FURIOS 23 - Unter Druck

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Berliner sein ist einfach. Wenn man das richtige Girokonto hat.

berliner-sparkasse.de/studis


Liebe Kommiliton*innen, in unserer 23. Ausgabe widmen wir uns dem Thema “Druck”. Besser hätten

schon lange nicht mehr. Man könnte sagen, wir hätten uns in unseren kühnsten

wir es kaum wählen können: Unter Druck standen wir nicht nur im Prozess der

Träumen kaum vorstellen können, dass wir uns einmal mit diesem Ehemaligen

Heftproduktion. Nebenbei hatten wir auch noch die Sorge, dass es vielleicht gar

unterhalten würden. Ihr ahnt es: Unsere Autor*innen haben SPD-Wunderkind

kein weiteres Heft geben könnte. Wie einige von euch vielleicht mitbekommen

Kevin Kühnert getroffen und für euch porträtiert.

haben, mussten wir im Herbst aufgrund einer lange zurückliegenden Urheberrechtsverletzung eine saftige Summe an eine Abmahnkanzlei

Fridays For Future hat für Furore gesorgt und Schüler*innen in aller

abdrücken. Damit war unser Konto leergeräumt und das gesparte Geld, das

Welt mobilisiert. Doch wie steht es um die Klimabewegung in der

eigentlich als Puffer für den kostspieligen Print dienen sollte, auf einmal weg.

Studierendenschaft? Unsere Autoren sind auf Spurensuche gegangen. Und

Wir haben es euch zu verdanken, dass wir dieses Heft nun trotzdem stolz in

wisst ihr, wie wenig manche eurer Dozent*innen eigentlich verdienen? Jette

den Händen halten können! In sagenhaften drei Tagen habt ihr uns geholfen,

und Carry haben für euch die Antwort.

in einem Crowdfundingprojekt das benötigte Geld zu sammeln, so dass wir Wie Pornografie im Uniseminar analysiert wird, erklärt euch “Porno-Dozentin”

tatsächlich in DRUCK gehen konnten. Ha!

Madita Oeming im Interview mit Rabea. Und wenn euch die Zeit bleibt, lest So schlecht die Wortspiele sind, die man mit unserem Titelthema anstellen kann,

ihr im Wissenschaftsressort, wie ihr aus Stunden Sekunden macht - zumindest

so vielfältig sind auch die Themen, die unsere Autor*innen im entsprechenden

gefühlt.

Ressort behandeln. Im Interview erläutert uns eine Psychologin der

Also: Viel Spaß beim Lesen!

psychologischen Beratungsstelle der FU, wie wir die Stresssituation im Studium meistern können, ohne in der Prokrastination zu versinken. Einen sehr intimen Erfahrungsbericht zum Thema psychischer Gesundheit steuert Antonia bei.

Antonia Böker & Rabea Westarp

Und wie eine Spitzensportlerin Studium und Leistungssport balanciert, erfahrt ihr in unserem Portrait. Aber auch die restlichen Ressorts haben so einiges zu bieten. Einen so prominenten „ewigen Ehemaligen“ wie in dieser Ausgabe hatten wir wohl

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Wie immer wieder Fieber

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Der professionelle Modus

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4 aus 40.000 / / Wie lässt du Dampf ab?

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Vielleicht For Future

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In einem Land nach unserer Zeit

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»Bei McDonald’s würde ich das Dreifache verdienen«

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Wo bin ich hier gelandet?

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Schöner Wohnen?

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»Die Jusos sind nicht die Utopieabteilung der SPD«

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Die empörte Studentin

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Porno war immer da

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So ein Scheißgefühl

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Die geklaute Rubrik

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Das Zeitliche segnen

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To Sleep, Perchance to Dream

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Editorial

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

KULTUR

»Prokrastinieren kann ein Widerstand gegen ein Leben sein, das ich nicht führen will«

Wortfrei / / Die Straßenmusikerin eine Kurzgeschichte

WISSENSCHAFT

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29

ALLES ANDERE

Milieufremd

POLITIK

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CAMPUS

TITEL // DRUCK

INHALTSVERZEICHNIS

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TITEL / / DRUCK

Milieufremd Die meisten Studierenden kommen aus Akademiker*innenfamilien. Wie beeinflusst der familiäre Hintergrund das Leben an der Uni? Zwei Studentinnen erzählen von ihren Erfahrungen im Studium. Text & Foto: Julia Hubernagel Kinder aus akademischen Elternhäusern beginnen im Schnitt dreimal so häuf ig ein Studium wie Kinder aus Arbeiter*innenfamilien. Daran hat sich in den letzten zehn Jahren wenig geändert. Der Anteil an Studierenden, die Bafög beziehen, sinkt ebenfalls kontinuierlich und war im letzten Jahr mit rund 18 Prozent so niedrig wie nie. Ist die Universität ein milieufeindlicher Raum? Svea Kriedental* studiert Politik- und Literaturwissenschaft. Ihre Eltern arbeiten als Maurer und Altenpflegerin. Dass sie ein Arbeiter*innenkind ist, sei ihr früher nie aufgefallen, sagt die 22-Jährige. Erst in der Uni habe sie gemerkt, dass ihr Grundwissen fehle oder sie vermeintliche Berühmtheiten nicht kennt. Heute zeige sich mitunter im Verhalten ihrer Kommiliton*innen, dass sie einer Arbeiterfamilie entstammt, in der Politik nie Thema gewesen ist. »Manche haben Angst, in ein Fettnäpfchen zu treten, wenn es im Gespräch mit mir um Arbeiter*innen geht«, erzählt sie. Einmal habe sie mit ihrer Herkunft jedoch kokettiert, sagt Svea. »Als ich im ersten Semester eine richtig schlechte Hausarbeit abgeliefert habe, rechtfertigte ich meine Leistung damit, dass mir meine Familie nichts Besseres mitgegeben hat.« Hinterher sei ihr das sehr peinlich gewesen. Unter Druck gesetzt fühle sie sich mittlerweile eher, wenn sie bei ihrer Familie am Tisch sitzt und nach einem Gesprächsthema sucht, das alle gleichermaßen interessiert. Die monatliche Bafög-Überweisung schafft ihr die größten finanziellen Schwierigkeiten vom Hals. Zwar muss sie sich Geld dazuverdienen, doch arbeite sie »in einem Nebenjob in einer Schule, der auch inhaltlich Sinn für mich macht«“, sagt Svea. Dennoch steht sie vor einem Problem: »In meinem Studium

wird ein Vollzeitpraktikum verlangt. Wie ich das mit der Arbeit vereinbaren soll, weiß ich noch nicht.« Über Geld muss sich Ira Stepowa* momentan keine Sorgen machen. Die Praktika der BWL-Studentin werden gut bezahlt, sie erhält einen hohen Bafögsatz. Zwar haben ihre Eltern in der Ukraine studiert, doch ihre Abschlüsse werden in Deutschland nicht anerkannt. Hier arbeiten sie so als Angestellte. In der Ukraine verheißt ein akademischer Abschluss zudem noch lange keine finanzielle Sicherheit. Über die finanzielle Lage von Iras Familie wissen nur die wenigsten Bescheid. »Meine Kommiliton*innen kommen eigentlich alle aus wohlhabenden Familien«, erzählt die 23-Jährige. »Einmal hat jemand seine arme Mutter bedauert, die nach der Trennung nun in einem einfachen Reihenhaus leben muss.« Ihre Studienwahl habe familiäre und ökonomische Gründe, sagt Ira. Es sei ihr wichtig, etwas zu studieren, mit dem man später Geld verdienen wird. »Nach einem Kunststudium niemanden zu haben, der mich auch nur theoretisch finanziell auffangen könnte, wäre mir zu unsicher.« Für Svea hingegen bedeutet ihr familiärer Hintergrund mehr Gelassenheit. Druck mache ihr wegen ihres Studiums in der Familie niemand. Dass sie überhaupt studiert sei schon Leistung genug. »Ich würde es auch gar nicht so schlimm finden, wenn ich hinterher doch etwas Handwerkliches machen würde«, sagt sie. Unterstützung der Uni haben beide noch nicht in Anspruch genommen. Die FU hatte 2013 eigens einen »Leitfaden für den Umgang mit Studierenden aus Arbeiterfamilien« veröffentlicht. Nach Kritik an der Formulierung des auch »Proletenguide« genannten Textes ist dieser mittlerweile von den Webseiten der Uni verschwunden. Lediglich auf das Angebot von ArbeiterKind.de wird verwiesen. Die 2008 in Gießen gegründete Initiative bietet Studierenden aus Arbeiter*innenfamilien Unterstützung bei Problemen rund ums Studieren, berät zu Finanzierungsmöglichkeiten und gibt Tipps zum wissenschaftlichen Arbeiten. Mittlerweile sind überall in Mitteleuropa Ortsgruppen der Initiative entstanden, auch in vier Berliner Bezirken treffen sich Studierende einmal pro Monat. *Namen von der Redaktion geändert

Julia Hubernagel ist für harte Arbeit eher ungeeignet.


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»Prokrastinieren kann ein Widerstand gegen ein Leben sein, das ich nicht führen will« Hausarbeiten, Referate, Klausurlernen - das machen die meisten lieber Übermorgen oder am Tag danach… oder danach. Was gegen Prokrastination hilft, erklärt Brigitte Reysen, die seit mehr als 25 Jahren als Psychologin arbeitet und Studierende in der psychologischen Beratungsstelle der FU berät.

Text: Julian von Bülow Illustration: Lena Leisten

FURIOS: Wieso schieben Studierende Auf gaben exzessiv auf?

schon oft vorgenommen habe, einen Fachtext zu lesen, das aber nicht schaffe, kann das ein Zeichen dafür sein, dass mich das Studienfach nicht interessiert. Dann kann Prokrastinieren auch ein Widerstand gegen ein Leben sein, das ich nicht führen will.

Reysen: Bei vielen Aufschieber*innen steht im Hintergrund der Unwille, sich zu eng zu organisieren, den Alltag zu strukturieren. Das ist in Ordnung, wenn ich damit langfristig mit mir selbst im Einklang bin. Ich kann gute Leistungen bringen, ohne jeden Morgen um sieben Uhr mit ausgereiften Tagesplänen aufzustehen. Problematisch wird Aufschieben als Gewohnheit erst, wenn wichtige Dinge nicht mehr geschafft werden. Mache ich mir das Leben leichter, wenn ich Dinge aufschiebe?

Was, wenn ich das als Problem ausschließen kann? Dann hat sich, wie in den meisten Fällen, das Prokrastinieren zur Gewohnheit entwickelt. Viele Versuche, sich davon zu lösen, sind nicht erfolgreich gewesen und gute Vorsätze hat man schon wiederholt aufgegeben. Die Erfahrungen des Scheiterns haben das Verhalten verstärkt und der Glaube daran, dies ändern zu können, wird immer schwächer. Wie kann ich das ändern?

Nicht langfristig. Auf den ersten Blick wirken Aufschieber*innen entspannter, zum Beispiel, wenn sie ihre Ausweichmechanismen schildern: Bevor ich lerne, räume ich erstmal die Wohnung auf, esse etwas Gesundes, stelle vielleicht einen ganzen Ernährungsplan auf. Das wird dann oft mit einem Augenzwinkern berichtet. Dahinter steckt aber viel Leid. Denn das Gefühl der Entlastung durch das Aufschieben hält nicht lange. Das schlechte Gewissen wird immer größer, denn man hat nicht das getan, was geplant war. Wenn ich mich kontinuierlich als jemanden erlebe, der*die seine*ihre Ziele nicht erreicht, hat das letztlich negative Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein. Was kann ich gegen das Aufschieben tun? Wer nicht mehr aufschieben will, muss herausfinden, was ihr*ihm wichtig ist und wie er*sie leben möchte. Wenn ich mir

In der Beratung setzen wir bei der Stärkung der erlebten Selbstwirksamkeit an. Die Studierenden sollen wieder erleben, wie es ist, die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Da ist es gar nicht wichtig, ob sich dies auf das Lernen oder auf andere Bereiche des Lebens bezieht. Wichtig ist, dass die Lebensqualität steigt und ich die Erfahrung mache, wie ich mein Leben positiv beeinflussen kann. Denn wir ändern unser Verhalten in der Regel nicht aufgrund des Drucks, sondern weil wir erleben, dass wir mit einer neuen Gewohnheit besser leben können. Daher rate ich in der Einzelberatung und in den Gruppen den Studierenden, möglichst viel Neues auszuprobieren: Neue Techniken, Lernorte und neue Arbeitsabläufe. Ich fordere sie auf, darüber nachzudenken, was sie nicht aufschieben. Das gibt wichtige Anregungen dazu, was sie brauchen, um erfolgreich zu sein. Warum schaffe ich es, regelmäßig Gitarre zu spielen,


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aber nicht regelmäßig zu lernen? Was macht das Gitarrespielen attraktiver? Was kann ich auf mein Studium übertragen? Auch ohne ständiges Aufschieben kann ich unter Stress stehen. Weshalb sind Leute gestresst, die zu Ihnen kommen? Da sind Erst- und Zweitsemester, die es von der Schule gewohnt sind, mit Stundenplänen zu arbeiten. Den packen sie sich zu voll, unterschätzen das Arbeitspensum oder überschätzen sich selbst. Aber auch Studierende in höheren Semestern halsen sich zu viel auf. Manche zweifeln auch ohne Prokrastinationsverhalten an ihrer Studienwahl. Andere fühlen sich durch Zeit- und Geldnot oder innere Ansprüche wie Perfektionismus zu sehr unter Druck gesetzt. Dazu können Probleme im persönlichen Umfeld kommen. Was kann ich gegen meinen Stress tun? Zunächst: Die Ursachen des Stresses ermitteln – da hilft manchmal ein Blick auf den Tagesablauf. Eine realistische Arbeitsplanung kann schon erste Erfolge bringen. Wer bislang nur wenig schriftlich festgehalten hat, bekommt von mir den Vorschlag, Tagesprotokolle anzufertigen, die wir in einem weiteren Gespräch gemeinsam auswerten. Dabei geht es nicht nur darum, die Zeit effektiver auszunutzen, sondern herauszufinden, was mir Kraft und Entspannung gibt. Gerade bei Studierenden, die sehr selbstkritisch sind, ist es wichtig, den Blick auf das Erreichte zu lenken. Daher nenne ich solche Tagesprotokolle auch häufig Erfolgsjournale. Wie kann gestressten Studierenden noch besser geholfen werden? Stress entsteht oft, wenn die zu erledigenden Aufgaben als zu schwierig, zu unübersichtlich oder zu zahlreich erlebt werden und man sich als Einzelne*r in dieser Situation allein gelassen fühlt. Mehr Überschaubarkeit über die geforderten Studienleistungen und unterstützende Maßnahmen zur Studienorganisation können viel Stress mindern. Etwa durch

Vermittlung von geeigneten Arbeitstechniken zu Beginn des Studiums oder Kleingruppenarbeit. Die gibt Studierenden die Sicherheit, nicht allein zu sein. Mit den MentoringProgrammen der FU hat sich da schon viel gebessert. Sie arbeiten jetzt schon seit mehr als 25 Jahren als Beraterin an der FU. Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit? Ich mag den Kontakt mit jungen Menschen in dieser Lebensphase, in der noch so vieles unklar ist. Es ist immer wieder spannend, an der Beantwortung von Fragen wie »Wie möchte ich leben?«, »Was ist mir wirklich wichtig?« oder »Wer möchte ich sein?« mitzuwirken. Welcher Beratungsfall bleibt Ihnen dabei in Erinnerung? Da fällt mir ein junger Mann ein, der sehr gestresst war und sich wie ein Hamster im Laufrad fühlte. Er wirkte krank, hatte Schlafprobleme und wollte Tipps und Tricks, wie er seine Arbeit besser bewältigen kann. Ich fand es sehr schön, wie er im Gespräch in der Gruppe ins Nachdenken kam. Im Laufe des Stress-Workshops hat er dann einen Auslandsaufenthalt geplant, weil er das Gefühl hatte, er müsse mal raus. Wir spürten, dass er immer offener und lockerer wurde und als er im Kurs einmal zugab, etwas nicht geschafft zu haben, gab es Applaus – er hatte Prioritäten gesetzt. In der Nachbesprechung ein Jahr später war er wesentlich glücklicher, das Studium gefiel ihm besser. Zu Beginn war ihm die Frage »Warum machst du das alles?« viel zu viel, doch am Ende schien er zu sich selbst gefunden zu haben. Das Angebot der Beratungsstelle findet ihr unter fu-berlin.de/sites/studienberatung/

Julian von Bülow täte ein Prokrastinatikum manchmal vielleicht auch ganz gut.



