FURIOS 08 – Schönheit

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FURIOS

KOSTENLOS

08 SoSe 2012

STUDENTISCHES CAMPUSMAGAZIN AN DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN

VERQUATSCHT

VERPLANT

VERSCHRIEN

VERDORBEN

Was ist Schönheit? Drei Wissenschaftler aus drei Fächern diskutieren einen abstrakten Begriff Titelthema

Was bleibt vom freien Studium? Die FU will eine Rahmenprüfungsordnung einführen Politik

Über Burschenschaften wird viel geredet. Ein Ehemaliger erzählt, wie es wirklich war Campus

Eigenleistung wird überbewertet: Wir klauen von der Süddeutschen Zeitung Kultur


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Editorial

MITMACHEN? WWW.FUCAMPUS.DE/MITMACHEN MITMACHEN@FURIOS-CAMPUS.DE

LIEBE KOMMILITONINNEN, LIEBE KOMMILITONEN, FÜR DIE OPTIK SORGEN: Christoph Spiegel studiert Mathematik und bekommt in seiner Freizeit eMails von Redakteurinnen mit dem Betreff »Suche Männer mit Bezug zur Schönheit!!«

Snoa Fuchs

wurde geboren, ging zur Schule und reiste danach in der Welt herum. Sie studiert Nordamerikastudien und hat schon einmal eine halbe Zitrone am Stück gegessen.

Fabian Hinsenkamp shot the sheriff but he swears he didn't shoot no deputy. He is also a second semester student of economics.

Kelsey Bass is a graduate from the Cleveland Institute of Art. She has studied Illustration and enjoys the creative process.

Fokea Borchers studiert Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Theaterwissenschaft.

Kirstin MacLeod

studiert Politikwissenschaft im zweiten Semester. Eigentlich nimmt sie einen Stift sonst nur zum Schreiben in die Hand, doch in diesem Heft hat sie sich zeichnerisch ausgetobt.

es ist ein Nacktmull. Möge William-Adolphe Bouguereau auf der anderen Seite bequemer liegen und uns verzeihen: Diesmal wagen wir uns an das Menschheitsthema Schönheit. Ein abstrakter Begriff: Was ist Schönheit überhaupt und warum sehnen wir uns nach ihr? Was steckt hinter den Blicken, die unsere neugeborene Göttin hier auf sich zieht? Ist es wichtig, dass der Ort, an dem wir studieren, schön ist? Fragen über Fragen. Schönheit liegt in diesem Heft im Auge der FURIOS. Diese Themen werden wir betrachten: »Unscheinbar« ist noch eine freundliche Beschreibung für die Rost- und Silberlaube. Viele finden das Hauptgebäude der FU einfach hässlich. Zu Unrecht, fand Margarethe Gallersdörfer. Sie hat sich auf die Suche gemacht und herausgefunden: Die Rost- und Silberlaube hat Qualitäten, die sie zu einer echten Schönheit machen. Es kommt nicht immer auf das Äußere an. Auch der Satz, dass Schönheit im Auge des Betrachters liege, gilt nur mit Einschränkungen: Was ist denn, wenn die Augen nicht sehen können? Zwei blinde Studentinnen haben sich mit Julian Niklas Pohl über ihre persönliche Wahrnehmung von Schönheit unterhalten. Und nicht nur jeder Mensch, auch nahezu jede wissenschaftliche Disziplin hat eine eigene Antwort auf die Frage: Was ist Schönheit? Drei Wissenschaftler der FU vergleichen im Gespräch die Ansichten der Literaturwissenschaft, der Mathematik und der Anthropologie zu unserem Titelthema. Wir hoffen, ihr findet dieses Heft schön, denn wir haben ein paar Änderungen vorgenommen: Den Warenfetisch findet ihr dieses Semester online! Catharina Tews erklärt, warum die Entscheidung, statt Hosen Leggings zu tragen, meist unschöne Folgen hat. Außerdem ist der empörte Student zurückgekehrt: Er findet es gar nicht schön, dass er als gemäßigter Linker als »rechts« gilt, seit er an der FU studiert! Wollt ihr noch mehr FURIOS? Mitdiskutieren? Seid ihr auf der Suche nach aktuellen Meldungen, Reportagen, Kommentaren und Veranstaltungstipps rund um die FU? Uns gibt’s nicht nur gedruckt! Schaut regelmäßig vorbei auf furios-campus.de und auf unserer Facebookseite! Du kannst schreiben, zeichnen, fotografieren, layouten oder bist IT-Experte? Oder du kannst und bist das alles noch nicht, willst aber damit anfangen? Dann komm vorbei! Die Redaktion trifft sich in der Vorlesungszeit jeden Mittwoch um 18 Uhr in der Rost- und Silberlaube, Habelschwerdter Allee 45, Raum KL 24/223. Eine schöne Zeit mit diesem Heft wünscht euch Eure FURIOS-Redaktion

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INHALT 08 TITELTHEMA: SCHÖNHEIT Der andere Ort

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Sie ist pannengeplagt und nach längst vergangener Mode gebaut. Doch die Rost- und Silberlaube ist eine wahre Schönheit: Sie ist anders als die anderen. Ein persönlicher Blick auf das Hauptgebäude der FU Ich sehe was, was du nicht sehen willst 12 Die Studentinnen Katrin und Joyce sind blind. Doch auch ohne die Welt mit eigenen Augen zu sehen, haben sie eine genaue Vorstellung von dem, was sie als schön empfinden – und machen sogar Fotos davon »Schönheit ist eine Droge« 14 Was ist Schönheit überhaupt? An dieser Frage scheiden sich in der Wissenschaft die Geister. Auch drei Professoren sind sich nicht ganz einig, was hinter dem abstrakten Wort eigentlich steckt. Eine Diskussion

POLITIK Aus dem Rahmen gefallen 20 Anwesenheitspflicht und nur noch zwei Fehlversuche bei Prüfungen: Gegen die vom Präsidium geplante Rahmenstudienund Prüfungsordnung formiert sich Protest Im Wohnzimmer der Vertriebenen 22 FU-Student Tillmann Brehmer war ein halbes Jahr lang Kindergärtner im Libanon. Bericht aus einem palästinensischen Flüchtlingslager

Weltwärts Rückwärts 24 Warum gibt es eigentlich so viele deutsche Freiwillige im Ausland, aber keine ausländischen Freiwilligen in Deutschland? ›Zugvögel e. V.‹ will das ändern

IOS FUR R H F ME E AU N I L ON DE

S. MPU A C FU-

Heimat bleibt Heimat 25 FU-Student Amir stammt aus Syrien. Über die Nachrichten erlebt er den Bürgerkrieg mit, ohne dort zu sein

CAMPUS Verbindung gekappt 26 Um Studentenverbindungen ranken sich viele Geschichten. Doch wie lebt es sich wirklich in einem Verbindungshaus? Ein Ehemaliger packt aus Wo bin ich hier gelandet? 28 Ballettstunden und Literaturseminare sind nicht jedermanns Sache. Warum, erzählen zwei Studenten, die sich dorthin verirrt haben Ewiger Ehemaliger 29 Als FU-Student war Hans Eichel rebellisch. Dann wurde er Bundesfinanzminister Leichen auf dem Campus 30 Im Keller der Uni lagern tote Menschen in Kühltruhen. Sie dienen Medizinstudierenden als Lehrmaterial. Ein Einblick in das Anatomie-Institut Der empörte Student 38 Gemäßigte Linke driften an der FU ungewollt in »rechte Kreise« ab. Einer hat uns einen empörten Leserbrief geschrieben 4 aus 40 000 18

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Nicht schön? Von wegen. Eine Liebeserklärung an die Rost- und Silberlaube

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»Als Finanzminister muss man gar nicht so viel können.«

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KULTUR Noch ein Schuss Lyrik? 32 Moderne Poeten ziehen durch das Land. Ein Abend mit dem Autorenkollektiv G13 Das ist Kunst und kann weg 33 Damit die Mühen nicht umsonst waren, bietet das Projekt »This is for Losers« Bewerbern, die von einer Kunsthochschule abgelehnt wurden, eine Plattform Best of mäßig – Mensa-Höhepunkte in Buchform 34 Das Studentenwerk verkauft Kochbücher mit Mensarezepten. Die Redaktion hat zwei davon getestet Die geklaute Rubrik 35 Wir klauen von den Großen. Dieses Mal abgekupfert: »Mitten in…« aus der ›Süddeutschen Zeitung‹ Warenfetisch online Immer mehr Frauen halten Leggins für einen Hosenersatz

WISSENSCHAFT Schwarz-rot-geiler Rausch 36 Das Fußballfieber ist ausgebrochen. Wissenschaftler erforschen die Emotionen und Affekte der Fans Schönheit im Kopf online Wie entscheiden wir, was schön ist? Die Forschung der Neuroästhetik gibt Antworten

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Kinder im Flüchtlingslager – sie wachsen in einem Provisorium auf


DER ANDERE Bezeichnet man die Rost- und Silberlaube vor Publikum als schรถn, warten alle auf die Pointe. Dabei meint MARGARETHE GALLERSDร RFER es vรถllig ernst. Aber warum? Eine Suche nach der Schรถnheit des geisteswissenschaftlichen Komplexes Fotos von CHRISTOPH SPIEGEL


