie alle sorgen dafür, dass trenks anstrengungen am ende auch belohnt werden. ab 5

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Bei der umsetzung der launigen story, die einige aufregende und viele komische elemente enthält, setzen die genreerfahrenen Filmemacher um regisseur anthony Power („Die abrafaxe“) und Produzentin Corinna Mehner („Hexe lilli“) auf klassischen zeichentrick ohne digitalen schnickschnack und ohne dreidimensionale tiefe. so erinnern die meisten Figuren mit ihren klaren, einfach strukturierten, dafür aber umso lieblicheren wie putzigen gesichtern an Wicki, Heidi und Maja, die legendären serienhelden der 1970er-Jahre aus der japanischen animationsschmiede zuiyo enterprises. Dass den Bildern die tiefe fehlt und die Hintergründe simpel gezeichnet sind, fällt kaum ins gewicht. stattdessen dominiert eine variantenreiche Farbpalette, die von den düsteren, schwarz-grauen tönen des Köhlerwaldes bis zu kräftigem gelb, grün und rot der an den goldenen Herbst erinnernden Bäume um den Palast des Fürsten reicht. Darüber hinaus lebt „ritter trenk“ von der exakten zeichnung seiner Hauptwie auch nebenfiguren. so sorgen sidekicks wie das getreue Ferkelchen oder der hilfsbereite anführer der gauklertruppe Momme-Mumm für viel Harmonie und Humor, während im fiesen ritter Wertolt ein glaubwürdiger

Bösewicht den kleinen Helden das leben schwer macht, am ende aber seiner wohlverdienten strafe zugeführt wird. Wie gut sich spannung und spaß die Waage halten, wird auch im Charakter des nur auf den ersten Blick furchteinflößenden feuerspeienden Drachen deutlich, der sich letztlich als treusorgende Mama und eingefleischte Vegetarierin entpuppt. unterstützt wird das ritter-abenteuer, das in seiner Verspieltheit und optimistischen grundstimmung auch für Kinder im Vorschulalter bereits geeignet ist, von gut gewählten synchronstimmen (allen voran axel Prahl als erzähler und Hans von Hohenlob) sowie einem ansprechenden Mix aus fröhlicher Orchestermusik und hippen Pop-songs wie „ritterlich“ der Hamburger HipHop-Formation Deine Freunde. und wer aus der Coming-ofage-geschichte etwas lehrreiches über Kameradschaft und zusammenhalt sowie treue und Vertrauen ziehen möchte, ist hier ebenfalls gut aufgehoben. Thomas Lassonczyk im Kin0. ritter trenK Deutschland/Österreich 2015. Produktion: Blue Eyes Fiction/Wunderwerk/Dor Film/Universum Film/ZDF. Regie: Anthony Power. Buch: Gerrit Hermans, nach der Kinderbuchreihe „Der kleine Ritter Trenk“ von Kirsten Boie. Musik: Deine Freunde. Länge: 80 Min. FSK: ab 0; f. Start: 5.11.2015. Verleih: Universum. Empfohlen ab 5.

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Kritiken 6+

Der kleine Prinz

Was wäre geschehen, wenn der Bruchpilot in Antoine de saint-exupérys berühmtem Buch die Geschichte vom kleinen Prinzen nicht notiert hätte? Wenn er alt und grau geworden wäre, ohne dass Millionen Menschen dem zauber eines der meistgelesenen literarischen Werke erlegen wären? Vielleicht wären die erkenntnisse um den einzigartigen blonden Jungen vom asteroiden B 612 mit dem Piloten zu grabe getragen worden. Vielleicht hätte niemand sich daran erinnert, dass „das Wesentliche für die augen unsichtbar“ ist. Was wäre aus der Welt geworden? „Kung Fu Panda“-regisseur Mark Osborne spießt seine adaption des „Kleinen Prinzen“ von einer überraschenden seite auf. er bettet das zeitlose Märchen in eine in 3D animierte Handlung ein, die in einer von kapitalistischen Prinzipien durchwirkten Wettbewerbsgesellschaft spielt. Mit dem alternativlosen ziel, zu den zukünftigen leistungsträgern zu gehören, wird ein namenloses Mädchen von seiner Mutter zum „High Potential“ gedrillt. als sie jedoch durch die aufnahmeprüfung einer renommierten schule fällt, ziehen Mutter und tochter kurzerhand ins einzugsgebiet der schule. Das einzige Haus, das sich die beiden in der schicken neubaugegend leisten können, grenzt an eine alte windschiefe Villa, neben der keiner wohnen will. Die sommerferien beginnen, und der „lebensplan“ an der Wand im Wohnzimmer sieht für das Mädchen nur eines vor: lernen, lernen, lernen. Doch der ab 9