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Wie immer wieder Fieber Unsere Autorin hat Depressionen. Sie weiß genau, wie schwer es ist, damit ehrlich zu sein - auch zu sich selbst. Ein Essay über einen wirklich langen Weg.

es hell wurde. Ich konnte nichts und wollte nichts und fühlte nichts, außer einer so durchdringenden Scham, kaum mehr zu schaffen, als mich anzuziehen, dass es mir das Atmen erschwerte. Ich fühlte mich so lächerlich, dass ich kaum das Haus verließ. Der Gedanke, angeschaut zu werden, war unerträglich.

Text & Foto: Antonia Böker

Im April machte ich endlich einen Termin beim Psychiater. Es hatte drei nicht abgegebene Hausarbeiten und stetige Bitten meiner Freundin gebraucht, um mich dazu durchzuringen. Warum, ist schwer zu erklären. Ich glaube fest daran, psychische Erkrankungen so ernst zu nehmen wie physische. Der erste Grund, warum ich es hier nicht tat, ist relativ simpel: Mir fehlte die Energie. Nachrichten meiner Freund*innen zu beantworten war schwer genug. Ärzt*innen rauszusuchen, sie anzurufen, mich zu erklären, um einen Termin zu bitten, dauerte Wochen.

Spät im Dezember konnte ich mein Hirn plötzlich nicht mehr bedienen. Die Tage begannen, ineinander zu fließen und sich von mir abzulösen. Eine allumfassende Unruhe hatte sich in mir breit gemacht. Es handelte sich nicht um die oft produktive Agitation, die ich so gut kannte, sondern um das brennende, knochentiefe Gefühl einer mit Gewissheit bevorstehenden, unaufhaltsamen Katastrophe. Ich konnte keinen Gedanken zu Ende denken, keinen einzigen Satz lesen oder gar selbst schreiben. Es war, als hätte ich die Fähigkeit verlernt, Sprache zu verstehen. Einfache Aufgaben wurden immer kleinteiliger, bis sie nicht mehr zu bewältigen waren. Manchmal wurde Kaffeekochen zur Tagesaufgabe. Alles war unglaublich kompliziert, fühlte sich an, wie im Fiebertraum. Nachts wachte ich schweißgebadet auf, Muskeln verkrampft bis in die Handgelenke und starrte an die Decke, bis

Der zweite ist weitaus komplexer. Das Problem war nicht, psychische Leiden ernst zu nehmen, sondern mich selbst. Natürlich waren Depressionen schlimm. Nur hatte ich ja gar keine. Ich wollte nur gern welche haben. Wollte eine Ausrede dafür, dass ich so inkompetent, so faul war. Psychische Leiden sind perfide: Es ist unmöglich, sie rational zu betrachten. Die eigene Wahrnehmung ist Teil des Problems. Für ein traumatisiertes Hirn ist es schier unmöglich, sich selbst als solches zu erkennen. Besonders in akuten Krisen. Schuld daran ist auch der unbeholfene Umgang mit der


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sich immer bezogen auf einen vorherigen Zustand, ein »vor der Krankheit«.

Psyche. Als etwas fundamental Menschliches lassen sich individuelle psychische Leiden nur schwer in ein Raster pressen – die Variable Mensch verhindert Uniformität. Über eigene Erfahrungen wird wenig gesprochen. Stattdessen werden psychische Erkrankungen abstrahiert: Das, das und das muss gegeben sein, damit ... Das schafft Distanz, gibt ihnen einen festen, der Lebensrealität der meisten Menschen fernen Platz. Dabei ist es für Betroffene oft elementar, dass Zeichen von Personen erkannt und benannt werden, die von außen auf sie gucken können. Bezugspersonen fehlt aber meist nötiges Wissen. Geschultes Personal in Schulen, Universitäten und am Arbeitsplatz muss, wenn vorhanden, selbst aufgesucht werden. Als ich in der Oberstufe anf ing, immer mehr Fehltage anzuhäufen, schaltete sich niemand ein. Lehrer*innen nahmen schlicht an, ich versuche, mir Vorteile zu erschleichen, sei überheblich und faul. Meine Eltern, vermutlich aus Angst, ich könne mir meine Zukunft verbauen, gaben mir zu verstehen, ich müsse »diese Sache« schnell unter Kontrolle bringen und sprachen sonst nie mit mir darüber. Ihre Reaktionen machten mir unmissverständlich klar, wie viele Umstände ich allen anderen bereitete. Ich begann, mich für diese vermeintlichen Verfehlungen zu schämen. Die Energie, die ich darin hätte stecken können, gesund zu werden, wandte ich also dafür auf, diese Zustände so gut es ging zu verbergen. Es geht hier keinesfalls um Schuldzuweisungen, sondern um eine bloße Tatsache: Niemand von ihnen hatte je gelernt, mit diesen Problemen umzugehen. Selbst eine pädagogische Ausbildung bereitet nicht auf die Realität psychischer Erkrankungen vor. Von allen war ich aber am wenigsten gewappnet, meine eigenen Probleme zu bewerten. Ich wusste nur, was ich aus InternetChecklisten und rudimentärem Psychologieunterricht kannte. Depressionen, das heißt vor allem: Sich plötzlich nicht mehr wie man selbst zu fühlen. Ich aber hatte nie aufgehört, mich wie ich selbst zu fühlen. Im Gegenteil: Als es mir am schlimmsten ging, war ich überzeugt, mehr ich zu sein, als je zuvor. Niemand hatte einen Schalter umgelegt, sondern einen aufgedreht. Diese Lethargie war schließlich immer da gewesen - jetzt konnte ich endlich aufhören, das zu leugnen. Das war keine Krankheit, sondern schlicht meine Persönlichkeit. Viele Kriterien psychischer Erkrankungen schienen auf mich nicht zuzutreffen, weil sie

Ein Vorher gab es für mich nicht. So lange ich denken kann, hatte es diese Wellen gegeben, die mich, rückblickend mit lächerlich grotesker Präzision vorhersagbar, immer wieder einholten – nicht plötzlich, sondern so graduell, dass ich es nicht bemerkte, bis es zu spät und ich vollkommen handlungsunfähig war. Was auch immer in mir angelegt war, schien sich wie nach der Remission wieder auszubreiten, wurde mit jedem Rückfall schlimmer. Daran, mir Hilfe zu holen, dachte ich nur dann, wenn ich dazu überhaupt nicht in der Lage war. Zwischen den

»Psychische Erkrankungen richten sich aber nicht nach dem eigenen Kalender, lassen sich nicht bequem zwischen Praktikum und Prüfung schieben.« Episoden schob ich jeden Gedanken daran von mir weg. War überzeugt davon, es sei besser, halbgar zu funktionieren, erst einmal die Schule, das Studium fertig zu machen – davon, ich bilde mir das alles nur ein. Psychische Erkrankungen richten sich aber nicht nach dem eigenen Kalender, lassen sich nicht bequem zwischen Praktikum und Prüfung schieben. Die Zeit, die man ihnen nicht geben will, nehmen sie sich früher oder später. Es war paradox: Ich war bereits früher in Therapie gewesen, hatte etliche Versuche gestartet und nie durchgezogen. Weil ich überzeugt war, der Moment würde kommen, an dem mir bestätigt werden würde, was ich längst glaubte, zu wissen. Egal, wie unerträglich diese Zustände für mich waren, war an ihnen nichts klinisches und damit nichts, was behoben werden könnte. Die Vorstellung, ein Leben lang an den kleinsten Dingen zu verzweifeln, in der Gewissheit, dass es nichts gibt, das ich tun könnte, machte mir Angst. So sehr, dass ich wieder


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aufhörte, bevor man mich hätte ertappen können. Im Wartezimmer meines Psychiaters saß ich wie auf heißen Kohlen. Ich hatte nichts vorbereitet. Das hier, dachte ich, würde mein letzter Versuch sein. Ich würde nicht versuchen, eine Ordnung in das Chaos zu bringen, die ich nicht sah, würde all meine Karten auf den Tisch legen. Wenn er mich dann wegschicken würde, wüsste ich ein für alle Mal, dass nichts getan werden könnte. So ein Denken ist typisch, aber auch fatal: Es kann dauern, bis man jemanden findet, der*die einen versteht. Mitunter suchen Menschen Jahre nach der*m richtigen Therapeuten*in. Ich hatte Glück: Er nahm mich ernst. Ließ mich fast eine Stunde lang reden, und schickte mich mit Diagnose, einem Rezept und einer Einweisung in eine psychiatrische Tagesklinik nach Hause. Ich erinnere mich kaum an unser Gespräch, wohl aber an die Erleichterung, die ich danach fühlte. Daran, dass meine Freundin vor Freude in Tränen ausbrach, als ich ihr von meinem Termin berichtete. Ich holte meine Medikamente ab und rief nicht in der Klinik an. Bekam, Stück für Stück, mein Hirn zurück. Auch das war befreiend: Die Tatsache, dass all die Jahre wirklich manifeste Spuren hinterlassen hatten, ein sich zunehmend ausgleichendes Serotonindefizit. Denken wurde wieder weniger schmerzhaft. Psychopharmaka haben einen schlechten Ruf. Die Vorstellung, sie würden die Persönlichkeit auf unnatürliche Weise verändern, hält sich hartnäckig. Krankheiten sind aber keine Charaktereigenschaften. Medikamente helfen, traumainduzierte Veränderungen im Gehirn zu korrigieren. Wenn überhaupt geben sie einem die eigene Persönlichkeit zurück. Sie gaben mir die Chance, das Therapieangebot anzunehmen. Die Vorstellung, quasi die Tore des Tartaros aufzureißen, ohne zu wissen, was hinter ihnen liegt, war schwer. Was, wenn sie sich nicht wieder schließen lassen würden? Und doch konnte ich sie zum ersten Mal zulassen. Ich rief an. Wieder hatte ich Glück: Ein Platz war nicht in Anspruch genommen worden. Mein Vorgespräch war an einem Donnerstag Mitte Juli. Am folgenden Montag war mein erster Tag in der Tagesklinik. Zehn Wochen verbrachte ich dort. Jeden Wochentag von 7 bis 16 Uhr, hatte Einzel- und Gruppentherapie, Entspannungsund Strategiegruppen. Von Anfang an kam die Klinik mir vor

wie der seltsamste Ort der Welt. Über vieles aus meiner Zeit darf ich, um die Privatsphäre der anderen Patient*innen zu wahren, nicht reden. Wohl aber über das, was für mich am wichtigsten war. Die Tagesklinik war ein Ort mit ganz eigenen Regeln. Alles war absolut okay. Nichts musste verschwiegen, nichts musste getan werden. Zum ersten Mal konnte ich fühlen, wie erschöpft, wie antriebslos ich wirklich war. Ohne Deadline, ohne sozialen Druck im Nacken beginnen, zu ahnen, was mir wirklich gut tut, nicht, was ich glaube, tun zu müssen. Ich hatte erwartet, es würde mir schwer fallen, mich einem Haufen Fremder zu offenbaren, ihnen zu erklären und sie sehen zu lassen, was ich mir kaum selbst eingestehen konnte. Es war erschreckend einfach: Meine Mitpatient*innen waren von Anfang an so annehmend, so radikal ehrlich, ohne sich für sich selbst zu schämen, dass auch ich mich traute. Zum Ende hin

»Wenn es Platz für psychisches Leiden in meiner Lebensrealität geben sollte, musste ich ihn selbst schaffen.« hatte ich zwei Dinge mitgenommen. Erstens: Wenn ich möchte, dass es einfacher wird, dass Scham und Stigma einander nicht immer wieder bedingen, dann kann ich nicht schweigen. Wenn es Platz für psychisches Leiden in meiner Lebensrealität geben sollte, musste ich ihn selbst schaffen. Und zweitens: Natürlich war die Tagesklinik nicht das Ende, sondern vielmehr – so beschrieb es eine Therapeutin – ein Durchlauferhitzer. Ziel ist nie, alles in nur zehn Wochen zu lösen, auch mir stehen noch Jahre der Therapie bevor. Es geht darum, zu lernen, dem Prozess zu vertrauen. Auch, wenn man nicht weiß, wie er aussieht, nicht einmal sicher sagen kann, dass er sich am Ende lohnen wird. Heute fühlt es sich zum ersten Mal an, als könnte er es wert sein.

Antonia Böker musste sich ihr imaginäres Publikum nackt vorstellen, um diesen Artikel zu schreiben.


DER PROFESSIONELLE MODUS

Caterina Granz ist Leichtathletin und studiert seit kurzem Psychologie im Master. Im Sport lastet ständiger Druck auf ihr, im Studium beschäftigt sie sich mit der Psyche – eine erfolgversprechende Kombination? Ein Portrait.


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Text: Elias Fischer & Annika Grosser Foto: Tim Gassauer Es ist der 15. August 2019 – Leichtathletik-Meeting im polnischen Stettin. Die Mittelstreckenläuferin Caterina Granz hat noch einmal die Chance, die Norm für die im Oktober anstehende Leichtathletik-WM in Doha zu erfüllen: 1500 Meter in knapp 4 Minuten. »Vor Ort traf ich viele Läuferinnen auf ähnlichem Niveau«, erzählt Caterina. »Alle wollten die Norm für Doha rennen. Das Ziel war also eindeutig.« Viele der Konkurrentinnen kennt die 25-Jährige. Wenn sie sich sehen, ist die Atmosphäre stets freundschaftlich. Es gehe ihr besser, wenn sie »den Druck teilen kann«, sagt Caterina. Denn Druck lastet ständig auf Caterina. Bereits Tage vor den Wettkämpfen hinterfragt sie Entscheidungen, die ihre Form an der Startlinie beeinträchtigen könnten. An solchen Tagen fühle sie sich wie unter einer Glocke, alles wirke gedämpft, beschreibt die Athletin. »Ich bin dann gedanklich sehr eingeengt, erwische mich dabei, dass ich abschweife und nicht mehr so richtig anwesend bin.« Negative Gedanken verfolgen sie oft bis an die Startlinie. Doch jede*r zweifle, auch Olympiasieger*innen, sagt Caterina. Im Leistungssport müssten alle lernen, damit umzugehen. In Stettin geht sie dennoch selbstbewusst an den Start, die Saison ist gut gelaufen. »Ich wusste, was ich kann«, reflektiert Caterina. Dann geht es los: Der Lauf ist hart für die Sportlerin, aber endet schnell. Schneller als jeder andere über diese Distanz in ihrer Karriere. Sie stellt mit 04:05,60 Minuten eine neue persönliche Bestzeit auf und sichert sich die WM-Teilnahme. Für Caterina ist damit ein großes Ziel erreicht. »Der Druck der Jahre und letzten Monate, den ich mir selbst aufgebaut hatte, fiel ab und ich habe geweint.« Heute wirkt Caterina gelöst. Es ist Dezember, erst kürzlich ist sie vom Vorstand des Allgemeinen Deutschen Hochschulsportverbands zur Hochschulsportlerin des Jahres 2019 gekürt worden. Die 25-Jährige studiert im Master Psychologie an der Fernuniversität Hagen. Nachdem sie im Sommer ihren Bachelor an der FU mit einer Arbeit zu »Schritten aus der Depression« abgeschlossen hatte, erfüllte sie den Numerus Clausus für den Master an der FU nicht. »Der Fokus liegt bei mir auf dem Sport«, sagt Caterina. Trotzdem möchte sie im nächsten Jahr an die FU zurückkehren, um ihren Master zu beenden. Leistungssport und Studium - überfordert sie das nicht? Nein, sagt sie. Das Studium nehme ihr den Druck im Sport, der Sport den im Studium.