ORT


Titelthema: Schönheit

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ch erinnere mich gut an den Tag, an dem ich sie zum ersten Mal sah. Es war im September. Ich musste zu einem Test antreten, um einen Studienplatz zu bekommen, von dem ich nicht recht wusste, ob ich ihn wollte. Es gab überhaupt so Einiges, das ich nicht recht wusste. Missmutig irrte ich durch Dahlem, bog schließlich in die Thielallee ein – und da stand sie: die Rost- und Silberlaube. Sie sah genauso aus, wie ich mich fühlte: unentschieden. Kleiner als gedacht. Ein uneingelöstes Versprechen. Zwei Jahre später habe ich ein Problem: Ich mag das alles, was ich, um Atem zu sparen, kurz »die Silberlaube« nenne. Rostlaube, Silberlaube, Mensa, Erziehungswissenschaftliche Bibliothek, Philologische Bibliothek. Ich mag es nicht nur – ich finde es schön. Ich gehe gerne hin, ich halte mich gerne dort auf. Nur gibt es dafür keine objektiven Gründe. Das Ding ist hässlich. Aus der Vogelperspektive sieht es aus wie ein Fabrikgelände – mit der Philologischen Bibliothek als abgefahrenem, integriertem Versuchslabor. Aus Bodensicht wirkt es, je nachdem, von welcher Seite man sich nähert, bestenfalls unscheinbar und schlimmstenfalls ziemlich ranzig. Derzeit ziert auch noch eine gigantische Baugrube seine Flanke an der Fabeckstraße. Drinnen sind die Decken niedrig, das Licht kommt aus Neonröhren, die Gänge sind endlos. Und quietschbunt. Was ist daran attraktiv?

Ich überfalle im und um den Komplex herum nach dem Zufallsprinzip Leute, um sie zu fragen, ob sie die Rost- und Silberlaube schön finden. »Warum? Kann man da noch was ändern?«, entgegnet mir ein Kommilitone. Er grinst. Aber die rhetorische Frage hat eine Antwort: Ja, theoretisch. Flexibilität war architektonisch gesehen das ganz große Ding

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in den 60er-Jahren. Sowohl Rost- als auch Silberlaube sind auf einem Stahlskelett zusammengesetzt worden, wie aus dem Baukasten. Fassade, Deckenplatten, Trennwände, sogar die Stahlträger ließen sich theoretisch abmontieren und an einer anderen Stelle des Gebäudes wieder neu zusammensetzen. Eine Hommage an die Nachhaltigkeit.

Build your own university? Letztendlich ist es nur einmal gemacht worden; die Teile der Rostlaube, die für den Neubau der Philologischen Bibliothek abgerissen werden mussten, dienten dem Bau eines zusätzlichen Stockwerks. Dabei stellte sich jedoch schnell heraus, dass der Aufwand zu groß war: Die Einzelteile mussten zunächst geprüft und konnten nur teilweise wiederverwendet werden. Dem gleichen Willen zur ständigen Veränderung haben wir das abenteuerliche Bezeichnungssystem in der Rostund Silberlaube zu verdanken. Es hat ungezählte Erstsemester an ihrer Studierfähigkeit und Besucher an ihrer Intelligenz zweifeln lassen. Drei große, parallele Längsstraßen, die von zehn kleinen, parallelen Quergängen gekreuzt werden: Das klingt nicht kompliziert. Aber warum heißen die Straßen J, K und L und warum sind die Gänge von 23 bis 32 durchnummeriert? Die Antwort findet sich wieder in ihrer Entstehungszeit. Der Platz, über den die FU verfügte, hinkte seit ihrer Gründung hinter der schieren Masse an Studierenden her, die sich immatrikulieren wollten. 1967 begannen die Bauarbeiten für die Rostlaube; die TU hatte das Gelände bis dahin als Testfeld für Obstanbau genutzt. Erst sechs Jahre später wurde das Gebäude fertig. Die ursprüngliche Idee, allen Fachbereichen der FU hier ein Zuhause zu geben, war schon kurz nach ihrer Entstehung wieder Makulatur.

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Titelthema: Schönheit

Doch schon allein die geisteswissenschaftlichen Fächer, die nach und nach in die Rost- und Silberlaube einzogen, wuchsen sprunghaft. Die Straßenbezeichnungen waren lange eine ferne Erinnerung an die offene Planung des Komplexes, die Anbauten nach jeder Seite hin ermöglichen sollte. Deshalb die Buchstaben mitten aus dem Alphabet, die scheinbar zufälligen Zahlen. Die Architekten hatten diese Möglichkeit schon wieder aufgegeben. Bestimmt würden sie sich freuen, zu erfahren, dass sie nun doch noch genutzt wird: In der gigantischen Sandkiste, die an der Fabeckstraße klafft, entsteht zur Zeit ein Bau, der weitere Fachbereiche aus ihrem Villenasyl auf das Obstbaugelände holen soll. Er heißt »Zusammenführung der kleinen Fächer und Neubau Naturwissenschaftliche Bibliothek«, aber ich bin mir ganz sicher, es gibt einen besseren Namen. Denn die Ergänzung der Rost- und Silberlaube wird ganz mit Holz verkleidet sein. Man kann dem Anbau nur die Daumen drücken. 2014 soll er fertig werden. Die Geschichte der Neubauten auf dem Obstbaugelände verheißt wenig Gutes. Wie kommt ein Gebäude, das zum Aushängeschild der großen, freien Universität des Westens werden sollte, zu dem Namen »Rostlaube«? Ganz klar ist das nicht. Wahrscheinlich, indem man es mit nicht erprobtem Corten-Stahl verkleidet. Corten-Stahl ist ein wetterfester Baustahl, dessen obere Schichten rosten. Der Rost bildet eine Patina, die das

Material vor Korrosion schützt und weitere Bearbeitung unnötig macht. Machen soll. »Leider«, heißt es etwas umständlich in dem Bändchen ›Villen, Rost- und Silberlauben‹, »hat sich dieser Effekt bei der ›Rostlaube‹, wie man dann erst später sah, nicht so, wie man es sich vorgestellt

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hatte, eingestellt.« Dem Neubau war es egal, dass er nur anrosten sollte. Wenn, dann richtig, dachte er sich und rostete ganz durch. Der nächste Bauabschnitt wurde wohlweislich mit silbrigen Aluminiumplatten bestückt – fertig war die »Rost- und Silberlaube«. Weitere Bauabschnitte – Mensa, Erziehungswissenschaftliche Bibliothek – folgten.

Die Silberlaube verhielt sich ruhig, machte keine Probleme. Bis sich herausstellte, dass Asbest ungesund ist. Die Rostlaube machte ihrem Namen da schon alle Ehre. Sie war derart marode, dass sie zur Gefahr für Leib und Leben geworden war. Und so konnte in den 90er-Jahren in einem Aufwasch die Asbestsanierung beider Lauben, die Neuverkleidung der Rostlaube mit Kupferplatten und die Planung der Philologischen Bibliothek in Angriff genommen werden. Die Philologische Bibliothek, »Brain« genannt, ist tatsächlich schön – diese weißen, u-förmigen Ebenen, die Dynamik, mit der sie sich durch die Kuppel schwingen. Die runde, futuristische Form erinnert von außen an eine blankpolierte Kastanie – oder an ein Gehirn. Wem die Assoziation nicht behagt, der nennt das Gebäude »tropfenförmig«. Und auch das Geräusch von fallenden Tropfen kann schön sein, beruhigend. Auf die Angestellten der Philologischen Bibliothek scheint es aber einen anderen Effekt zu haben: Emsig laufen sie im ganzen Bau umher und legen Lappen und Schwämme in die Eimer, die die dumpfen Töne von Wasser auf Plastik schlucken. Die Eimer fangen das Wasser ab, das bei Regen durch die Glas- und Stahlpaneele der zeltartigen »Philbib« kriecht und Bücher, Computer und Teppiche bedroht. Die Angestellten beenden ihr Tagwerk, indem sie alles, was unter den Lecks

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Titelthema: Schönheit

steht, mit Plastikfolie bedecken. Nur sieben Jahre nach seiner Fertigstellung ist das hübsche, funkelnde Brain wieder Baustelle, die Kastanie hat die stachelige Schale aus Gerüsten zurückgewonnen. Das Gehirn der Geisteswissenschaften hat einen Wasserschaden. Dieses köstlichen Witzes darf sich das Architekturbüro ›Norman Foster and Partners‹ rühmen. Ein Gutachten entlastete den Stararchitekten zwar; es ergab, es habe sich um Fehler in der Ausführung gehandelt, nicht in der Konstruktion. Doch das Brain ist wohl vor allem deshalb nie dicht gewesen, weil die Bauform so ungewöhnlich ist: Die doppelte Krümmung der Paneele erschwerte die völlige Abdichtung der Fugen zwischen ihnen; sie ist vielleicht sogar geometrisch gar nicht möglich. Die Ausführung war deshalb kniffelig, genau wie die Reparatur heute, die sich noch über Monate

hinziehen wird. Die Wahrheit ist: Hier sollte, wie damals mit dem Corten-Stahl, etwas besonders Tolles, Neues ausprobiert werden, das dann schief gegangen ist. Worin besteht sie, die Schönheit der Rost- und Silberlaube? Fast allen Kommilitonen, die ich befrage, fällt dann doch noch etwas ein. Die einfache Antwort ist: In ihren Leerstellen, in den zahlreichen Möglichkeiten, ihr zu entkommen. »Wahrscheinlich«, schreibt der Philosoph