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schrullige alte, der in der Villa nebenan lebt, bastelt im garten an seinem schrottreifen Flugzeug und reißt es mit einer explosion jäh vom schreibtisch. er entschuldigt sich dafür per Papierflugzeug, gefaltet aus der ersten seite des „Kleinen Prinzen“. In dem Mädchen findet der ehemalige Pilot endlich eine leserin seiner erzählungen, von denen bisher niemand etwas wissen wollte. so werden die einzelnen Kapitel aus dem Buch nach und nach in die Handlung eingestreut, aber nicht nur das: sie werden darin gespiegelt und weitergesponnen. Wie der kleine Prinz vom Fuchs lernt, was Freundschaft bedeutet, lernt es das Mädchen vom alten Piloten. Waren die kuriosen „großen leute“, denen der kleine Prinz auf seiner reise begegnete, noch bemitleidenswerte allegorien der eitelkeit, der gier, des Machthungers, so sind sie in der durchökonomisierten gegenwart des Mädchens zum Massenphänomen geworden. Blieb der kleine Prinz sich im Buch immer treu, gerät er hier auf abwege. Dieses spiegeln, eindampfen und auswalzen der Buchvorlage zu einem filmischen Drama mit gegenwartsbezug, das sich allem voran dafür stark macht, dass Kindheit nicht durch leistungsdruck und gesellschaftliche zwänge ausgelöscht wird, mag auf manche liebhaber des Originals befremdlich wirken – und doch funktioniert der Film erstaunlich gut. Der transfer auf die zwar reichlich zugespitzte, aber mögliche lebenswelt des Mädchens bietet dem anvisierten jungen Kinopublikum eine lesart an, die mehr als 70 Jahre

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nach erscheinen des Buchs die ungebrochene aktualität von saint-exupérys gesellschaftskritik und humanistischer Botschaft fassbar macht. Welche rolle „Der kleine Prinz“ für die selbstbewusstwerdung spielen kann, zeigt sich an der entwicklung des Mädchens. Das Märchen springt über in dessen realität, bis sich Fantasie und Wirklichkeit sogar zu einer fulminanten, hollywood-reifen Weltenrettung vermengen. Der „american touch“ der regie ist in der französischen Produktion an dieser stelle unverkennbar und sorgt für einen opernhaften ausschlag des Films, dessen tonfall sich sonst an den schwebenden Melodien der Chansoneuse Camille orientiert. Die Besonderheit des Films schlechthin ist freilich die ungewöhnliche Verbindung von CgI und stopptrick. Das Hier und Heute ist zeitgemäß per Computer animiert. Die perfekte Brillanz der Bilder gibt dem umfeld des Mädchens, einer entseelten Planstadt mit glatten Oberflächen, scharfen Kanten und gedeckten Farben, den letzten unmenschlich wirkenden schliff – bedeutungsschwere ausnahme ist das bunte Durcheinander beim alten Piloten. Quasi als Hommage an das papierne Buch entfaltet sich das universum des kleinen Prinzen buchstäblich aus den notizen und zeichnungen des Piloten. eine seite zerreißt zum Wolkentunnel, ein stück Klebeband wird zum trampelpfad. Die liebevoll aus Papier hergestellten Figuren und landschaften ähneln saint-exupérys unverwechselbaren zeichnungen und strahlen deren Magie aus. Der Bruchpilot hat die geschichte also doch noch erzählt. Überliefert wird sie durch Mark Osborne in dieser sehenswert eigenwilligen Vision, in der nun das Mädchen an der reihe ist, die geschichte weiterzuerzählen. Der kleine Prinz kann seine reise fortsetzen. Marguerite Seidel

im Kin0. le Petit PrinCe Frankreich 2015. Produktion: ON Animationstudios, Onyx Films, Paramount Pictures. Regie: Mark Osborne. Drehbuch: Irena Brignull, Bob Persichetti, nach dem Roman „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Musik: Hans Zimmer, Richard Harvey, Camille. Schnitt: Matt Landon, Carole Kravetz Aykanian. Länge: 106 Min. FSK: n.n. Start: 10.12.2015. Verleih: Warner. Empfohlen ab 9.

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Im Fokus: Jugend und Sterben „Coconut Hero“

wenn jugendliche im Kino sterben (wollen)

Herbst im Frühling Die Auseinandersetzung mit Sterben und tod ist längst nicht mehr nur ein Kino-thema, das sich an ein älteres Publikum richtet. gerade in den letzten Jahren entstanden zunehmend Filme über den tod junger menschen – erzählt für junge menschen.