Caterina wuchs im brandenburgischen Glienicke auf und begann früh, ihre körperlichen Fähigkeiten auszureizen. Im Kindesalter habe sie Tennis gespielt, »weil meine Eltern Tennis spielten«, sagt die Leistungssportlerin. Häufig maß sie sich mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Maximilian. »Wir sind am Strand um die Wette gelaufen«, erinnert sich der. Auch er hat sich auch dem Laufen verschrieben. Doch Caterina sei immer etwas extremer gewesen. Seine Schwester sei in der Kindheit die Hofeinfahrt des Elternhauses hoch und runter gesprintet: »Das Ziel war, schneller als die vorbeifahrenden Autos zu sein«. Durch ihre Ausdauer beim Tennis und einen Sieg in einem schulischen Crosslauf über vier Kilometer macht die Schülerin 2008 auf sich aufmerksam. Detlef »Jive« Müller spricht sie an. Er ist Trainer der Leichtathletikgemeinschaft NORD Berlin. »Dann dachte ich«, erzählt Caterina, »dass ich es einfach ein bisschen ausprobiere.« Jive, der bis heute ihr Trainer ist, erinnert sich an seinen ersten Eindruck von Caterina: »Hör auf mit Tennis! Sie hatte einfach eine Läufer*innenfigur, einen guten Schritt, einen guten Abdruck.« Letztlich, so die Hochschulsportlerin, sei sie dabei geblieben, weil ihr der Sport Spaß macht. Und, weil sie von klein auf gelernt habe, immer Höchstleistungen zu bringen. »Für gute Leistungen erhielten wir stets Zuspruch von unseren Eltern.« Sie glaubt trotzdem, den meisten Druck mache sie sich selbst, nicht ihre Eltern. Seit mehr als elf Jahren läuft Caterina nun über die Tartanund Geländebahnen und misst sich mit der Konkurrenz – in Deutschland, Europa und seit 2019 erstmals auch weltweit: Erst ging sie über 800 Meter und bei Crossläufen, später hauptsächlich über 1500 Meter an den Start. Die Saison 2019 ist bis dato ihre erfolgreichste gewesen. Ein Blick in die Bilanz der vergangenen zwölf Monate über ihre Paradedisziplin zeigt, weshalb: Bronze bei den Hallenmeisterschaften in Leipzig Mitte Februar, Gold im Juli bei der Sommer-Universiade in Neapel, Titelgewinn bei den Deutschen Meisterschaften im August und eben jene WM-Norm in Stettin. Die Resultate decken sich derzeit mit ihrer Erwartungshaltung. »Ich werde immer 100 Prozent geben müssen«, sagt Caterina. Ihre Wettkampfdisziplin erfordere, dass sie jedes Mal an ihre körperlichen Grenze gehe. Auf den letzten 200 Meter stellten sich deshalb bei früheren Wettkämpfen oft Probleme ein, wenn sie mit voller Kraft auf die Zielgerade einbog. »Die Spannung im Körper konnte ich nicht in die Vorwärtsbewegung bringen, sondern verkrampfte, wodurch die Luftzufuhr nicht richtig funktionierte.« Bei einem Wettkampf in Karlsruhe 2018 überholte sie eine Konkurrentin auf den letzten 200 Metern, Caterina holte sie nicht mehr ein. »Ich habe komplett zugemacht, wusste nicht, wie ich es bis zum Ziel überstehen soll«, erzählt sie. Im Ziel verdrehten sich ihre Augen, Anwesende


14 wollten den Krankenwagen rufen. »In dem Moment habe ich realisiert, was es ausmacht, wenn dich jemand überholt. Das hatte einen mentalen Aspekt, vor allem dieser Druck auf den letzten Metern.« Überhaupt ist der Sportlerin mentaler Druck nicht fremd. »Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich extrem gute Leistung im Training gebracht habe, das aber nicht ins Rennen übersetzen konnte«, sagt sie. Eine Lösung musste her. In der Sportpsychologie der Humboldt-Universität arbeitete Caterina bereits als studentische Hilfskraft, also entschloss sie sich, auch als Läuferin mit einer Sportpsychologin zusammenzuarbeiten. Die Therapie wirkte: Innerhalb kurzer Zeit bemerkte sie riesige Fortschritte. Sie lernte nicht nur neue Visualisierungs- und Entspannungstechniken kennen, sondern auch Persönlichkeitsübungen: »Da überlege ich: Was gibt es für Stimmen in meinem Kopf – die Zweifel, die Bewerterin, das Vertrauen.« Caterina ist sich sicher, dass die Therapie nicht nur ihre Leistung verbessert, sondern auch ihr Gemüt. Seitdem sei sie ein »glücklicherer Mensch.« Der mentale Wandel ist auch Jive nicht entgangen, »Cati« sei nun stabiler.

ihrem Bruder Maximilian jedenfalls Klarheit: »Sie ist immer die Chefin«. Langfristig gesehen könne sie sich eine eigene Familie mit Kindern gut vorstellen. Beruflich möchte sie »gar nicht in Richtung Sport gehen«, sondern in die Psychologie. Bis dahin hegt sie weiterhin große Ambitionen als Athletin. Ihr nächstes Ziel: Tokio, Olympia 2020.

Sie selbst nutzt mittlerweile einen kleinen Trick: »Wenn ich mir selber vornehme, heute nur 95 Prozent zu geben, laufe ich schneller«. Denn in dem Moment, in dem man die Leistung erbringen muss, sei es am besten, jeglichen Druck abzulassen. Wieder scheint der Erfolg ihr recht zu geben. Doch kann sie den überhaupt bewusst genießen? In Drucksituationen ist Caterina sehr fokussiert, blendet alles aus, so ihr Bruder. »Das ist dann ein professioneller Modus«. Manchmal erschwere der hr aber, Erfolge wahrzunehmen. Wie fühlt es sich für die Sportlerin an, zu gewinnen? Eine »krasse Reizüberflutung; Gefühlschaos, das wie eine Droge wirkt«. Ihr sei wichtig, für einen Moment innezuhalten und sich vor Augen zu führen, was sie schon erreicht hat. »Damals habe ich mir geschworen, wenn ich da angekommen bin, wo ich jetzt bin, dann werde ich zufrieden sein. Dann werde ich die Sportlerin sein, die happy ist, wie es gerade läuft.« Dennoch erwische sie sich dann immer wieder, dass sie nach noch Größerem strebe. »Grundzufriedenheit würde dazu führen, dass ich nicht mehr weitermachen kann.« Denn um weiterzumachen, brauche es immer das nächste, größere Ziel. Ein ausgewogenes Maß an Druck zu f inden sei jedoch schwierig. Sie kenne viele Sportler*innen, »die darunter leiden oder sich selber versklaven«. Caterina meistert den Balanceakt, auch mithilfe ihres familiären Umfeldes. Dort rücken auch mal andere Themen in den Fokus. »Dann merkt man immer: So wichtig ist das alles nicht.« Trotzdem muss sie an vielen Ecken verzichten. Sind ihre Freund*innen bis spät nachts unterwegs, steckt Cati früh am nächsten Morgen schon wieder in den Laufschuhen. Ihre Zukunftsziele verlangen ihr Verzicht, Disziplin und Kontrolle ab. In puncto Kontrolle herrscht laut

Annika Grosser rennt auch professionell. Meistens zur U3.

Elias Fischers Traum war es immer, Hochspringer zu werden - bis er feststellte, dass er talentierter im Fallen ist.


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Studierende, Lehrende und andere Angestellte - über 40.000 Menschen gehen an der FU ihren Beschäftigungen nach. Wir lassen an dieser Stelle vier von ihnen zu Wort kommen. Protokolle: Matthäus Leidenfrost Fotos: Viviane Scheel

Ich hab ein Segelboot, mit dem ich rausfahre, um mich wieder zu erden. Es ist eigentlich weniger Dampf ablassen und mehr ein Ausgleich. Dazu brauche ich die Natur um mich herum. In Berlin gibt es einige Möglichkeiten, um zu segeln und es ist nie zu spät, damit anzufangen. Ich mach es selbst erst seit drei Jahren. Kevin, Lehramt

Wie lässt du Dampf ab?

Hm, schwierige Frage, aber eigentlich einfach schlafen. Oder mal für eine Stunde das Handy weglegen und nichts machen. Cindy, Grundschulpädagogik

Ich spiele Tennis. Dabei habe ich die Möglichkeit, mal den Kopf frei zu bekommen. Eigentlich spiele ich schon seit 13 Jahren, aber neben der der Uni komme ich nicht mehr so oft dazu. Daher spiele ich zur Zeit nur mit Freund*innen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Saskia, Biochemie

Ich schrei manchmal ins Kissen. Kiana, Grundschulpädagogik


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POLITIK Die Klimastreiks 2019 politisierten eine ganze Generation Schüler*innen. Und die Studierenden? Spätestens seit der Bologna-Reform gelten sie als unengagiert. Ändert die Klimabewegung daran etwas? Oder hält sich das Bild des unpolitischen akademischen Nachwuchses? Eine Spurensuche an der FU. Text: Philipp Gröschel & Julian Sadeghi Illustration: Freya Siewert, Marie Gentzel und Roxanne Honardoost

Ein wenig trotzig steht sie da, und auch ein wenig überfordert. Eine Aktivistin der »Students for Future« an der FU Berlin steht am Redepult des Hörsaals 1A. Eigentlich möchte sie der Studierenden-Vollversammlung die Ergebnisse ihrer Arbeitsgruppe vorstellen, die während der »Public Climate School« Ende November Forderungen zum »politischen und wirtschaftlichen System« ausgearbeitet hat. Doch sie kommt nicht dazu. Die Anwesenden möchten lieber über einzelne Formulierungen diskutieren. »Frauen« oder »vom Patriarchat benachteiligte Personen«? Und sollte man proklamieren, dass »Kapitalismus und ökologische Nachhaltigkeit unvereinbar« seien, oder sich stattdessen für die gemäßigte Formulierung entscheiden, nach der »Neoliberalismus und ökologische Nachhaltigkeit unvereinbar« seien? Wäre die Vollversammlung ein Pulverfass der Meinungen zum richtigen Umgang mit der Klimakrise, könnte die Systemfrage der Funke sein, der das Fass explodieren lässt.

Future« groß wurde, blieben die Studierenden außen vor. Eine Befragung des Instituts für Bewegungsforschung der TU Berlin bei der Klimademo im März 2019 ergab: Nur rund 18 Prozent der Befragten waren zwischen 20 und 25 Jahren alt, also im typischen Studierendenalter, während Teilnehmer*innen zwischen 14 und 19 Jahren mehr als die Hälfte ausmachten.

Empörte Studierende – eine aussterbende Spezies?

Von Neu-Aktivist*innen und alten Hasen

Als Ende 2018 die Schüler*innenbewegung »Fridays for

Im Frühjahr 2019 gründete sich an der FU ein studentischer

Doch wo ist der akademische Nachwuchs? Sitzt er weltabgewandt in Second-Hand-Kleidung mit den besten Freund*innen in der Einzimmerwohnung, isst über »TooGoodToGo« gerette vegane Fischfrikadellen, trinkt fair gezupften Bio-Matetee aus Bambustassen und erfreut sich der eigenen Selbstgefälligkeit? Oder ist es die alte Leier von Millennials, die die BolognaReform zur Freizeit- und Meinungslosigkeit verdammte? Zu beschäftigt, mit Nebenjobs und knapp bemessenem Bafög gerade so über die Runden zu kommen? Rebellion? Morgen vielleicht... ¯\_(ツ)_/¯.


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Ableger von »Fridays for Future«. Ein Gruppenmitglied betont: »Wir hatten fast alle am Anfang keine Ahnung von Aktivismus.« Mit der Zeit haben sich immer mehr Leute angeschlossen, bis die Idee aufkam, im Juni 2019 eine Vollversammlung einzuberufen. Während es dort noch um Forderungen an die Universitätsleitung ging, richtete sich die Klimastreikwoche im November vor allem an die Bundespolitik. Die Bereitschaft zu Veränderung sei in Dahlem nur da gegeben, wo es nicht unbequem wird. »Die Uni hat zwar mehr gemacht als andere Unis, aber sie ist nicht bereit für eine große Veränderung«, sagt der Aktivist. Das Engagement der »Students for Future« rückt sie zunehmend in den Fokus diverser politischer Strömungen an der Universität. Viele Hochschulgruppen wollen ihre Ideen in die Forderungen der Studierendenschaft mit einfließen lassen. Normalität bei einer basisdemokratischen Initiative, allerdings birgt das auch Potential zur Spaltung. Auf der Abschluss-Vollversammlung waren neben pragmatischen auch klassenkämpferische Stimmen zu hören. Ein Beispiel dafür ist »organize:strike«. Die antikapitalistische Hochschulgruppe gründete sich im Nachgang zum Tarifstreik der studentischen Beschäftigten im Jahr 2018. In der Folge blieben ihre Ziele jedoch eher vage. Zwar griff die Gruppe mehrfach explizit studentische Themen auf, hat aber auch einen politischen Anspruch, der über den universitären Kontext hinausgeht. Auf der Internetseite »Klasse gegen Klasse«, auf der »organize:strike« programmatische Beiträge publiziert, wurden bislang vor allem die Gelbwestenbewegung, Feminismus und Protestbewegungen in Lateinamerika thematisiert. Klimaaktivismus schien auf der Agenda bislang nicht weit oben zu stehen. »Es muss etwas anderes als Kapitalismus oder Sozialismus geben!« Die meisten Aktivist*innen scheinen sich einig zu sein, dass die Klimafrage nicht von der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung zu trennen ist. Doch über die Richtung der nötigen Veränderung herrscht Uneinigkeit. So brachten revolutionäre Stimmen

im Entwurf eines Forderungskatalogs die Formulierung unter, dass alle großen Wirtschaftsunternehmen enteignet und unter die demokratische Verwaltung der Arbeiter*innen und die Kontrolle von Verbraucher*innenausschüssen unter der Beratung von Wissenschaftler*innen gestellt werden müssten. Aber nicht alle Aktivist*innen können sich mit der Rückkehr einer sozialistischen Planwirtschaft anfreunden. Einer der »Students for Future« findet, man müsse natürlich dorthin gelangen, dass der gegenwärtige Kapitalismus nicht mehr wiederzuerkennen sei. Doch er gibt zu bedenken: »Die wenigsten Leute können sich ein System vorstellen, das weder Kapitalismus noch Sozialismus ist. Aber es muss doch irgendetwas anderes geben!« Auch andere Perspektiven gewinnen an Einfluss. »Wir kritisieren, wie der Klimaaktivismus im globalen Norden ausgetragen wird; dass Menschen ausgeschlossen werden aufgrund ihres sogenannten Migrationshintergrundes oder Merkmalen, an denen sie nichts ändern können«, sagt Frederick von »Decolonize Climate Action«. Er und seine Mitstreiterin Sandra haben während der »Public Climate School« einen Workshop veranstaltet. Laut eigenen Angaben interessierten sich 170 Studis für antirassistische und -koloniale Praktiken in der Klimabewegung. »Wir haben nach unserem Workshop darüber geredet, dass der Name »for Future« sehr exklusiv ist«, sagt Sandra. Und Frederick wirft ein: »Wem wird denn die Zukunft geklaut? Wir in Deutschland sind viel weniger gefährdet als die Menschen im globalen Süden.« Traditionslinie: studentischer Aktivismus Wie fügt sich nun, knapp anderthalb Jahre nach der Gründung der »Fridays for Future«-Bewegung, die FUHochschulgruppe in das Konstrukt aus Schüler*innen, Eltern, Wissenschaftler*innen und »Omas for Future« ein? Die studentischen Klimaaktivist*innen sehen sich an der Seite der Schüler*innen und als Bindeglied zwischen den Altersgruppen. »Unser Vorteil ist, dass wir den direkten Draht zur Wissenschaft haben«, meint einer der Klimaprotestierenden. Deshalb sei es gut, als Studis die Systemfrage kritisch zu stellen. Simon Teune, Protest- und Bewegungsforscher an der TU Berlin, meint, dass