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Michel Foucault, »schneidet jede menschliche Gruppe aus dem Raum, den sie besetzt hält, in dem sie wirklich lebt und arbeitet, utopische Orte aus.« Er nennt sie »Heterotopien« – andere Orte. Es ist eine nahezu perfekte Beschreibung der Innenhöfe und Dachterrassen der Rost- und Silberlaube. Wandert man durch die Gänge, finden sich alle paar Meter Türen ins Grüne. Verwunschene Flecken oder parkähnliche Anlagen – sie sind eine Wohltat, vor allem die geheimen Gärten unter ihnen, die niemand je zu betreten scheint. Eigentlich, schreibt Foucault, seien »diese privilegierten oder heiligen Orte […] Menschen vorbehalten, die sich in einer biologischen Krisensituation befinden.« Die Sehnsucht nach einer Zigarette fällt genauso klar unter diese Kategorie wie das dringende Bedürfnis, einem stickigen Seminarraum zu entkommen. Der Entdecker realer Utopien wie die Innenhöfe nennt sie »Gegenräume«: »Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.« Hiermit ist die Antwort gefunden, meine ich. Die Rostund Silberlaube lässt in komischer Regelmäßigkeit prestigeträchtige Großprojekte scheitern. Das ist es, was ihre Schönheit ausmacht. Nicht nur die Innenhöfe, die ganze Rost- und Silberlaube ist »der andere Ort«. Sie widersetzt sich – ihrer Umgebung, aber auch dem, was sie selbst beherbergt. Denn diese Stimmung, die um uns Studierende herum aufgebaut wird und die uns ständig zuflüstert: »You're gonna go far, kid« – aber nur, wenn du dich schnell entscheidest, stromlinienförmig bist, zielstrebig, wenn du dein Studium »zügig durchziehst«, dich ständig weiterbildest, ins Ausland gehst, Praktika machst: Sie spornt die meisten von uns nicht an. Sie treibt uns vor sich her und bewirkt, dass wir uns oft klein und hässlich fühlen. Unzulänglich. Dann aber hasten wir atemlos in die Rost- und

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Silberlaube und hören dort plötzlich aus jeder Ecke, jedem Gang eine andere Stimme: »Langsam«, sagt sie freundlich. »Mach dir weniger Sorgen«, sagt sie beruhigend. »Ein Abschnitt nach dem anderen, und es darf auch mal was schiefgehen. Manchmal ist man eben unzulänglich. Man rostet mehr, als man sollte. Setzt Moos an. Trägt hässlichen Schmuck. Und manchmal tropft es einem sogar ins Gehirn.«

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Mich tröstet das. Hätte ich diesen Test damals im Hauptgebäude der Humboldt-Universität schreiben müssen – groß, weiß, Unter den Linden: Ich hätte mich umgedreht und wäre gegangen. In der Rost- und Silberlaube bin ich geblieben. Denn das Hauptgebäude unserer Uni ist eine schadhafte Schönheit. Sie ist der andere Ort. Hier können wir uns eingestehen, dass wir nicht immer exzellent sind.

Margarethe Gallersdörfer ist im vierten Semester und hat gelernt, hässliche Gebäude zu lieben: Sie wohnt in einer DDR-Platte.

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Titelthema: Schönheit

ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SEHEN WILLST Schönheit ist primär ein visueller Begriff. Doch wie begegnet man ihm ohne sehen zu können? Zwei blinde Studentinnen berichten über ihre persönlichen Wahrnehmungen von Schönheit JULIAN NIKLAS POHL

hat sich mit ihnen unterhalten

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atrin Dinges ist blind. Trotzdem sagt sie einen Satz wie »Litauen ist ein schönes Land!« Für einen Außenstehenden verblüffend: Katrin, die an der Humboldt Universität Deutsche Literatur und Europäische Ethnologie studiert, hat Litauen ja nie gesehen. Was ist an fremden Orten für blinde Menschen schön? In Katrins Fall Dinge, die wohl auch Sehende ansprechend finden: die leckere baltische Küche beispielsweise, oder das historische Ambiente der Hauptstadt Vilnius.

• Doch das muss nicht immer so sein, wie die ebenfalls blinde Studentin Joyce Tedeschi zu erzählen weiß. Joyce ist 23 Jahre alt und studiert Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (OSI). Viele Situationen, die Sehende überwältigend finden, bedeuten für sie Stress. Wenn Sehende etwa zum ersten Mal durch die Häuserschluchten von New York gehen, mag der sprichwörtliche erste Blick dafür sorgen, dass sie sich sofort in die Stadt vergucken. Joyce verbindet mit solchen Reisen hauptsächlich rempelnde Passanten, Gestank und laut tosenden Straßenverkehr. »Atmosphäre kann man nicht sehen«, sagt sie. »Die muss man spüren.« Ihr gefallen deshalb Kleinstädte, die heimelige Gemütlichkeit ausstrahlen, besser – für Sehende ein Ort der Langeweile. Dass der Durchschnittsstudent das OSI zum Gotterbarmen hässlich findet, kann Joyce nicht nachvollziehen. Sie fühlt sich einfach wohl dort. Ein schöner Ort. Im Gegensatz zu Katrin hat Joyce einen entscheidenden Vorteil: Bis zu ihrem elften Lebensjahr konnte sie uneingeschränkt sehen. »Ich habe deshalb eine sehr definierte Vorstellung von dem, was ich schön finde. Das fängt bei Farben an und hört bei Formen auf«, sagt sie. Der Welt der Sehenden fühlt sie sich sehr nahe, weil sie aufgrund ihrer Erinnerung einschätzen kann, was sie schön findet und was nicht. Bei der

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Beschreibung nicht-visueller Dinge hingegen hilft ihr das Wort »schön« nicht viel weiter. Ganz anders geht es Katrin, die seit ihrer Geburt blind ist. Sie nimmt nur unmessbar geringe Mengen Licht wahr. Für eine ähnlich differenzierte Schönheitsbeurteilung, wie Joyce sie kennt, reicht das bei Weitem nicht aus. Trotzdem hat Katrin ein erstaunliches Hobby: Fotografie. Seit sie bei einem Projekt für Sehbehinderte und Blinde verschiedene analoge Fotografiertechniken gelernt hat, nimmt sie regelmäßig Bilder auf. Immer wieder unternimmt sie dazu Touren durch Berlin. Wie schön die Ergebnisse sind, kann sie nicht bewerten: »Ein Foto ist für meine Wahrnehmung nur ein Stück Papier, da kann ich nichts mit verbinden.« Doch wenn sie ihr beschrieben werden, halten ihre Fotos Überraschungen bereit: An einem Sonntagmorgen hat Katrin einmal versucht, die Stimmung des »menschenleeren« Alexanderplatzes einzufangen. Später erfährt sie, dass das nicht ganz geklappt hat: Irgendwie ist es ihr gelungen, die einzige anwesende Person auf dem sonst verwaisten Platz aufzunehmen.

• Das Fotografieren macht Katrin Spaß. Doch gerade am Anfang riss es bei ihr alte Wunden auf: »Zunächst hatte ich Schwierigkeiten damit, zu akzeptieren, dass ich wirklich gar nichts sehe«, sagt sie. »Das war mir natürlich abstrakt klar, aber nicht mit den Konsequenzen, die es für meine Fotos hat. Das hat in mir eine neue Auseinandersetzung mit dem Nicht-Sehen ausgelöst.« Bei der Beurteilung ihrer Bilder fehlt ihr eine eigene Meinung über den ästhetischen Wert ihres Werkes. Ob also das Ergebnis ihres Schaffens letztendlich schön ist, vermag Katrin nicht eigenständig zu beantworten: »Wenn jemand sagt, dass ich ein schönes Bild gemacht habe, bin ich schon stolz. Aber ich empfinde das Foto nicht unbedingt als mein Werk. Denn

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Titelthema: Schönheit

Aufnahme einer blinden Fotografin: Katrin Dinges versucht mit ihren Fotos zu zeigen, dass sie die Welt hauptsächlich haptisch wahrnimmt.

der angelegte Maßstab, ob das Bild nun schön ist oder nicht, stammt nicht von mir.« Eine Dimension des Schönheitsverständnisses von Blinden ist offenbar Fremdbestimmung. Lobt man sie für die Bilder, die an den Wänden ihrer Wohnung hängen, entgegnet sie forsch: »Die kommen alle weg. Die haben meine Eltern für mich ausgesucht!«

• Kann »blinde« Wahrnehmung von Schönheit auch von Vorteil sein? Politikstudentin Joyce würde das bejahen. Sie glaubt, dass sie Fremden unvoreingenommener begegnet als ihre sehenden Freunde. Hier ist ihr Mangel an visuellen Eindrücken hilfreich, weil sie Personen, die sie kennenlernt, nicht aufgrund ihres Äußeren kategorisiert. »Ich sehe eine Art von Schönheit, die den Augen verborgen ist«, erklärt sie. »Ich sehe etwas, was andere nicht sehen wollen.« Bei Begegnungen mit Menschen könne sie auf ganz andere Formen von Schönheit achten, sagt sie. »Schon oft habe ich mich mit Leuten unterhalten und festgestellt, dass sie eine unglaubliche gedankliche Schönheit haben, in ihrer Art Dinge wahrzunehmen und von Dingen zu erzählen.« Katrin nimmt Schönheit bei anderen Menschen zunächst haptisch wahr. »Wenn mir jemand die Hand gibt, bekomme ich natürlich mit, ob jemand eine schwabblige Fetthand hat oder eine schlanke, zierliche Hand«, sagt sie. Das erlaubt ihr dann Rückschlüsse auf den Körper der Person. Für ein detailliertes Urteil reiche das natürlich nicht. Für mehr müsse sie die Person besser kennenlernen. Abgesehen von diesen speziellen Merkmalen, an denen Joyce und Katrin Schönheit erkennen, spielt in ihrem Leben aber auch äußerliche Schönheit eine Rolle. Genauer gesagt der persönliche Kleidungsstil. Joyce ist auffällig unauffällig gekleidet. Ihr würde niemand anmerken, dass sie selbst gar nicht sehen

