FURIOS 22 - Was heißt hier Tabu?

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SOMMER 2019 AUSGABE 22


Editorial

Liebe Kommiliton*innen, wieso halten wir uns tagtäglich an unausgesprochene Regeln und Verbote? Sind manche davon überhaupt noch zeitgemäß? In dieser Ausgabe widmen wir uns Fragen rund um ungeschriebene Gesetze, die aufgrund bestimmter Anschauungen innerhalb einer Gesellschaft verbieten, bestimmte Dinge zu tun« – so sind Tabus im Duden definiert. Ist Humor befreit von Grenzen? Darüber streiten unsere Autor*innen auf Seite 11. Die Cartoons unseres Ewigen Ehemaligen kennt jede*r, doch nur wenige den Mann dahinter. Wie Uli Stein seine Studienzeit an der FU verbracht hat und Deutschlands bekanntester Cartoonist geworden ist, lest ihr auf Seite 16. Gut aushalten lassen sich die Unitage auch in einem der ältesten Studicafés der FU, dem PiCafé. Auf Seite 18 begibt sich unsere Autorin auf dessen Spuren. Dieses Jahr feiert Berlin 30 Jahre Mauerfall. Anlässlich des Jubiläums hat unser Politikautor ehemalige FUStudierende ausfindig gemacht und stellt ab Seite 26 ihre Geschichten vom Leben hinter der Mauer vor.

Alltagssexismus ist weit verbreitet, aber wie lässt sich die Problematik kreativ bekämpfen? Auf Seite 30 beschäftigt sich unsere Kulturredakteurin mit der Initiative Not an Object. Das Projekt hält individuelle Sexismuserfahrungen auf Fotos fest und macht so auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam. Schon mal vom Afrika-Lehrstuhl an der FU gehört? Nein? Den gibt es auch nicht. Afrika-Expertin Uschi Eid kritisiert auf Seite 36 die unausgeglichene deutsche Forschung und prangert den verzerrten westlichen Blick auf den afrikanischen Kontinent an. Existent, aber dennoch weitgehend unbekannt sind die Ombudspersonen an der FU. Welche Funktion sie erfüllen und wieso die mit einigen Problemen verknüpft ist, haben unsere drei Autoren auf Seite 34 recherchiert. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen und bedanken uns bei allen, die dieses Heft mitgestaltet haben! Josefine Strauß und Rabea Westarp

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Inhalt der 22. Ausgabe TITELTHEMA: TABU

POLITIK

05 Taburätsel

22 »Jeder Mensch ist Sexist*in«

Tabus lauern überall. Errätst du, welche hier gesucht werden?

06 »Eine Welt ohne Tabus ist unvorstellbar« Im Gespräch mit Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff gehen wir dem Ursprung des Tabus auf den Grund.

08 Hanfseile und Nervenstränge Beim Bondage, einer BDSM-Praktik, gibt man die vollkommene Kontrolle über seinen Körper ab. Wie fühlt sich das an? Ein Selbstversuch.

10 Anamnese Humor Antonia und Elias verstehen sich. Im Streitgespräch zeigt sich, dass ihre Auffassung von gutem Humor dennoch weit auseinander geht.

13 4 aus 40.000 Vier FU-Angehörige verraten, welche Tabus sie aus ihren Herkunftsländern kennen.

14 Lebe lieber ungeplant Jung und unverheiratet schwanger werden – früher ein Tabu, aber wie sieht es heute damit aus? Eine junge Mutter erzählt von ihren Erfahrungen.

15 Ein Tabu wie ein bellender Hund Mit der eigenen Unwissenheit hält man in der Uni oft lieber hinter dem Berg. Eine Glosse.

CAMPUS 16 Ewiger Ehemaliger: Zeichnungen eines Unpolitischen Seine Cartoons kennt jede*r – aber wer ist der Mann dahinter? Cartoonist Uli Stein im Portrait.

18 Der freischwebende Raum Auf der Suche nach den Anfängen des PI-Cafés, eines der ältesten Studicafés der FU.

20 Wo bin ich hier gelandet? FU-Studierende schildern ihre kuriosen Erlebnisse beim Feiern und auf Reisen.

38 Der empörte Student Sein Erasmus-Semester hat sich unser empörter Student ganz anders vorgestellt. Über die vielen falschen Vorstellungen, die ihm vor dem Auslandsaufenthalt vermittelt wurden, ärgert er sich.

03 Editorial 38 Impressum

Im Interview erläutert Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch, weshalb wir Wert auf politisch korrekte Sprache legen sollten.

24 Das Juwel einer gespaltenen Stadt Ein Auslandssemester in Jerusalem: Ein Bericht über gewonnene Erkenntnisse und unerwartete Zwischentöne.

26 Flucht nach Westberlin Der Mauerfall liegt 30 Jahre zurück. Rekonstruktion einer Fluchtgeschichte.

27 Der König fährt im Opel vor Wie haben DDR-Bürger*innen, die an der FU studierten, das geteilte Berlin erlebt?

Taburätsel

Titel

Tabus lauern überall. Errätst du, nach welchen gesellschaftlichen Sitten und Bräuchen, Verboten und No-Gos hier gesucht wird? Von Elias Fischer

1) Katholische Universalentschuldigung für alle Vergehen. 2) Die Würde des Genitals ist unangetastet. 3) Schlechte Antwort bei der Trauung! 4) BVB-Spieler, der nicht angebetet werden darf. 5) Ehemalige Seifenoper »... Liebe« 6) In Indien nur mit rechts essen, weil man mit links was abwischt? 7) Kritisch beäugte Verzehrweise von Eis. 8) Der Hund ziert dieses Kleidungsstück seniler Faschos.

9) In Großbritannien niemals betrunken darauf reiten. 10) In die Suppe… 11) ...ender ...pay ...ap 12) Lollipop der Hand 13) In China darf man niemanden davor retten, Pamela täte es trotzdem. 14) Süßer Schnitzer in der Mayonnaise. 15) Bleiben im Islam nicht auf den Teppich. 16) Unsichtbare Hautschicht - Do not come any closer!

17) »Wir erzählen einfach, dass wir uns im Café kennengelernt haben!« 18) Nach eigenen Angaben allmächtig Falco besingt diesen Typen. 19) Lebensweise verlangt Vielehenbett. 20) Mit 1000 Euro monatlich bist du in Deutschland noch betroffen. 21) Nach jüdischem Speisegesetz darf Fleisch nicht zusammen womit gelagert werden? 22) Für zwei Millionen Menschen in Deutschland sind die Buchstaben im Rätsel die größte Hürde (totaler ...)

KULTUR 28 Wort Frei! FU-Studierende präsentieren ihre Gedichte.

29 Die geklaute Rubrik: Bravo-Fotolovestory Diesmal klauen wir die Fotolovestory aus der Bravo. Wie wird der Flirt mit dem sexy Dozenten enden?

30 Eine Kampfansage ans Patriarchat Der Verein »Not an Object« bietet Alltagssexmus die Stirn. Mit ihrem Fotoprojekt machen sie auf die Thematik aufmerksam.

32 Nächster Halt: Albanien Kreativität überschreitet Grenzen – auch Ländergrenzen. Dieses Ziel hat auch die Filmwerkstatt der FU mit ihrem neuen Dokumentarfilmprojekt über das Leben in Albanien.

WISSENSCHAFT 33 Mit schwarzem Gold gegen den Klimawandel Pflanzenkohletechnologie senkt den CO2-Ausstoß bei der Herstellung und Anwendung gleichermaßen. Das kann auch die Abfallentsorgung in ganz Berlin verändern.

34 Keine Hilfe? Ombudsleute sollen Wissenschaftler*innen bei Konflikten am Arbeitsplatz unterstützen und wissenschaftliches Fehlverhalten aufklären. Aber es fehlt an Transparenz und Zugänglichkeit.

36 »Afrika-Forschung ist eine Mangelware in der deutschsprachigen Wissenschaft« Die Afrika-Expertin Uschi Eid kritisiert die unzureichende und ideologisch verklärte Forschung über das Thema Afrika sowie die fehlende Anwendung der Ergebnisse.

Lösungen: 1) BEICHTE 2) JUNGFRAEULICHKEIT 3) NEIN 4) GOETZE 5) VERBOTEN 6) ARSCH 7) BEIßEN 8) KRAWATTE 9) KUH 10) SPUCKEN 11) GPG 12) DAUMEN 13) ERTRINKEN 14) ZUCKER 15) SCHUHE 16) KOMFORTZONE 17) TINDER 18) MACHO 19) POLYGAMIE 20) ARMUT 21) MILCH 22) ANALPHABETISMUS Lösungswort: TABU

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Elias Fischer löst Schwedenrätsel gerne falsch.

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Titel

Titel

Jede Gesellschaft ist geprägt von Tabus. Aber wie kommt es überhaupt erst dazu, dass wir Dinge als verpönt betrachten? Und was nützen uns diese stillen Übereinkünfte? Jürgen Brokoff klärt im Gespräch mit FURIOS, was Tabus ausmacht, wie sie sich verändern und was Madonna damit zu tun hat.

Wie würde eine Welt ohne Tabus aussehen? Restlose Auf klärung, vollständige Säkularisierung (lacht). Nein, das ist eine hypothetische Frage. Es wird immer Themen geben, die im Sinne eines Tabus nicht hinterfragt oder diskutiert werden – was vielleicht auch gut so ist. Eine Welt ohne Tabus ist unvorstellbar. Ich bin aber eher tabukritisch eingestellt. Um sich an Tabus abzuarbeiten, ist es notwendig, diese zu hinterfragen, zu kritisieren und die Kommunikation am Laufen zu halten. Denn Kritik ist die Feindin des Tabus. Sie ist schon der halbe Weg zu seiner Entzauberung. Was genau ist denn überhaupt ein Tabu? Der Begriff kommt aus dem Polynesischen. Das Tabu geht mit Geboten und Verboten, also dem Erwünschten und zu Unterlassenden, einher. Es lassen sich drei Richtungen unterscheiden: Gesellschaftliche Tabus, zu denen der Inzest zu zählen ist und politische Tabus, zu denen die Unverhandelbarkeit individueller Menschenrechte gehört. Im Bereich der Kunst geht es eher um Tabubrüche als um Tabus. Wir erwarten von Kunstschaffenden, dass sie kritisch sind und dass sie heikle Themen ansprechen, die sonst keiner anspricht und insofern Tabus brechen. Woher kommen diese Tabus?

»Eine Welt ohne Tabus ist unvorstellbar« Interview: Josefine Strauß und Jette Wiese Foto: Tim Gassauer

Menschen allein haben keine Tabus. Es sind Gesellschaften, die Tabus haben. Diese entstehen prozesshaft in einer stillschweigenden, nicht infrage gestellten Übereinkunft. Sie treten nicht zufällig auf den Plan, aber es gibt auch kein klares Verfahren, aus dem sie sich entwickeln. Früher hat die Kirche viele Tabus gesetzt, heute hat die Bedeutsamkeit religiöser Tabus abgenommen. Gibt es denn heute noch so eine Instanz, die Werte und damit Tabus setzt? Heute gibt es kaum mehr eine Steuerungsinstanz, die Tabus setzt und aufrechterhält. In geschlossenen Gesellschaften existiert sie noch zur Erhaltung von Macht, in offenen Gesellschaften hingegen nicht mehr. Der Religionsbezug und die Kirche als Akteurin sind bei uns kaum noch von Belang, außer in einem kleinen Restbestand, was zum Beispiel den Umgang mit Sexualität angeht. Warum

gibt

es

dann

überhaupt

noch

Würde des Menschen als unverhandelbar gesetzt werden. Wir würden wahrscheinlich zögern, das ein Tabu zu nennen, aber es ist tabu, diese anzuzweifeln. Das Tabu ist nicht die Unverletzlichkeit der Menschenwürde selbst, sondern die Infragestellung des Ganzen. Da zeigt sich der Nutzen von Tabus: Sie helfen, den Umgang der Menschen miteinander zu regeln. Wird in den sozialen Medien lockerer mit Tabus umgegangen? Von niemandem wird der Holocaust so häufig geleugnet wie von anonymen User*innen im Netz. Das Internet ist somit ein Ort der politisch heiklen Tabubrüche. Ich glaube nicht, dass im Internet mehr Tabus geschaffen werden. Aber es ist einfacher, vorhandene zu brechen. Kann dieser Tabubruch in sozialen Medien auch eine Chance sein? Social Media macht Inhalte transparent und erfüllt deshalb auf jeden Fall immer eine kritische Funktion, wie alle anderen Kommunikationsarten auch. Es muss einen Ort des Austauschs über möglichst viele Themen geben - das ist meine Definition einer offenen Gesellschaft. Eine offene Gesellschaft hat nicht viele Tabus. Vielleicht einige wenige, wie zum Beispiel die Offenheit selbst infrage zu stellen. Diese sollte nicht angezweifelt werden, weil dann ihre Funktionsgrundlage zerstört wird. Oder die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die nicht hinterfragt wird - das ist ein berechtigtes Tabu. Die Sängerin Madonna fällt gerne mit offener Sexualität und Freizügigkeit auf. Wenn diese Tabubrüche kritisiert werden, klingt oft die Sorge vor Orientierungslosigkeit mit. Kann man in einer offenen Gesellschaft mit wenigen Tabus leben und trotzdem die Orientierung darüber behalten, was geschützt werden muss? Nur ganz wenige Dinge müssen geschützt werden, wie etwa Toleranz. Solche grundlegenden Werte bestehen auch ohne Tabus. Wir brauchen diese demnach nicht für eine gesellschaftliche Ordnung oder damit wir uns noch an irgendwas festhalten können. Insofern wäre ich ganz auf der Seite der tabubrechenden Madonna.

Tabus?

Gesellschaften brauchen auch in heutigen Zeiten Bereiche, über die sie nicht mehr verhandeln müssen. Diese gelten so selbstverständlich, dass man sie durch nichts und niemanden mehr anzweifeln möchte. Wenn man so will, kann auch die

Josefine Strauß und Jette Wiese trinken für jedes »Tabu«. im Text einen Schnaps auf der Releaseparty. Madonna hat schließlich auch so angefangen.

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Titel

Titel

Hanfseile und Nervenstränge Text: Rabea Westarp Fotos: Thilo Kunz

Bondage & Discipline – zwei sadomasochistische Praktiken, bei denen sich Partner*innen bis zur Bewegungsunfähigkeit fesseln. Das ist nicht ungefährlich: Gerade komplizierte Hängepositionen und Knoten erfordern Fachwissen und Expertise. Wie fühlt es sich an, die vollkommene Kontrolle über meinen Körper abzutreten? Ein fesselnder Selbstversuch.

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ass Clyo eine Sadistin ist, die Spaß daran hat, Menschen ihre Bewegungsfreiheit komplett zu rauben, denkt man auf den ersten Blick nicht. Freundlich bietet die junge Frau mir einen Platz auf dem Sofa in ihrem gemütlichen Wohnzimmer an. An der Wand hinterm Sofa hängen Seile, ordentlich nach Länge sortiert. Von der Decke herab baumelt eine Bambusstange von immensem Durchmesser, gehalten von massiven Haken.

Nachdem Clyo den Platz unter der Bambusstange mit Decken gepolstert hat, hocken wir uns gemeinsam hin. Sie erklärt mir, wo meine Nervenbahnen in Armen, Beinen und Händen verlaufen und wo ihre Seile später aufliegen werden. Die Hände möchte sie mir auf dem Rücken fixieren. »Die werden vielleicht etwas kribbeln und später dann taub werden. Aber das ist okay, da geht nichts kaputt«, versichert sie mir. »Du kannst es auch einfach genießen.« Okay.