18 sich die studentische nicht signifikant von der Perspektive der Schüler*innen unterscheide. »Die Diskussionen sind in beiden Gruppen die gleichen.« Bei aller disruptiven Energie der letzten Monate: Die Klimawoche hat deutlich gezeigt, dass Erwartungen an

eine neue Studierendenbewegung in der Tradition der 68er zu hoch angesetzt sind. Schaut man in die Satzung der Studierendenschaft, waren die von Fridays for Future organisierten Vollversammlungen nicht einmal beschlussfähig. Simon Teune erklärt: »Wenn man 1967 an der FU studiert hat, war es schwer, um das Thema herumzukommen, weil die

Universität in der öffentlichen Diskussion mit dem Protest in eins gesetzt wurde.« Das sei heute anders. Nach wie vor bleibt der Großteil der Studierenden an der Freien Universität unbeteiligt an den Aktionen der »Students for Future«. Ein Mitglied der Gruppe glaubt, »wir sind eine Generation, die wartet, dass die Information zu uns kommt und nicht wir zur Information.« Simon Teune analysiert: »Anders als bei den 68ern sehen Studierende heute die Uni nicht so sehr als den Ort, an dem sie sich engagieren.« Studentischer Aktivismus bestehe weiterhin, etwa bei den Anti-KohleProtesten von »Ende Gelände«. Der Unterschied sei aber, dass die Studierenden schlicht als Aktivist*innen auftreten, nicht mehr spezifisch als Studierende. Dadurch sei die studentische Identität in Protesten weniger sichtbar. »Diese fehlende Sichtbarkeit von studentischem Aktivismus führt dazu, dass sich die gesellschaftliche Gruppe der Studierende nicht mehr so selbstverständlich als politisch versteht.« Philipp Gröschel und Julian Sadeghi hatten stets ein gutes Arbeitsklima.

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In Tallinn ist man hip, digital und unreligiös. Unsere Autorin streifte ein Semester lang über Flohmärkte, wandelte auf Coca-Cola-Plazas und besuchte digitale Bürgerämter.

In einem Land

nach unserer Zeit

Text & Foto: Elena Schulz-Ruhtenberg Estland ist eines dieser Länder, die nur gelegentlich mal in der Presse auftauchen. Meist wird von seiner digitalen Vorreiter*innenrolle berichtet oder davon, dass das Land bei der letzten PISA-Studie den besten Platz unter den europäischen Ländern belegt hat. Mit solchen Berichten im Kopf trat ich mein Auslandssemester in Tallinn an. Im September war das Wetter noch so gut, dass ich in der Ostsee schwimmen konnte. Die Temperaturen erreichen mittlerweile permanent Werte um den Gefrierpunkt. Passend zum ersten Advent hat es das erste Mal geschneit, die ganze Stadt ist mit Lichterketten geschmückt. Aber fangen wir mal vorne an. Tallinn ist vielen wohl so unbekannt, dass eine Einordnung angebracht ist. Bevölkerungszahl: 430.000. Zum Vergleich: Berlin hat dreimal so viele Einwohner*innen wie Estland insgesamt. Lage: direkt an der Ostsee; mit der Fähre ist man in zwei Stunden in Helsinki. Leben: niedrige Mieten; kostenloser Nahverkehr; hippe, grüne Viertel; kosmopolitisches Flair. Die estnische Bevölkerung gehört zu den unreligiösesten in Europa. Einkaufen am Sonntag ist kein Problem, nur Alkohol wird nach 22 Uhr nicht mehr verkauft. Der einzige McDonalds der Stadt ist 24 Stunden geöffnet und permanent überfüllt. Anstelle von FastfoodKetten gibt es viele kleine, gemütliche Cafés und im VintageStil eingerichtete Bars. Fast überall findet man vegetarische und vegane Gerichte zu verdammt guten Preisen. Der unter Studierenden beliebteste Ort ist das ehemalige Industrieviertel »Kalamaja«. Hier gibt es Kunstgalerien, Flohmärkte und regelmäßig Konzerte. Die alten Fabrikwände passen sich mit meterhohen Graffitis dem Stil des Viertels an. Aus den großen Lagerhallen sind urige Cafés mit Holztischen und Ledersofas geworden. Ein altes Zugabteil wurde zu einem

Burger-Restaurant und auf dem Markt in der ehemaligen Bahnhofshalle kaufe ich regelmäßig frisches Obst und Gemüse. Tallinn ist nicht nur ideal für ein unkompliziertes Studileben, ich lerne auch, wie unser Alltag in Zukunft digitaler werden könnte. Vielleicht begann das estnische Selbstbewusstsein in Sachen Digitales mit dem Erfolg vom Instant-Messaging-Dienst Skype, der in Estland gegründet wurde und den Microsoft 2011 für mehrere Milliarden Dollar kaufte. Heute ist »e-Governance« ein Studiengang an der Uni, alle Behördengänge laufen online ab und der Personalausweis speichert Gesundheitsdaten für den Arztbesuch genauso wie Treuepunkte für den Einkauf. Mit ihm kann man sich online ausweisen, Dokumente unterschreiben, wählen und seine Steuerklärung abgeben. Nur in meinem Unialltag ist der digitale Fortschritt noch nicht angekommen. Wie in Deutschland warten wir eine halbe Stunde auf eine*n Techniker*in, der*die den Beamer zum Laufen bringt. Auch hier funktioniert das WLAN gelegentlich nur stockend. Tallinn, das sind zwei Welten. Direkt im Stadtzentrum prallen sie aufeinander: Auf der einen Seite liegen die Hochbauten und Shopping-Komplexe, mit Namen wie Coca-Cola-Plaza und Solaris Center, stets verstopft mit Einkaufstüten tragenden Menschen. Auf der anderen Seite, ein paar hundert Meter weiter, erheben sich zwei runde Türme mit roten Spitzdächern und bilden das alte Stadttor. Durchschreitet man die Passage, lässt man die große, laute Moderne hinter sich. Die Altstadt mit ihren verschlafenen, schmalen Gassen und historischen Gebäuden beginnt. Sie schmiegt sich an den Domberg, auf dessen Hügel das Regierungsviertel mit dem estnischen Parlament und viele Botschaften liegen. Mittendrin: die russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale, die um 1900


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erbaut wurde, als Estland Teil des Russischen Kaiserreichs war. Zum ersten Mal erkämpfte Estland seine Unabhängigkeit im Jahr 1918. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte die Rote Armee das Land aber erneut besetzt und Estland war bis zur zweiten Unabhängigkeit im Jahr 1991 Sozialistische Sowjetrepublik. Heute gehören 30 Prozent der estnischen Bevölkerung zur russischen Minderheit, die dennoch selbstverständlicher Teil der estnischen Gesellschaft ist. Die estnische Küche ist russisch geprägt und es gibt kaum eine*n Est*in, die*der nicht ein wenig Russisch spricht. Trotzdem hat mir eine Kommilitonin erzählt, dass die jungen Est*innen und Russ*innen eher unter sich bleiben würden. Es gibt immer noch viele russische Schulen, auf denen nur wenig Estnisch unterrichtet wird. Das macht die soziale Vermischung vor allem in ländlichen Regionen schwieriger als im multikulturellen Tallinn. Mein Lieblingsort in der Stadt ist die Aussichtsplattform auf dem Domberg, von der aus man die ganze Stadt überblicken kann. An einer Hauswand links steht mit schwarzen großen Buchstaben geschrieben: »The times we had«. Hier tummelt sich die Selfie-Generation, wohl auch wegen der Vieldeutigkeit des Satzes. Vor dem Hintergrund der estnischen Geschichte sollten diese Worte eine Mahnung sein, die vor dreißig Jahren wiedererlangte Freiheit zu nutzen. Tallinn beweist eindrücklich, dass diese Mahnung ankam. An allen Ecken sprießen Start-Ups aus dem Boden, die Wirtschaft wächst und zieht eine junge, alternative Generation in die bunte Stadt am Meer. Ich bin gespannt, wie Tallinn aussieht, wenn ich in ein paar Jahren wiederkomme und ich dann auf diese Zeiten zurückblicken werde.

Elena Schulz-Ruhtenberg ist im vergangenen Jahr fünf Mal umgezogen. Die permanente Suche nach neuen Herausforderungen macht sie glücklich.

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»Bei McDonald’s würde ich das Dreifache verdienen« - Maurice Schuhmann, Lehrbeauftragter am OSI im Bereich Politische Theorie

Text: Carry Fuchs & Jette Wiese Illustrationen: Antonia Böker Wisst ihr, wie der Arbeitsalltag eurer Dozent*innen aussieht? Für viele wissenschaftliche Mitarbeiter*innen an der FU ist er eine Zerreißprobe. Eine Promovierende erzählt: »Unsere Professor*innen überschütten uns mit Verwaltungsaufgaben, wir kümmern uns um Fördergelder und füllen Forschungsanträge aus. Oft fehlt uns die Zeit, unsere Seminare vorzubereiten. Die Qualität der Lehre leidet – von der eigenen Forschung ganz zu schweigen.« Stellt die 33-Jährige ihr Gehalt in ein Verhältnis zu ihrem tatsächlichen Aufwand, läge ihr Stundenlohn unter Mindestlohn. Denn die Uni bezahlt zwar nach dem Tarifvertrag der Länder (T V-L), schreibt allerdings meist nur halbe Stellen aus. Faktisch arbeiten die Nachwuchswissenschaftler*innen nach eigenen Angaben mehr als in Vollzeit. Doch damit nicht genug: Zeitvertrag reiht sich an Zeitvertrag, Planungsunsicherheit ist Alltag. 93 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen (WiMis) an der FU arbeiten nach solchen befristeten Verträgen. Das gibt die Initiative »FU:fair&unbefristet« an, die bereits im Sommer 2017 von einigen Betroffenen gegründet wurde. Aktuell sammeln sie Unterschriften für eine Petition, die faire Arbeitsbedingungen fordert. Betroffen sind eigentlich alle Beschäftigten an der Universität, von Studentischen Hilfskräften bis hin zu Postdocs. Am schwersten aber trifft es den Mittelbau, die WiMis. Gesetzlich geregelt ist, dass diese maximal sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion in befristeten Verträgen arbeiten dürfen.

Statt Frittenfett gibt es an der Uni Kettenbefristungen, Unsicherheit und Bezahlung unter Mindestlohn. Das deutsche Universitätssystem baut auf die prekäre Lage wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen. Die Initiative »FU:fair&unbefristet« will nun auf den Missstand aufmerksam machen.

Das gilt allerdings nicht für Stellen, die durch Drittmittel finanziert werden, wozu auch Projekte der Exzellenzstrategie gehören. Während sich Mitarbeiter*innen in der Wissenschaft also über zwölf Jahre oder länger von einem befristeten Vertrag zum nächsten hangeln, sieht es in der freien Wirtschaft sozialverträglicher aus: Unternehmen dürfen lediglich über zwei Jahre hinweg Zeitverträge schließen, Kettenbefristungen sind nicht erlaubt. Deshalb würden viele Betroffene ins Ausland oder in Unternehmen gehen, statt im akademischen Betrieb zu bleiben, heißt es seitens der Initiative. »Familienplanung ist in solchen Verhältnissen kompliziert.« So werde auch ein bestimmter Typ Wissenschaftler*in produziert: ledig, ohne Kinder, vorzugsweise männlich. Die Hochschulleitungen halten an dem Prinzip befristeter Verträge fest, erklärten die Kanzler*innen der deutschen Hochschulen bei einer gemeinsamen Konferenz im September 2019. Das Beschäftigungssystem garantiere, »dass kontinuierlich Absolvent*innen für Aufgaben in Wissenschaft, Wirtschaft oder Verwaltung ausgebildet werden können«, heißt es im gemeinsamen Statement. So blieben die Universitäten dynamisch; es werde verhindert, dass Stellen dauerhaft mit denselben Lehrenden besetzt würden und Forschung stagniere. Die Befristung schafft Konkurrenzdruck: Je höher dieser ist, desto besser, schneller und billiger die Arbeit. Dass die Strukturen so sind, wie sie sind, läge mitunter daran, dass sich die Betroffenen zu wenig organisierten, erzählt eine Wissenschaftlerin, die die Petition unterschrieben hat. »Wir haben kaum Zeit, neben unseren Verwaltungsaufgaben unsere Lehre vorzubereiten. Wie sollen wir es dann schaffen, uns nebenher noch zu vernetzen?« Hinzu kommt, dass Professor*innen meist Arbeitgeber*innen und Prüfer*innen für die angestrebte Dissertation zugleich


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sind. Viele Beschäftigte trauen sich nicht, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, aus Angst davor, deshalb schlecht benotet zu werden und so im akademischen Konkurrenzkampf nicht bestehen zu können. Das spiegelt sich auch in den Reihen der Initiative wieder: Unterstützende wollen anonym bleiben. Eine Wissenschaftlerin berichtet, sie habe gerade erst mit ihrer Promotion begonnen und möchte deshalb nicht als Gesicht der Initiative gezeigt werden. »Gleichzeitig ist es auch ein öffentliches Problem«, sagt Stefan Bommer, Lehrbeauftragter am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Es werde insgesamt zu wenig in den öffentlichen Dienst investiert, das sehe man auch in der Verwaltung oder in den Krankenhäusern. »Natürlich könnte das Land Berlin der FU mehr Geld zukommen lassen, die politisch gewollte verfassungsrechtliche Schuldenbremse erschwert das jedoch erheblich.« Der Konflikt reicht weit über die FU hinaus, ist an allen großen Universitäten Deutschlands zu finden. Es ist eine Kette nicht wahrgenommener Verantwortungen: die der Landes-, Bundesund Sparpolitik – der schwarzen Null.