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kann, was sie morgens anzieht. Auch das führt sie auf ihre visuellen Erinnerungen zurück: »Ich kann mich sehr bewusst kleiden, weil ich mich daran erinnern kann, wie ich aussehe. Ich weiß, wie der Ton meiner Haare und meiner Haut ist. Und ich weiß, dass mir so ziemlich alles steht außer Gelb.« Katrin musste ihren persönlichen Geschmack im Rahmen einer Farbberatung erst entwickeln: »Ich habe mich mit dem Fühlen von Farben beschäftigt. Es klingt etwas esoterisch, aber im Prinzip wird davon ausgegangen, dass es bestimmte Kraftzentren in jedem Körper gibt, denen sich Farben zuordnen lassen.« Durch intensiven Kontakt mit farbigen Tüchern erlebte Katrin, welche Farben zu ihr passen. So hat sie ein ganz normales Modebewusstsein erfühlt – ohne wirklich zu wissen, wie Grün oder Pink eigentlich aussehen.

• Was also ist Schönheit für Blinde? Die universellste Antwort formuliert Katrin, als sie die Schönheit ihrer liebsten Erinnerungen und Gefühle auf einen Nenner zu bringen versucht: »Schöne Momente sind für mich sehr gegenwärtig. Augenblicke, in denen man völlig aufgeht. Es muss nicht darüber nachgedacht werden, was noch getan oder gemacht werden muss, was zu bedenken oder zu berücksichtigen ist, was man für angebliche Sorgen hat oder was gerade unsicher ist. Schön ist es, wenn man all das für eine gewisse Zeit einfach hinter sich lässt.«

Julian Niklas Pohl studiert Politikwissenschaft im zweiten Semester und ist froh, im Rahmen seiner Recherche auf die Werke der blinden Fotografen Bruce Hall und Pete Eckert gestoßen zu sein.

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Sandro Botticelli / Public Domain

» SCHÖNHEIT IST EINE DROGE «

Nichts ist subjektiver als Schönheit. Oder doch nicht? Die Wissenschaft bemüht sich um objektive Kriterien. FURIOS sprach mit drei Forschern und stellte fest: Die Objektivität liegt im Auge der Fachrichtung. Ein Gespräch über Sigmund Freud, verführerische Stimmen und Hirschgeweihe Von FANNY GRUHL und FLORIAN SCHMIDT. Fotos von FABIAN HINSENKAMP

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Titelthema: Schönheit

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mpfinden Sie die FU als schön?

Alexander Pashos: Die FU als Arbeitsgeber ist sehr angenehm und das Studententenleben hier ist sicherlich herrlich. So mitten im Grünen fühlt man sich wohl. Als Institution besteht sie aber aus mehr oder weniger schönen Teilen. Die Silberlaube ist ja eher praktisch als ästhetisch. Martin Aigner: Die Freie Universität ist wie Berlin: Viel Grün, manches Grau und immer im Werden – vielleicht nicht schön, aber sehr attraktiv.

Warum ist dem Menschen Schönheit so wichtig? Pashos: Weil sie wichtig für die Fortpflanzung ist. Bei der Partnerwahl geht es vor allem auch um optische

INFO

Wie lässt sich Schönheit eigentlich wissenschaftlich erfassen? Winfried Menninghaus: Wenn wir etwas als schön bezeichnen, betrachten wir es unter ästhetischen Gesichtspunkten. Wir bewerten dabei die äußere Erscheinungsweise von Dingen oder Menschen. Bei visueller Schönheit geht es nicht nur um physische Attraktivität. In seiner kulturellen Lebenswelt hat der Mensch sehr vielfältige Möglichkeiten, Kleidung, Schmuck und Prestigeobjekte als Extensionen des Körpers auf Schönheit hin zu gestalten, einzusetzen und zu bewerten. Pashos: Man sagt ja, Schönheit liege im Auge des Betrachters. Der Forschungsstand zeigt aber, dass sich Attraktivität objektiv erfassen lässt. In der evolutionären Wissenschaft möchte man vor allem Universalien finden. Auf Schönheitsmerkmale kann man sich also einigen. Wie spiegelt sich das in der Mathematik wider? Aigner: Wie sonst auch, kann man in der Mathematik über alles streiten. Über eines aber sind sich Mathematiker grundsätzlich einig – und das ist die Eleganz eines

»Der Mensch lässt sich von Schönheit unterbewusst beeinflussen« gelungenen Beweises oder einer Formel. Dazu gibt es einige schöne Zitate, beispielsweise von Poincaré: »Das Ästhetische mehr als das Logische ist die dominierende Komponente in der mathematischen Kreativität.« Oder von Paul Dirac, der sagte: »Es ist wichtiger, dass eine Formel schön ist, als dass sie mit dem Experiment übereinstimmt.« Das bringt einen schon ins Grübeln.

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Glaubt man diesen Mathematikern, scheint es so zu sein, dass der schöne Satz auch nahe an der Wahrheit ist.

Prof. Dr. Martin Aigner ist Professor am Institut für Mathematik. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kombinatorik und Grafentheorie. Daneben beschäftigt er sich mit der Ästhetik der Mathematik und der Eleganz von Formeln. Prof. Dr. Winfried Menninghaus lehrt am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften. Bis 2011 war er Sprecher des Exzellenzclusters »Languages of Emotion«. Er ist Autor des Buches »Das Versprechen der Schönheit«. Dr. Alexander Pashos ist evolutionärer Anthropologe. Er lehrt und forscht am Biologieinstitut. Sein Schwerpunkt ist die Erforschung von Verwandtschaftsbeziehungen sowie die Mechanismen der Partnerwahl.

Schönheit. In Darwins Theorie der sexuellen Selektion spielt sie ebenfalls eine wichtige Rolle. Der Mensch lässt sich von Schönheit unterbewusst beeinflussen. Das zeigen auch sozialpsychologische Studien, die belegen, dass attraktiven Menschen positive Eigenschaften zugewiesen werden – auch wenn diese Eigenschaften rational gar nichts mit dem Äußeren zu tun haben. Menninghaus: Das gilt aber auch andersherum: Schönen Menschen werden auch negative Persönlichkeitsmerkmale zugeschrieben, insbesondere schönen Frauen. Sie gelten als wenig hilfsbereit und selten als gute Mütter. Pashos: Das mag sein. Fest steht: Auch wenn wir uns nicht beeinflussen lassen wollen – unterbewusst geschieht es trotzdem. Nehmen Sie zum Beispiel die Farbe Rot. Sie wird von vielen Lebewesen als Signalfarbe und als attraktiv empfunden. Eine Theorie besagt, dass die rote Farbe für Parasitenresistenz und damit für Gesundheit steht. Bei einem schönen roten Hahnenkamm lässt sich so ein Parasitenbefall ausschließen, denn im kranken Zustand wäre der Hahn gar nicht fähig, die rote Farbe zu produzieren. Auch für den Menschen hat Rot eine bestimmte Bedeutung. Er verbindet sie mit Sexualität; Stichwort Rotlichtmilieu. Unklar ist hierbei zwar das Wechselspiel evolutionärer und kulturhistorischer

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Titelthema: Schönheit

Faktoren, belegen lässt sich so aber, dass es universelle Wahrnehmungsmuster gibt. Menninghaus: Der Idee von sexueller Wahl, wie Sie sie beschreiben, Herr Pashos, stimme ich zwar weitgehend zu. Aber man muss die Bedeutung von optischer Schönheit für den Menschen relativieren. Bei der Partnerwahl treten andere wichtige Merk-

»Die Bedeutung der äußerlichen Schönheit wird überbewertet« male hinzu wie Kooperationsfähigkeit und Sprachgewandtheit: Wer schöner oder überzeugender redet, ist der bessere rhetorische Verführer. Das lässt sich in der Politik beobachten. Das Problem ist, dass die Medien das Modell physischer Attraktivität oft vereinfacht darstellen. Die Bedeutung der äußerlichen Schönheit wird überbewertet. Wer die Studien zur Schönheit genau betrachtet, erkennt, dass die statistischen Kennwerte nicht eindeutig sind. Die Effektstärke ist gering, die Varianz ist sehr groß. Folglich können diese Studien nicht besonders viel aussagen. Herr Pashos, Sie beschäftigen sich auch mit Attraktivitätsforschung und erarbeiten diese Studien. Was sagen sie uns?