Von Stefan Stiletto

Wenn das eine romantische Komödie wäre, behauptet Greg einmal, dann würde rachel ihm nun in die Arme fallen und im „Herbst ihres lebens“ altkluge Dinge sagen. tut sie aber nicht. Denn „Ich und earl und das Mädchen“ ist vielmehr ein Drama. rachel ist an leukämie erkrankt. und auch wenn greg mehrfach betont, dass sie überleben wird, ist dies doch nur eine lüge. Wie rachel sterben einige der jungen Protagonisten im aktuellen Jugendkino. sterben ist, so makaber dies klingen mag, ein trendthema. Warum nur ausgerechnet der tod? Warum beschäftigen sich Filme wie „Ich und earl und das Mädchen“, „Das schicksal ist ein mieser Verräter“ oder „Death of a superhero – am ende eines viel zu kurzen tages“ mit dem ende des lebens, wenn es doch normalerweise im Jugendfilm um etwas ganz anderes geht: um rebellionen –

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gegen die eltern, die erwachsenen oder die Welt an sich –, um liebesglück und liebeskummer, um den aufbruch, das Hinausschreiten in die Welt, die selbstständigkeit, die selbstbestimmung? Die Konfrontation mit dem tod scheint all diesen themen zunächst einmal den garaus zu machen. Bei näherem Hinsehen aber zeigt sich, wie dieser Kontrast manch eine klassische geschichte nur umso intensiver erstrahlen lässt – und es oft gar nicht so sehr um den tod geht als vielmehr um das leben.

lernen, alleine zu leben Das ist etwa bei „Ich und earl und das Mädchen“ der Fall, wahrscheinlich auch, weil dieser nicht die Perspektive der an Krebs erkrankten rachel einnimmt, sondern von greg. nur seiner Mutter zuliebe besucht er seine schulkameradin, um dieser Beistand zu lei-

sten. Weil er das auch offen zugibt, lässt rachel ihn in ihr zimmer. schließlich ist er ja nicht aus Mitleid da. tatsächlich wird der Film nicht zu einer romanze, sondern erzählt nur vom Beginn einer kurzen, aber sehr besonderen Freundschaft – und von der notwendigkeit, loslassen zu lernen. greg muss akzeptieren, dass er allein zurückbleiben wird. aber rachel wird auch zu einer Mentorin, die gregs leben eine neue richtung gibt und die ihn dabei unterstützt, ein wenig erwachsener zu werden. aus dem anfangs recht orientierungslosen, selbstbezogenen Drifter wird jemand, der sein leben auf einmal in die Hand nimmt. Immer wieder suchen die Filme dabei den Vergleich und durchbrechen die erwartungen. Wie sich der cineastisch ohnehin sehr selbstreflexive „Ich und earl und das Mädchen“ von der romCom distanziert, so stimmt auch Hazel zu Beginn von „Das schicksal ist ein mieser Verräter“ darauf ein, dass dies nun eine traurige geschichte werde. Boy meets girl. Boy loses girl. Boy gets girl: Diese erfolgsformel für eine romanze unter jungen Menschen hat eine neue Variante erhalten. Heute lautet sie – mit austauschbaren geschlechterrollen – oft eher: Boy meets girl. girl dies. In „Das schicksal ist ein mieser Verräter“ verliebt sich die 16-jährige, an schilddrüsenkrebs erkrankte Hazel Hals über Kopf in den zwei Jahre älteren gus, einen ehemaligen sportler, dem nach einer Knochenkrebserkrankung ein Bein amputiert wurde. lange wehrt

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Im Fokus: Jugend und Sterben

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Fotos: twentieth Century Fox/Majestic

„Ich und Earl und das Mädchen“

sich Hazel dagegen, die Freundschaft als das zu sehen, was sie schon immer war: eine liebesbeziehung. sie will eine gewisse Distanz, um gus nicht zu verletzen und sich selbst zu schützen. Dass der tod über beiden schwebt und stets präsent ist – auch der „Überlebende“ gus ist nicht in sicherheit –, macht die große tragik aus. Vermutlich wird diese dadurch umso stärker, weil die liebe nicht aufgrund von Differenzen scheitert, sondern weil alles perfekt ist und die beiden, die sterne sind schuld, doch nicht zusammenbleiben dürfen. In nachrufen aufeinander offenbaren die Jugendlichen im schutz des nahenden todes des Partners ihre gefühle, wie sie es sonst vielleicht nicht über die lippen gebracht hätten. Die Beschwörung der ewigen liebe: erst das nahe ende macht sie möglich und erstickt jeden Kitsch-Vorwurf in großen, ehrlichen gefühlen. und wenn es die unendliche liebe schon nicht im leben geben kann, so ist diese romantische Vorstellung im tod durchaus aufgehoben. eine normale rom-Com kann ihr Publikum beim Happy end nur in eine alltägliche, und somit sehr störanfällige zukunft entlassen.