Wo also anfangen im langen Kampf für bessere Arbeitsbedingungen an der Universität? Wen anklagen, wen ins Boot holen? Ziel der Initiative »FU:fair&unbefristet« sei es, der Perspektivlosigkeit entgegenzuwirken, die sich im akademischen Betrieb breit gemacht habe. Dazu brauche es aber die Unterstützung aller Gruppen an der Universität, sagt Bommer. Studierende und Beschäftigte müssten Seite an Seite gegen die Missstände ankämpfen.

Jette Wiese leidet seit Beginn der Heftplanung unter einem DauerOhrwurm von »Under pressure«.

Carry Fuchs hat soeben den Punkt »Universität« von ihrer Liste »Perspektiven nach dem Studium« gestrichen.


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CAMPUS Wo bin ich hier gelandet? Das 1,5-Grad-Ziel im Schlafsack

Danke, nein! Unsere Autorin hat sich von einer fremden Frau an der Decke aufhängen lassen. Dabei hat sie einiges über sich gelernt. Dass sie dringend lernen muss, »Nein« zu sagen, zum Beispiel. Text: Antonia Böker

Text: anonym Illustration: Freya Siewert Ich wache auf, als das Megafon losgeht. Donnerstag, 12 Uhr, ich liege blinzelnd inmitten von Studis im Hörsaal 1A und lasse mich beschallen. Langsam dämmert es mir: Ach ja – der Hörsaal ist besetzt. Seit Montag haben sich die Studierenden hier eingenistet. Es gibt Projektgruppen, Spiele, Essen, Getränke und Diskussionen, organisiert von den »Students for Future«. Nur eins ist mir nicht klar: wieso ich hier bin. Ich bin zwar für Klimagerechtigkeit, habe den hochschulpolitischen Kampfgeist aber mittlerweile verloren. Zur Uni komme ich, um meine Leistungspunkte zu sammeln und hoffentlich im siebten Semester den Bachelor zu schaffen. Apropos Bachelor – eigentlich war ich gestern noch in der Bibliothek, um meine Hausarbeit zu schreiben. Die muss bis Samstag fertig sein. Ich zähle alle veganen Springerstiefel auf Augenhöhe und versuche, meinen Weg zu rekonstruieren. Um 22 Uhr schloss die Bibliothek. Im Anschluss packte mich die Neugier, glaube ich mich zu erinnern. Zumindest angucken wollte ich mir die Besetzung dann wohl doch. Vor dem Hörsaal hatte ich scheinbar ein paar Kommiliton*innen getroffen. Neben mir höre ich, wie jemand zischend eine Flasche öffnet, dann kommt die Erinnerung zurück: Ich hatte mich von den Besetzer*innen zu einem Sterni überreden lassen. Ich bin beruhigt: Das klingt schon mehr nach mir. Nach mir klingt auch, dass aus einem Sterni viele wurden und, dass ich, der Pflichten ungeachtet, auch zum Pfeffi nicht Nein sagte. Beim Aufstehen trete ich fast einem weißen Typen auf die Rastas. Sein Gesicht kommt mir bekannt vor: Ich kenne ihn vom Rave im Keller, der am Vorabend spontan ausgebrochen war. Jetzt ist das Puzzle komplett: Mich kriegt man nicht dazu, auf einer Isomatte in der Uni zu pennen, mit nichts, nicht mal dem drohenden Klimakollaps. Mit nichts, außer eben Bier und Tanzen für lau. Ich bin nun überzeugt vom Nutzen des Studiprotests.

Es gibt Momente, in denen man sich selbst kennenlernt, erfährt, aus welchem Holz man geschnitzt ist. Vielleicht, denke ich, während mir das Blut in den Kopf schießt und mein Körper sich Stück für Stück vom Boden hebt, ist das hier gut für mich. Vielleicht habe ich das hier gebraucht. Ich hänge, an den Füßen aufgeknüpft, kopfüber von der Decke einer nahezu fremden Frau in Friedrichshain. Sie ist eine Freundin einer Freundin der Mutter meiner Freundin und bietet diese folteresque Meditationsübung sonst nur auf Öko-Festivals an. Niemand weiß, dass ich hier bin. Mein Handy ist seit Stunden ausgeschaltet. Meine Augen sind fest zusammengekniffen. In stummer Angst harre ich der Dinge, die da kommen. »Was, wenn das hier aber eben nicht gut für mich ist, nicht der Wendepunkt, nicht der Auslöser für deine Charakterentwicklung ist, kein Happy End, Vorhang zu?«, wispert die Stimme in mir leise. Ich halte die Luft an. Räucherstäbchen-Dunst und Angstschweiß vernebeln mir die Sinne. Shakespeares große Helden starben, wie sie lebten – zu Fall gebracht durch den eigenen, fatalen Fehler. Und schon im Treppenhaus hatte ich es geahnt: Das hier ist der Tragödie letzter Akt. Ich bin aber kein Romeo und kein Macbeth, sondern eine Ja-Sagerin. Rückblickend scheint alles so einfach: Ob ich, schutzlos ausgeliefert, an die Decke gehängt werden möchte? Danke, nein. Ob ich dafür mit in eine Wohnung komme, wo man mich weder erreichen noch orten kann? Sorry, leider Migräne. Eine Bitte (sie brauche da mal Feedback) und ein bisschen Enthusiasmus – mehr brauchte es dann doch nicht. Gerade als ich beginne, darüber nachzudenken, ob es nicht vielleicht die Aufgabe meiner Mutter gewesen wäre, mir beizubringen, nicht alles zu tun, was mir Fremde sagen, nur, um ihre Gefühle nicht zu verletzen, bekomme ich einen Schubs. Gefühlt: freier Fall. Wie ein Pendel schwinge ich aber unter der Decke, starr vor Panik. Denke zurück an die Alpträume meiner Kindheit – unendliche Stürze, keine Rettung in Sicht. Das Schwingen stoppt schließlich. Meine Peinigerin lässt mich zurück auf den Boden gleiten, entledigt mich meiner Fesseln, grinst. »Und, wie war’s?«, will sie wissen, »Super, oder?«. Ob ich das nicht jetzt öfter machen wolle. Ich starre sie regungslos an – und nicke: »Unbedingt!«


Das »Student Hotel« verkauft sich als schicke Alternative für wohnungslose Studierende. Cooles Modell für Studis in Not oder miese Abzocke? Unsere Autorinnen haben sich das Ganze einmal genauer angeguckt. Text & Foto: Antonia Böker & Anabel Rother-Godoy Es ist die unendliche Geschichte: Wohnen in Berlin. Vor allem für Studierende eine große Herausforderung. Wer neu in der Hauptstadt ist, kann sich von einer Kurzzeit-Untermiete zur nächsten hangeln oder für sechs Quadratmeter das eigene Budget sprengen. Vorausgesetzt, man findet überhaupt etwas. Für viele bleibt der Wohnungsstruggle das ganze Studium über eine Qual. Abhilfe sollen Wohnheimplätze schaffen. Doch die sind begehrt: Gerade warten etwa 3500 Studierende auf einen Platz, obwohl der Senat unter Bürgermeister Wowereit 2013 versprochen hatte, 5000 neue Wohnheimplätze einrichten zu wollen. Müllers Regierung kündigte zwei Jahre später an, dieses Vorhaben innerhalb der nächsten fünf Jahre umsetzen zu wollen, verschob den Stichtag dann auf unbestimmte Zeit nach hinten. Derzeit angepeilt: 2022. Trotz vieler Versprechen ist die Versorgungsquote mit Wohnheimzimmern in den letzten Jahren gesunken. Not macht bekanntlich erfinderisch: Während Studis bei

Freund*innen von Freund*innen unterkommen, von Couch zu Couch surfen, liebäugelt der Senat damit, sogenannte »Tempohomes« für Studis einzurichten. Gemeint sind damit die einst auf drei Jahre angelegten Containerdörfer, in denen bisher Geflüchtete einquartiert wurden. Erfindergeist zeigen aber nicht nur Regierung und Studis, sondern auch der Markt. Wo die Politik versagt, regiert er: Im Oktober 2019 öffnete das erste »Student Hotel« in Berlin seine Türen für Wohnungsbedürftige. Das Prinzip: Neben klassischen Hotelzimmern bietet es langfristigere Unterkünfte für Studis. Quasi Wohnheimplätze in schick, mit Designereinrichtung und Extras für den Studi von morgen – Gym, Entertainment, Restaurant und Bar. Der (post-)moderne Klotz am Alexanderplatz, der das »Student Hotel« beherbergt, ist nicht der erste seiner Art. Ursprünglich kommt das Konzept aus den Niederlanden, machte sich binnen weniger Jahre in ganz Europa breit. Standorte gibt es mittlerweile in Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich und Österreich. Wo Wohnraum knapp ist, gibt es ein »Student Hotel«. In Berlin wird man auf allen Social Media- und Webplattformen mit Werbung bombardiert – darunter die Website der FU. Das Hotel ist dort ganz offiziell als Option für suchende Austauschstudis geführt. Immerhin gut 100 Studierende sind dem Ruf des »Student Hotels« schon gefolgt. Zugegebenermaßen sieht das, was angeboten wird, verlockend aus. Auf der Website gibt man sich modern-atmosphärisch. Wohnen für den Lifestyle-affinen


25 Studi in Not: Ein »inspirierender« Ort sei das Hotel, genau das Richtige für alle, die nach etwas suchen, das »hip, dynamisch und doch entspannend« ist. Eine eigene Sektion hat man für den »Geist« auf der Website angelegt. Wer glaubt, hier nur ein Zimmer für ein paar Wochen oder sogar zwölf Monate zu bekommen, wird eines Besseren belehrt: »Unsere physischen und digitalen Räume sind speziell konzipiert, damit du andere Leute kennenlernen und dich in diesem Clan weiter entwickeln kannst, um all deine persönlichen Ziele zu verfolgen, während wir alle gemeinsam ein und dasselbe Ziel verfolgen: die Welt zu verändern«, heißt es dort. Bei unserem Besuch stellt sich allerdings schnell heraus: Die Realität des »Student Hotels« ist eine andere. Die Lobby hat den Charme eines Urban Outfitters Concept Stores. Überall treffen Metall und Beton auf gelbe Farbakzente und Neonschilder, an einem Pfeiler hängen Polaroids aller Bewohner*innen. Selbst das Personal passt ins Konzept: ein Haufen möglichst internationaler Mittzwanziger in Slacks und Rollkragenpullis in neutralen Farben, die weißen Sneaker gerade so eingetragen. Für Berlin-Mitte-Preise kann man sich entweder ein paar Drinks an der Bar, ein vermutlich als »organic« gelabeltes Essen im Restaurant gönnen oder sich die subversive Trump-Statue mitsamt Flatscreen-Installation im Foyer anschauen. Dazu kommen wir aber gar nicht: Nach wenigen Minuten steht schon eine quietschfidele Britin bereit, die uns ein Zimmer zeigen will. Schon im Treppenhaus verflüchtigt sich der schöne Schein. Der nackte Beton sieht im Neonlicht mehr nach Parkhaus als nach Designer-Hotel aus. Im Studi-Stockwerk angekommen ist es eng und dunkel. Nach penibler Einrichtungsplanung sieht hier nichts mehr aus. Nicht einmal die Decke ist verkleidet. Auch von den schicken, geräumigen Pastellzimmern, die beworben werden, sollen wir nichts zu Gesicht bekommen. Diese sind für richtige Hotelgäste. Die Studizimmer sind bedeutend kleiner als auf den Bildern der Webseite. Spartanisch eingerichtet, gleichen sie letztlich doch den Wohnheimzimmern, von denen sie sich abgrenzen wollen. Nur die Möbel sind neuer, die Farben etwas bunter. Kahl und unpersönlich muten sie trotzdem an. Wer die eigenen vier Wände personalisieren möchte, hat dafür eine A3-große Pinnwand zur Verfügung. Ein Bild von Omas 70. außerhalb dieses Platzes zu befestigen, ist genauso verboten wie Kerzen und Räucherstäbchen. Verbote gibt es überhaupt eine Menge – allesamt mit Geldstrafen belegt. Ein einsamer Kleiderschrank mit wenigen Fächern bietet gerade genug Platz für ein paar Jacken und Unterhosen. Schon klar: Als Studi muss man mit dem Platz arbeiten, der zur Verfügung steht, und das ein oder andere bei Mama oder Papa stehen lassen, wenn das Neun-Quadratmeter-Zimmer nicht mehr hergibt. Für das, was ein Zimmer im »Student Hotel« kostet, könnte sich der ein oder andere Studi vermutlich aber eine Wohnung mit Extrazimmer für alles große und kleine

Gedöns leisten. Gut 900 Euro kostet die Unterkunft im Monat. Waschen und Getränke an der Bar sind nicht inbegriffen. Immerhin ein Fahrrad mietet man gleich mit – und ein Gym. Die Küche teilt man sich natürlich mit der gesamten Etage. Die Leute, die man kennenlernt, sind also vor allem andere Studis – und zwar die mit dem nötigen Kleingeld. Zur Einordnung: Der University Health Report der Freien Universität hat 2019 ergeben, dass Berliner Studierende durchschnittlich 832 Euro im Monat zur Verfügung haben. Der Bafög-Höchstsatz liegt bei 861 Euro. Davon bezahlen Studis im Durchschnitt 427 Euro für Miete. Wie perfide das Konzept des »Student Hotels« ist, wird klar, wenn man bedenkt, dass Studierende in Berlin sowieso schon durchschnittlich 100 Euro weniger zur Verfügung haben als der*die durchschnittliche Student*in in Deutschland, durchschnittlich aber 100 Euro mehr für Miete bezahlen. Trotzdem scheint das Konzept zu funktionieren – nicht überraschend, wohl aber problematisch. Für privatwirtschaftliche Akteure sind Wohnräume vor allem wettbewerbsfähige Immobilienmärkte. Auch dem Student Hotel geht es letztendlich darum, den Wert der eigenen Immobilien und den Shareholder-Value zu erhöhen. Das sagt zumindest Charlie MacGregor, Gründer und CEO des »Student Hotels«. Wo aber Wohnungsnot profitabel wird, wird sie schlimmer. Das hat die bisherige Entwicklung in der Hauptstadt bewiesen. Das Berlin von morgen droht in der Hand des »Student Hotels« und seinesgleichen zu enden. McGregor begrüßt das offensichtlich. Er sieht sich schon als Stadtplaner von morgen: »[Das Student Hotel] Berlin stellt unsere Fähigkeit unter Beweis, neue Stadtteile zu etablieren und als Katalysator und treibende Kraft für die Stadterneuerung zu wirken.« Die FU Berlin unterstützt mit dem »Student Hotel« eine kurzfristige Alternative zu Wohnheimplätzen, die das Problem langfristig verschlimmern wird: Ist die Not der Studis erst einmal profitabel, werden sich ausbeuterische Modelle wie dieses durchsetzen. Dann werden Not- zu Dauerlösungen und die vermeintlichen Alternativen alternativlos. Zu der eigenen Verantwortung diesbezüglich äußerte sich die FU gegenüber der FURIOS nicht und verwies lediglich darauf, dass einige Austauschstudierende, zum Beispiel aus den USA, ohnehin viel höhere Kosten gewohnt seien. Na dann. Antonia Böker und Anabel Rother-Godoy können nicht mal so viel Geld versaufen, wie ein Student Hotel Zimmer kostet. Sie versuchen’s trotzdem.