Pashos: Natürlich gibt es nicht nur physische Attraktivität. So sind etwa Töne und Gesang bei der Paarung von Vögeln von Bedeutung. Interessant ist auch, dass Dinge, die man primär für schön hält, nicht unbedingt praktisch sind, sondern eher ein »Handicap« – wie das Geweih eines Hirsches, das ihn ja im Alltag eher behindert, als dass es ihm nützt. Die Interpretation dessen aber ist: Der Hirsch zeigt sein großes Geweih, weil er so kräftig ist, dass er es sich leisten kann. Bei Menschen zählen außerdem Intellekt, Ausstrahlung oder gemeinsame Werte. Weil beim Menschen Homogamie überwiegt – er sich also gerne mit Gleichen gesellt –, sind sich die meisten Partner in vielen Eigenschaften ähnlich. Sieht man von der Ähnlichkeit beim Alter als statistisch stärksten Effekt allerdings ab, landet man doch ziemlich schnell wieder bei der physischen Attraktivität. Es heißt, die soll man auch berechnen können. Was halten Sie als Mathematiker von der Theorie der Schönheitsformel, Herr Aigner? Aigner: Natürlich nichts. Das sind pseudowissenschaftliche Verfahren. Schönheit kann man höchstens kategorisieren, etwa mittels mathematischer Begriffe wie Symmetrie. (Zum Interviewer) Sie zum Beispiel haben wunderschöne, symmetrische Augen. (Lachen) Es gibt ein paar offensichtliche und auch messbare Merkmale, aber ich persönlich würde das Mathematische dabei gern auf ein Minimum beschränken.

»Im besten Fall gerät man durch Schönheit in eine Art Trance« Signale, wie die von Herrn Menninghaus angesprochene »Verführerstimme«, halte ich jedoch für überaus wichtig. Das Aussehen, gerade bei Models, wird überschätzt. Ein normaler Mensch kann sich plagen, wie er will und wird trotzdem nie so aussehen. Die Stimme dagegen kann man trainieren. Wenn ich im Theater bin, fühle ich mich nach einiger Zeit richtig wohl. Mein Begriff von Schönheit hat immer etwas mit Wohlbefinden zu tun. Im besten Fall gerät man durch Schönheit in eine Art Trance. Manchmal gelingt mir das auch selbst. Dann blicke ich bei Vorträgen ins Publikum und denke: Jetzt schweben sie fünf Zentimeter über dem Sitz – ich habe sie gepackt, für einen kurzen Augenblick. Da kommt Schönheit und Wissensvermittlung getragen durch die Stimme zusammen.

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Pashos: Aber Sie bekommen im Theater auch jede Menge optische Eindrücke. Aigner: Natürlich. Aber wenn man jemanden wie Jutta Lampe hört, ist das gesamte Publikum gebannt. Sicher auch von der Erscheinung – mehr noch aber von der Stimme.

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Pashos: Trotzdem würde ich sagen, dass menschliche Sinnesorgane vor allem optisch orientiert sind – auch wenn Schönheit über das Äußere hinausgeht. Bei Hunden ist es etwas anders: Da zählt primär der Geruch.

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Titelthema: Schönheit

Martin Aigner macht in der menschlichen Stimme Schönheit aus.

Alexander Pashos hält dagegen visuelle Eindrücke für eindeutig wichtiger.

Was löst Schönheit in Ihnen persönlich aus? Aigner: Das hängt für mich mit den verschiedenen Lebensphasen zusammen. Ich persönlich empfinde die Schönheit der Natur völlig anders als noch vor 20 Jahren. Als Österreicher bin ich schon mein ganzes Leben lang begeisterter Bergsteiger. Früher war das Schöne für mich dabei primär der Sport. Wenn ich heute bergsteige, steht eindeutig das Naturerlebnis im Mittelpunkt. Ich betrachte die Welt mit anderen Augen als früher. Deshalb glaube ich, dass Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche Dinge schön finden – und Schönheit folglich auch Unterschiedliches in ihnen auslöst. Eines ist bei mir aber stets gleichgeblieben: Die Leichtigkeit des Seins beeindruckt mich. Das ist Schönheit für mich. Menninghaus: Was Schönheit in uns auslöst, beschreiben Sigmund Freud und Immanuel Kant sehr gut: Kant spricht von der sich selbst verstärkenden Lust an der Schönheit. Das heißt, wenn wir etwas Schönes erleben, möchten wir dieses Erlebnis gern länger auskosten und wiederholen. Und ich stimme Herrn Aigner zu, dass sich unsere Bewertung von Schönheit vom Kleinkind bis zum alten Menschen ändert.

»Ohne Schönheit würden wir verdorren; wie ohne Wasser und Essen«

Für Winfried Menninghaus ist das Schöne nur eines von mehreren Elementen der Ästhetik.

Freud als »sublimierte« Schönheit betrachten kann, das heißt, als Transformation der sexuellen Dimension von Schönheit in kulturelle oder geistige Lust an Schönheit. Freud zufolge haben diese Formen von Lust einen milde berauschenden Charakter – wenn man so will, ist Schönheit also eine Droge. Eine Droge, die wir außerordentlich gern einnehmen. Sind Menschen süchtig nach der Droge Schönheit? Aigner: Sicher sind wir süchtig nach der Schönheit. Aber ich würde es weiter fassen: Der Begriff »Ästhetik« ist dafür besser geeignet. Wir sind ständig auf der Suche nach dem Ästhetischen. Ich stehe morgens auf und mit einem Blick in den Garten fühle ich mich gleich wohl. Ohne Schönheit würden wir verdorren; wie ohne Wasser und Essen. Menninghaus: Das Schöne ist sicher ein Kernelement der Ästhetik. Aber die Ästhetik hat auch zahlreiche andere Bewertungskategorien entwickelt. Wie zum Beispiel das Interessante, das Erhabene – das nicht per se schön sein muss. Wir suchen verschiedene ästhetische Reize, davon ist Schönheit nur einer, wenn auch ein starker. Zum Schluss möchten wir Sie noch um eines bitten, Herr Aigner: Geben Sie uns ein Beispiel für besonders schöne Mathematik! Aigner: Die Formel von Einstein. E=mc². Schöner geht es nicht. Pashos: Für einen Mathematiker (lacht).

Wie sehen Sie das als Biologe, Herr Pashos? Pashos: Ein Schönheitsempfinden ist uns gewissermaßen angeboren. Zwar sind wir nicht Opfer unserer Gene, doch gibt es verankerte Präferenzen, die uns beeinflussen. Wir können versuchen, sie bewusst zu durchbrechen. Gänzlich abschalten können wir das Schönheitsempfinden nicht. Menninghaus: Kant sagt auch, dass es einen Moment der Harmonie gibt, wenn sinnliche, intellektuelle und moralische Ansprüche im Einklang sind. Das ist die Schönheit, die man mit

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Aigner: Intellektuelles und Ästhetisches lassen sich nicht trennen. Schönheit ist ein Wesenszug von uns.

Florian Schmidt, der wunderschön symmetrische Augen hat, und Fanny Gruhl, die gern rote Kleidung trägt, schweben während des Interviews selbst für einige Sekunden über ihren Sitzen. Im Anschluss daran lassen sie sich von der Schönheit des Frühlings inspirieren.

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»SCHÖNHEIT IST DIE MAGIE DER ILLUSION« Cora-Mae Gregorschewski, 55, studiert seit 2003 Biologie an der FU. Schönheit ist nur eine Oberfläche, hinter der man einen Reiz entdecken möchte. Aber in dieser Schönheit muss es auch eine Metaphysik geben. Damit Schönheit eine Substanz hat, braucht man eine Verbindung zu ihr. Der Zwang zur Schönheit ist die Eitelkeit, etwas darstellen zu wollen. Man integriert sich, wenn man sich mit der Masse bewegt. An der Uni gibt es keine Gruppenzwänge, aber einen individuellen Lifestyle. In den 70ern war das noch eklatanter. Bestimmte Naturledertaschen, Jeans, lange Haare und ein bisschen chaotisch zu wirken, das war ein studentisches Ideal. Wenn ich mich heute in der Uni umschaue, da siehst du eigentlich alles, von der russischen Diva bis zur Ökotussi in Pluderhosen. Es ist sehr vielfältig geworden. Schönheit ist auch etwas Materielles. Leute, die viel Geld haben und nur schöne Sachen kaufen, die haben keine Beziehung zur Schönheit. Ich finde, Schönheit muss mit Leben erfüllt sein. Wenn ich mir zu Hause selber Nudeln mache, dann freu ich mich darüber und dann finde ich das schön. Das ist für mich Schönheit: mit sich und mit der Umwelt in Harmonie zu sein. Das klingt so esoterisch, aber ich denke mal, dass man innerlich mit sich übereinstimmen muss. Ich stelle immer wieder fest, dass Menschen den Begriff »Schönheit« definiert haben wollen, weil sie einen Orientierungspunkt für sich selbst brauchen. Hinter Schönheit verbirgt sich auch immer etwas anderes. Schönheit ist die Magie der Illusion.