intensiv lieben und leben im Hier und Jetzt Kostbarer aber wird nicht nur die liebe, sondern auch der alltag. Die lebensbedrohliche erkrankung wird zum anlass, das leben so intensiv wie möglich auszukosten. In kürzester zeit muss all das erlebt werden, was zu einem Jugendleben gehört, von der ersten liebe bis

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zum ersten sex. „riskiere etwas“, fordert gus Hazel einmal auf. Hazel soll endlich ihr sicherheitsdenken hinter sich lassen und etwas wagen. auch Donald, ebenfalls an Krebs erkrankt, ist in „Death of a superhero“ überrascht, als er auf shelly trifft: ein Mädchen, das ohne schutzhelm, ohne Versicherung und ohne Führerschein Motorrad fährt. und das ihn mitnimmt. um nichts anderes geht es, als wieder selbst zu bestimmen, wie das leben verlaufen soll. Das hat durchaus etwas Befreiendes, auch trotzig-rebellisches. neu an diesem Film ist der realismus im umgang mit der Krankheit. Wo rachel und insbesondere Hazel ihr schicksal recht abgeklärt akzeptieren und ihr leid elegant zugunsten von glücksmomenten weitgehend ausgeklammert wird, ist Donald einfach nur wütend und verleiht seinem Frust in Form düsterer graffiti und Illustrationen ausdruck. „Death of a superhero“ schwankt zwischen grob animierten Comic-Fantasien, in denen Donald symbolisch seine Ängste verarbeitet, dem tod gegenübertritt und so wieder etwas mehr Kontrolle über sein leben gewinnt, und bittersüßer Melancholie in gestalt der aufkeimenden liebesgeschichte und macht so Donalds ambivalente gefühle spürbar. ein leben zwischen den extremen, wie unter einem Brennglas.

sterben wollen Wie eine gegenbewegung wirken da zwei Filme, in denen die Jugendlichen nicht Opfer und dem tod ausgeliefert

sind, sondern ihn vielmehr umarmen wollen. „about a girl“ und „Coconut Hero“ beginnen beide mit einem gescheiterten selbstmordversuch der jugendlichen Protagonisten, die danach plötzlich noch mehr unter Beobachtung stehen. In beiden Filmen sind es interessanterweise keine großen sorgen oder nöte, die als ursache für den suizid herangezogen werden. somit vermeiden die Filme, die eher als Komödien angelegt sind, eine allzu problemorientierte Deutung. auch hier befreit die todessehnsucht die Protagonisten allmählich. Kann man erst durch die Konfrontation mit dem tod lernen, wie man lebt? Dass all diese Filme, auch jene, in denen eine Hauptfigur stirbt, dennoch auf ihre eigene art lebensbejahend sind und anschlüsse an eigene lebenserfahrungen eröffnen, macht ihre besondere Qualität aus. selbstverständlich ist das nicht. Wenn junge Filmemacher im alter von 14 bis 18 Jahren selbst über suizide erzählen – das zeigt sich etwa bei den zahlreichen jährlichen einreichungen zu diesem thema beim Deutschen Jugendvideopreis –, dann sind ihre Filme oft weit pessimistischer. Im gegensatz zu den professionellen Produktionen ist der tod bei ihnen oft ein endpunkt oder eine tragische, wenngleich für sie akzeptable Problemlösung. so kann das sterben im Jugendfilm beides sein. eine Chance. Oder ein Nichts. • „ich und earl und das mädchen“ startet am 19.11.2015, Verleih: Fox, Langkritik in FILMDIENST 23/2015.

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Im Fokus: gute-nacht-geschichten