»Die Jusos sind nicht die Utopieabteilung der SPD«


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Kevin Kühnert schmiss sein Publizistikstudium an der FU für einen Job im Callcenter und das Engagement bei den Jusos. Heute ist er SPD-Vorstandsmitglied und einer der gefragtesten Politiker des Landes – trotzdem behält er sein Image als der junge Typ im Hoodie. Ein Porträt. Text: Josephine Strauß, Jette Wiese & Leon Holly Fotos: Tim Gassauer

»Darf ich fragen, mit wem ihr da gerade gesprochen habt?«, wird uns die Kellnerin nach unserem Treffen mit Kevin Kühnert fragen. Der Mann, der seit zwei Jahren immer wieder in den Schlagzeilen auftaucht und mittlerweile zum Inventar der großen deutschen Polit-Talkshows gehört, fällt kaum auf, als er in seiner schwarzen Softshelljacke in das Café in Berlin-Friedenau stolpert. Ein paar Straßen weiter wohnt der Vorsitzende der Jungsozialist*innen seit sieben Jahren in einer WG. Hier, im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, ist Kühnert aufgewachsen. Hier mischte er jahrelang in der Lokalpolitik mit, und so nickt ihm später auf dem Markt vor dem Café immerhin ein alter Bekannter im Vorübergehen zu. Kühnert, der im Alter von 15 Jahren in die SPD eintrat und im Herbst 2017 den Juso-Vorsitz übernahm, rekapituliert seinen schlagartigen Aufstieg in die Bundespolitik nach wie vor mit einiger Verwunderung: »Das muss man sich einfach mal klar machen!« Nach der verlorenen Bundestagswahl stellen sich die Sozialdemokrat*innen gerade darauf ein, nun erst mal die eigenen Wunden lecken zu dürfen. »Wir gingen davon aus, die Jugendorganisation einer Oppositionspartei zu sein«, erinnert sich Kühnert. Doch dann wird im November 2017 das Scheitern der Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU, Grünen und FDP bekanntgegeben. Durch das starke Ergebnis der AfD sind die Mehrheiten im demokratischen Spektrum geschwächt. Die kränkelnde Volkspartei SPD wird plötzlich an ihre historische staatstragende Pflicht erinnert. Doch während sich die Parteiführung an den Verhandlungstisch hievt, treiben die Jusos und der linke Parteiflügel die »NoGroko«Kampagne voran. Aus dem Riss in der SPD schießt Kevin

Kühnert empor. Er tourt unermüdlich durch die Republik, debattiert mit Befürworter*innen einer Erneuerung des alten Koalitionsbündnisses. In seinen Reden faucht er scharf gegen die Agenda 2010 der Schröder-Jahre und agitiert für eine Linkswende – aus den wohlgeformten Sätzen werden Tagesschaueinspieler und Twitterclips, und plötzlich ist Kühnert weit über die eigene Partei hinaus bekannt. Kühnikev, wie er sich auf Twitter nennt, steht für eine neue Generation der Jusos. Während Schröder und Scholz in den 1970er Jahren noch versuchten, sich in marxistischer Theoriefestigkeit zu überbieten, seien die Jusos heute konstruktiver geworden, meint Kühnert. »Es geht nicht darum, irgendwann mal einen halben Stalinismus gefordert zu haben – und später über die eigene Jugend zu sprechen, als sei das eine blöde Zeit gewesen und jetzt käme die richtige Politik. Eigentlich geht es darum, dass das eine logische Linie ist.« Zwischen der »großen Politik« und dem Nachwuchs gebe es heute keinen unüberwindbaren Spalt mehr. Dennoch gehen die Jungsozialist*innen vielen Alteingesessenen in der Partei auf die Nerven. Für Kühnert ein gutes Zeichen: Das zeige die wachsende Bedeutung der Jugendorganisation für die Partei. »Wir sind keine komplette Utopieabteilung, aber dafür sind wir in der Lage, auch wirklich auf Politik Einfluss zu nehmen.« Kühnert spricht im Plural – doch er meint sich selbst. In Wahrheit ist er das alleinige Gesicht der Jugendorganisation, blass wirken seine Vorgänger*innen im Vergleich. Nicht immer wollte sich der 30-Jährige rund um die Uhr der Politik widmen. Vage schwebt ihm einst der Berufswunsch des Journalisten vor. Weil er wegen seiner Abiturnote abgelehnt wird, klagt er sich 2009 in den Studiengang Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der FU ein. »Viele berichten von ihrem Studieneinstieg als einen Moment, in dem man eine neue Welt erschließt, wo sich neue Horizonte eröffnen.« Doch Kühnert hat all das bereits bei den Jusos erlebt, bei denen er sich weiterhin engagiert und für die er das Studium oftmals vergisst, bis er es endgültig schmeißt. Später beginnt er ein Politikstudium an der Fernuniversität Hagen, das mittlerweile ebenfalls ruht. Nebenher jobbt Kühnert drei Jahre lang in einem Callcenter in Berlin-Kreuzberg. Dort nimmt er für ein Tochterunternehmen des Otto-Konzerns Kundenanfragen entgegen und lernt den Niedriglohnsektor kennen: Schlechte Arbeitsbedingungen, versehen mit einem Hauch von Start-up-Illusion; kein Betriebsrat, dafür Kaffeevollautomat und Tischkicker. Die Zeit habe ihn politisch geprägt, erzählt er. Heute pendelt Kühnert zwischen der Diskussion mit Schüler*innen an einer Stuttgarter Schule, dem Heringsessen in Brandenburg und der Talkrunde bei Anne Will – »alle[m], was zu so einer Partei halt gehört.« Die Kunst sei es, aus der


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Menge an Einladungen die richtige Mischung zu finden: »Meine Lebensrealität ist Berlin, kosmopolitisch, weltoffen, junge Leute um mich herum. Also zwinge ich mich so oft es geht, in Welten zu gehen, die nicht meine sind«, sagt Kühnert. Deswegen hätten Ost-Anfragen und ländliche Räume für ihn Vorrang, große Städte kenne er ja schon. Die Sozialdemokrat*innen schwelgen gerne in Nostalgie für die großen Altkanzler. Während die Umfragewerte der Partei fallen, wächst die Sehnsucht nach einer neuen Galionsfigur. Aus der Riege Willy Brandts und Helmut Schmidts fällt der quirlige 30-Jährige aber definitiv raus. Kapuzenpulli statt Nadelstreifen, Gender statt Machismo. Bodenständigkeit ist seine Marke.

Sie zieht sich durch seine Politik, hinein in das persönliche Auftreten. Kühnert betont gerne, dass er seine Zeit lieber im Lichtenrader Vereinsheim als im Allianzforum am Pariser Platz verbringe. Sorgsam pflegt er das Bild des uneitlen Politikers.

»Meine Lebensrealität ist Berlin, kosmopolitisch, weltoffen, junge Leute um mich herum. Also zwinge ich mich so oft es geht, in Welten zu gehen, die nicht meine sind« Das kommt an in der SPD. Als es 2019 daran ging, ein neues Sozialstaatskonzept zu erarbeiten, holte die damalige Parteivorsitzende Andrea Nahles Kühnert mit an den Tisch. Nachdem er im Wettstreit um den Parteivorsitz eine eigene Kandidatur ausgeschlossen hatte, sitzt er seit vergangenem Dezember immerhin im Vorstand. Die Jusos haben an Einfluss gewonnen, genau wie Kühnert selbst. Doch statt Anzug trägt er weiter Jutebeutel zur praktischen Regenjacke und schlappt beinahe unerkannt über den Friedenauer Markt.

Jette Wieses Vorschlag, seinen Twitternamen in »kühner Kevin« umzuändern, war Kühnert leider »zu gewollt«. Schade! Josefine Strauß findet: He’s still, he’s still Kevin from the block.

Leon Holly fordert einen Dreiviertelstalinismus.


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KULTUR Wortfrei...

Die Straßenmusikerin eine Kurzgeschichte Text: Max Kaplan

Gelegentlich überquere ich die Friedrichsbrücke. Ich flüchte vor Verkäufer*innen, dem Gesang ihrer Argumente, und ich weiche limonengrünen Rollern aus, denn immer surren sie auf mich zu, als sei ich unsichtbar. Es ist nicht die Spree, die ich sehe, nur Asphalt und beiger Stein. Sie ziehen an mir vorbei, und ich an ihnen. Doch eines Vormittags halte ich inne. Der Asphalt steht still. Da ist eine sanfte Stimme, die singt. Sie singt hinein in die kühle Luft dieses Dezembertages. Sie singt auf Russisch. Es ist ein melodisches, muttersprachliches Russisch, wie es mir von klein auf im Ohr liegt, das Russisch der Eltern und Großeltern, der Weihnachtsfeiern und Gutenachtgeschichten. Die Sängerin ist eine alte Frau. Decken polstern ihren kleinen Klappstuhl, und eine Daunenjacke umhüllt ihren Körper. Feine Atemwolken weichen ihren dünnen Lippen, eine für jedes gesungene Wort. Irgendwo muss ich noch hin, dringend, irgendein Seminar. Aber noch habe ich Zeit. Denn mir fällt auf, dass alle russischen Lieder eines gemeinsam haben: Sie alle klingen vertraut. Ihren Gesang begleitet die alte Musikerin mit einem Akkordeon, ein abgewetztes Instrument in bleichem Karminrot. Wie schafft sie es, ihre feine Stimme nicht zu übertönen? Ganz einfach: Der scharfe Klang des Akkordeons ist nicht scharf genug. Sie sind im Einklang gealtert, sie und ihr Instrument. Nun sitzen sie auf der Friedrichsbrücke in Berlin und spielen die Lieder eines langen, gemeinsamen Lebens. Es muss ein weiter Weg gewesen

sein. Noch sehe ich die Spree in ihrem fahlen Dezembergrau. Noch sehe ich die Musikerin, ihre Finger, die aus selbstgenähten Handschuhen ragen und in Terzen und Akkorden über die schwarz-weißen Tasten huschen. Es ist das Titellied eines alten, russischen Films. Ich höre es nicht zum ersten Mal. Es ist ein kalter Dezembermorgen, in ein paar Stunden gehen wir zum Schlittenfahren. Ich bin der kleine, neunjährige Junge, der Großvater begeistert über die Schulter sieht. Denn dieser hat sich ans Klavier gesetzt, und er spielt eine vertraute Melodie. Großmutter flüstert mir ins Ohr, dass sie einem alten russischen Film entstammt, einem Film in schwarz und weiß, ganz ohne Farben. Großvater bittet mich, näherzukommen. Er zeigt mir drei Tasten, die ich gleichzeitig drücken soll. Als ich sie drücke, passen sie perfekt zu seiner Melodie. So fühlt es sich also an, Pianist zu sein. Ich frage, ob ich den Film denn sehen darf, aber es heißt, dass ich noch zu jung sei, um ihn zu verstehen. Natürlich werde ich ihn verstehen, ich bin doch schon neun. Als ich das sage, lacht Großvater auf. Ich verstehe nicht, warum. Da zieht ein grüner Roller an mir vorbei, verfehlt mich nur knapp. Ich weiche zurück, der Schreck kribbelt in meiner Brust. Vormittag auf der Friedrichsbrücke, irgendwo muss ich noch hin. Und die Musik? Die Musikantin schenkt sich aus einer abgenutzten Thermosflasche ein, das Akkordeon im Schoß. Passant*innen ziehen an ihr vorbei, sehen nur Asphalt und beigen Stein. Mich, ihren einzigen Zuhörer, hat die Musikantin längst bemerkt. Sie lächelt zufrieden. Dann trinkt sie einen vorsichtigen, ersten Schluck. Ich gehe auf sie zu. »Sprechen Sie Russisch?«, fragt sie mich in ihrer Muttersprache. »Ja.« Jetzt ist ihr Lächeln so warm wie ihr Minztee, dessen Duft mir in die Nase steigt. Ein Kindheitsduft. »Man sieht es Ihnen an.« Ich werfe ihr ein paar Münzen in den Instrumentenkoffer. Bald beginnt mein Seminar. Noch bin ich aber nicht zu spät. Noch ist Zeit für ein weiteres Lied. Noch ist Zeit, ein Kind zu sein.


PORNO WAR IMMER DA Selten hat ein Seminar an der FU die Gemüter so erhitzt: Die Amerikanistin Madita Oeming lehrt seit diesem Wintersemester Porn Studies am JohnF.-Kennedy-Institut. Ein Gespräch über ihr Forschungsgebiet Pornografie und hasserfüllte Gegenreaktionen. Text: Rabea Westarp Foto: Matida Oeming Wie kann man sich Ihre Seminare vorstellen? Schauen Sie Pornos mit den Studierenden? Ja, aber wir sehen uns nicht eine Stunde lang pornografisches Material an. Ich suche Szenen aus; mal schauen wir nur den Anfang, mal das Ende, selten mehr als 15 Minuten am Stück. So kann man arbeiten, ohne sich unwohl zu fühlen und aus dem Blick zu verlieren, wonach man sucht. Häufig besteht unser Sehauftrag aus Fragen, die wir anschließend besprechen: »Was höre ich, was sehe ich? Gibt es Dialoge? Welche Form von Sex und von Körpern sehen wir hier?« In der Sitzung eben haben wir zwei Szenen aus Schwulenpornos aus den 70er-Jahren geguckt, dann zwei moderne, und uns gefragt, was sich über die Zeit verändert hat. In einem Film übernahm der Darsteller eine Rolle als »bottom«, also den passiven Part, und dann haben wir eine Szene gesehen, in der er wechselte, also »toppte«.

aufgebrochen und geschieht die Stereotypisierung im Bild oder in unseren Köpfen? Gerade in den Szenen aus den 70ern fällt auf, dass oft ein hypermaskulines Auftreten Genderstereotypen von Männlichkeit bestätigt. In der Gegenwartspornografie hingegen erleben wir einen deutlichen Kontrast vom männlichen Top und eher feminisierten Bottom. Als wir die beiden Szenen miteinander verglichen, wurde außerdem deutlich: Das sind Performer, das ist bloß Schauspielerei. Es gibt ein Drehbuch. Daran muss man sich immer wieder erinnern. Und dabei wird nicht verschämt gekichert? Wir lachen viel. Das halte ich für ein wichtiges Mittel. Wenn ich merke, es ist angespannt, mache ich bewusst mal einen Witz, damit die Stimmung sich wieder lockert. Das verschämte Kichern à la »Ich weiß nicht wohin mit mir« beobachte ich selten. Natürlich gibt es gelegentlich schambesetzte Momente. Das normalisiert sich aber schnell. Pornografie ist durchaus ein Gegenstand, den man mit Distanz betrachten kann. Die Studierenden entwickeln also eine gewisse Pornokompetenz. Das ist absolut mein Ziel. Das heißt aber nicht, dass man Pornos nur noch durch diese Linse gucken kann. Wie für alle anderen Medien gilt: Im Studium lernen wir einen kritischanalytischen Blick, den wir im Idealfall auch abstellen können, um zu genießen. Aber ich gebe zu, dass auch mir das nicht immer gelingt und ich einen Moment von der privaten in die professionelle Betrachtung rutsche. Wer weiß, vielleicht kommt so dem einen oder der anderen die nächste Hausarbeitsidee beim Masturbieren. Leben Pornos nicht oft von ihrer Un-Ästhetik? Was will man da aus ästhetischer Sicht analysieren?

Und was ist das Output einer solchen Besprechung? Was analysiert man an einer solchen Szene?