In diesem Wohnzimmer nimmt die Bondagekünstlerin regelmäßig Menschen in Empfang, denen sie in Workshops beibringt, wie man Andere fesselt. Meist sind es Paare, die das »Shibari« – so nennt man die aus Japan stammende, meist erotisch konnotierte Fesselkunst – von ihr lernen wollen. Aber Clyo gibt nicht nur ihr Wissen weiter: Sie bietet auch Sessions an. Wer zu ihr kommt, lässt sich von ihr fesseln, an die Decke hängen und dominieren. Dabei, das sagt sie mir ganz offen, geht sie gern sadistisch vor. Clyo fügt Menschen gerne Schmerzen zu – solange das einvernehmlich geschieht. Die meisten ihrer Partner*innen stehen auf Schmerzen. Was sie mit ihren Seilen so anstellt, werde ich heute am eigenen Leib erfahren.

Dann geht es los: Clyo kniet hinter mir und ich kann nicht genau sehen, was sie da macht – aber sie ist verdammt schnell. Obwohl sie die Knoten immer wieder löst und neu bindet, bin ich in Windeseile bewegungsunfähig. Mit den Knien hocke ich auf dem Polster und ein Fingerstoß von ihr würde genügen, um mich wie einen nassen Sack umzukippen. Während sie knotet, erklärt sie mir genau, wie sie mit normalen Klient*innen vorgehen würde. Denn mich dominiert Clyo heute nicht mit Strafen und Schmerzen, sie bietet mir lediglich einen Einblick in ihre Kunstfertigkeit. »Es ist auf jeden Fall befriedigend, wenn mir die Knoten gut gelingen. Ich mache das so lange neu, bis ich zufrieden bin.« Für sie ist das Fesseln eine Art Entspannung. Für die »subs«, die sie verschnürt, ist das meist ein sexuell höchst erregendes Erlebnis. Ebenso für Clyo, die als »dom«, also die Dominierende, für den Zeitraum der Session die volle Verantwortung für das ihr unterwürfige Individuum übernimmt. Dieses Hobby konnte sie nicht immer so ausleben wie in Berlin.

»Mir ist wichtig, dass wir zuerst genau absprechen, was wir heute machen wollen. Konsens ist das Wichtigste«, stellt Clyo klar. »Du kannst mir jederzeit sagen, wenn dir etwas zu viel wird, wenn ich auf hören oder eine Pause machen soll.« Das beruhigt mich, aber ich bin ohnehin eher gespannt als besorgt. Die Atmosphäre in Clyos Appartment ist so entspannt und sie so ausgesprochen freundlich, dass ich keine Angst davor habe, mich gleich komplett in ihre Obhut zu begeben und später von der Decke baumeln zu lassen. So eine Bondage-Session braucht einiges an Vorbereitung.

Ursprünglich kommt Clyo aus der Türkei. Erste Erfahrungen mit der BDSM-Szene machte sie erst in Deutschland, als sie für ihr Studium an der FU herzog. »Dort, wo ich herkomme, ist das ein ziemliches Tabu.«

Doch auch hier blieb sie nicht verschont von Unverständnis und Belästigungen. Es gab, so erzählt sie mir, Phasen, in denen sie massiv gestalked wurde. Ein Mann hatte auf Instagram neben ihrem Künstlerinnenaccount, auf dem sie ihre Shibari-Kunst präsentiert, auch ihren privaten gefunden. Schnell hatte sich ihr als anrüchig geltendes Hobby herumgesprochen und für Unverständnis und Spott gesorgt. Über Monate wurde sie in Nachrichten belästigt, sogar ihre Familie und Freund*innen wurden bedrängt – nur wegen ihrer als anrüchig geltenden Freizeitbeschäftigung. Anrüchig kommt mir unsere Fesselaktion gerade gar nicht vor. Allerdings bin ich auch nicht nackt, wie es eigentlich üblich wäre und Clyo sieht davon ab, mich verbal einzuschüchtern oder bewusst zu quälen. Ich bin mittlerweile ziemlich verschnürt; meine Atmung wird schwerer und die Seile schneiden tief in meine Hüfte. Clyo hat begonnen, mich an der Bambusstange hochzuziehen. Der kribbelnde Schmerz in meinen Händen wurde wie angekündigt mittlerweile von Taubheit abgelöst, was mich dann doch ein wenig beunruhigt. Mein Körper ist auf so wundersame Weise verschnürt, dass er mir ganz fremd vorkommt, wenn ich so daran herabschaue. Ein bisschen wie ein Meerjungfrauenschwanz. Plötzlich: Zack! Als wäre ich federleicht, zieht Clyo meinen Torso nochmal ein Stück an der Stange hoch und mein Kopf schwingt nun frei herab. Sofort schießt Blut hinein, ich kneife reflexartig die Augen zusammen. Clyo erklärt mir ihre weitere Vorgehensweise, richtet hier und da Seile, korrigiert Knoten. Es fällt mir nicht nur deutlich schwerer,

ihr zuzuhören. Es strengt mich wahnsinnig an, ihr überhaupt zu antworten. Nur schleppend formt meine lahme Zunge Silben. Nach einer guten Stunde sind wir fertig und ich habe meine Endposition erreicht. Mein Schwerpunkt liegt auf meiner Hüfte, wo die Seile tief einschneiden und wirklich schmerzen. Davon – und von den tauben Händen, die ich wirklich nicht genießen kann – abgesehen geht es mir erstaunlich gut. Die Haltung meines Körpers kombiniert mit der »Full-Suspension«, also dem Auf hängen des kompletten Körpers, ist ungewohnt. So ungewohnt, dass ich kaum weiß, wo oben und unten ist. Einige Momente verharre ich noch, während Clyo zurücktritt und ihr Werk kritisch begutachtet. Als sie mich herunterlässt, liege ich erstmal auf der Decke unter dem Bambus. Obwohl ich noch komplett gefesselt bin, ist das ein wahnsinnig schönes Gefühl. Der immense Druck meines eigenen Gewichts ist weg und mein Kopf füllt sich wieder mit Blut. Aber noch etwas anderes erfüllt mich: Stolz. Auch wenn der eigentlich Kraft- und Kunstakt bei Clyo lag, war die Session auch für mich unfassbar anstrengend. Das durchgehalten zu haben, fühlt sich gut an. Nachdem Clyo alle Fesseln gelöst hat, sehe ich mir schon mal einige der Bilder an, die Fotograf Thilo während der Aktion geschossen hat. Krass. Die Formen, in die ich da gewunden und gebunden wurde, sind wirklich irgendwie ästhetisch. Für mich sieht das mehr nach Kunstwerk als nach Sexspielereien aus. »Was daran ist jetzt anstößig, unsittlich?«, frage ich mich. Na klar, auf Schmerzen und irre Verrenkungen steht nicht jede*r. Dennoch haben mich Clyos Fähigkeiten tief beeindruckt. Diese Kunst sollte man anerkennen – nicht nur im stillen Kämmerlein. Rumhängen ist eines von Rabea Westarps liebsten Hobbys. Für diesen Text hat sie ihren Horizont diesbezüglich erweitert.

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Titel Humor entsteht zu einem Großteil durch Sozialisation. Dass diese nicht bei jedem identisch verläuft, zeigt Elias und Antonias Diskussion. Wie definiert ihr Humor? Humor ist, total alltägliche Sachen zu nehmen und darin das Absurde zu sehen. Humor ist Provokation. Bezeichnet ihr euch selbst als humorvoll? Ja. Ich bin zum Witzemachen quasi geboren – niemand mit solchen Ohren ist nicht lustig. (Stille) Anscheinend doch. Ja! Ich bin humorvoll. Punkt. Ob andere mich so wahrnehmen, sei dahingestellt, aber Humor braucht kein Publikum. Ich provoziere und lache, notfalls alleine. Wo endet für euch Humor? Humor hat keine definierten Grenzen. Er lebt von der Vorstellungskraft und gesellschaftlich-moralischen Grenzen. Humor hilft zu reflektieren, Kreativität zu nutzen und Provokation zu schaffen, meist in Form einer Überraschung. Humor endet, wo er Deckmantel wird für etwas Anderes. Das sind Dinge wie Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus – die Liste kann man weit, weit führen – also, wo er nur noch diskriminiert. Ihr sprecht von moralischen Grenzen. Ist Humor mit Werten verbunden?

Anamnese Humor Text: Antonia Böker und Elias Fischer Fotos: Tim Gassauer

Auf jeden Fall. Werte bestimmen letztlich, worüber jemand Witze macht. Oder sollten es zumindest: Wer kein*e Antisemit*in sein will, macht keine antisemitischen Witze. Man kann das nicht getrennt voneinander betrachten – das tun viele aber. Witze unterstützen oder negieren bestimmte Werte. Humor ist untrennbar von Werten. Andernfalls provoziert er ja nicht, regt nicht zum Nachdenken an. Humor kann eine individuelle Fähigkeit sein, Missstände zu verarbeiten, indem man diese aufgreift und absurd darstellt. Sei es als Witz, als bloße Bemerkung oder kuriose Formulierung. Aber ein Witz festigt keinesfalls Antisemitismus. Er zeigt Antisemit*innen eher, wie verwerflich sie denken. Damit zerschlägt ein Witz solche unhaltbaren Werte, statt sie zu unterstützen. Ich sage auch nicht, dass Witze das nicht potenziell können. Die Witze, die aber beispielsweise behaupten, Antisemitismus anzukreiden, machen oft genau das Gegenteil. Ein Witz über Antisemit*innen oder Antisemitismus ist etwas Anderes als ein antisemitischer Witz. Im Grunde lautet die Frage: Was ist hier die Punchline? Worüber wird wirklich gelacht? Bei einem Jüd*innenwitz lachst du doch nicht über Antisemit*innen, sondern zum Beispiel über den Holocaust. Das ist dann schlicht etwas Antisemitisches. Das kann man für eine Reihe von Witzen so fortführen. Natürlich lache ich bei solchen Witzen über die Antisemit*innen! Wer in dem Fall über Jüd*innen als Opfer lacht, versteht die Intention nicht. Es geht darum, die verwerflichen Gedanken in ihrer Absurdität zu beleuchten!

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Titel

Titel Erstmal würde ich darüber gar nicht lachen. Mir würde nicht mal ein Witz dazu einfallen. Außerdem geht die Absurdität gar nicht hervor aus dem Witz. Das könnte genauso ein*e Neurechte*r sagen. Ich behaupte: Wenn du deine Position erklären musst, dann zeigst du keine Absurditäten auf, sondern reproduzierst. Deine Intention ist in dem Fall vollkommen irrelevant. Sie macht die Aussage nicht weniger antisemitisch, homophob, sexistisch.

Einen Witz verlangt definitiv Auf klärung. Aber es liegt nicht an mir, sich die einzuholen., Dafür ist jede*r selbst verantwortlich. So wie es allen, die sich meine Witze und Bemerkungen nicht anhören wollen, freisteht, zu gehen. Genauso bin ich bereit zu gehen, wenn die Mehrheit es fordert. Das ist der Punkt: Wenn jemand nicht einverstanden ist damit, worüber du lachst, dann kann diese Person tatsächlich einfach gehen. Sie ist dann höchstens frustriert. Wenn aber eine betroffene Person so etwas hört, macht das etwas mit ihr. Das ist eine Diskriminierungserfahrung. Betroffene können sich der Wirkung nicht entziehen. Und auch mit anderen Leuten macht das etwas. Es gibt in der Psychologie reichlich Forschung, die Zusammenhänge aufzeigt zwischen Witzen über Vergewaltigungen und Gewalt gegen Frauen. Alles Gesagte bewegt eine*n in irgendeiner Weise, sobald man betroffen ist. Richtet man sich nur danach, endet das aber in völliger Selbstzensur. Opfer zu sein ist grauenhaft. Dass ich mit einem Witz nicht diskriminieren will, sondern auf klären, ist mein Anspruch an einen Witz: Provokation. Setze dich notfalls mit dem Witz und mir auseinander. Es darf nur niemand verschont werden!

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Studierende, Lehrende und andere Angestellte – über 40.000 Menschen gehen an der FU ihren Beschäftigungen nach. Seit über 10 Jahren lassen wir an dieser Stelle vier von ihnen zu Wort kommen. Diesmal haben wir Erasmusstudierende oder Studierende, die ihr Auslandssemester an der FU verbringen gefragt, welche Tabus sie aus ihren Heimatländern kennen – und welche sie erst in Berlin kennengelernt haben. Texte: Annika Grosser Fotos: Viviane Scheel

»Vielleicht ist es nicht zu 100 Prozent tabu, aber wenn ich jemandem zu früh zum Geburtstag gratuliere, korrigiert man mich in Deutschland wirklich schnell. Dabei habe ich nichts Falsches gemacht, ich wollte nur alles Gute zum Geburtstag wünschen. Aber alle meinen dann so: »Hey, nein! Es ist noch nicht mein Geburtstag. Das bringt Unglück!« Manchmal fühle ich mich da ein bisschen doof.« Ruth, Internationale Studentin aus Kanada, Psychologie, 2. Semester

Aber sind Witze nicht von unterschiedlicher Schwere? Absolut. Einige Witze beleidigen, andere reihen sich nahtlos in bestimmte Unterdrückungsformen ein. Das ist mein Problem mit dieser »Ich mache über alle Personen Witze«-Haltung. Leute glauben oft, dass das die Sache egalitärer macht. Von wegen: Du darfst einen rassistischen Witz machen, weil du dich auch über Weiße lustig machst. Es haben doch aber nicht alle Gruppen den gleichen Stand. Ein Witz über FDPler*innen ist nicht gleichrangig mit einem »Witz« über Vergewaltigungsopfer. Die Brutalität ist mit Sicherheit bei einem Witz über Vergewaltigung eine andere. Doch mit wachsender Brutalität nimmt auch das Maß an Provokation zu. Es ist offensichtlich, dass nicht alle gleichberechtigt oder gleichgestellt sind. Aber Gleichheit ist ein Zustand, den ich mir wünsche und verinnerlicht habe. Mit meinen Witzen kann ich jedes Mal wieder damit überraschen, dass Gleichberechtigung nicht allgegenwärtig ist.

»Es ist ein Tabu, während der Menstruation Kaltes zu essen. Aus Sicht traditioneller chinesischer Medizin ist das schlecht für die Gesundheit. Wenn man etwas Kaltes isst, wie Eiscreme, dann kann man sehen, dass die Periode nicht so reibungslos fließt. Aber das Thema Menstruation an sich ist kein Tabu, weil es in die chinesische Medizin integriert ist. Deshalb sehen Menschen es als ganz normale Körperfunktion an. In Taiwan, meiner Heimat, reden Leute darüber ganz normal.« Anita, Internationale Studentin aus Taiwan, Politikwissenschaften, 2. Semester

Du festigst die Ungleichheit aber eher, als sie anzukreiden.

Unterscheiden sich eure Wertvorstellungen also völlig? Jede*r soll sich frei äußern können, aber jede*r muss das Echo ertragen. Leute mit einem Humor wie meinem wandern natürlich auf einem schmalen Grat, der großes Verletzungspotential birgt. Das ist aber nicht meine Intention und die Opfer nicht die Adressat*innen meines Angriffs. Dennoch: Ich nenne mich hier gerne egoistisch, wenn ich sage, dass ich das Risiko in Kauf nehme, sollte mein Humor schlechtestenfalls nur mich erheitern. Ich glaube nicht, dass Elias ganz andere Werte hat als ich, schon aber, dass er in ihrer Umsetzung sehr inkonsequent ist. Wie gesagt: Wer sich nicht an Diskriminierung beteiligen will, macht bestimmte Witze nicht. Natürlich bedarf das einer gewissen Definition: Was sind Diskriminierungsformen? Diese zu definieren, nehme mir jetzt natürlich heraus. Oft ist das einfach ein Gefühl: Bei manchen Witzen wird dir anders. Deshalb musst du immer offen sein für Dinge, die du nicht mitdenkst. Besonders, wenn du in vielerlei Hinsicht total privilegiert bist. Das bin auch ich. ...und sie schwang ihre Hand durch’s Haar und winkte königlich ab.