»LADY GAGA IST MEIN VORBILD« Hanka Räuber, 21, studiert Mathe und Deutsch im 4. Semester. Schönheit ist auf jeden Fall nicht nur etwas Äußerliches! Mir ist die Persönlichkeit des anderen viel wichtiger. Ich finde niemanden attraktiv, der persönlich ein Ekel ist. Für mich selbst ist Individualität besonders wichtig. Ich versuche Sachen auszuprobieren, die nicht unbedingt der typischen Vorstellung von »schön« entsprechen. Schönheit ist ohnehin relativ. Ich versuche, mich mit meinem Styling immer ein bisschen von der breiten Masse abzusetzen. Ich finde, besonders meine kurzen Haare, die Brille und meine Vorliebe zu Piercings machen mich schön. Aufgrund ihrer mutigen Einstellung zu ihrem Aussehen ist Lady Gaga wirklich mein Vorbild. Ich finde, ihre Art sich auszudrücken ist Kunst und für mich sehr inspirierend. Lady Gaga traut sich was, das ist bewundernswert! Ich bin fest davon überzeugt, dass viel mehr Mut dazu gehört, sich nicht um sein Äußeres zu kümmern. Leider ist es normal, dass jemand, der nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht und sich bewusst nicht darum kümmert, wie er aussieht, ständig mit Vorurteilen und dummen Kommentaren zu kämpfen hat. Aussehen zählt in unserer Gesellschaft mehr als Persönlichkeit, das ist sehr schade. Am schönsten wäre es, wenn es gar kein Schönheitsideal geben würde, oder zumindest keinen Zwang, sich diesem zu beugen.

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000 Menschen verschönern die Freie Universität. Leider bekommen heute nur 4 ein Foto von uns.


4 / 40000

Notiert von ELIESE BERRESHEIM und KIRSTIN MACLEOD Fotos von FABIAN HINSENKAMP und CORA-MAE GREGORSCHEWSKI

»DIE UNI IST ZUM GLÜCK KEIN LAUFSTEG« Julian Weicht, 23, studiert Politikwissenschaft im 4. Semester. Schönheit hat meiner Meinung nach leider wirklich viel mit Äußerlichkeiten zu tun. Eine hübsche Verpackung fällt uns nun mal ins Auge. Aber ich finde nicht, dass es allein der ästhetische Aspekt ist, der die Schönheit ausmacht. Für mich muss das Gesamtpaket stimmen: innen und außen! Ich modele nebenbei ein wenig und bin dadurch häufig mit der Vermarktung des eigenen Aussehens konfrontiert. Dem Business eilt zwar ein sehr negativer Ruf voraus, aber ich selbst habe bisher im Zusammenhang mit dem Modeln noch keine Situation erlebt, in der ich dachte: »Das ist mir jetzt aber zu oberflächlich.« Ich gehe das Ganze aber auch sehr locker an. Mein eigenes Schönheitsideal und die Ansprüche, die ich an mich selbst stelle, werden nicht durch das Modeln beeinflusst. Ich fände es absurd, mich deswegen zu verändern. Letztlich bleibt das Modeln ein Nebenjob, ist aber auf keinen Fall mein Berufsziel. In der Uni zählt für mich, dass ich mich in meiner eigenen Haut wohl fühle. Die Uni ist ein Arbeitsbereich und zum Glück kein Laufsteg, auf dem jeder auf Teufel komm 'raus gut aussehen muss. Man darf nie vergessen: Schönheit ist vergänglich, Freunde nicht!

»SCHÖNHEIT IST EIN GEFÜHL« Prof. Dr. Laura Bieger lehrt Amerikanische Kultur am John F. Kennedy-Institut. Zeit Campus zählte sie in der Serie »Schön schlau« zu den vier schönsten Professoren Deutschlands. Schönheit ist ein Gefühl. Ich denke, das bedeutet vor allem sich selbst gerecht zu werden, die eigene Form zu finden. Jemand kann makellos angezogen sein, gleichzeitig aber kostümiert wirken, weil es der Persönlichkeit nicht entspricht. Das Buch »Mode – Ein kulturwissenschaftlicher Grundriss«, das ich mit herausgegeben habe, beschäftigt sich genau mit dieser Problematik. Mode ist kulturwissenschaftlich betrachtet weit mehr als die Kleidung, die wir am Körper tragen. Wenn jemand eine besondere Ausstrahlung hat und mich damit einfängt, dann finde ich das schön. Wenn man in einem wissenschaftlichen Betrieb und in irgendeiner Weise sichtbar ist, sei es aufgrund des Aussehens, der Größe oder Ähnlichem, dann fordert das ein, dass man dieses Äußerliche mit besonderem intellektuellem Inhalt ausfüllt. Denn natürlich muss man sich auch der akademischen Rolle gemäß verhalten. Bei jeder Form von Sichtbarkeit muss man sich die Frage stellen, wie man mit ihr umgeht: Verstecken? Sich auffällig anziehen, also mit Absicht auffallen? Ein auffälliges Auftreten ist immer die Einladung dazu, besonders beobachtet zu werden und sich gegebenenfalls beweisen zu müssen.

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Politik

AUS DEM RAHM EN GEFALLEN Prüfungen beliebig oft wiederholen war gestern, Zwangsberatungen sind heute. Die FU will das Berliner Hochschulgesetz mit besonderer Härte umsetzen. Die geplante Rahmenprüfungsordnung wird alle betreffen und sorgt für Wut bei Studierenden. Von RANI NGUYEN und MAX KRAUSE

Illustration von KELSEY BASS

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s ist ein großer Stein, der Linda* am Anfang dieses Semesters vom Herzen gefallen ist. Sie hat endlich ihr Klausurergebnis: 3,0. Bestanden. Im vierten Anlauf. Die Vorlesung Analysis III hat Linda schon vor einem Jahr besucht. Sie gilt als eine der Schwierigsten im Mathestudium. Linda fiel durch – bei Durchfallquoten von mehr als 50 Prozent kein Einzelfall. Erst zwei Semester später konnte sie die Vorlesung wiederholen. Bei einem weiteren Fehlversuch hätte sie ihren Bachelor nicht in der Regelstudienzeit geschafft – das wäre das Ende ihres unverzinsten Bafögs gewesen. Der Druck zu bestehen war groß. Mit ihm wuchs auch Lindas Unsicherheit. NUR NOCH DREI PRÜFUNGSVERSUCHE

Nun soll er noch weiter steigen. Der Grund dafür ist das im Frühjahr 2011 überarbeitete Berliner Hochschulgesetz, das den Unis die Einführung einer zentralen Rahmenstudien- und Prüfungsordnung (RSPO) vorschreibt. An der FU ist ein Entwurf durchgesickert, der drastische Änderungen im Studierendenalltag vorsieht: Prüfungen dürfen nur noch zweimal wiederholt werden – universitätsweit. Sonst folgt die Exmatrikulation. Schon nächstes Semester könnte es so weit sein. Wäre die RSPO bereits in Kraft, hätte Linda ihr 20

Studium abbrechen müssen. Ein Schicksal, das vielen Studierenden droht.

S NFO T I E DE TER WEI PO FIN S R ZUR IHR AUF E US.D P M A FU-C

Warum aber beschränkt die FU die Anzahl der Prüfungswiederholungen derart drastisch? Laut Berliner Hochschulgesetz dürfen Prüfungen »grundsätzlich mindestens zweimal« wiederholt werden, nach oben gibt es keine Vorgabe. FU-Präsident Professor Dr. PeterAndré Alt wollte FURIOS dazu keine persönliche Stellungnahme abgeben. Durch seinen Pressesprecher ließ er ausrichten, dass die FU sich noch nicht auf eine konkrete Zahl festgelegt habe. Allerdings gebe das Berliner Hochschulgesetz zwei Wiederholungen in »gewisser Weise« vor und auch die anderen Berliner Universitäten würden zwei Wiederholungsversuche in ihren Prüfungsordnungen festlegen. Dass das Präsidium bei der anstehenden Entscheidung im Akademischen Senat (AS) von diesen zwei Wiederholungsversuchen nicht abrücken wird, davon ist Philipp Bahrt überzeugt. Er ist Sozialreferent des AStA FU und hält die RSPO in ihrer derzeitigen Form für inakzeptabel. »Es gibt keine Zahlen, die belegen, dass Studierende länger studieren, wenn Prüfungen beliebig oft wiederholt werden dürfen«, sagt Bahrt.

Die RSPO werde Studierenden mit Prüfungsangst wie Linda nicht gerecht und baue damit erheblichen Druck auf.