Das Wort Un-Ästhetik finde ich schön. Auch eine scheinbar nicht vorhandene Ästhetik ist ja eine Entscheidung, etwas gesondert darzustellen. Pornos leben oft von »trashiger« Ästhetik und standardisierten Bildern: das weiße, quietschende Ledersofa in der Villa. Es wäre trotzdem falsch, zu sagen, dass es keine oder nur eine Pornoästhetik gebe. Es gibt Pornos, die man als Instagramporno bezeichnen könnte – alles sieht perfekt aus und ist großartig ausgeleuchtet. Viele Seiten bieten hochaufgelöste Clips an. Jemand wie Erika Lust, die sich als feministische Pornomacherin versteht – wobei ich wichtig finde, dass das nicht nur an der Ästhetik festgemacht wird – hat einen ganz bestimmten Look. Ihre Herangehensweise ist sehr filmisch. Sie legt viel Wert auf Farbkompositionen, Atmosphäre und weiches Licht. Es gibt also durchaus Unterschiede.

Im Zentrum stand heute die Frage nach Männlichkeitsdarstellung in Schwulenpornos. Inwiefern werden also Genderstereotype dadurch verstärkt oder

Stichwort Erika Lust: Unter Feminist*innen ist sie nicht ganz unumstritten. Finden solche Debatten auch Platz im Seminar?


31 Absolut. Wir haben kritisch über Erika Lust als Marke diskutiert, aber auch über andere Akteur*innen. Mir ist es sehr wichtig, Porno nicht nur als Medium zu begreifen, sondern auch als Industrie. Wie entsteht ein Porno? Was ist die Realität der Performenden? Wieso bezahlen viele Menschen nicht für ihren Pornokonsum? Wir beleuchten Produktions- und Konsummechanismen und hinterfragen sie. Beatrix von Storch ging Sie vor Seminarbeginn massiv auf Twitter an. Hat das Ihnen reihenweise AfDAnhänger*innen auf den Leib gehetzt? Ja, das war ein Shitstorm, wie er im Buche steht. Zwei Tage lang prasselten ununterbrochen Benachrichtigungen auf mich ein. Eine Welle fremder Menschen kam über mich und schwappte sogar bis in die USA in die Alt-Right-Ecke. Rechte Gruppen sind leider besser darin, das Internet zu nutzen, als linke. Viele Angriffe kamen aber auch von feministischer Seite, was ich

Haben in Ihren Seminaren private Themen Platz? Erregung, Vorlieben und dergleichen? Ja und nein. Es ist mir wichtig, bestimmte Grenzen einzuhalten. Wir befinden uns in einem Abhängigkeitsverhältnis, in dem ich die Autoritätsperson bin. Wir sitzen nicht als Freunde beim Kaffee zusammen. Obwohl ich für einen schambefreiten Umgang mit dem Thema bin, geht es nicht darum, dass wir unsere persönlichen Präferenzen austauschen. Aber natürlich erhält die eigene Identität Einzug ins Seminar. Wenn wir über queere Pornografie sprechen, merkt man häufig, wer das selbst konsumiert oder aus eigener Erfahrung sagt, was solche Szenen in der Erkundung oder Anerkennung der eigenen Sexualität für eine Rolle gespielt haben. Allerdings geschieht das in einem angemessenen Rahmen. Und letztendlich: Wenn in einem Literaturseminar jemand sagt, »Privat lese ich sehr gern Hemingway«, findet das auch niemand problematisch. Ich spreche eben mit Menschen, die sexuelle Wesen sind, mich eingeschlossen. Das sollten wir nicht leugnen. Man sollte nicht zu angespannt sein, nur weil es um Sex geht. Dennoch ist mir wichtig, dass mich die Studierenden nicht zu ihrer Sextherapeutin machen. Das passiert mit Studierenden kaum, eher im Kollegium. Wirklich? Kolleg*innen, die Ratschläge zu ihrem Sexualleben wollen? Zum Thema Sex herrscht viel Redebedarf. Viele sehen in mir eine wertfreie Ansprechpartnerin. Häufig ähnelt das einer Beichte. In manchen Kontexten ist das in Ordnung und ich teile, was ich dazu weiß, oder gebe die offenbar notwendige Absolution. Aber manchmal ist es schlicht unangemessen oder aufdringlich – ein schmaler Grat. Steht jeder Mensch insgeheim auf Pornografie?

besonders schlimm finde, weil das meine eigene Bewegung ist. Insgesamt eine einschneidende Erfahrung. Ich muss zugeben, ich habe das total unterschätzt. Auch wenn man rational weiß, man ist gerade nur Projektionsfläche, ist es schwierig, sich emotional davon zu überzeugen. Glücklicherweise hat sich das alles nur digital abgespielt. Meine ersten beiden Sitzungen wurden vom Wachdienst begleitet, weil Störungen befürchtet wurden. Aber in die Uni hat sich dann wohl doch niemand getraut. Traurig genug, dass man darüber überhaupt nachdenken muss. Böse Nachrichten und blöde Kommentare bekomme ich online weiterhin, aber ich versuche, es in Motivation umzumünzen.

Die Frage kann ich nicht ultimativ beantworten, aber ich neige dazu, ja zu sagen; allein, weil es Pornografie schon immer gab. Egal welches Medium den Menschen zur Verfügung stand, sie haben es zur Darstellung von Sex genutzt. Ein gewisses Maß an Voyeurismus wohnt uns scheinbar inne. Ich bin weder missionarisch unterwegs noch versuche ich, alle zum Pornogucken zu animieren. Trotzdem denke ich, dass viele sich das einfach nicht erlauben. Insbesondere Frauen haben oft nicht gelernt, ihre eigene Sexualität durch Masturbation zu erkunden. Das ist nicht Teil unserer sozialen Rolle. Leider.

Rabea Westarp ist leider noch nie beim Masturbieren eine gute Hausarbeits-Idee gekommen.


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Text: Michael Reinhardt Foto: Anne Freitag Plötzlich ist alles verschwommen und zieht schemenhaft an mir vorbei. Vom bis eben dröhnenden Lärm höre ich nur noch ein diffuses Echo. Mein Fokus wird schärfer, doch findet keinen Halt mehr. Ich fühle mich von allen beobachtet – und isoliert zugleich. Dieses dumpfe Empfinden entsteht durch das Aufsetzen der »Glocke«, einen von mehreren »Moodsuits« der Kommunikationsgentur »Shitshow«. Was auf den ersten Blick wie ungewöhnliche Mode-Accessoires erscheint, sind in Wirklichkeit »tragbare« Symptome. Sie ermöglichen es, Depressionen und Angststörungen annähernd nachzufühlen. Der »Beuger« etwa drückt den Kopf nach unten, der »Würger« schnürt den Hals zu. Und eben jene »Glocke« ist ein Helm, welcher die akustische und optische Wahrnehmung einschränkt. Ursprünglich entwickelt Nele Groeger die »Moodsuits« zusammen mit ihren Kommilitoninnen Luisa Weyrich und Johanna Dreyer als Abschlussarbeit an der Universität der Künste. Durch das Projekt kommt die Idee, eine eigene Agentur aufzubauen, die über psychische Gesundheit aufklärt. Es entsteht die »Shitshow«. Die drei Gründerinnen bewegte dabei auch der mangelnde öffentliche Diskurs über zentrale gesellschaftliche Fragen, wie Nele im Gespräch mit FURIOS erzählt: »Wie arbeiten wir? Was hat das mit unserer Lebenszufriedenheit und mentalen Verfassung zu tun? Wie kann man ein Unternehmen führen, das achtsam und ressourcenschonend mit Mitarbeiter*innen umgeht?« Damit traf die Agentur einen Nerv und konnte ihr Angebot über die »Moodsuits« hinaus weiterentwickeln: »Shitshow« führte bereits Workshops in Studierendenwohnheimen durch und schulte Führungskräfte großer Firmen. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Depressionen. So informiert die Agentur auch über Angststörungen, entwickelt für die »Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung« eine Anti-Stigma-Kampagne zu Binge-Eating und redet in ihrem Podcast ganz allgemein über Scheißgefühle. Nele denkt, »dass die grundsätzliche Sehnsucht da ist, das Thema psychische Gesundheit offen zu verhandeln«.

So ein

In Unternehmen mangelt es an Verständnis für psychische Krankheiten. Dabei leidet statistisch jede*r vierte Deutsche mindestens einmal im Leben unter einer psychischen Störung. Die Agentur »Shitshow« setzt sich für ein Umdenken ein.

Scheißgefühl Dennoch sei die Diskussion nicht in der breiten Masse angekommen. Einen Grund dafür sieht Nele in der deutschen Unternehmenskultur: »Ich glaube, dass wir in Deutschland eine sehr geringe Fehlerkultur haben. Schwäche und Verletzbarkeit sind im Wirtschaftskontext schwierig. Und zynisch gesagt ist eine psychische Erkrankung auch ein Fehler, weil man nichts mehr auf die Reihe bekommt.« Außerdem mangele es an Aufklärung. So habe sie schon erlebt, dass einige Workshop-Teilnehmer*innen Angst hatten, sich mit psychischen Krankheiten anzustecken. Generell sei der gesellschaftliche Umgang mit psychischen Krankheiten stigmatisiert: »In Deutschland wird das immer noch mit einer Betroffenheitsästhetik und Schwere behandelt«, sagt Nele. Den Ansatz, Berührungsängste kreativ zu beseitigen, verfolgen auch andere Einrichtungen: Die »Robert-EnkeStiftung« etwa entwickelt eine VR-Anwendung, welche depressive Symptome simuliert. Das Computerspiel »Hellblade – Senua‘s Sacrifice« zeigt, wie sich Psychosen anfühlen können. Symptombeschreibungen von Betroffenen dienten wie bei den »Moodsuits« als Entwicklungsgrundlage. Die Konzepte stehen ebenso wie »Shitshow« zwar noch am Anfang, eröffnen aber Chancen für einen wichtigen Dialog. Auch Angebote wie die »Darknight« können ein Bewusstsein schaffen. Denn sie vermitteln eine, auch »Shitshow« wichtige, Botschaft: Du bist nicht allein.

Michael Reinhardt schreibt für FURIOS eigentlich am liebsten über Absurdes. Hiermit wollte er zeigen: Er kann auch ernst.


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Die Geklaute Rubrik Wir sind großartig! Aber andere machen auch schöne Sachen. An dieser Stelle pflücken wir die besten Rubriken aus dem Blätterwald und füllen sie mit unseren Inhalten. Folge XV: “Gefühlte Wahrheit” aus dem Süddeutsche Zeitung Magazin.

10 UHR AM HEIDELBERGER PLATZ

Illustration: Dan Perjovschi

ZIELE IM LEBEN


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WISSENSCHAFT

Das Zeitliche segnen Zeit vergeht relativ. Mal rast sie davon, in der falschen Vorlesung scheint sie jedoch stillzustehen. Warum ist das so? Und warum haben wir eigentlich immer zu wenig Zeit? Text: Julia Hubernagel Illustration: Marie K. Gentzel

Der Sinn von Sein ist Zeit. Davon war zumindest der Philosoph Martin Heidegger überzeugt. Doch auch ohne es so drastisch zu formulieren, bestimmt der Blick auf die Uhr unleugbar unser Leben. Unsere Tage werden strukturiert anhand einer unsichtbaren, physikalischen Einheit, deren Funktionsweise wir nicht verstehen und an deren Unerbittlichkeit wir mitunter verzweifeln. Was ist Zeit? Gilt sie nur für Menschen? Gab es sie schon, bevor es uns gab? Der im vierten Jahrhundert geborene Kirchengelehrte Augustinus von Hippo glaubte noch, Zeit sei eine Eigenschaft des gottgeschaffenen Universums und habe vor dessen Kreation nicht existiert. Knapp 1400 Jahre später war die Aufklärung in vollem Gange und das Gottvertrauen erschüttert. »Die Welt

hat keinen ersten Anfang der Zeit und keine äußerste Grenze dem Raume nach«, schreibt Immanuel Kant 1781 in seiner »Kritik der reinen Vernunft«. »Denn im entgegengesetzten Falle würde sie durch die leere Zeit einer- und durch den leeren Raum andererseits begrenzt sein.« Demnach müsste vor dem Beginn der Zeit auch etwas existiert haben. Aber was sollte das sein? Der britische Naturforscher Isaac Newton war ebenfalls von der Unendlichkeit von Zeit und Raum überzeugt. Zeit begriff er als ein Medium, das gefüllt wird mit relativen Zeiten, mit Stunden, Tagen und Jahren. Zwar sei Zeit unendlich und absolut, doch genieße der Mensch darin im Gegensatz zum Raum keine Bewegungsfreiheit. Ereignisse träten zu einem bestimmten Zeitpunkt auf und seien nicht in ihrer Reihenfolge veränderbar. Hier offenbart sich jedoch das Problem physikalischer Zeittheorien: Denn Zeit bemerken wir immer dann, wenn sie nicht so schnell oder langsam verläuft, wie wir es erwarten. Die Frage nach dem Wesen der Zeit ist also eng verknüpft mit der individuellen Wahrnehmung von Zeit, die in bestimmten Situationen stark variiert. Hier lohnt ein Blick weg von der Uhr und hinein in die Psyche des Menschen. Die Tücken der Zeit sind bekannt. Während die Stunden bei Gesprächen mit Freund*innen unbemerkt verfliegen, fühlen sich 90 Minuten in der falschen Vorlesung an wie eine halbe Ewigkeit. Der Psychologe Marc Wittmann weiß warum: »Die Wahrnehmung der Zeit fungiert als Fehlersignal, welches anzeigt, dass etwas nicht stimmt«, schreibt er in seinem Buch »Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens«. Dieses vermeintliche Fehlersignal sei »insofern funktional, als es zum Handeln auffordert.« Bietet die Vorlesung nicht die gewünschte Beschäftigung, schweifen wir nur zu gern ab und stellen uns all die spannenden Dinge vor, die man


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stattdessen tun könnte. Um die Zeiger der Uhr wieder anzukurbeln, ist Ablenkung gefragt. Dieses Prinzip wenden bereits Kinder unbewusst an. Die bekannte Verhaltensstudie von Walter Mischel, bei der vierjährigen Kindern ein zweites Marshmallow versprochen wurde, wenn sie ein bereits auf dem Tisch liegendes zehn Minuten lang nicht essen würden, ergab deutliche Resultate. Die wenigen Kinder, die sich beherrschen konnten, konzentrierten sich während der Wartezeit auf andere Dinge: Sie sangen Lieder, oder dachten laut nach. Zeit kann sich jedoch auch, zumindest gefühlt, ausdehnen, wenn wir uns nicht langweilen, sondern erregt oder stark angespannt sind. Die längsten zehn Minuten der Welt erleben wir etwa beim Warten auf den Krankenwagen oder auch nur auf eine heiß ersehnte Textnachricht. Das bringt in Gefahrensituationen durchaus Vorteile mit sich. »Wenn zum Beispiel ein Lastwagen im Kollisionskurs auf das eigene Auto zufährt, scheint das äußere Geschehen wie in Zeitlupe abzulaufen«, schreibt Wittmann. Ein Autofahrer berichtete hinterher, wie er in aller Ruhe auswich und den Zusammenstoß verhindern konnte. »Hier handelt es sich also um eine Beschleunigung des Wahrnehmungstaktes.« Zeit allein anhand messbarer Faktoren zu untersuchen, führt

also nicht weit. Doch nur zögerlich wird das individuelle Zeitempfinden in gesellschaftlichen Strukturen berücksichtigt, etwa in der Diskussion um Früh- oder Spätaufsteher. Jahrelang zur falschen Uhrzeit aufzustehen, bringt Marc Wittmann mit dem Begriff »sozialer Jetlag« in Verbindung. Besonders Jugendliche, die entwicklungsbedingt Langschläfer*innen sind, quält der Schulbeginn um acht Uhr morgens. Schichtarbeit erhöht nachweislich gar das Krebsrisiko. Die Medizin achtet deswegen zunehmend darauf, welchem Chronotypen Patient*innen entsprechen – dem der Lerche oder der Eule. Medikamente, so hat sich gezeigt, wirken bei Menschen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gut. Sogar die Chemotherapie kann darauf abgestimmt werden: Je nach Tageszeitpunkt ist das Risiko für Nebenwirkungen höher oder niedriger. Das Zeitempfinden hängt nicht nur von der Verfassung, sondern auch erheblich vom Alter ab. Während einem Kind der nächste Geburtstag in unerreichbarer Ferne zu liegen scheint, können sich Erwachsene vor lauter »Wie doch die Zeit vergeht!«-Ausrufen kaum halten. Das liegt daran, dass Kinder viele Dinge zum ersten Mal erleben. Diese Ereignisse prägen sich dauerhaft ins Gedächtnis ein, man denkt oft an sie zurück, sodass diese Zeit auch retrospektiv als länger wahrgenommen wird. Gerade alte Menschen erleben jedoch wenig Neues und haben somit, je älter sie werden, immer weniger, an das sie sich in der jüngsten Vergangenheit erinnern. Wer jeden Tag Neues erlebt, etwa zu Beginn des Studiums in einer neuen Stadt, der*m fliegt die Zeit nicht so schnell davon. Stetig wiederholte Handlungen wirken somit eigentlich einem gefühlt langen und ausgefüllten Leben entgegen. Das alltägliche Leben ist auf der Flucht vor sich selbst, das »Ich« flüchtet sich in das »Man«, erklärt Martin Heidegger in seinem Magnum Opus »Sein und Zeit«. Man tut, was man eben so tut; man arbeitet, kauft ein Haus, dann einen Hund. »Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit«, schreibt der Philosoph 1927. Ist das verwerflich? Vielleicht genügt es ja, sich seiner Zeit bewusster zu werden. Der Lebenssinn eines Menschen, der Seinsinn des Daseins sei die radikal verstandene Zeitlichkeit, heißt es auch weiter bei Heidegger. Gegen die Sterblichkeit hilft bekanntermaßen ohnehin wenig. Hin und wieder unbekannte Pfade zu betreten, kann die Lebenszeit jedoch verlängern, zumindest gefühlt.