(Beide lachen) Die Fragen stellte Klara Siedenburg.

Elias Fischer und Antonia Böker finden sich beide eigentlich selbst am lustigsten.

»Tabu in Frankreich sind Studentinnen, die Kinder haben. In Deutschland werden sie viel unterstützt, das ist perfekt. Aber in Frankreich ist das nicht so. Frauen, die Kinder haben, haben es im Studium sehr schwer. Es gibt auch viele Klischees über junge Studentinnen mit Kindern. Dabei sind wir im 21. Jahrhundert! Was ist das Problem mit Kindern? Ich verstehe es nicht.« Eve, Erasmusstudentin aus Frankreich, Chemie, 6. Semester

»Sex. Das ist immer das Erste, was mir einfällt. In Korea redet man nicht offen über Sex. Das ist den Menschen dort sehr unangenehm. Vielleicht spricht man mit engen Freund*innen darüber, wenn sie zufällig nicht konservativ sind, aber nicht auf der Straße oder mit Kolleg*innen. In Anwesenheit von Kolleg*innen oder Menschen, die älter sind als man selbst, würde man dieses Wort wahrscheinlich nicht einmal aussprechen.« Madeleine, Halbkoreanerin, Politikwissenschaften, PhD

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Lebe lieber ungeplant

Ein Tabu wie ein bellender Hund

Vor ein paar Jahrzehnten galt es in Deutschland noch als Tabu, jung und unverheiratet schwanger zu werden. Wie sieht das heute aus? Eine junge Mutter erzählt von ihren Erfahrungen. Text: Josefine Strauß Illustration: Antonia Böker

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ouisa* ist 19 Jahre alt, hat ihr Abi in der Tasche und will die Welt erkunden. Sie reist zwei Monate durch Ghana und Marokko und lernt dort Tim* kennen, mit dem sie einige Tage verbringt. Zurück in Berlin steckt sie ihre komplette Energie in ihr Praktikum bei einer Beratungsstelle für Migrant*innen. Kontakt zu Tim hat sie nach ihrer Rückkehr nicht mehr, er wohnt in einer anderen deutschen Stadt. Doch die Vergangenheit mit Tim holt sie ein: Louisas Tage bleiben aus. Das Plus auf dem Schwangerschaftsstreifen will sie erst nicht wahrhaben. Kinder hatte Louisa nie geplant - schon gar nicht jetzt, wo sie gerade die Zusage zum Studium bekommen hat! »Das hat gar nicht in mein Leben gepasst, ich war an einem ganz anderen Punkt«, erinnert sich Louisa. Sie will abtreiben und hofft, ihre Sorgen bei der Schwangerschaftskonfliktberatung zu klären. Die beratende Ärztin setzt sie aber nur stärker unter Druck und fordert sie auf, ihre Entscheidung zu überdenken. Auch eine Freundin redet auf sie ein: Sollte Louisa abtreiben, würde sie nie wieder mit ihr über das Thema reden. Das setzt ihr zu. »Was, wenn ich die Abtreibung bereue und den Rest meines Lebens Schuldgefühle haben werde?«, fragt sie sich. Louisa beratschlagt sich mit ihrer Familie und entscheidet sich gegen den Schwangerschaftsabbruch. Tim ist gegen die Schwangerschaft, weil sich die beiden nicht gut kennen. Trotzdem mischt er sich immer wieder ein und will mehr über die Schwangerschaft wissen. Ihre Familie unterstützt sie, dennoch hat Louisa Angst, einen Fehler zu machen. Doch mit der Zeit setzt bei ihr das Gefühl ein, dass mit dem Kind alles klappen wird. Durch Freund*innen kommt sie in ein Netzwerk für junge Schwangere. Für Louisa eine bereichernde Erfahrung: »Da waren ganz andere Fälle, ohne Familie im Hintergrund, noch viel jünger und die haben das trotzdem durchgezogen. Im hintersten Neukölln in so einem Netzwerk zu sein, das war schön.« * Name von der Redaktion geändert

Der Geburtstermin rückt immer näher, doch bis zuletzt weiß Louisa nicht, ob Tim dabei sein wird. Erst eine Stunde vor der Geburt - Louisa liegt schon in den Wehen - taucht er auf. »Es verbindet, wenn man so etwas Wichtiges miteinander teilt«, sagt Louisa. Die beiden werden tatsächlich ein Paar. Nach der Geburt ist sie viel unterwegs und reist mit der Familie und dem Kleinen umher, macht ein freiwilliges ökologisches Jahr. Knapp zwei Jahre nach der Geburt beginnt Louisa ihr Studium »Sprache und Gesellschaft« an der Freien Universität. Mit Tim teilt sie die Kinderbetreuung gerecht auf, außerdem nutzt sie die Sozialberatung vom Studierendenwerk und den Nachteilsausgleich. So kriegt sie Uni und Familie unter einen Hut, das Studium macht ihr Spaß. Auch, wenn sie es nicht mehr zwangsläufig als Tabu empfindet, jung und unverheiratet Mutter zu werden, empfindet sie den Druck nach Leistung als zu hoch in der Gesellschaft. Einige Frauen aus ihrem Bekanntenkreis haben in den letzten Jahren abgetrieben, weil sie glaubten, finanziell nicht abgesichert und der Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Auch Louisa hätte das Studium mit Kind nicht ohne ihren Freund und ihre Familie meistern können, sagt sie heute. »Dass junge Frauen nicht in alle Richtungen bestärkt werden, ist schade. Jung Mutter zu werden kann sehr schön sein, man lernt früh, Verantwortung zu übernehmen«, so Louisa. Sie weiß aber auch, dass sie Glück hat und es vielen Frauen anders geht. »Wenn sozial schwache Frauen jung schwanger werden, gelten sie schnell als prollig, als unvorsichtig. Es ist wichtig, dass man gegen dieses Stigma ankämpft.«

Josefine Strauß hat nach dem Artikel noch mehr Respekt vor (jungen) Eltern. Erst recht vor Alleinerziehenden.

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Nachfragen, Nicht-Wissen, Nicht-Gelesen-Haben ist Tabu. Über das Tabu, zuzugeben, dass man nicht alles weiß – und auch gar nicht muss. Text: Jette Wiese Illustration: Klara Siedenburg

as neue Seminar ist keine 20 Minuten alt, da fällt zum ersten Mal der Name »Marx«. Es ist das erste Semester, frisch aus der Schule an die Uni, da überrollt mich die Erkenntnis: Während ich meine Jugend mit Schwärmereien und Banalitäten verbracht habe, haben die Anderen wohl Foucault, Kant und Hegel gelesen. So lässig wie hier große Namen fallen, müssen die sich schon im Kindesalter die essentiellen Fragen des Lebens gestellt haben. Da habe ich noch im Quark gesteckt, wie meine Mutter zu sagen pflegt. Da stecke ich wohl immer noch, denke ich, und ziehe mich nichts verstehend aus der Diskussion zurück. Meine Kommiliton*innen tun das offenbar auch - abgesehen von den drei Studis, die jetzt samt Dozent einer hitzigen Kapital-

ismus-Debatte entgegenschlittern. Was sie da bereden, ist wichtig für alle und für mich, daran zweifle ich nicht. Trotzdem frage ich nicht nach. Das ist irgendwie tabu. Die stumme Menge spaltet sich: Da sind auf der einen Seite die, deren nervös zitternde Finger verraten, wie gern sie etwas sagen würden, sich aber nicht trauen. Auf der anderen Seite jene, die überhaupt nichts mehr verstehen und sich ausklinken. Was sie verbindet: Die Angst, einen Fuß über die Schwelle zur Fehlbarkeit zu setzen. Aber warum eigentlich? Haben die Jünger*innen der alten weißen Philosophen nicht zu Anfang des Seminars betont, es gebe keine blöden Fragen? Den links-liberalen Studierenden und ihren Ikonen sei es ein Anliegen, eine offene Diskussionskultur zu fördern. Wenn aber die, die eben das am lautesten brüllen, so unverständlich und ultraintellektuell sprechen, kann das nur eins heißen: In Wahrheit haben sie es selbst nicht verstanden.

Sicher ist das Gefühl, weniger als andere zu wissen, nicht ungewöhnlich an Universitäten. Aber dass es tabu ist, zuzugeben, dass man etwas nicht versteht, sollte sich schleunigst ändern. Mit schicken Worten und Namedropping, das am Ende auf halbgarem Wissen fußt, kann niemand langfristig punkten. Und das Anliegen, etwas an der Gesellschaft und ihren Missständen zu ändern, wird so zum Hirngespinst. Denn wie sollen denn Menschen mitdiskutieren, die nie Teil des Uni-Zirkus waren, wenn das nicht mal die Mehrheit der Studierenden kann? Und wie sollen Ideen unsere Welt verändern, wenn nur eine kleine Riege Auserwählter im Rahmen der Uni darüber redet – auf akademisch? Wenn das passiert, wandert all das wertvolle

Wissen auf den Olymp der alten Säcke, wo es von einem laut bellenden Tabuhund beschützt wird. Ich blicke wieder auf und sehe die drei Vorbild-Studierenden, ihre Köpfe sind hochrot angelaufen. Vielleicht hat ihnen noch niemand gesagt, dass sie viel wissen können, ohne allen anderen das Gefühl zu geben, ihnen unterlegen zu sein. Ich schmunzle, als sie ihre Fäuste in die Luft recken und ansetzen: »Proletarier aller Wissensstände, vereinigt euch!« Im Kern wollen wir sicher dasselbe.

Jette Wiese sucht vergeblich nach dem richtigen Leben im falschen. Um sich davon abzulenken, schaut sie am liebsten NDR-Dokus.

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Campus

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Der ewige Ehemalige

Zeichnungen eines Unpolitischen Jeder in Deutschland kennt seine Cartoons. Uli Stein plaudert über seine Kindheit, die Studienzeit an der FU während der Hochphase der Studierendenproteste und weshalb er sich dann doch einmal ins politische Geschehen einmischte. Text: Leon Holly und Anabel Rother Godoy Cartoon und Bild: Catprint Media GmbH

1968

gehen Studierende in Berlin auf die Straße gegen Vietnam-Krieg, Springer-Presse und Nazi-Muff. Uli Stein, damals Student an der FU, beobachtet die Proteste durch die Linse seines Fotoapparats. Vergnügt erzählt er von seinen Jahren in der geteilten Hauptstadt: »Ich war mittendrin«. Doch wirklich involviert war er nicht. Ob er Sympathien für die Forderungen der Demonstrierenden hegte? »Nein, nur für meine Fotos«. Mit denen finanziert Stein sein Studium. »Ich war eher neutral eingestellt, muss ich sagen.« Der 72-Jährige erinnert sich noch gut daran, wie anstrengend das Fotografieren der Proteste war: »Aus irgendeinem Grund demonstrierte man im Laufschritt. Damit ich die ganzen schönen Spruchbänder fotografieren konnte, musste ich noch schneller laufen. Ich bin viel, sehr viel gelaufen in der Zeit. Heute geht man bei Demos ja in beschaulichem Tempo.« Dieser Tage entzieht sich Uli Stein dem Trubel der Öffentlichkeit. Er lebt zurückgezogen auf dem Land in seiner Villa in Wedemark, nördlich von Hannover. Dort zeichnet er seine Cartoons, die ihn zu Deutschlands wohl berühmtesten Karikaturisten gemacht haben. »Cartoonist«, verbessert Stein, »denn Karikaturisten sind die, die Leute so zeichnen, dass man sie nicht wiedererkennt.« Häufig zeichnet er Tiere, vor allem Hunde, Pinguine und Mäuse, aber auch Menschen, die er in humoristische Alltagssituationen wirft. Nachts, wenn es am ruhigsten ist, begibt er sich auf Ideensuche. Das Zeichnen aber legt er auf den nächsten Tag - wobei er betont, er zeichne nicht digital, sondern noch auf richtigem Papier. So, wie Opa das früher gemacht habe. Stein hat ein rauhes Matrosenlachen, er strahlt eine zeitlose deutsche Männlichkeit aus: Typ ‘unverheirateter Tatort-Kommissar mit norddeutsch-herbem Erscheinungsbild‘. Seine rauchige Stimme ist manchmal undeutlich, die lässige Attitüde scheint sein ganzes Leben zu durchziehen. Er habe sich nie »Stress gemacht«,

der Erfolg als Cartoonist sei peu à peu gekommen. Aber inzwischen ist er da: Fast 200 Millionen Postkarten und rund 11 Millionen Bücher hat er verkauft, in seinem Online-Shop vertreibt seine Marketingagentur zudem Uli-Stein-Torten, Uli-Stein-Poloshirts und Uli-Stein-Türmatten. Persönlich ist er um Anonymität bemüht und genießt es, auf der Straße kaum erkannt zu werden. Auch mit der Presse spricht er selten, Fernsehauftritte lehnt er komplett ab. Es scheint, als wären Ruhm und Reichtum nie Steins großer Plan gewesen, als wäre das eben so passiert. Hätte es damals nicht gereicht, wäre er heute wohl trotzdem der selbe gelassene Typ. Uli Stein, Geburtsjahrgang 1946, wächst im zerbombten Hannover der Nachkriegszeit auf. Obwohl während seiner Kindheit noch Mangel herrscht, hat er die Zeit in guter Erinnerung. »Ich war ein sehr stilles Kind, spielte ungern mit anderen. Stattdessen habe ich viel gemalt und gezeichnet, Sachen für mich gemacht und viel gelesen«, blickt er zurück. Das künstlerische Talent habe er von seiner Mutter geerbt, von der Stein enthusiastisch berichtet: »Alles, was ich heute kann, egal in welchem Bereich, habe ich von ihr gelernt. Sie war sehr kreativ, hat gezeichnet, fotografiert und gedichtet.« Sein Vater, ein Beamter - Uli Stein überlegt einen Moment - »war halt da.« Er habe die Bestrafungen organisiert, wenn der Junge mal wieder etwas ausgefressen hatte, sagt Stein und lacht. Für sein Lehramtsstudium mit den Schwerpunktfächern Deutsch, Erdkunde und Biologie verschlägt es ihn nach Berlin ins beschauliche Lankwitz, wo er bei einer »netten Familie« wohnt. Seine heutige Aversion gegen Großstädte ist damals noch nicht so ausgeprägt. »Das ist ein halbes Jahrhundert her. Damals war Berlin ja noch eine sehr charmante Stadt, es war überschaubar, gemütlich und entspannt.« So hat er auch sein Studium an der FU in Erinnerung. Mit Kommiliton*innen trifft sich Stein regelmäßig in der letzten Filiale des berühmten Lokals »Aschinger« am Bahnhof Zoo, wo es Erbsensuppe für eine Mark und Brötchen für umme gibt.