VERPFLICHTENDE BERATUNG NACH DEM DRITTEN SEMESTER

Die geplante Studienberatung nach dem dritten Semester sorgt ebenso für Furore. Dem Berliner Hochschulgesetz zufolge »kann« die RSPO eine verpflichtende Teilnahme vorsehen – sie muss es aber nicht. Laut des aktuellsten Entwurfs vom 15. Mai wird im dritten Semester allen eine optionale Beratung angeboten. Studierende, die allerdings nach der Hälfte der Regelstudienzeit weniger als ein Drittel aller Leistungspunkte erreicht haben, müssen zur Studienfachberatung. Offenbar verspricht sich das Präsidium durch dieses Vorgehen die Zahl der Studienabbrecher zu verringern. Eine verpflichtende Beratung gehöre abgeschafft, findet Bahrt. »Diese Regeln könnten missbraucht werden«, sagt er. FURIOS 08/2012


NÄCHSTER

Politik

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Am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften habe er erlebt, dass Studierenden in solchen Gesprächen zu strenge Auflagen gemacht worden seien. Aus Unwissenheit hätten sich die Studierenden nicht gewehrt. ANWESENHEITSPFLICHT KOMMT WOHL NICHT

Am Status quo der Anwesenheitspflicht soll laut Präsidium nicht gerüttelt werden. Die RSPO sieht vor, die Fachbereiche darüber entscheiden zu lassen. Angesichts der genannten Pläne fordern Studierende Mitbestimmung bei der Erstellung der RSPO. In einer einstimmig verabschiedeten Resolution des Studierendenparlaments heißt es: »Eine Einbeziehung oder Information Studierender war zu keinem Zeitpunkt gegeben.« Das Präsidium widerspricht: Dies sei an verschiedenen Stellen geschehen. »So ist die Kommission für Lehrangelegenheiten zur Hälfte mit Studierenden besetzt«, schreibt der Präsidiumssprecher. Außerdem seien Empfehlungen des Runden Tisches aus dem Jahr 2010 berücksichtigt worden. FURIOS 08/2012

3/19/12 3:24 PM

Doch laut Ronny Matthes, studentisches Mitglied im AS, sei der Einfluss der Studierenden in den Gremien stark begrenzt. »Im Akademischen Senat sitzen vier Studierende, aber 13 Professoren. Und der Runde Tisch und die Kommission für Lehrangelegenheiten sind ohne Beschlussfähigkeit«, sagt Matthes. Die Studierenden in den Gremien könnten lediglich Empfehlungen aussprechen. »Bisher wurde in der RSPO allerdings nichts von den Studierenden aufgenommen«, sagt er. In der Sitzung des AS am 23. Mai waren neben den eigentlichen Mitgliedern über 100 Studierende anwesend, die sich in die Diskussion einbringen wollten. Doch das Präsidium ist kaum auf ihre Anliegen und Fragen eingegangen – am Ende wurde sogar das studentische Mikrofon abgeschaltet. BISHER NUR EIN ARBEITSENTWURF

Bis jetzt ist alles ein Entwurf, der noch vom Akademischen Senat verabschiedet werden muss. Bis dahin stelle er keine Diskussionsgrundlage dar, so das Präsidium. Wenn er offiziell eingereicht wurde, dürften auch Studierende mitdiskutieren. Dies soll

in der Sitzung am 20. Juni geschehen. Einige Studierende haben bereits angekündigt, die Verabschiedung der RSPO mit allen Mitteln verhindern zu wollen. Linda wird die Auswirkungen der RSPO nicht mehr zu spüren bekommen. Sie will im Sommer, am Ende ihres sechsten Semesters, ihre Abschlussarbeit einreichen und ihren Bachelor beenden. Sie wird in der Regelstudienzeit fertig. Obwohl sie mehr als drei Versuche für eine Prüfung gebraucht hat.

*Name von der Redaktion geändert Rani Nguyen wird von der RSPO nicht mehr betroffen sein. Sein siebtes und letztes Semester wird er in Spanien verbringen. Er studiert Französische Philologie. Max Krause studiert selbst Mathematik im sechsten Semester. Auf die angestrebten Regelungen kann er dabei getrost verzichten.

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Politik

IM WOHNZIMMER DER VERTRIEBENEN ist 23 Jahre alt und studiert an der FU Arabistik. Ein halbes Jahr hat er seinen Studenten-Alltag gegen ein Flüchtlingslager im Libanon getauscht, um Kinder für eine palästinensische NGO zu betreuen. In FURIOS berichtet er von seinen Erfahrungen. Festgehalten von CHRISTOPHER HIRSCH TILLMANN BREHMER

Fotos von TILLMANN BREHMER

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orgens halb acht in Beirut. Der Taxifahrer guckt mich ungläubig an: Wo will ich hin – nach Sabra und Schatila? Ich als Europäer? Nicht lieber nach Downtown Beirut, zu den Restaurants, Hotels und Petromillionären? Nein, bestätige ich, nach Sabra und Schatila, in das palästinensische Flüchtlingslager. In das Lager, in dem 1982 bei einem Massaker zwischen 460 und 3300 Menschen ums Leben kamen – je nachdem, ob man die libanesische Polizei oder die Palästinenser fragt. Der Taxifahrer dreht sich nach vorn und startet den Wagen. Wir fahren durch Beirut, wo schwerbewaffnete Sicherheitskräfte an den Bürgerkrieg erinnern und halbzerstörte Gebäude von israelischen Bombardements zeugen. Das schiitische Viertel im Süden der Stadt geht fließend in das palästinensische Flüchtlingslager über. Kein Zaun, kein Tor, keine Kontrolle. Aber auch, wenn die Grenze nicht sichtbar ist: Sie ist da. Sie trennt die

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besonders Armen vom Rest der Bevölkerung. Auch das Taxi stoppt vor ihr und ich muss das Camp zu Fuß betreten. Der erste Anblick des Flüchtlingslagers ist beeindruckend. Graue unverputzte Türme, wie Stapel kleinerer Blöcke, die sich gegenseitig zu halten scheinen. Zusammen ergeben sie einen gescheckten, mit kleinen Fenstern und Vorsprüngen gespickten Monolith. Dunkle enge Gassen durchziehen das Gebilde. Wirre Kabelknäuel hängen zwischen den Häusern. Dieses Viertel wurde nicht geplant, es ist gewachsen. Es beherbergt mittlerweile ungefähr 15.000 Menschen auf einem Quadratkilometer. Mit einem provisorischen Lager hat das nichts zu tun. Das Provisorium dieser Menschen ist aus Stein gebaut, ihr Status undefiniert – und das seit mehr als 60 Jahren.

tionaler Spenden und Freiwilligen aus dem Camp betreuen hier 14 angestellte Palästinenserinnen drei Klassen mit jeweils über 30 Kindern.

Schnell stehe ich vor dem Gebäude von ›Beit Atfal Assumoud‹, der NGO, für die ich arbeite. Sie kümmert sich unter anderem um die Kinder aus dem Lager. Mit Hilfe interna-

Fast alle palästinensischen Kinder aus dem Lager besuchen einen Kindergarten. Die Betreuung ist zwar kostenpflichtig, wird in Härtefällen aber auch gesponsert. Mona ist

Im Erdgeschoss begrüßen mich die beiden älteren Putzfrauen, während sie Tee trinken und plaudern. Die Mütter, die gerade ihre Kinder abgeben, reagieren reservierter auf mich. Für sie ist es ungewohnt, dass ich mich um ihren Nachwuchs kümmere, anstatt wie ihre Männer auf dem Bau zu arbeiten. Ich betreue die Vierjährigen. Als ich das Klassenzimmer betrete, füllt schon Kinderlärm den kleinen Raum. Die Kleinen tragen wie ich Jacke und Mütze. Bei 5 Grad Außentemperatur und fehlender Heizung kränkeln viele von ihnen.

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Politik

Kinder in ›Beit Atfal Assumoud‹-Uniform.

die Erzieherin meiner Klasse. Wie die meisten Angestellten ist sie nicht speziell ausgebildet, sondern hat mit 18 direkt angefangen in der Einrichtung zu arbeiten. Der Unterricht beginnt. Mona fragt die Kinder nach ihrem Befinden. »Gott sei gedankt«, antworten die Vierjährigen im Chor. Diese Phrase ist Teil eines ganzen Repertoires zuweilen religiöser Formeln, die den Kindern schon früh beigebracht werden. Es gibt ihrer Sprache eine Erhabenheit, die angesichts ihres Alters auf einen Europäer eigenartig wirkt. Auch ansonsten sind die palästinensischen Kinder auffallend gut erzogen. Sie begrüßen mich mit drei Küssen auf die Wangen, stellen mich auf der Straße ihren Eltern vor und laden mich in ihre Häuser ein. Dass sie in einem politischen Brennpunkt aufwachsen, merkt man ihnen kaum an. Zwar werden sie im Bewusstsein erzogen, Vertriebene zu sein, aber ihren Alltag dominieren diese Themen nicht. Vielmehr erzählen die Kleinen stolz von ihren Familien, oder von ihren Verwandten in »Almania«.

Tilmann Brehmer bei seiner Arbeit im Kindergarten.

Auch Mona hat beide Eltern im Libanonkrieg verloren. Doch statt des Konflikts steht Hocharabisch auf dem Stundenplan. Das Thema heute: Straßenverkehr. Ich setze mich zu den Kindern, denn da gibt es auch für mich als Arabistikstudenten noch etwas zu lernen.

gehalten, genauso wie im restlichen Libanon. Wenn ich wollte, könnte ich den ganzen Tag von Haus zu Haus gehen, um mich bewirten zu lassen. Das Lager ist für viele wie ein großes Wohnzimmer. Jeder kennt jeden. Und so stoßen über den Abend noch viele Nachbarn zu unseren Zusammenkünften dazu.

Der Kindergarten dauert bis 13 Uhr. Danach arbeite ich in einer Art Hort und helfe Neunjährigen bei ihren Hausaufgaben. Das Arbeitspensum und der Anspruch sind enorm. Da mein Arabisch für dieses Niveau nicht ausreicht, versuche ich vor allem bei Mathe und Englisch zu helfen. Aber auch hier sind die Anforderungen zu hoch. Die englischen Übungstexte werden weder von den Kindern noch von den Lehrern verstanden; Frustration statt Lernerfolg. Ohnehin verlässt ein Großteil der Kinder schon mit 15 oder 16 die Schule, um Geld zu verdienen, was für die Jungen meistens Arbeit auf Beiruts Baustellen bedeutet.