Julia Hubernagel hat beim Schreiben Zeit und Raum um sich herum vergessen.


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To Sleep, Perchance to Dream Wenn wir träumen, können wir die absurdesten Dinge erleben. Manchmal fühlt sich das Geträumte sogar beinahe real an. Warum ist das so? Wie funktionieren Träume überhaupt? Text & Illustration: Annika Grosser Träume sind schon seltsam. Stell dir mal vor: Du rollst auf deinem Schreibtischstuhl durch einen Park im Wedding, plötzlich bricht ein Stuhlbein ab, du fällst und landest im Schwimmbecken eines politischen Parteitags. Die Diskussion dort verpasst du leider, da du von Menschenfänger*innen vor der Kirche angequatscht wirst, die du aber stehen lässt, um deine entführten Freunde von einer südamerikanischen Insel vor Kopenhagen zu retten. Verwirrt wachst du auf. Wer hat sich das denn bitte ausgedacht? Das Mysterium Traum fasziniert die Menschheit seit Jahrhunderten. In den nächtlichen Hirngespinsten suchten die großen Kulturen der Antike und verschiedene Religionen Rat für Kriegsentscheidungen oder vermuteten sogar eine Brücke zwischen dem Diesseits und der Unterwelt. In Europa ist die Praxis der »Traumdeuterey« hauptsächlich durch Traumbücher belegt, die durch zufälliges Aufschlagen einer Seite Zukunftsvorhersagen erlauben sollten. Die Kirche verdammte diese Methode zwar als Zauberei, doch noch heute finden solche Bücher zusammen mit Tarotkarten Verwendung. Als Begründer einer völlig neuartigen Traumtheorie gilt Sigmund Freud mit seinem revolutionären Werk »Die Traumdeutung«. Basierend auf seinen Annahmen der Psychoanalyse sind Träume Äußerungen unterdrückter Wünsche und Triebe, die im Konflikt zwischen zwei Instanzen der menschlichen Psyche stehen – dem Es, der »dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit«, und dem moralgeleiteten Über-Ich. »Wir nähern uns dem Es mit Vergleichen, nennen es ein Chaos, einen Kessel voller brodelnder Erregungen«, schreibt Freud. Traumanalyse sei die einzige Möglichkeit, das unterbewusste Es zu verstehen und die eigenen verwerflichen Gelüste zu dechiffrieren, die das Über-Ich sonst erfolgreich unterdrückt. Ganz im Einklang mit Freuds Forschung handelt es sich hierbei vor allem um Sexträume.

Heute ist Freuds Traumanalyse stark umstritten. Die aktuelle Forschung ist sich relativ sicher, dass Träumen vordergründig dem emotionalen Ausmisten dient. Das Erlebte wird verarbeitet, das Wichtige verinnerlicht und der Rest entsorgt – und das eben häufig in Form von bizarren Gedankenergüssen. Dazu gehört auch, dass wir uns im Schlaf mit ungelösten Problemen beschäftigen. So entschlüsselte James Watson die Doppelhelixstruktur unserer DNA, nachdem er des nachts von einer Wendeltreppe träumte. Ein knappes Jahrzehnt später erhielten er und sein Kollege für die Entdeckung den Nobelpreis für Medizin. Wie aber kann es sein, dass manche Menschen jeden Morgen die verrücktesten Traumgeschichten zu erzählen haben und andere sich an absolut nichts erinnern? »Ein Traum hat kaum einen Anfang oder ein Ende, ist keine Aufgabe, die nachts ansteht und einmal erfolgreich abgearbeitet von der ToDo-Liste verschwindet«, erklärt Steffen Richter, Schlafmediziner an der Charité Berlin. »Es gibt keine Nächte mit einem Traum oder Nächte ohne Traum, den Unterschied macht nur die Erinnerung an das Träumen nach dem Aufwachen.« Ob wir uns am nächsten Morgen an unseren Traum erinnern, hängt davon ab, in welcher Schlafphase wir aufwachen. Die aktive Phase unseres Schlafs nennt sich


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REM: Rapid-Eye-Movement-Schlaf. Zwar träumen wir in jeder Phase, unsere Träume im REM-Schlaf sind aber am lebhaftesten und gleichen am ehesten einer zusammenhängenden Geschichte. Mit nur 25 Prozent unseres Schlafs macht die REM-Phase rund 85 Prozent unserer Träume aus, für gewöhnlich spät nachts bis früh morgens. Unser Körper fällt währenddessen in eine Art Paralyse, die uns davor schützen soll, unsere Träume körperlich auszuleben. Deshalb schlagen wir im REM-Schlaf nicht um uns oder fallen aus dem Bett, wenn wir im Traum vor jemandem weglaufen oder uns verteidigen. Es kommt allerdings vor, dass der Effekt noch anhält, wenn wir aus der REM-Phase erwachen. Manche Menschen können sich dann vorübergehend nicht bewegen oder sprechen. Besonders bei lebhaften Albträumen neigen wir zur körperlichen Reaktion und wälzen uns gerne im Bett umher. Die Bezeichnung »Albtraum« rührt von bösen kleinen Elfen her, den sogenannten Alben aus der germanischen Mythologie. Schlechte Träume sind zwar unangenehm, doch laut Steffen Richter nicht einfach abzutun: »Wenn wir dem Träumen schon einen Zweck unterstellen, sollten wir auch bereit sein zu akzeptieren, dass die Arbeit, die dort verrichtet wird, nicht nur unserer Unterhaltung dient, sondern auch einmal unangenehm werden kann. Aus evolutionärer Sicht ergibt es Sinn, dass zuallererst die Probleme gelöst werden, die für uns vital bedrohlich sein könnten.« Wiederkehrende Albtraumstörungen haben ihren Ursprung meist im Wachzustand. So können sich Unfälle, Kriegserfahrungen oder andere traumatische Erlebnisse, die der Mensch nur schwer bewältigen kann, tief im Unterbewusstsein festsetzen. Im Schlaf durchlebt die Psyche das Trauma erneut in abgewandelter Form und versucht, es zu verarbeiten. Doch es gibt Techniken, die bei der Überwindung helfen können. Dafür sollen sich Betroffene für den jeweiligen Albtraum ein Happy End ausdenken und sich die neue Geschichte im Anschluss täglich vorstellen. So erlangen wir im Wachzustand Kontrolle über unsere Träume. Selbiges funktioniert auch umgekehrt: beim luziden Träumen, einem Stadium zwischen REM- und Wachzustand. Die schlafende Person ist sich dabei ihres Traumzustands bewusst und kann ihn daher manipulieren. Wenn wir schlafen, ruht sich für gewöhnlich auch der Präfrontale Cortex aus, der in Zusammenhang mit Handlungsplanung und Hirnaktivität steht. Erwacht dieser Teil unseres Gehirns jedoch, durchschauen wir Unstimmigkeiten unseres Traums – etwa die fehlende Logik hinter unseren Fähigkeit zu fliegen. Dieses partielle Erwachen kann man lernen. So können wir selbst die Regie übernehmen und über den weiteren Verlauf unseres Traums bestimmen. Mit dem luziden Träumen eröffnet sich zudem die Möglichkeit, unsere Leistung durch aktives Traumtraining zu optimieren. Abläufe von Choreografien, Läufen oder anderen Sportarten lernen wir dadurch buchstäblich im Schlaf. Forscher*innen warnen allerdings: Im Schlaf regeneriert sich der Körper. Auch der Geist braucht seine Zeit, die Informationsflut zu verarbeiten, die täglich auf uns einprasselt. Steffen Richter sagt, es sei »eine eigenartige Neigung des Menschen, jedes Erleben, jeden Körperzustand, jeden Gedanken kontrollieren und unangenehme Inhalte sofort ausblenden zu wollen.« Ob man seinen kostbaren Schlaf der Selbstoptimierung opfern möchte, will also gut überlegt sein. Sind die schönsten Träume nicht eh jene, die wir zum ersten Mal »erleben«?

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Annika Grosser hat längst aufgehört zu träumen. In ihren schlaflosen Nächten schreibt sie lieber.

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Die empörte Studentin Text: anonym Illustration: Janine Muckermann Wer kein Herz für Leistungspunkte hat, der*die hat nun mal kein Herz. Den großväterlichen Rat ihres Dozenten hat sie einfach mal ernst genommen. Ergebnis: Tote Oma, gute Noten.

doch bitte für jemanden frei machen, der*die mehr Glück hat in Sachen familiärer Gesundheit - oder bereit ist, für das Studium Oma ins Heim zu verfrachten. Auch neben dem Studium zu arbeiten, sei keine gute Idee, denn das hält nur vom Lesen ab. Wer dann die Miete nicht mehr zahlen kann, findet zwischen den Bibliotheksregalen sicher ein nettes Plätzchen. Dann verkürzt sich auch der Arbeitsweg immens.

Studis haben ihr Leben nicht unter Kontrolle. Saufend statt paukend fristen sie ihr Dasein und verschwenden Zeit und Geld. Ein Dozent am Otto-Suhr-Institut (OSI) hat davon genug: Er will Ordnung in den Laden bringen und hat seinen Seminarteilnehmer*innen, mich eingeschlossen, ein Dokument zukommen lassen – voll mit Tipps und Tricks, wie man sich konzentriert auf das, was wichtig ist. Nach ihm sind das drei Dinge: Das Studium, das Studium und das Studium [sic!].

Da ich dringend die Leistungspunkte brauche, kündige ich kurzerhand meinen Job und teile meinen Eltern mit, dass sie mich ab jetzt vollständig finanzieren müssen. Sie sind nicht begeistert. Alternativplan: Oma anrufen. Doch die hat nach einem Streit meine Nummer blockiert, da sie sich sicher war, Opfer des Enkel-Tricks geworden zu sein. Wer so wenig in meine Bildung investiert, muss sich über fehlende Krankenhausbesuche nicht wundern, schreibe ich ihr in einer wütenden SMS.

Er hat ja Recht: Wir können so dankbar sein, für wenig Geld in Deutschland studieren zu können. Wer nicht alles gibt, tritt dieses Privileg mit Füßen! Besagter Dozent erklärt daher, lästige Verwandte, die es wagen, unter schweren Krankheiten zu leiden, pflegebedürftig zu werden oder gar die Dreistigkeit aufbringen, zu sterben, würden uns nur vom Studium abhalten. Wer Zeit mit Pflege oder Trauer verschwendet, möge den Studienplatz

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Herausgegeben von: Freundeskreis Furios e.V. Chefredaktion: Antonia Böker, Rabea Corinna Westarp (V.i.S.d.P., Freie Universität Berlin, JK 28/106, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin) Ressortleitung Politik: Jette Wiese, Julian Sadeghi Ressortleitung Campus: Anabel Rother Godoy, Philipp Gröschel Ressortleitung Kultur: Carry-Ann Fuchs, Elias Fischer Ressortleitung Wissenschaft: Annika Grosser, Julia Hubernagel Layout: Ben Barun Chef*in vom Dienst: Julian von Bülow, Antonia Böker Redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe: Antonia Böker, Julian von Bülow, Julian Sadeghi, Elias Fischer, Carry-Ann Fuchs, Annika Grosser, Anabel Rother Godoy, Leon Holly, Julia Hubernagel, Matthäus Leidenfrost, Michael Reinhardt, Elena Schulz-Ruthenberg, Josefine Strauß, Rabea Corinna Westarp, Jette Wiese, Lena Marie Breuer

In meinen S-Bahn-Waggon steigt unterdessen eine alte Dame ein und fragt, ob ich den Platz freimachen könne. Ich brülle sie an, dass ich ja wohl mittlerweile genug Zeit mit dem Lesen meiner Texte verbringe und dass sie geistig sowieso nicht mit mir mithalten könne. Als mir klar wird, dass sie meinen Sitzplatz meinte, verlasse ich beschämt die Bahn.

Illustrationen: Antonia Böker, Marie K. Gentzel, Annika Grosser, Roxanne Honardoost, Lena Luisa Leisten, Freya Siewert Fotografien: Antonia Böker, Elias Fischer, Tim Gassauer, Madita Oeming, Elena Schulz-Ruthenberg Covergestaltung: Antonia Böker, Elias Fischer, Tim Gassauer, Rabea Corinna Westarp Editorial- und Autor*innenfotos: Tim Gassauer Lektorat: Antonia Böker, Rabea Westarp ISSN: 2191-6047 www.furios-campus.de redaktion@furios-campus.de Jede*r Autor*in ist im Sinne des Pressegesetzes für den Inhalt ihres*seines Textes selbst verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansicht der Redaktion wider. Gemäß dem Urheberrecht liegen die Rechte an den einzelnen Werken bei den jeweiligen Autor*innen.


39 Marie K. Gentzel ist ein Einfalltspinsel.

Illustrationen

Lena Luisa Leisten Häufig verwendet:

Roxanne Honardoost glaubt fest daran, dass jeder Studi ein Feuer löschen kann.

Annika Grosser Alles muss man selber machen.

Freya Siewert studiert zwar jetzt in Weimar, kann mit Berlin aber anscheinend doch nicht so einfach abschließen.

Antonia Böker ist sich vollstens darüber im Klaren, dass ihr Prof ein bisschen an Steinmeier erinnert. Alte weiße Männer sehen für sie eben einfach alle gleich aus. Anzeige

Studentenjob gesucht? Fotos

11 €

Tim Gassauer That`s not me.

Layout Ben Barun fährt leidenschaftlich gern U6.

Bewerberhotline:

030-700 108 325



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