Als sein Examen näherrückt, realisiert Uli Stein, dass er niemals unterrichten will. »Ich habe mir gedacht: An die Schule gehen und mich mit den Bälgern rumärgern? Hundertpro niemals! Nicht einen einzigen Tag! Weswegen gehe ich dann eigentlich noch hin?« Seine Eltern sind zu dem Zeitpunkt bereits verstorben. »Ich weiß nicht, ob ich mir sonst die Frechheit hätte erlauben können, mein Studium abzubrechen. Den Eltern möchte man ja gefallen.« Während des Studiums schreibt Uli Stein bereits für diverse Blätter - keine politischen Texte, versteht sich. Seine Satiren, Glossen und erfundenen Interviews bringen dem Studenten bereits mehr Geld ein, als er als Lehrer verdient hätte. »Ein paar Jahre später habe ich angefangen, zu zeichnen. Weil ich aber nicht zeichnen konnte, habe ich textlastige Sachen gemacht«, berichtet Stein. »Da habe ich zwei Leute ins Bett gesetzt, die unter der Bettdecke hervorlugten und sich unterhielten.« Seine ersten Cartoons werden Mitte der Siebziger in den St. Pauli Nachrichten veröffentlicht, einer Hamburger Schmuddel-Postille, die sonst eigentlich nur halbnackte Frauen druckt. »Mehr als Titten war damals nicht erlaubt, sonst kam sofort die Zentrale für jugendgefährdende Schriften. Titten waren ungefährlich! Und davon gab’s reichlich«, erinnert er sich. Auch nach der Furore von 1968 entwickelt Uli Stein kein Interesse am politischen Geschehen. Bis auf diese eine Episode im Jahre

2006. Stein entspannt gerade auf seinem sonnigen Anwesen in Naples, Florida, da bringen ihn politische Verwerfungen in der Heimat auf die Palme. Als Juniorpartner in der Großen Koalition erdreistet sich die SPD, die Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent zu erhöhen - entgegen voriger Versprechungen! Im niedersächsischen Landtagswahlkampf 2008 ergreift Uli Stein deshalb Partei für die CDU und Christian Wulff. Heute widmet sich der Hannover 96-Fan neben den Cartoons vor allem seiner Liebe für Tiere. 2018 gründet er die »Uli Stein Stiftung für Tiere in Not«, die kleinere Tierschutzvereine im In- und Ausland unterstützt. Diese Leidenschaft greift er in seiner Kunst auf. Hundeporträts und Naturfotos, die Uli Stein seit einigen Jahren schießt, lädt er täglich auf seinem Blog hoch oder stellt sie gelegentlich aus. Ans Auf hören denkt Uli Stein noch lange nicht. Ein Künstler geht nicht in den Ruhestand, er stirbt, sagte er einmal. »Solange mir das Spaß und Freude bereitet, und den anderen auch, sehe ich keinen Grund aufzuhören. Außer mir fällt die Hand ab.«

Anabel Rother Godoy und Leon Holly stoßen auf ihren Text mit einem Glas Uli-SteinRiesling an.

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Campus

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Der freischwebende Raum Text: Klara Siedenburg Foto: Tim Gassauer

Hunderte von Studierenden lockt es in die Höhe der Uni: Das Pi-Cafè. Sie kommen für Kaffee doch bleiben für was ganz anderes. Eine Suche nach dem Kern des Cafès

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limmstängel hüllen den Raum in Dunstschleier. Ein paar Studierende fläzen auf den abgewetzten Sofas und spielen Karten, andere reden angeregt über die letzte Vorlesung und essen Kuchen. So oder so ähnlich muss es Ende der 70er Jahre im PI-Café ausgesehen haben. Eine Legende besagt, das Café über den Dächern Dahlems sei aus einer Besetzung heraus gegründet worden. Ob das stimmt, weiß heute niemand mehr so genau. Fest steht: Das Pi-Café ist so alt wie die Rost- und Silberlaube selbst. Fast 40 Jahre später locken Schwärmereien über die Dachterrasse und den günstigen Kaffee weiterhin viele Studierende an. Die Sofas sind immer noch alt und die Studierenden nehmen sich hier nach wie vor eine kleine Auszeit vom Lernen. Rauchen ist allerdings nur noch draußen erlaubt. Mit knapp 600 verkauften Tassen Kaffee täglich, frisch belegten Brötchen und selbstgebackenem Kuchen ist das PI-Café heute ein Ort, an den hunderte Studierende aus allen Fachbereichen die Woche pilgern. Was sie hier immer wieder hinführt? Das können die meisten von ihnen selbst nicht so genau in Worte fassen. Genauso verhält es sich mit dem Namen des Cafés. Der leitet sich nicht von der Zahl ab, sondern steht für das Psychologische Institut, das früher in diesem Teil der Uni Zuhause war. Es war eines von zwei Psychologieinstituten an der FU und galt als kritisch-alternativ. Mit der Neustrukturierung der Hochschullandschaft nach der Wende wurde das Psychologische Institut unter Protest mit dem eher konservativen Institut für Psychologie zusammengelegt. Das Café selbst blieb davon aber unberührt und überlebte die Zusammenführung. »Es gehörte nicht zum Institut und lag irgendwie in einem frei schwebenden Raum«, erinnert sich Patrick, der zusammen mit Caro in den 90er Jahren am PI-Café beteiligt war. »Es gab schon damals viele Stammgäste. Die haben dafür gesorgt, dass es bleibt.« Auch Caro stimmt zu und ergänzt: »In unserem Kopf war all das hier unabhängig von den Protesten um uns herum. Das war einfach nur unser Studentencafé. Dass es geschlossen werden könnte, war für uns nie eine Option.« Während Patrick sich nach dem Studium zurückzog, leitet Caro heute noch das PI-Café. Früher waren hier zehn bis zwölf Menschen im Team und die Entscheidungen wurden im Kollektiv getroffen – auch, wenn das nicht immer reibungslos funktioniert habe. »Hier arbeiten nur FU-Studierende. Das war eigentlich schon immer so. Zu welchem Institut die Leute gehören, war dabei immer egal«, erzählt Caro. Damit ist das PI-Café eines der wenigen studentisch selbstorganisierte Cafés, das keine Fachschaft und kein Institut mehr hinter sich hat. Ein frei schwebender Raum für alle. Was der für ihn bedeutet, erklärt Raguel, der seit zwei Semestern einige Schichten in der Woche betreut: »Es gibt nicht viele Jobs, in denen man sich ausleben kann. Das PI-Café ist ein Freiraum, der Möglichkeiten schafft und wo man kreativ werden kann. Ich vergesse sehr schnell, das ich

hier eigentlich in der Uni bin«, schwärmt er. »Außerdem gefällt es mir zu entscheiden, welche Musik in meiner Schicht läuft!« Einer dieser Freiräume ist die wild bewachsene Terrasse, in deren Beeten Raguel und andere Beteiligte ab und zu beim Buddeln zu finden sind. »Auf unsere Terrasse sind wir sehr stolz«, sagt Caro begeistert. Hier stehen nicht nur Pflanzen fürs Auge, sondern auch Kräuter, Tomaten, Kürbisse und anderes Gemüse. Ein befreundeter Gärtner unterstützt die Crew dabei. Die Ernte wird für das Café genutzt. Das PI bietet auch Raum für Veranstaltungen: Von Grillfesten und Fachschaftstreffen über Lesungen und Filmvorführungen bis hin zu Jam Sessions oder privaten Geburtstagen der Café-Crew. Darüber hinaus finden Künstler*innen Platz, ihre eigenen Werke an den Wänden der Welt zu präsentieren. Dennoch ist in den Jahren nicht immer alles glatt gelaufen. Neben explodierten Kaffeekannen, die Wände braun färbten, seien schon einige Hausverbote verhängt worden. Das passiere aber nur, wenn Gäste wiederholt unfreundlich und aggressiv gegenüber anderen gewesen seien. Auch zu Beginn dieses Semesters gab es eine Katastrophe: Ein riesiger Wasserschaden, der nicht nur das Café betraf, sondern auch die Räume darunter. »Die Uni hat da ein Auge zugedrückt. Ich glaube, wir sind sowas wie ein Aushängeschild für die FU«, überlegt Caro. »Immerhin wird es hier jedes Semester voller. Ständig kommen neue Stammgäste hinzu.« Einige dieser Stammgäste studieren schon lange nicht mehr an der FU. Eric und Isabella sind zwei davon. Ihre Studienzeit war in den 80ern und 90ern. Sie kommen immer noch gerne her, um Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen. Wenn sie auf das »Psychocafé«, wie sie es damals nannten, zurückblicken, dann fallen ihnen einige Unterschiede zu heute auf. »Es war hier wahnsinnig verraucht. Die Leute sahen alle noch viel zotteliger aus als heutzutage. Und der Altersdurchschnitt war damals höher. Wir haben so lange hier studiert. Heute geht das ja gar nicht mehr.« Trotzdem sei einiges unverändert geblieben. »Diese Studicafés waren und sind sowas wie ein Lebensgefühl, ein zweites Wohnzimmer«, schwärmt Isabella. Mit dieser Einschätzung trifft sie die Stimmung, die heute hier herrscht. Als eines der ältesten Studicafés der FU spiegelt das PI-Café genau das wieder: Eine kleine Parallelwelt, die allen einen Ort bietet, sich an der FU wohlzufühlen, auszuleben und das Studium kurzzeitig auszublenden. Mit Sicherheit ist das der Grund, warum das Pi-Café sich über all die Jahre so großer Beliebtheit erfreut und alle erfüllt, die dort täglich ihren Kaffee trinken.

Klara Siedenburg hat für diesen Artikel einen Großteil des Kaffeeumsatzes zu verantworten.

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Wo bin ich hier gelandet? Grinsende Schweine Zwischen massierenden Kellnern und kichernden Schulmädchen findet man trinkende Kölner - und Borstentiere. Ich stehe vor 20 riesigen Schweinen - aus Plastik. Sie schauen überglücklich, als hätten sie nur auf mich gewartet. Sie alle wollen mit mir abgelichtet werden. So posiere ich nun für Fotos - mit jedem Schwein einzeln. Wie konnte es soweit kommen? Wenige Stunden zuvor prostete mir ein Fremder noch mit einem Bier zu: »Die Nutten hier sind edel, aber echte Säue im Bett!« Naiv hatte ich die Einladung eines Bekannten angenommen, ein paar Wochen in seinem Haus »in der Nähe von Bangkok« zu bleiben. Tatsächlich ist Pattaya 150 Kilometer davon entfernt. Die Stadt ist bekannt für Sex-Tourismus. Von 105.000 Einwohner*innen sind über 20.000 Sexarbeiter*innen. Selbst der Kellner streichelt mein Knie. Ich wehre ab. »Hab dich nicht so!«, lallt der Fremde, der jedes Jahr aus Spree-Unaufgefordert_210x148-2019.qxp_210x148-2019 04.06.19 11:28 Seite 1

Text: Michael Reinhardt Köln hierher fliegt und drei Monate ausspannt. Ein Tippen auf die Schulter rettet mich; meine Verabredung ist da. Eine Stunde später betrete ich mit vier Thais ein Naturreservat. Sie sprechen kein Englisch, ich kein Thai. Wir gestikulieren, sie lachen mich aus, ich verstehe nichts. Ich bin der Fremde. Immer wieder muss ich für Fotos lächeln: Mit Elefanten, mit Essen, mit einer Klasse kichernder Schulmädchen. Mitten im Park begegne ich dann den Plastikschweinen. Ich verstehe nicht ganz, was sie mit Natur zu tun haben. Bringen sie Glück, sind sie albern oder gar Hochkultur? Erst nachdem ich verkrampft mit dem sechsten Schwein posiere, gebe ich jeden Widerstand auf und folge dem Flow. Vielleicht hatte der Kölner Recht: »Das ist so anders! Ich brauch das, um den Scheiß zu Hause zu vergessen.«

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House of Horrors

Eigentlich mag unsere Autorin Techno. Mit Komiliton*innen hat sie sich diesmal auf unbetanztes Terrain begeben.

jung, spontan, gut für nur 15 Euro ein Jahr Kultur in Berlin spontan ganz weit vorn sitzen Konzerte 8 Euro Oper / Ballett 10 Euro > 030-20 35 45 55 Deutsche Oper Berlin Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Komische Oper Berlin Konzerthaus Berlin RIAS Kammerchor Rundfunkchor Berlin Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Staatsballett Berlin Staatsoper Unter den Linden

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Samstagabend. Das Netzoberteil sitzt, der Lackrock glänzt, schnell in die Dr. Martens geschlüpft, der Griff geht zum Wegbier. Los geht’s! In meinen Ohren dröhnt der Bass saftiger Technoklänge, die mich auf heute Abend einstimmen. Ich folge der Einladung von ein paar Kommiliton*innen, die feiern gehen wollen. Es wird Zeit, Uni-Kontakte zu knüpfen. Drei Stunden und diverse Cocktails später finde ich mich in einer Clubschlange wieder. Vor mir aufgeregtes Gekicher einer Gruppe 16-jähriger Mädels. Der Typ im weißen Hemd vor ihnen hat sie wohl mit seinem Zahnpastalächeln angegrinst. Hinter mir wird noch schnell das Make-Up aufgefrischt. Ich exe mein Sterni. Ein Fahrstuhl bringt meine Kommiliton*innen und mich nach oben zum Club. Mich beschleicht ein böser Verdacht. Die Aufzugtür geht auf und mir dröhnt Martin Solveigs »Intoxicated« entgegen. Während die Partymeute den Abend ihres Lebens zu haben scheint, gehe ich schockiert und mache mich auf die Suche nach einem Frustbier. Bei den Preisen für ein kleines Heineken ist mir nach Weinen zumute, aber immerhin war der Eintritt frei. Der Ausblick über die Stadt ist schön, er unterstreicht meine Melancholie. Irgendein geleckter Sakkoträger baggert mich unbeholfen an. Ich beschließe, dem Dancefloor des House Of Weekend eine letzte Chance zu geben. Als die Stimme von Bausa erklingt, gebe ich auf und torkle nach Hause.

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Text: Johanna Daniel Illustration: Freya Sievert


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Politik

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Politisch korrekte Sprache meint auch, diskriminierende Ausdrücke und Ideen zu meiden. Welcher Schaden entsteht durch diskriminierende Sprache? Spannend, dass man sich die Frage überhaupt stellt, wo doch die einzige nicht diskriminierte Gruppe nicht-behinderte weiße heterosexuelle Männer sind. Alle anderen wissen, welcher Schaden durch diskriminierende Sprache entsteht – eigentlich könnte man sagen: »Frag im Zweifelsfall deine Frau, wie sich das anfühlt.« Aber es gibt auch Studien, die den Schaden belegen: Diskriminierende Sprache führt dazu, dass Menschen ausgeschlossen werden. Je mehr unregulierte gesellschaftliche Bereiche es gibt, in denen marginalisierte Gruppen mit sprachlicher Diskriminierung rechnen müssen, desto mehr fühle ich mich als Betroffene*r im Alltag unsicher. Auch bleiben Leute, die sich aus der Gesellschaft zurückziehen, unsichtbar und die Gesellschaft redet sich ein, sie sei homogener als sie wirklich ist. Das kann dazu führen, dass Probleme ignoriert werden, die aber angegangen werden müssten. Die Forschung hat außerdem gezeigt, dass Gruppen, die regelmäßig herabwürdigender Sprache ausgesetzt sind, psychische und teilweise sogar körperliche Belastungssymptome aufweisen. Ab wann ist ein Begriff denn diskriminierend? Was man eigentlich gerne wissen würde: Ist ein Wort in seiner Bedeutung schon herabwürdigend? In einigen Fällen ist das klar, weil die Wörter eine lange Geschichte und deshalb einen klaren historischen Kontext haben. In jedem Fall muss ich aber die betroffene Gruppe fragen. Sagen die mir, sie fühlen sich diskriminiert, dann erübrigt sich die Frage. Vielleicht kann ich mir das nicht vorstellen, aber ich muss es glauben. Leute, die täglich mit solchen Begriffen konfrontiert werden, müssen ja selber wissen, ob sie diskriminiert werden oder nicht.