Schlafenszeit! Eine Wiederbegegnung mit „unser Sandmännchen“ nach etwa 30 Jahren. gedanken über charme und Weltbild der liebenswerten Einschlafhilfe. Von Marguerite Seidel

sandmann, lieber sandmann, es ist endlich soweit. seitdem mein sohn alt genug ist, darf ich ihn nach ungefähr 30-jähriger Pause jeden Abend wieder sehen. und nichts hat sich verändert: das lied, der niedliche Puppentrickrahmen mit der unverwechselbaren sandmännchen-Figur, der kleine Fernseher, die traumsandwolke, das augenreiben! Der zauber der Kindheit und das beruhigende gefühl, ein allabendliches zu-Bett-geh-ritual zu haben, sind plötzlich wieder da, als wären sie nie weg gewesen. auch mein sohn erlag dem sandmann und seinen geschichten sofort. Doch mit jeder Folge klärte sich mein nostalgie-vernebelter Blick mehr auf, und ich begann mich zu fragen, ob die sendung vielleicht doch hoffnungslos von gestern ist. schließlich versprühen viele der inzwischen historisch gewordenen rahmenproduktionen „Made in DDr“ nicht nur den Charme einer vergangenen zeit, sondern auch verstaubte lebensentwürfe und bedenkliche Klischees. Kann ich heutzutage die Maghreb-Maschrek-region noch guten gewissens mit turban tragenden Kindern in seidigen gewändern und spitzpantoffeln zeigen? Überhaupt, warum tragen Kinder in fremden ländern stets landesübliche tracht, als handle es sich um lebensferne Folklore-aufführungen? und ist die heile (um-)Welt, in denen indigene Völker zuhause sind, nicht eine irritierende Illusion angesichts ihrer Bedrohung? Vom reiseschwerpunkt des

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sandmanns in sozialistische Bruderländer und einer Prise DDr-Ideologie (leistungssport treibende Kinder, Ferienlager, arbeit, Fortschritts- und technikglaube) mal ganz abgesehen. Kopfschütteln bereiten außerdem zum teil die eingespielten gute-nacht-Filme auch neueren Datums, in denen Dinge geschehen, die sehr nebelhaft oder schlichtweg etwas dümmlich daherkommen. „Warum?“, heißt es bei uns zuhause oft, sobald das sandmännchen sich verabschiedet hat. Ja, und warum schlägt unser Herz dennoch für den kleinen Mann und seine geschichten? Weil zum Beispiel Figuren wie die erdmännchen Jan und Henry oder der kleine König einfach genial sind. Humorvoll, klug und treffsicher spiegeln und spielen sie mit kindlichen gedanken, Hirngespinsten und Verhaltensmustern. Weil heute keiner mehr wie die älteren Pittiplatsch, Herr Fuchs oder Frau elster spricht und es bei ihren Diskussionen immer lustige Wendungen zu entdecken gibt. und schließlich, weil es keine andere sendung gibt, die sich traut, so launisch wie ein Kind zu sein. Heute pädagogisch wertvoll, morgen nonsens, übermorgen eine traumschöne geschichte. Dass die Filme immer für eine Überraschung gut sind, indem sie mal achselzucken, mal zufriedenheit oder Fragen verursachen, zieht zum kritischen Hinschauen heran. abgesehen von wenigen Filmklassikern im Weihnachtsprogramm ist „unser sandmännchen“ fast die einzige gele-

genheit für Kinder, mit Fernsehgeschichte in Berührung zu kommen. Der „wilde“ Mix traditioneller und moderner animationstechniken bietet alternative seherfahrungen im digitalen einheitsbrei und macht deutlich, wie einmalig liebevolle Handarbeit sein kann. Obwohl man manche sandmann-rahmengeschichten fragwürdig finden kann, sind diese Folgen als Dokumente einer vergangenen zeit zu betrachten, die interessanterweise im gegensatz zu anderen älteren Fernsehsendungen heute immer noch in den Bann ziehen – so wie ein guter Western oder andere nicht unbedingt politisch korrekte Filme. Man kann das sogar als glücksfall bezeichnen, weil diese Folgen eltern geradezu auffordern, mit ihren Kindern darüber zu reden. Da sind die neu produzierten rahmengeschichten, die im menschenlosen reich der spielsachen und tiere angesiedelt sind, eskapistischer. es sei denn die gegenwart bricht ein in Form einer achtlos in den Wald geworfenen Konservendose, in der sich ein tier verfängt. Der sandmann befreit es und wächst mit seinen Aufgaben. • die erste folge von „unser sandmännchen“ wurde am 22.11.1959 beim deutschen fernsehfunk der ddr ausgestrahlt – noch wenige Wochen vor dem „Sandmännchen“ beim westdeutschen SFB. Während das West-Sandmännchen 1989 eingestellt wurde, gibt es die Sendung „Unser Sandmännchen“ bis heute. Als Produktion des RBB wird sie im Filmpark Babelsberg hergestellt und beim RBB, MDR sowie KiKA gezeigt. Alte Folgen wiederum wurden teilweise neu vertont oder um eine neue Rahmenhandlung ergänzt. Zahlreiche Klassiker der Serie, aber auch neuere Produktionen gibt es auf DVD bzw. Blu-ray (Anbieter: Sony Music Entertainment).

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