»Jeder Mensch ist Sexist*in« Interview: Rabea Westarp und Antonia Böker Foto: Antonia Böker

Politisch korrekte Sprache ist im Moment in aller Munde. Anatol Stefanowitsch ist nicht nur Sprachwissenschaftler an der FU, sondern auch einer ihrer vehementesten Verfechter*innen. Mit uns hat er nun über das Unsagbare gesprochen. Im Internet und den sozialen Medien ist der Diskurs rau. Gleichzeitig wird immer mehr Wert auf politisch korrekte Sprache gelegt. Werden wir nun sensibler oder verrohen wir? Der Ton in den sozialen Netzwerken ist teilweise sehr heftig. Außerhalb des Netzes würden die meisten Menschen solche Hasspropaganda wohl nicht öffentlich äußern. Es gab sie immer

schon an Stammtischen, unter Leuten, die sich gut kennen. Im Internet werden solche Reden aber plötzlich öffentlich. Die nun öffentliche Menschenfeindlichkeit ist von neuer Qualität und hat damit zu tun, dass sich Leute aufgrund ihrer gemeinsamen ideologischen Positionen finden, nicht, weil sie befreundet oder miteinander bekannt sind. Als Gegenreaktion dazu ist die politische Korrektheit wieder so stark in den öffentlichen Diskurs gerückt. Sprache wird zum Schauplatz kultureller Kämpfe.

Ein Wort ist also nicht einfach ein Wort? Nein. Die Idee kann man schnell durch ein Beispiel aus der Welt schaffen. »Hund« und »Köter« sind auch Wörter für dasselbe. Eines davon ist klar herabwürdigend. Ein weiteres Streitthema ist das Gendern. Gerade Gegner*innen vom Gendern argumentieren damit, dass das generische Maskulinum Frauen ebenso mit einschließt. Wie schätzen Sie das ein? Im Deutschen hat jeder Begriff ein grammatisches Geschlecht. Wenn Konservative nun sagen: »Wir wollen das generische Maskulinum«, dann ist das auch eine Art des Genderns. Sie sagen damit: »Wir reden einfach über Männer und die Frauen sind irgendwie dabei - oder auch nicht.« Das generische Maskulinum wird als maskulin interpretiert. Wenn Frauen mit gemeint sind, muss das immer durch einen zusätzlichen gedanklichen Schritt erschlossen werden. In der mentalen Repräsentation sind Frauen daher unter- oder gar nicht repräsentiert. Ehrlich wäre es, gleich zu sagen: »Ich finde das Patriarchat gut und möchte deshalb eine patriarchale Sprache nutzen.« Damit könnte ich leben. Ich

würde auch nie Menschen, die ich als Patriarch*innen kennengelernt habe, überreden, ihre Sprache zu gendern. Viele Leute fühlen sich angegriffen, wenn man sie auf ihre diskriminierende Sprache hinweist. Dann folgt häufig die Entgegnung, das wäre so ja nicht gemeint und sie wären doch deshalb keine rassistische oder sexistische Person. Wie reagiert man darauf ? Die würde ich fragen, auf welcher einsamen Insel sie aufgewachsen sind. Wie haben sie es geschafft, überhaupt keinen Sexismus und Rassismus zu verinnerlichen? Jeder Mensch ist Sexist*in. Frauen haben das meist stärker reflektiert, weil sie betroffen sind. Als Mann werde ich nicht gezwungen, mich damit auseinandersetzen. Wir beschäftigen uns häufig erst damit, wenn wir merken, wie unsere Frau oder Tochter behandelt wird. Das war bei mir auch so. Als Vater einer Tochter habe ich viel krasser gemerkt, wie Mädchen von Anfang an anders behandelt werden als Jungs. Das führt aber nicht dazu, dass man den bereits verinnerlichten Sexismus plötzlich ablegen kann. Damit muss man sich als Mann jeden Tag auseinandersetzen - das tut aber niemand. Und deshalb sind wir alle Sexist*innen, und wir sind natürlich auch Rassist*innen und alles andere, was man so an Menschenfeind sein kann. Es geht aber nicht darum, was man ist. Es geht darum, dass das, was man sagt, rassistisch oder sexistisch sein kann. Deshalb sollte man manche Wörter meiden, wenn man nicht bewusst Menschen abwerten will. Warum hängen Leute denn so an diesen problematischen Begriffen? Menschen hängen gar nicht so sehr an den Begriffen selbst, sondern nutzen sie, um ihren Kulturkampf zu betreiben. Ich habe selten Leute erlebt, denen der Begriff »Zigeunerschnitzel« wichtig ist, weil es eine solch kulinarische Besonderheit für sie ist. Meist sagen sie: »Vielleicht könnt ihr mir verbieten die Sinti und Roma Zigeuner zu nennen, aber das Wort Zigeunerschnitzel lasse ich mir nicht verbieten.« Häufig will man gar nicht die Betroffenen provozieren, weil man nicht mal weiß, wer »die« eigentlich sind. Man will eher Leute provozieren, denen politisch korrekte Sprache wichtig ist. Warum begegnet man Menschen, denen politisch korrekte Sprache wichtig ist, nicht einfach offener? Wenn ich diesen Leuten recht gebe und merke, dass ich Wörter verwende, die man nicht mehr sagen soll, muss ich zugeben, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt rassistische Sprache verwendet habe. Da ist es leichter, sich uneinsichtig zu zeigen, als sich zu fragen: »Wen habe ich damit beleidigt?«

Rabea Westarp und Antonia Böker erhofften sich von diesem Interview primär Twitterfame.

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Politik

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Das Juwel einer gespaltenen Stadt Text und Foto: Julia Marie Wittorf

In Jerusalem scheint vieles entweder richtig oder falsch, weiß oder schwarz, gut oder böse zu sein. Unsere Autorin hat während ihres Auslandssemesters unerwartete Zwischentöne an der Hebrew University gefunden.

D

er Bus stoppt am Sicherheitsposten vor dem Unigelände. Während Wachleute sich durch den vollgestellten Gang hangeln, streifen ihre Blicke über uns Studierende. Draußen ziehen lange Warteschlangen langsam durch die Sicherheitsscanner. Es ist eine tägliche Choreografie mit monotoner Abfolge, niemand tanzt hier aus der Reihe. Ich gehe hinaus in den grünen Innenhof des Hauptgebäudes, umgeben von großen schattenspendenden Bäumen. Darunter sitzen unzählige Studierende, die ihre letzten Minuten Pause bei einem Kaffee genießen. Man gewöhnt sich schnell an solche Routinen, wenn man die Ursache dieser Kontrollen kennt. Im Juli 2002 zerstörte ein Bombenanschlag der palästinensischen Terrororganisation Hamas die vermeintliche Idylle auf dem Campus der Hebrew University of Jerusalem (HUJI). Der seit Jahrzehnten brodelnde Nahostkonflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen macht auch vor den Toren dieser Universität nicht Halt.

Während erstere sich ihren lang ersehnten Nationalstaat nicht mehr nehmen lassen wollen, wehren sich letztere gegen die zunehmende Verdrängung – zum Teil auch mit terroristischen Mitteln. Diesen gesellschaftlichen und politischen Kampf konnte ich als Austauschstudentin in Jerusalem ein Semester lang vor Ort erleben. Die HUJI ist das stolze Herz der Wissenschaft in Jerusalem, eine pulsierende Ader der Stadt. Besonders der Campus auf dem Mount Scopus war ein Meilenstein auf dem Weg zur Gründung Israels im Jahr 1948. Den ersten Schritt machten Emigrant*innen, welche nach dem ersten Weltkrieg wegen zunehmendem Antisemitismus aus Osteuropa in das damals noch britische Mandatsgebiet flohen. Neben der dort lebenden arabischstämmigen Bevölkerung formierte sich schnell eine Gemeinde, die das Fundament für eine erste hebräisch-jüdische Kultur bildete. Die Lehrstätte, die bereits 1925 errichtet wurde, war dabei Teil der Idee eines eigenen jüdischen Staates.

Die Türen dieser historischen Institution öffnen sich aber nicht für alle Studierenden gleich weit. In Ost-Jerusalem gehen nach Angaben des Jerusalem Institute for Policy Research knapp 110.000 Kinder zur Schule. Deren Schulabschlüsse entsprechen jedoch nicht den israelischen Standards. Wer später eine weiterführende Hochschule besuchen möchte, muss ein kostspieliges vorbereitendes Jahr an meiner Fakultät, der Rothberg International School, absolvieren. Ohne finanzielle Unterstützung ist das für die Wenigsten möglich. Die Zukunftschancen der Kinder hängen daher von Fördermitteln ab. Bei lediglich 140 vergebenen HUJI-Stipendien 2017 – ohne anschließende Garantie auf einen Studienplatz – erscheint dies wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Vor dem Hintergrund dieses Missstands nehme ich meine doppelt privilegierte Position als deutsche Erasmus-Studentin umso deutlicher wahr. Noch wertvoller als der Zugang zur HUJI erscheint daher das friedliche Zusammenleben innerhalb dieser Hochschulblase. Als einzige Austauschstudentin in einem Kurs mit arabischen und jüdischen Kommiliton*innen fühle ich mich nicht zwischen zwei Fronten gesetzt, obgleich die echte Front nur einen Steinwurf vom Campus entfernt liegt. Israel hatte den von Palästinenser*innen bewohnten Ostteil der Stadt 1980 annektiert, heftiger internationaler Kritik zum Trotz. Von dem starken alltäglichen Spannungsverhältnis ist auf dieser akademischen Insel jedoch nichts zu spüren. Stattdessen wehen in meinen Kurs über zeitgenössischen Antisemitismus die lauten Gesänge der Muezzins durchs Fenster, die ihre muslimischen Glaubensbrüder und -schwestern zum Gebet bitten. Austauschstudierende aus Singapur, Argentinien, Dänemark oder England versuchen sich täglich im Verständnis für die Ursprünge der örtlichen Spannungsverhältnisse. Manche sind jüdischen, andere christlichen Glaubens und einige ganz ohne Bezug zu Religion. Die Anti-Terror-Dozentin kann aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen durch palästinensische Selbstmordanschläge nur noch bei offenem Fenster lehren. Mein 19-jähriger amerikanischer Sitznachbar, dessen Großeltern den Holocaust überlebt haben, hegt den festen Wunsch nach Aliyah – der Einwanderung nach Israel. Mein israelischer Mitbewohner hat den Libanon-Krieg nicht nur miterlebt – er kämpfte 2006 direkt an der Front. Fast alle verkörpern hier somit einen Bruchteil der örtlichen Gegensätze, Widersprüche inklusive.

Mein anfänglicher Selbstversuch, mich bei meinen Reisen als »unabhängige Deutsche« zu positionieren, stellt sich schon früh als völlig illusorisch heraus, als mir ein Araber nahe Nazareth den Hitlergruß zeigt. »Germany good, Hitler good. You welcome« sagt er zu mir. In der nachfolgenden Stille weicht der Schock unter uns Tourist*innen einem zögerlichen Protest. Doch Grundsatzdiskussionen führen hier zu nichts. Mein arabischer Gemüsehändler Chalil verhält sich dagegen ganz anders: Mit 14 Jahren hat er begonnen, im Geschäft seines Vaters auf dem berühmten Mahane Yehuda Markt in Jerusalem auszuhelfen. Fast täglich steht er seitdem mit Zigarette und Kaffee hinter der kleinen Theke. In fließendem Hebräisch begrüßt er die jüdischen Käufer*innen, verliert nie ein böses, maximal ein schelmisches Wort über sie. Scherzt er das eine Mal über die koscheren Essgewohnheiten jüdischer Kund*innen, bekommen seine muslimischen Landsleute spätestens beim Alkoholverbot ihr Fett weg. Diese Alltäglichkeit macht Hoffnung, wirkt aber auch bisweilen surreal. Denn nur zehn Kilometer entfernt von meinem Campus verläuft bei Bethlehem die Grenzmauer zu Palästina. Stacheldrahtzaun, Sensoren und Sicherheitskameras behalten die Gegend im Blick und die Menschen hier unter Kontrolle. Jugendliche haben die neun Meter hohe Wand mit Graffitis und politischen Statements besprüht – ein trotziger Versuch, gegen die graue Tristesse anzukämpfen. Und so manch ein*e Palästinenser*in vergleicht diesen Ort sarkastisch aber auch ein wenig stolz mit der East Side Gallery in Berlin. Wie lässt sich in diesen beiden Ländern die Zukunft planen, wenn der Alltag im ständig schwelenden Konflikt schon so viele Hürden mit sich bringt? Während ich einem palästinensischen Jungen beim Graffitisprühen zuschaue, erinnere ich mich an den Satz einer Freundin, kurz vor meinem Abflug aus Deutschland: »Vor allem wirst du verstehen, dass du rein gar nichts verstanden hast.« Wie recht sie behalten hat.

Ob sie denn nun pro Palästina oder pro Israel sei, wurde Julia Marie Wittorf häufig gefragt. »Pro Mensch« lautete ihre Antwort.

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Der König fährt im Opel vor

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Mauerfall und Wendezeit bedeuten für Jugendliche große Freiheit. Annett Kowalski ist in Dresden aufgewachsen und war zum Zeitpunkt des Mauerfalls 16 Jahre alt. Mit uns hat die FU-Absolventin über verwaiste Trabbis, eine neue Sprache und Häuserleerstand gesprochen.

Flucht nach Westberlin

Am 13. August 1961 mauert die DDR ihre Bevölkerung ein, Berlin wird gespalten, Familien getrennt. Noch am gleichen Tag arbeiten FU-Studierende daran, Menschen durch die Mauer zu schmuggeln. Eine Fluchtgeschichte. Text und Interview: Julian von Bülow Illustration: Dominique Riedel

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ngespannt steht die junge Frau am Hang des Parkplatzes, den Blick auf die haltenden Autos gerichtet. Sie wartet darauf, an diesem dämmrigen Oktoberabend endlich von ihrem Fahrer abgeholt zu werden. Ein Auto hält. Ein Mann kommt auf sie zu. Ist er ihr Fahrer? Wird er die weiße Blume erkennen, die sie sich angesteckt hat, so wie es ihr aufgetragen wurde? Er geht an ihr vorbei, verschwindet hinter Bäumen. Es ist wieder nur ein Mann, der auf der Interzonenautobahn zwischen Bundesrepublik und Westberlin eine Pinkelpause macht. Eva Kerns Flucht aus der DDR muss warten. Es ist Sommer 1961 und Eva 24 Jahre alt. Sie studiert an der FU in Dahlem, wohnt jedoch im sowjetischen Sektor. Jeden Morgen pendelt sie über die Grenze, die noch keine ist. »Auf dem Weg zum Thielplatz gab es Kontrollen in den S-Bahnen. An der Grenze wollten Volkspolizisten wahrscheinlich Flüchtlinge erwischen, die ihre Sachen rüber brachten.« Im Sommer ist es in doppelter Hinsicht soweit: Eva bereitet sich auf ihr Examen vor. DDR-Staatsoberhaupt Walter Ulbricht hingegen hat seine Vorbereitungen bereits abgeschlossen: Zwischen 1949 und 1961 siedelten mehr als 2,7 Millionen Menschen von der DDR in die BRD über. Dem soll ein Ende gesetzt werden: In der Nacht des 13. Augusts rollen Männer mit Maschinenpistolen Stacheldraht an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin aus, später auch zwischen DDR und BRD. »Das kann ja nicht so bleiben, die werden das schon wieder öffnen, dachte sich mein Vater. Ansonsten hätten ich und viele andere in den ersten Tagen die letzten Schlupflöcher nach Westberlin genutzt«, erinnert sich Eva. In dieser Zeit setzen sich Dieter Thieme, Detlef Girrmann und Bodo Köhler vom FU-Studierendenwerk zusammen. Sie wollen Studierenden wie Eva helfen, die im Osten wohnen und an der FU studieren. Die Kontrollen an den Grenzübergängen sind noch nicht ausgefeilt, was sich die studentischen Fluchthelfer*innen zunutze machen. Sie sammeln Pässe und vergleichen die Bilder mit denen in den Akten im Studierendenwerk. Sehen sich Leute ähnlich, werden die Pässe nach Ostberlin

geschmuggelt. Anschließend schaffen es die Ostberliner*innen damit durch die Grenzkontrollen nach Westberlin. Mit den Jahren werden die Grenzkontrollen strenger, doch die Studierenden finden neue Lücken: Gefälschte Pässe, Abwasserkanäle, selbst gegrabene Tunnel, Zugfahrten nach Skandinavien, umgebaute Autos. Sogar Polizei und Verfassungsschutz der BRD geben Blanko-Ausweise und Rückendeckung bei Fluchtaktionen. Studierende aus der gesamten Bundesrepublik und dem Ausland stellen den Westberlinern*innen ihre Pässe zur Verfügung, um den Menschen zur Flucht aus der DDR zu verhelfen. »Mit dem Mauerbau war die Selbstverständlichkeit, in beiden Systemen zu leben und sie zu diskutieren, auf einen Schlag vorbei«, sagt Eva heute. Damals hatte sie Glück: »Mein damaliger Freund lebte in Westberlin. Sein westdeutscher Freund kam zu mir über die Grenze und sagte, sie hätten jemanden, der mich für 300 Mark rüber schmuggeln würde. Das habe ich sofort angenommen!« Doch der Plan ist gefährlich: Der Stasi gelingt es immer wieder, Spitzel in die Riege der Fluchthelfer*innen zu schleusen. Sie lassen viele Aktionen schon im Vorfeld scheitern und mit Verhaftungen und Schauprozessen enden. In den Stasi-Akten sind die Fluchthelfer*innen als gewaltbereite Mitglieder einer Terrororganisation gelistet. Dennoch finden Fluchtaktionen statt: Nach Angaben des ehemaligen Fluchthelfers und FU-Studenten Burkhart Veigel flohen zwischen 1961 und 1970 etwa 8.000 Menschen aus der DDR in die BRD. »Auf dem Interzonenparkplatz kam etwas verspätet ein junger Mann auf mich zu. Da war ich wie erlöst«, sagt Eva heute. Er bittet sie, in den umgebauten Mercedes einzusteigen. Die hintere Sitzbank wurde erhöht. Eva kriecht darunter. Kurze Zeit später kann Eva in der Dunkelheit ihres Verstecks die Stimmen an der Grenzkontrolle mithören. Passkontrolle. Warten. Dann die nüchternen Worte des Grenzers: »Ja, alles in Ordnung.« Der Schlagbaum hebt sich, das Auto rollt hindurch. Willkommen in Westberlin!

Grob gesagt habe ich in der Schule gelernt, dass im Nationalsozialismus die Kommunist*innen und ein paar Jüd*innen die Opfer der Nazis waren. Nach dem Mauerfall hab ich mein Abitur im Westen nachgeholt und gelernt: Die Opfer waren die Jüd*innen und ein paar Kommunist*innen. In der Gewichtung hatte ich es also genau andersherum gelernt! Ich wusste nicht, wer recht hat. Also wollte ich es herausfinden und Geschichte studieren. Was war nach dem Mauerfall in Dresden los? Es herrschte Anarchie. Die alte Staatsautorität war nicht mehr da, die neue noch nicht installiert. Es gab viel Leerstand, die Besitzverhältnisse waren unklar. Ich arbeitete als Krankenschwester, doch die meisten jungen Leute waren arbeitslos und hatten viel Zeit. Dann wurden einfach Häuser aufgebrochen und Kneipen eröffnet. Wir reisten, organisierten Festivals und haben in leeren Russenkasernen getanzt. Viele kulturelle Ereignisse, die heute noch in Dresden laufen, haben wir damals aufgebaut: Das Elbhangfest, die Filmnächte am Elbufer oder die Bunte Republik Neustadt. Unsere Eltern, die sich über Jahre ihre Trabbis erspart hatten, wollten jetzt Autos aus dem Westen und wir bekamen ihre Trabbis. Wir waren mobil und brauchten nicht viel Geld. Die Wohnungen waren spottbillig bis gratis. Ein unglaubliches Gefühl von Freiheit! Wenn ich heute meine Kinder angucke, tun sie mir leid, weil ihre Welt so fertig ist. Wir konnten alles gestalten! Dieses Leben im Osten von 1990 bis 1993, das war die aufregendste Zeit meines Lebens. Aber wir hatten auch große Probleme mit Nationalismus, Rassismus, rechter Gewalt und der Perspektivlosigkeit von ganzen Generationen und Regionen. Haben sich die Beziehungen von Ost und West durch den Mauerfall geändert? Ja! Ein Beispiel dafür sind die Westpakete. Da waren Seife, Kaffee oder Klamotten drin. Das hat alles gerochen – eine Geruchsorgie! Wir haben die Sachen überall in unsere Schränke gelegt, damit alles danach riecht. Das waren

Aldi-Produkte, Werbegeschenke, getragene Klamotten; ich will das in keinster Weise herabwürdigen. Wir haben uns total gefreut! Aber die Westverwandtschaft hat es genossen, vor uns die Kings zu sein und diese scheinbar ewige Dankbarkeit zu bekommen. Doch die erübrigte sich nach dem Mauerfall, damit kamen viele nicht klar. Die Wende stieß sie vom Thron. Viele familiäre Beziehungen sind dadurch kaputt gegangen, auch bei uns. Die Geschenke waren liebevoll, aber den Thron haben sie nicht bezahlt. Sie waren wieder die Kleinen, die im Westen nichts sind. Im Osten war man mit einem Opel kein König mehr. Hast du schlechte Erfahrungen damit gemacht, deine Herkunft zu nennen? Ich habe die sehr lange nicht erwähnt. Es war teilweise eine Schmach, Ossi zu sein. Als ich nach dem Mauerfall in Irland war, traf ich ein Pärchen aus Würzburg. Plötzlich haben sie angefangen, über Ossis herzuziehen. Ich dachte: Huch! Ossi? Das bin ich! Das tat richtig weh! Ich habe denen später erzählt, dass ich aus dem Osten bin – da waren sie dann erschrocken. In Berlin spielte Ost/West keine große Rolle, viele kamen aus dem Osten. Manchmal war es auch attraktiv, aus dem Osten zu sein. In der alternativen Szene dachte man, wir hätten etwas »Gebildet-Proletarisches«. Wie gehst du heute Vergangenheit um?

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Ich verspüre deshalb keine Scham mehr. Ich weiß, ich hab anderen etwas voraus, weil ich Ost und West kenne. Aber mein Englisch ist nach wie vor schlecht und wenn Wessis über Musik, Film oder fremde Länder sprechen, kann ich selten mitreden. Das holt man nicht alles auf. Man geht in Deckung und will nicht zeigen, dass man in dem Bereich Defizite hat. Linguist*innen haben herausgefunden, dass Ossis durch die Wende circa 2.000 neue Wörter lernen mussten. Ich habe jahrelang Langnese und Lasagne verwechselt! Die 2.000 Vokabeln habe ich nun gelernt. Aber ich kann immer noch nicht bei TV-Sendungen aus den 80ern mithalten, aber ist mir inzwischen egal.

Julian von Bülow ist fasziniert von den Geschichten hinter den Mauern dieser Stadt. ANZEIGE

Du hast in Dresden eine Krankenschwesterausbildung gemacht. Wie bist du dazu gekommen, an der FU Geschichte zu studieren?


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Die geklaute Rubrik

Kultur

Kultur

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Wir sind großartig. Aber andere machen auch schöne Sachen. Vor allem die BRAVO mit ihrer legendären Fotolovestory wird für immer einen Platz in unseren Herzen haben - und diesmal auch in unserem Heft.

i e r e rm ä w h c S e ß o r g ie D

Krass, wer ist das? Der ist ja mega attraktiv!

Der ist voll heiß, den hab ich hier noch nie gesehen. Wer ist das?

Das ist Dr. Müller. Lass die Finger von dem, der ist viel zu alt und außerdem ist er Prof! 1

Gasworks / Gleisdreieck Jasmin Veeh

Selbst inMitten des WahnSinns Ursprung selbst Finde ich hier den Ruhe Pol Entgegen Allem, was sich in mir befindet Bildet die Außenwelt Krieg und Asyl In Einem Gleich Szene aus dem Bilder Katalog, aus Einem Hochglanz Märchen Menschen zwischen Gleisen Und Gaswerken Grashalme umringend Sonnenstahlen einschließend Maschinerie verrostet und neu bewachsen

Jasmin Veeh verwechselt die Eingangstür regelmäßig mit der Ausgangstür.

Tycho Schildbach bemüht sich, nicht allzu sehr im Kreis zu schwimmen. Inzwischen prangt der Kapstädter Tafelberg täglich an seinem Horizont.

Der Fisch Eifrig, schnell und voll Geschick, so schwimmt er schon sein Leben lang. Immer nur die Front im Blick, ganz vorn’ im Schwarm, der ewig Drang. Glaubt jede Farbe schon gesehen, die das Licht der Sonne kennt. Doch müsste er sich eingestehen, dass ihn eine Scheibe trennt. Der Schrank, das Bild, der Stuhl, der Tisch und schließlich die vier weißen Wände. „Die weite Welt“, so denkt der Fisch, sie sind jedoch nicht Globus’ Ende.

Doch Lars hält das nicht ab. Er besucht extra das Literatur-Seminar von Dr. Müller.

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Hoffentlich bin ich schlau genug für ihn, vielleicht hilft die Brille ja...

Wie wär’s, wenn wir das bei einem Kaffee besprechen? Das ist entspannter!

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wo Horizont das Blau umarmt, verharrt der Weg in Schönheits Fängen, jedes Kopfgeschrei erlahmt.

Um Dr. Müller näher zu kommen, meldet sich Lars bei der Sprechstunde an – ein genialer Plan!

Und dann war ich in den USA und habe dort meinen Doktor gemacht… Für den habe ich die ganze Zeit geschwärmt? Der ist ja mega boring und selbstverliebt...

Ein kleiner Raum im großen Haus, in dem allseits das Fremde lebt. Und kommt man aus der Tür heraus, durchläuft Asphalt die Flut von Welten. Wo sich Licht aus Wasser hebt und scheinbar keine Grenzen gelten,

Hehe, dem süßen Boy würde ich ja abends im Bett auch gerne mal was vorlesen!

Ich hätte da noch eine Frage zu Ihrem Buch, das interessiert mich besonders!

Hach, er ist so klug und reif…Ich wünschte, er würde mich beachten!

Tycho Schildbach

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Klar, gerne! Ich kenn da ein nices Café!

Lars ist total aufgeregt vor dem großen Treffen im Kauderwelsch und macht sich nochmal schick.

Doch im Café redet Dr. Müller nur über sich selbst, Lars kommt gar nicht zu Wort.

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Lars merkt, dass er Besseres verdient hat!

Fremde Pfade, leuchtend’ Farben, Stolz und Zorn von Brandungsklängen, Schatten, Kanten, neue Narben

Ähhh, sorry, das passt nicht mit uns. Danke für den Kaffee, aber ich muss jetzt los zur Vorlesung.

wird der Fisch wohl nie erleben. Könnten Augen sich erheben, sähen sie, was er nicht weiß: Er schwimmt lebenslang im Kreis.

Hääh, was ist denn bei dir nicht richtig??! Egal, dass er Prof ist oder älter ist, wir haben vom Charakter her einfach nicht zusammen gepasst. Ich bleibe mir lieber selbst treu!

Wort frei! erscheint auch online unter www.furios-campus.de Sendet eure Arbeiten an kultur@furios-campus.de 8

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Ronny Volkmann, Josefine Strauss, Ben Heiden | Fotos: Viviane Scheel Text: Josefine Strauß und Jette Wiese

Bist du die nächste Herta Müller? Sollte Marvel lieber deine Comics verfilmen? Ob nun Prosa, Lyrik oder Comic, ganz egal, wo eure Begabungen liegen – wir geben euch das Wort frei! In unserer gleichnamigen Rubrik könnt ihr euch ausprobieren. Also schickt uns eure künstlerischen Ergüsse, hier habt ihr das Wort.

Lars und Emma sind auf dem Weg zur Uni, als...


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Kultur

Kultur Der Verein »Not an Object« bietet Alltagssexismus die Stirn. Mit ihrem Fotoprojekt macht die Gruppe Missstände sichtbar und hilft Betroffenen, ihre Erfahrungen aufzuarbeiten. Die Aktivist*innen lassen sich nicht den Mund verbieten und ermutigen in Workshops und Ausstellungen zum Aufschrei.

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Eine Kampfansage ans Patriarchat Text: Carry-Ann Fuchs Fotos: Not an Object e.V.

in junger Mann sitzt in der U-Bahn, sein Blick ist nach unten gerichtet, er sieht traurig aus. Auf seiner Stirn steht in roter Schrift »Pédé«, das französische Wort für »Schwuchtel«. Das war eines der ersten Bilder, die im Rahmen von »Not an Object« (N.O.) entstanden sind. Anfang Oktober 2017 hat die FU-Studentin Alina gemeinsam mit ihrer Freundin Sofia das Fotoprojekt gegründet. Die beiden selbstbewussten jungen Frauen kennen sich bereits seit zehn Jahren.

natürlich auf«, erklärt Sofia. Aber gerade diese Gespräche sind den Gründer*innen von N.O. besonders wichtig. Denn damit trage das Projekt nicht nur zu einer Politisierung des Themas bei, sondern soll Betroffenen auch bei der Aufarbeitung helfen.

Ziel des Projektes: Sexismus anhand von Fotos sichtbar machen. Individuelle Erfahrungen mit Sexismus werden, so Alina, viel zu häufig totgeschwiegen und verschwinden so von der Bildfläche. Dem wollen die mittlerweile sechs Mitglieder von N.O. entgegenwirken, indem sie konkrete Aussagen von Täter*innen anprangern. Den Anstoß für das Projekt lieferten Gespräche mit Freund*innen über eigene Erfahrungen mit Sexismus. Die seien leider viel zu alltäglich: »Wir haben uns tierisch aufgeregt und beschlossen, dass wir etwas unternehmen müssen.« Die Empörung merkt man den beiden an. N.O. sind provokant und voller Energie.

In denen werden die Gründer*innen mit neuen Situationen konfrontiert. Beispielsweise waren nicht immer alle Teilnehmenden damit einverstanden, dass es keine nach Geschlecht sortierten Gruppen gibt. Die Anwesenheit eines Mannes sorgte für Konflikte. »Wir hatten nicht damit gerechnet, denn für uns war es selbstverständlich, dass alle zusammen in einem Raum sitzen und Angriffe nicht toleriert werden.« Sowas sei für eine Gruppe, die sich im Queerfeminismus verortet und Geschlechterzuschreibungen hinterfragt, besonders herausfordernd.

Bevor Fotos aufgenommen werden, treffen die Mitglieder Betroffene, die sich bei ihnen melden. Im persönlichen Gespräch berichten diese von Situationen, in denen sie zum Beispiel sexuelle Belästigung erlebt haben. Die Personen schreiben dann selber einen Text – meist eine kleine Geschichte – in dem sie ihre Erfahrungen schildern. Erst dann werden die Fotos gemacht. Dieser Prozess kann viel Zeit in Anspruch nehmen. »Auf die Veröffentlichung der Fotos kommt es uns in erster Linie gar nicht an. Wenn die Leute Zeit brauchen, brauchen sie eben Zeit«, erzählt Sofia. Die Körper der Betroffenen werden mit Zitaten bemalt. Teils sind diese aus den erlebten Situationen gegriffen, wie etwa Aussagen der Täter*innen. Teils komprimieren sie die Übergriffe auf eine Aussage: »Poly[gam]? Dann kannst du ja auch mich ficken.« »Meistens führen wir auch im Nachhinein noch Gespräche. Die Fotoshootings sind emotionaler, als man denkt. Das wühlt

Das wollen N.O. in Zukunft noch vertiefen. Die Fotos seien gut, um sich aus einer künstlerischen Perspektive mit dem Thema auseinanderzusetzen, meint Alina. Die Gespräche und Workshops im Hintergrund seien aber ebenfalls wesentlich.

Für die weitere Entwicklung des Projektes wünscht sich die Gruppe mehr Diversität: »Unser Projekt ist im Moment viel zu weiß«, sagt Alina. Diverse Stimmen abzubilden sei aber auch schwer. Für weiße Cis-Frauen sei es nunmal einfacher, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, da diese weniger stigmatisiert werden als beispielsweise People of Color. Trotzdem sind sich N.O. sicher: »Intersektionaler Feminismus ist die Zukunft, da er verschiedene Formen von Diskriminierung zusammen denkt.« Mit regelmäßigen Ausstellungen und Workshops tragen N.O. so zur Außenwirkung des Projektes bei und leisten einen wichtigen Beitrag für mehr Offenheit und Toleranz.

Carry-Ann Fuchs ist von dem gesellschaftlichen Engagement junger Leute zutiefst beeindruckt und findet, da könne sie sich selbst noch eine Scheibe abschneiden.

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Kultur

Wissenschaft

Mit schwarzem Gold gegen den Klimawandel Eine doppelte Entlastung des Klimas: Die Pflanzenkohletechnologie ermöglicht eine Senkung des CO2 -Ausstoß sowohl in der Herstellung als auch in der Anwendung. Text und Fotos: Elias Fischer

1.200 Nächster Halt: Albanien

Flüge von Berlin nach New York – dabei gelangen knapp 1.900 Tonnen CO2 in die Atmosphäre. Die gleiche Masse könnte der Tierpark Berlin-Friedrichsfelde jährlich mit der Pflanzenkohletechnologie einsparen, würde sie dort zur Verwertung organischer Rest- und Abfallstoffe angewandt. »Mit dieser Technologie können wir die Klima- und Umweltbilanz des Tierparks erheblich verbessern«, so Robert Wagner, Mitarbeiter der FU-Arbeitsgruppe Geoökologie.

Brennstoffe reduzieren«, schildert Wagner. Anders als bei der Verbrennung oder Verrottung entweiche bei diesem Verfahren nur die Hälfte des Kohlenstoffs aus den organischen Abfällen wieder in die Atmosphäre. Faktisch könnte der Tierpark bei Implementierung dieses Verfahrens eine Minderung der CO2-Belastung von 1.300 Tonnen pro Jahr erreichen – allein bei der Herstellung.

Die Wissenschaftler*innen des Forschungsprojekts „CarboTiP« unter der Leitung von Prof. Dr. Konstantin Terytze erproben derzeit die Leistungsfähigkeit der Pflanzenkohle im Tierpark. Diese speichere zum einen Kohlenstoff, zum anderen ersetze sie durch Nutzung der frei werdenden Wärme im Herstellungsprozess fossile Brennstoffe. Ersteres untersucht das Forschungsprojekt genauer, denn jährlich fallen 4.860 Tonnen Mist, Grünschnitt, Laub und Holz im Tierpark an. Das sind 1.728 Tonnen Kohlenstoff, die potentiell zu CO2 oxidieren und in die Atmosphäre entweichen. »Die Pflanzenkohletechnologie ermöglicht es uns, Kohlenstoff zu speichern und ein Entweichen als CO2 zu verhindern«, führt Wagner aus.

in die Komposthaufen, um zu untersuchen, wie sich das auf die Freisetzung von CO2 auswirkt. »Dadurch werden die Emissionen weiterer Treibhausgase wie Methan oder Ammoniak gesenkt«, resultiert Wagner. »So können wir den Gestank neutralisieren.« Noch entscheidender sei bei der Mitkompostierung der Pflanzenkohle allerdings der verstärkte Humusauf bau. Das mindere den Abbau von Kohlenstoff, wie Versuche gezeigt haben, sodass jährlich 21 Prozent weniger CO2 aus den kompostierten Abfällen freigesetzt würden.

Doch die Pflanzenkohletechnologie birgt weiteres Potenzial: Im Botanischen Garten mischt das Team die Pflanzenkohle

Text: Roxanne Honardoost Foto: Freie Filmwerkstatt FU Berlin

Kreativität überschreitet Grenzen – auch Geographische. Das beweist die Filmwerkstatt an der FU mit ihrem neuen Projekt, einem sechzigminütigen Dokumentarfilm über die junge Generation in Albanien.

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lbanien: Ein fremdes Land, gleich um die Ecke. Die Lebensverhältnisse der jungen Generation an der südlichen Adria wollen nun die FU-Studentin Eve Pfeilschifter, und ihre Co-Initiatorinnen Elena Bengl und Cornelia Schmidt in ihrem ersten Dokumentarfilm thematisieren. Dafür hat sich innerhalb der Freien Filmwerkstatt der FU ein sechsköpfiges Team zusammengeschlossen. Während der dreiwöchigen Dreharbeiten im kommenden September wird das Team die Geschichten dreier Protagonisten*innen vor Ort erzählen. In dem südosteuropäischen Land herrscht ein großer Auswanderungsdrang. »Jede*r kennt jemanden, die/der irgendwie raus will«, sagt Eve. So wird das Team einen jungen Mann begleiten, der seine Heimat schon einmal verlassen und in Deutschland Asyl beantragt hatte. Heute lebt er wieder in Albanien – ohne Existenzgrundlage. »Vor dieser Perspektivlosigkeit stehen auch die meisten Frauen«, erläutert Eve. Für viele albanische Mädchen bedeute »eine Zukunft zu haben«, früh zu heiraten. Die Organisation »Today for the Future« ermöglicht Frauen vor Ort den Einstieg in ein eigenständiges Leben, indem sie auf das Berufsleben vorbereitet und handwerkliche Fähigkeiten vermittelt. Eine Mitwirkende der Organisation wird ebenfalls Protagonistin des Films. Das dritte Narrativ beschäftigt sich mit dem Projekt »Haus Eden«. Viele Jugendliche brechen die Schule ab. Oft ziehe sich das durch mehrere Generationen, ohne dass sich etwas ändere, bemerkt Eve. Daher unterstützt »Haus Eden« Schulkinder und schafft Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Schulkarriere. Durch das Dokumentationsformat lernen die sechs Mitwirkenden die Kinematografie von einer ganz neuen Seite

kennen. Eve begrüßt das: »Als Kamerafrau ist es spannend, etwas zu drehen, was ich nur einmal bekomme und ich mir nicht vorher die Inszenierung genau überlegen kann«, schwärmt sie. »Ich werde einfach irgendwo reingeworfen.« Die Doku unterscheidet sich stark von den sonstigen Projekten der studentisch organisierten Filmwerkstatt. Seit der Gründung vor drei Jahren produzierten die Studierenden bislang vorwiegend fiktionale Kurzfilme. Die Werkstatt sei laut Eve ein Ort des Zusammenhalts geworden. Studierende tauschen Pläne für eigene Filmprojekte aus, suchen sich Interessierte, die bei der Umsetzung helfen und unterstützen einander mit der technischen Ausrüstung. Das sei auch notwendig, denn die Projekte bekommen keinerlei Mittel von der Uni. Für das neue Großprojekt sehen sie sich deshalb nach externen Finanzierungsmöglichkeiten um, zum Beispiel von Filmförderungen. Was den Dokumentationsfilm angeht, ist Eve jedoch optimistisch: »Es kann noch so viel schiefgehen – selbst, wenn wir vor Ort sind. Aber daraus werden wir lernen.« Gerade weil nicht alles planbar sei, will die Gruppe ihre subjektiven Empfindungen während der Dreharbeiten in den Film mit einfließen lassen. Eine rein objektive Erzählung sei ohnehin nicht möglich, weil jede Betrachtung von individuellen Erfahrungen geprägt sei, erklärt Eve. »Es ist nie die Realität, die man abbildet, sondern das, was man daraus macht.« Roxanne Honardoost hat sich nach Fertigstellung des Artikels ein One-Way-Ticket nach Albanien gekauft.

Die Pflanzenkohle stellen die Wissenschaftler*innen zu Versuchszwecken im Botanischen Garten der FU aus der Biomasse des Ostberliner Tierparks her. Insbesondere Holz, aber auch gepresstes Laub in Form von Pellets eigne sich dazu. In Dahlem zersetzt dann ein Ofen thermisch die Moleküle des organischen Abfalls zu Pflanzenkohle. Diese Umwandlung von Biomasse zu Kohle mit Hilfe von thermischer Zersetzung nennt man Karbonisierung durch Pyrolyse. Bei der Pyrolyse entsteht verwertbare Wärmeenergie. »Diese können wir nutzen, um Gebäude im Botanischen Garten zu heizen. Damit würde sich der Verbrauch fossiler

Ziel des Vorhabens sei es, Stoff kreisläufe zu schließen. So sollen Pflanzenkohlesubstrate wie Humus im Tierpark wiederverwendet werden, um die Belastungen der Pflanzen durch Klimaveränderungen zu kompensieren. Insgesamt könnte die Klima- und Umweltbilanz mit der Pflanzenkohletechnologie um 1.900 Tonnen an CO2-Emissionen entlastet werden, so erste Berechnungen. Wagner stellt in Aussicht: »Gelingt uns der Einsatz von Pflanzenkohle im Tierpark langfristig, bietet uns das neue Mö g l ich ke it e n für eine saubere, Elias Fischer wünscht sich als Grabbeigabe ein Stück Pflanzennachhaltige kohle gegen den Gestank. Abfallentsorgung in ganz Berlin.«

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Wissenschaft

Wissenschaft

Keine Hilfe? Text: Victor Osterloh, Leon Holly und Elias Fischer Foto: Pixabay

Ombudsleute an der FU sollen Wissenschaftler*innen und Studierende bei Konflikten mit Vorgesetzten unterstützen und wissenschaftliches Fehlverhalten aufklären. Doch es mangelt an Transparenz und Zugänglichkeit.

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ndreas Jung* ist erstaunt. Während einer Sitzung im Institut erfährt er von der Bewilligung eines neuen Forschungsprojekts. Das Forschungsthema: exakt sein Spezialgebiet. Doch nun erhält ein Kollege die Fördergelder, und zwar ohne Jung einzubeziehen oder ihn zumindest vorher über die Antragstellung informiert zu haben. Für Jung ist das definitiv unkollegiales Verhalten, vielleicht sogar ein Verstoß gegen gute wissenschaftliche Praxis. Eine Denkschrift der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) benennt, was gute wissenschaftliche Praxis auszeichnet: Verantwortlichkeiten eindeutig vergeben und wahrnehmen; den wissenschaftlichen Nachwuchs intensiv und aufmerksam fördern; Primärdaten eine Dekade lang verwahren; und Autoren nur angeben, wenn ein wesentlicher Beitrag zur Arbeit geleistet worden ist. Klingt eindeutig. Jung zweifelt trotzdem und sucht Rat. Einst hatte er von sogenannten Ombudspersonen an der FU gehört, die in solchen Fällen Ansprechpartner*innen für Wissenschaftler*innen und Studierende gleichermaßen sein sollen. »Da fängt man erstmal an zu recherchieren: Eine Ombudsperson, was ist das eigentlich?« Er findet heraus: Ombudspersonen beraten bei Verdachtsfällen die betroffenen Personen vertraulich. Oftmals geht es um Autor*innenschaftskonflikte, * Name von der Redaktion geändert und Fall verfremdet

Plagiate, Ideenklau wie im Falle Jung oder Betreuungsdefizite bei wissenschaftlichen Arbeiten. Doch offensichtlich fehlt die Auf klärung, stellt Joachim Heberle fest: Viele wüssten nicht einmal, dass es Ombudspersonen an der FU gibt. Der Physiker ist momentan eine der vier Ombudspersonen der DFG, die 1999 eigens das unabhängige Gremium »Ombudsman für die Wissenschaft« ins Leben gerufen hat. Eine zentrale Aufgabe ist die Auf klärung über gute wissenschaftliche Praxis, es sieht sich aber vor allem als Vermittlungsinstanz. Das Gremium sei den lokalen Ombudspersonen nicht übergeordnet, also keine Revisionsinstanz, sagt Heberle. Somit steht es jedem frei, sich an das DFG-Gremium oder an die lokalen Ombudsleute zu wenden – wenn man sie denn findet. In der Theorie stellt das Gremium auf der Homepage eine Liste mit Kontaktdaten der lokalen Ombudspersonen bereit. In der Praxis endet eine Kontaktanfrage auch mal mit der Ansage: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.« Erreicht man dort aufgeführte Personen doch, wissen manche auf Anfrage nicht, ob sie das Amt überhaupt noch bekleiden. Andere antworten erst gar nicht. Eine Mitarbeiterin des DFG-Gremiums erklärt, man pflege die Liste, es obliege jedoch den Universitäten, die aktuellen Daten zu übermitteln. Die Pressestelle der FU entgegnet, man aktualisiere die Angaben auf der Website regelmäßig.

Ebenso schwierig gestaltet sich die Suche nach den lokalen Ombudspersonen auf der Website der FU. Verborgen hinter dem siebten Reiter, ausgehend von der Startseite, findet man die Vertrauenspersonen, wie die lokalen Ombudsleute hier heißen. Mehr Transparenz wäre wünschenswert, fordert auch Barbara Kellner-Heinkele, Ombudsfrau des FU-Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften: Das Präsidialamt und die einzelnen Fachbereiche sollten die Vertrauenspersonen online sichtbarer positionieren. Hat man die zuständige Ombudsperson gefunden, kostet es bereits Überwindung, sich überhaupt an diese zu wenden. »Es sollen ähnliche Fälle vorgefallen sein, in denen die Leute sich nicht trauten, etwas zu sagen«, meint Jung. Besonders wenn Vorgesetzte, zum Beispiel Betreuer*innen von Arbeiten, involviert sind, sei es wichtig, über den Ablauf und die Vertraulichkeit des Verfahrens Bescheid zu wissen. Heberle kennt das Problem: »Viele wissen offenbar gar nicht, was sie im Verfahren erwartet«, gesteht er ein. Es gebe viel Gesprächsbedarf sowie die Notwendigkeit, für das Thema zu sensibilisieren. »Ich stelle oft fest, dass selbst meine professoralen Kollegen sich häufig mit den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis nicht gut auskennen.« In einer vertraulichen und unparteiischen Vorprüfung entscheiden die Ombudsleute, ob tatsächlich ein Fehlverhalten vorliegt und ob dieses »korrigierbar« oder »nicht korrigierbar« ist. Da sowohl die Ombudspersonen der DFG als auch die lokalen Vertrauenspersonen keine Sanktionen verhängen können, müssen sie »nicht korrigierbares Fehlverhalten« wie Datenmanipulation oder Plagiate an die zuständige Fehlverhaltenskommission melden. Im Falle eines korrigierbaren Fehlverhaltens versuchen die Ombudspersonen, den Konflikt zu schlichten. So auch in der Causa Jung. Zunächst trifft er sich mit der zuständigen Ombudsfrau Kellner-Heinkele, in einem zweiten Gespräch kommt noch deren Stellvertreter Werner Busch hinzu. Die beiden Ombudsleute bestärken Jung in seiner Einschätzung: Kriminell seien die Handlungen seines Kollegen zwar nicht, wohl aber wissenschaftliches Fehlverhalten. Sie organisieren ein klärendes Treffen mit dem Beschuldigten - auch ihm dienen die Vertrauenspersonen als Beratungsinstanz. »Dort versuchen wir gemeinsam zu einer vernünftigen Einigung zu gelangen«, erklärt Kellner-Heinkele. Der Beschuldigte allerdings zeigt wenig Einsicht, es kommt zu keiner Einigung. Scheitern die Gespräche, endet der Handlungsspielraum der Ombudspersonen.

Bei all den Unklarheiten ist es kaum verwunderlich, dass die Ombudspersonen selten beansprucht werden. »Wir haben hier schon seit Jahren keine Fälle«, meint Lutz Prechelt, Ombudsmann des Fachbereich Mathematik und Informatik an der FU. Allerdings liege das an seinem Fach, so der Professor. Informatiker*innen böten sich außerhalb der Wissenschaft viele Möglichkeiten, sodass die fachinterne Konkurrenz und das damit einhergehende Konfliktpotenzial sehr gering seien. Ähnliches erklärt Jürgen Bosse, der für die theoretische Physik zuständig ist. Er habe nur einen Fall gehabt, von dem er aber bis heute nicht wisse, wie er ausgegangen ist: »Es erstaunt mich auch ein wenig, dass man mich nicht offiziell benachrichtigt hat. Aber vielleicht ist der noch gar nicht abgeschlossen.« Die Recherche zeigt den Verbesserungsbedarf seitens Uni und DFG in puncto Auf klärung und Transparenz. Die DFG bietet immerhin gelegentlich Workshops zur guten wissenschaftlichen Praxis an. Kellner-Heinkele und Heberle stimmen überein: Solche Workshops sollten an der FU durchgeführt werden, angepasst an die akademische Karrierestufe. »Und auch Studierende sollen sich hier Rat holen, wenn sie ihn brauchen«, ergänzt Kellner-Heinkele. Auffällig ist, dass alle Ombudspersonen im Gespräch von Verstößen wissen und auf mehr Initiative der Uni zu deren Bekämpfung plädieren, doch keine Vorgänge am eigenen Fachbereich nennen oder kritisieren. Nicht nur an der FU tendiert die Fallzahl gen Null. 2017 zählte der Jahresbericht der DFG, den das Gremium regelmäßig verfassen und veröffentlichen muss, bundesweit lediglich 106 Anfragen. Der Bericht erwähnt nur Fälle, die explizit an das Gremium herangetragen wurden, die Zahlen scheinen hinsichtlich der aktuellen Schlagzeilen über prominente Fehltritte dennoch sehr gering. Denn die öffentlichen Skandale spiegeln bloß die Spitze des Eisberges wider. Wer sich den Bericht für 2018 anschauen möchte, muss sich bei Redaktionsschluss noch gedulden. Er ist noch nicht veröffentlicht.

Victor Osterloh, Leon Holly und Elias Fischer finden keine Ombudsperson für ihren Autorenschaftskonflikt.

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Wissenschaft

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»Afrika-Forschung ist eine Mangelware in der deutschsprachigen Wissenschaft« Text und Foto: Leon Holly Text und Foto: Leon Holly

Die Afrika-Expertin Uschi Eid prangert die deutsche Wissenschaft an: Zu wenig werde zum Thema Afrika geforscht und wenn, dann oft mit ideologischen Vorurteilen. Die Ergebnisse finden indes wenige Anwendungsmöglichkeiten in der Politik.

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schi Eid eckt an. Was sie für richtig hält, spricht sie aus, trotz mancher Kritik. Sie bemängelt die Dominanz des Postkolonialismus in der Afrika-Forschung, sieht in ihm bevormundende und ideologische Züge. Entwicklungshilfe sei für die Probleme des Kontinents keine Lösung: Statt staatlicher Gelder aus dem Ausland brauche es bessere Rahmenbedingungen für Investitionen in die Wirtschaft der dortigen Länder. Zu diesen Standpunkten gelangte die gebürtige Pfälzerin nach jahrzehntelanger Erfahrung mit der deutschen Afrikapolitik: Während ihres Studiums setzte sie sich Ende der 1960er Jahre für die Entkolonisierungsbewegungen ein, saß 1985 für die Grünen erstmals im Bundestag, und wurde unter Kanzler Gerhard Schröder Afrikabeauftragte der Bundesregierung. Heute ist Uschi Eid Präsidentin der Deutschen Afrika Stiftung und unterrichtet alle zwei Semester ein Seminar zu »Afrikanischer Reformpolitik in Theorie und Praxis« am Otto-Suhr-Institut der FU. Ihre Solidarität, das macht nicht nur der Titel ihrer Lehrveranstaltung deutlich, gilt den Afrikaner*innen, die ihren Kontinent und ihre Länder reformieren und verwandeln wollen. Diese politischen Reformen benötigen jedoch begleitende Forschung - nicht nur in Afrika selbst, sondern auch hierzulande, um die deutsche Afrikapolitik zu verbessern, meint Eid. Aber diese Forschung wird kaum geleistet.

Lediglich sieben deutsche Universitäten bieten Studiengänge mit dem Schwerpunkt »Afrika« an. Diese konzentrieren sich überwiegend auf Aspekte wie Sprache, Ethnologie und Kultur, oder nehmen eine postkoloniale Perspektive ein, betrachten also die Geschichte der Auswirkungen von Kolonialisierung und Imperialismus auf den afrikanischen Kontinent. »Wir wissen sehr viel über die Volksgruppe der Dogon in Mali«, bemerkt Eid. »Das finde ich gut, keine Frage. Aber was wissen wir denn über das parlamentarische System und die malische Verfassung? Da herrscht ein Ungleichgewicht in der Forschung.« Krisen und Missstände, die es in Afrika zu lösen gilt, gibt es zuhauf: Mangelnde Rechtsstaatlichkeit, verschiedenartige Kriege und Konflikte, eine extrem junge Bevölkerung, deren Anzahl sich wohl bis 2050 verdoppeln wird, oder die drohende Klimakatastrophe. Gut also, dass die Bundesregierung in diesem Jahr ihre Afrika-Leitlinien aktualisierte und sich dabei an der Agenda 2063 der Afrikanischen Union orientiert. Doch begleitende Afrika-Forschung sei eine Mangelware in der deutschsprachigen Wissenschaft, mahnt Uschi Eid an: »Wir haben eine große Kluft zwischen notwendigen Forschungserkenntnissen und Politikberatung. Es gibt wenige Wissenschaftler, deren Ergebnisse etwa relevant für die Bundeskanzlerin sind, damit sie ihre Politik auf Fakten stützen kann.«

Auch an der FU existieren lediglich ein 60-LP Bachelor zur Kunstgeschichte Afrikas, sowie der Studiengang »Sozialund Kulturanthropologie«, der unter anderem afrikanische Gesellschaften ethnographisch in den Blick nimmt. Dazu kommen vereinzelte Seminare, wie das von Uschi Eid. Doch nicht immer wurden afrikanische Fragen an der FU derart außen vor gelassen: Bis 2001/02 vertrat der Kameruner Prinz Kum’a Ndumbe III. den emeritierten Professor Franz Ansprenger auf dem Lehrstuhl für Afrikapolitik am OSI. Dann strich die FU den Lehrstuhl im Zuge einer Sparwelle, Kum’a Ndumbe musste gehen. Für Eid eine Tragödie. Sie fordert entschieden die Rückkehr des Afrika-Lehrstuhls an der FU: »Wir können es uns nicht länger erlauben in der Hauptstadt keine profilierte Afrika-Forschung zu betreiben!« Bisweilen lasten auch Dogmen auf der Wissenschaft. Postkoloniale Forschung etwa, die eigentlich die wichtige Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Großmächte sucht, weist auch ihre »problematischen« Seiten auf. Denn obwohl sie gerne den »eurozentrischen« Blick bemängelt, verharrt sie mitunter selbst in einer europäischen, in der Schuld der kolonialen Vergangenheit getränkten Perspektive. Damit läuft sie Gefahr, das Klischee des ewig passiven afrikanischen Opfers zu bedienen, das heute noch die öffentliche Wahrnehmung bestimmt. »Wir tun immer so, als wäre Afrika nie selbst Akteur. Aber das stimmt ja nicht!«, empört sich Uschi Eid. »Afrikanische Länder haben zum Beispiel 54 Stimmen in der Generalversammlung, ohne die geht in der UNO gar nichts. Vor Entscheidungen werden diese Länder immer konsultiert.« Wichtig sei deshalb mehr empirische Forschung zur modernen afrikanischen Geschichte, in der Afrikaner*innen als handelnde Subjekte vorkommen. Notwendige Fragen fallen ihr ein: »Wie hat sich Afrika international etabliert? Wie haben sich die politischen Systeme entwickelt, die sich afrikanische Staaten nach ihrer Unabhängigkeit gegeben haben? Oder welche Rolle spielt der Panafrikanismus heute?«

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Es sind besonders Stimmen aus Afrika, die den teils verzerrten westlichen Blick anprangern und denen Eid auch in ihrem Seminar Raum gibt. Stimmen, wie die von Axelle Kabou aus Kamerun, die in ihrer lesenswerten Streitschrift »Weder arm noch ohnmächtig« den gängigen Klischees über den Kontinent widerspricht. Stattdessen formuliert sie eine scharfe Polemik gegen die »schwarzen Eliten und ihre weißen Helfer«. Afrika mangele es keineswegs an Ressourcen und finanziellen Mitteln – sie befänden sich lediglich im gierigen Griff korrupter Oligarchen. Was es also brauche, seien politische Reformen von innen, sowie heimische Produktionsstätten, damit die Wirtschaft nicht überwiegend vom Rohstoffexport abhänge. Ähnliche Töne stimmt auch die Ökonomin Dambisa Moyo in ihrem Buch »Dead Aid« an, wo sie für eine Streichung westlicher Hilfsgelder an afrikanische Staaten plädiert. Dass Entwicklungshilfe systemische Armut mindern könne, sei ein Mythos, schreibt sie. Im Gegenteil, der Geldfluss »war und ist für die meisten Entwicklungsländer auch heute noch ein totales politisches, ökonomisches und humanitäres Desaster«. Eid sekundiert: »Entwicklungszusammenarbeit kann höchstens begrenzte Insellösungen für Probleme schaffen. Es wäre hilfreich, wenn dortige politische Eliten ihre Machtpositionen nicht mehr als eigene Existenzabsicherung begreifen würden.« Statt »Brot für die Welt« also lieber Arbeitsplätze in der Landwirtschaft für Afrika. Wie das zu erreichen ist? Nun, dazu könnte eine lösungsorientierte Forschung in Zusammenarbeit mit afrikanischen Wissenschaftler*innen beitragen – auch an der FU.

*aus: »Jugend ohne Gott« von Ödön von Horváth Regie: Thomas Ostermeier Ab 7. September 2019 Übrigens: Studierende zahlen bei unseren Vorstellungen im Vorverkauf und an der Abendkasse nur 9,- Euro.

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Ein Auslandsaufenthalt gehĂśrt zum Studium wie Sterni und Schulden bei den Eltern - sagt man. Dieser Austauschstudent sagt: Bleibt lieber zu Hause. Text: Johannes Hentschke Illustration: Marie K. Gentzel

es gibt Erfahrungen, die jede*r Studierende durchlaufen muss, bevor der Abschluss eingetĂźtet ist. Dazu gehĂśren der naive Vorsatz, die Regelstudienzeit einzuhalten, das bĂśse Erwachen, wenn man erstmals vom Master-NC erfährt und eben auch ein Auslandssemester, das von allen Seiten angepriesen wird. So wird es uns zumindest verkauft. Mir auch. Brav besuchte ich deshalb EinfĂźhrungsveranstaltungen. Brav informierte ich mich Ăźber meine AustauschmĂśglichkeiten. Brav bewarb ich mich fĂźr das Erasmus-Programm im fĂźnften Semester. Es bot den einfachsten Weg, um das ganze Paket ÂťAuslandserfahrungÂŤ von meiner Bucket List streichen zu kĂśnnen. Und noch braver freute ich mich auf vier Monate Bier, Bettgeschichten und Bonus bei der Notengebung. Das ist Erasmus, dachte ich. Doch auf meine Ankunft in Irland folgte die ErnĂźchterung: Die ÂťschĂśnste Zeit meines LebensÂŤ begann noch vor dem Betreten meines schweineteuren Wohnheimzimmers mit einer ellenlangen Liste an Verboten und Regeln. Nächtlicher Besuch war beim Wohnheim-Manager zu beantragen, die Zimmer stets sauber zu halten. RegelmäĂ&#x;ige Zimmerkontrollen sorgten fĂźr die Einhaltung. Von wegen Bier und Bettgeschichten. Ich fĂźhlte mich wie der vorpubertäre Klassenclown bei seiner Ankunft im Schullandheim. Der Trend setzte sich fort. In der ersten EinfĂźhrungsveranstaltung warnte man uns NeuankĂśmmlinge vor den

zahlreichen Gefahren, die auf dem abgelegenen Campus lauern: Autofahrer*innen, die sich trotz Radwegen noch nicht auf die Fahrradfahrer*innen eingestellt haben, Âťtrouble-makersÂŤ, die man als abtrĂźnnige nur ganz schwer erkennt, Fremde, die einen nachts nach Zigaretten fragen. Auf einer Campusparty fiel mir später auf, dass ich selbst der zigarettenschnorrende Âťtrouble-makerÂŤ war, vor dem die nette Dame des Erasmus-BĂźros so eindringlich gewarnt hatte. Nach der ersten Woche saĂ&#x; ich also in meinem unaufgeräumten Zimmer zwischen leeren ChipstĂźten und viel zu viel mitgebrachter Kleidung, ständig in der Angst, die erste Zimmerkontrolle kĂśnnte mich jeden Moment ereilen. Noch während ich Ăźberlegte, ob ein lautes ÂťWhat the fuck?!ÂŤ nachts auch auf der Verbotsliste stand, fiel mir auf, wie schräg diese Situation eigentlich war. Die Uni selbst war auch nicht besser, die Veranstaltungen absolut verschult und das Niveau entsprechend dem vorpubertären Klassenclown. Politischer Diskurs? Fehlanzeige! Statt Dreadlocks und Mate war die Uni Ăźbersäht mit Selbstbräuner und Starbucks – und der natĂźrlich mit eigenem Shop im Unigebäude. Mit einheimischen Studierenden hatte ich kaum Kontakt. Die sind schlieĂ&#x;lich jedes Wochenende nach Hause gefahren, um sich die Wäsche waschen zu lassen. Aber wer kann es ihnen verdenken? Waschen im Wohnheim kostet schlieĂ&#x;lich satte fĂźnf Euro.

FURIOS 22 IMPRESSUM Herausgegeben von: Freundeskreis FURIOS e.V. Chefredaktion: Josefine StrauĂ&#x;, Rabea Corinna Westarp (V.i.S.d.P., Freie Universität Berlin, JK 28/106, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin) Ressortleitung Politik: Antonia BĂśker, Julian von BĂźlow Ressortleitung Campus: Anabel Rother Godoy, Klara Siedenburg Ressortleitung Kultur: Carry-Ann Fuchs, Jette Wiese Ressortleitung Wissenschaft: Elias Fischer, Leon Holly Layout: Vic Schulte Chef*in vom Dienst: Julian von BĂźlow, Rabea Westarp Redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe: Antonia BĂśker, Julian von BĂźlow, Johanna Daniels, Elias Fischer, Carry-Ann Fuchs, Annika Grosser, Anabel Rother Godoy, Leon Holly, Roxanne Honardoost, Johannes Hentschke, Victor Osterloh, Michael Reinhardt, Tycho Schildbach, Klara Siedenburg, Josefine StrauĂ&#x;, Jasmin Veeh, Rabea Corinna Westarp, Jette Wiese, Julia Marie Wittorf Fotografien: Antonia BĂśker, Catprint Media GmbH, Elias Fischer, Freie

Filmwerkstatt FU Berlin, Tim Gassauer, Thilo Kunz, Not an Object e.V., Viviane Scheel, Julia Marie Wittorf Illustrationen: Antonia BĂśker, Catprint Media GmbH, Lotta Feibicke, Marie K. Gentzel, Dominique Riedel, Klara Siedenburg, Freya Siewert Covergestaltung: Tim Gassauer, Josefine StrauĂ&#x;, Rabea Westarp, Jette Wiese Editorial- und Autor*innenfotos: Tim Gassauer Lektorat: Josefine StrauĂ&#x;, Rabea Westarp ISSN: 2191-6047 www.furios-campus.de

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