Doch so entspannt die abendlichen Treffen sind, so normal das Leben im Lager wirkt: Diese Familien sehen ihr Zuhause noch immer im Gebiet des heutigen Israel, Palästina. Ich höre Sätze wie »Till, das hier ist nicht unsere richtige Heimat, du solltest mal unsere Dörfer sehen« – auch wenn sie selbst noch nie da waren. Nach sechs Monaten verabschiede ich mich von meinen Gastgebern in dem Wissen, dass auch die unbekümmerten Kinder von ›Beit Atfal Assumoud‹ in einer Atmosphäre des Konflikts aufwachsen werden. Die Palästinenser von Sabra und Schatila können sich mit dem Status quo arrangieren. Aber ihren Frieden finden können sie nicht: Ein 18-jähriger Palästinenser sagte einmal zu mir, sein Lebenstraum sei es, von einem israelischen Soldaten erschossen zu werden.

Um 16 Uhr habe ich Feierabend. Den verbringe ich bei befreundeten Familien im Camp. Gastfreundschaft wird im Lager hoch

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Politik

WELTWÄRTS STRÄWKCÜR Jahr für Jahr schwärmen deutsche Freiwillige aus in alle Welt. Aber warum kommen eigentlich keine ausländischen Freiwilligen nach Deutschland? Der von FU Studierenden gegründete Verein Zugvögel will das ändern. Von LEONA BINZ

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eit drei Monaten ist Gabriela in Berlin. Sie lebt in einer Gastfamilie, tanzt Ballett und arbeitet in einer Behinderteneinrichtung in Hohenschönhausen. Das Besondere: Gabriela kommt aus Ecuador. Sie ist eine der ersten beiden Freiwilligen, die mit Hilfe von ›Zugvögel - interkultureller Süd-Nord-Austausch e.V.‹ nach Deutschland gekommen ist.

Schon 2008 kritisierte Dr. Claudia von Braunmühl, Honorarprofessorin am Otto-Suhr-Insitut, das Lernen bei ›weltwärts‹ als einseitig. In einem Artikel der ›Süddeutschen Zeitung‹ fragte sie: »Warum laden wir nicht auch Jugendliche aus Entwicklungsländern zu uns ein?« Schließlich solle das Ziel von Entwicklungspolitik die Umverteilung von Lebenschancen sein.

Seit Januar dieses JahGLOBAL DENKEN, LOKAL HANDELN res gibt es den Verein, Das ›weltwärts‹-Programm des Bundesminisan dem sich auch FUGenau das wollen die ›Zugvögel‹ erreiteriums für wirtschaftliche Entwicklung und Studierende beteiligen. chen. Die Organisation hat bereits mehr Zusammenarbeit (BMZ) bietet jungen ErShari Heuer, Fabian als 100 Mitglieder und ist mit Regionalwachsenen in Deutschland die Möglichkeit, für 6 bis 24 Monate einen Freiwilligendienst Hinsenkamp und Maya gruppen in ganz Deutschland vertreten. im globalen Süden zu absolvieren. Dabei Markwald sind drei von Vor Ort suchen sie Gastfamilien und Probietet die Organisation den Freiwilligen ihnen. Wie viele Zugjektplätze für die Programmteilnehmer. sowohl eine Vor- wie eine Nachbereitung vögel-Mitglieder waren Außerdem kümmern sie sich um Spenund betreut sie im Gastland. Den Großteil der Kosten übernimmt das BMZ. Umgekehrt aber auch sie zuvor mit dem denaktionen und Informationsveranstalhaben Menschen aus jenen Ländern nur weentwicklungspolitischen tungen. nige Möglichkeiten, einen Freiwilligendienst Freiwilligendienst ›weltin Deutschland zu absolvieren. Jährlich Die Berliner Regionalgruppe, in der wärts‹ im Ausland: Shari kommen weniger als 300 Freiwillige aus dem sich die drei FU-Studierenden engagieglobalen Süden nach Deutschland. Mehr und Maya in Ecuador, ren, unterstützt Gabriela bei der OrienInformationen findet ihr auf zugvoegel.org. Fabian in Nepal. Mit tierung in der Hauptstadt. Gleichzeitig ›weltwärts‹ sind seit 2008 bereiten sie sich auf die Betreuung von mehr als 10.000 junge weiteren Freiwilligen vor. Nächstes Jahr Menschen aus Deutschland in Länder des globalen Südens sollen mehr als zehn von ihnen aus Ecuador, Nepal, Ruanda gereist. Damit sind die Nationen gemeint, die die Organisaund Uganda nach Deutschland kommen. Die Reise- und tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Lebenskosten übernimmt ›Zugvögel e.V.‹. Um dafür Spen(OECD) zu den »Entwicklungsländern« zählt. den zu sammeln, sind die ›Zugvögel‹ in Berlin auf dem Flohmark am Mauerpark und auf Straßenfesten mit BauchWELTWÄRTS: WENDEN VERBOTEN? läden und einem Glücksrad unterwegs. Das Problem: ›weltwärts‹ ist eine Einbahnstraße. SelGabriela ist dankbar für diese Möglichkeit. Ihr gefällt es ten kommen Menschen aus diesen Regionen auch nach gut in Berlin, sie genießt ihre Zeit hier. Als nächstes möchDeutschland – die ›Zugvögel‹ wollen das ändern. »Wir wate die Ecuadorianerin einen Sprachkurs machen, um ihr ren enttäuscht«, sagt Shari. »Solange Freiwilligendienste nur Deutsch zu verbessern. Was man eben so macht als Freiwilfür Deutsche finanziert werden und der Austausch einseitig lige im Ausland. bleibt, schafft das Programm lediglich ein Privileg für uns.« Die eigentliche Idee hinter dem Freiwilligendienst sei aber Leona Binz studiert im vierten Semester gerade der Abbau solcher Privilegien. Ziel soll eine BegegSozial- und Kulturanthropologie und nung auf Augenhöhe sein. »Und die findet momentan so war auch mit ›weltwärts‹ im Ausland. nicht statt.«

INFO

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Politik

HEIMAT BLEIBT HEIMAT In Syrien müssen Menschen um ihr Leben fürchten. Doch wie fühlt sich eine Revolution im Heimatland aus der Ferne an? FURIOS sprach mit einem Syrer über Hoffnungen, Leid und Sehnsucht nach dem Zuhause. Von LEV GORDON Foto von FABIAN HINSENKAMP

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ausende Menschen sind zur Kundgebung in der Stadt Hama erschienen. Hama ist hinter Homs eine der größten Rebellen-Hochburgen Syriens. Die Menschen, die sich auf dem Platz versammelt haben, fordern alle eins: Den sofortigen Rücktritt Assads. Die Versammlung verläuft friedlich. Die Menschen haben Blumen und Süßigkeiten für die Soldaten als Zeichen der Versöhnung mitgebracht. Plötzlich eröffnen zwei Uniformierte das Feuer. Mit Maschinengewehren schießen sie wahllos in die Menge. Noch am nächsten Tag ist der ganze Platz voller Blut. »Das Volk wollte anfangs nur friedlich gegen das Regime kämpfen«, sagt Amir*. Jedoch habe die brutale Gewalt des Regimes die Menschen dazu gezwungen, sich zum Schutz ihrer Familien zu bewaffnen. Er sitzt 3.506 Kilometer entfernt, in einem Biergarten in Dahlem. Die Sonne scheint, die Leute am Nachbartisch lachen. Es wirkt fast surreal, wenn er von dem grausamen Massaker in seiner Heimatstadt erzählt. Ruhig schildert er die Ereignisse. Er macht Pausen, um seine Worte zu wählen. Vor zwei Jahren kam Amir nach Berlin, um Lebensmitteltechnologie zu studieren. Gerade am Anfang war es nicht leicht für ihn, Anschluss zu finden. Eine neue Sprache, eine andere Kultur, kaum Kontakte. Doch mit der Zeit lernte er viele neue Freunde kennen und gewöhnte sich an sein Leben in Berlin. Kaum hatte er sich in Deutschland eingelebt, begann im März 2011 die Syrische Revolution. Amir konnte es kaum glauben. Nie hätte er gedacht, dass der Arabische Frühling auch sein Land erreichen würde. Schließlich herrschte der Assad-Clan schon seit 1970 über sein Land. Jeden zweiten Tag rief Amir seine Familie an. Über die Revolution durfte er nicht sprechen. Zu groß war die Gefahr, abgehört zu werden, auch bei Skype. Euphorisch verfolgte er die Nachrichten, im Fernsehen und auch bei Facebook. Täglich füllte sich sein Newsfeed FURIOS 08/2012

mit hunderten Informationen, darunter auch vielen bedauerlichen: An einem Tag schrieb ein Bekannter noch ein Status-Update – am nächsten Tag kam die Meldung von seinem Tod. Doch hat die Revolution auch gute Seiten, findet Amir: Sie hat den permanenten Angstzustand in der Bevölkerung beendet. Früher sei es unvorstellbar gewesen, in Anwesenheit eines Fremden das Regime zu kritisieren. Zu groß das Risiko, dass es sich um einen Spitzel der Regierung handeln könnte. Seit den Aufständen ist es besser geworden, die Menschen haben ihren Mut zurück. Denn sie wissen jetzt, dass sie nicht allein sind. Sieht Amir seine Stadt im Fernsehen, dann spürt er die Sehnsucht nach seinen Freunden, nach seiner Familie. Gleichzeitig fühlt er Wut, wenn er beobachtet, was die syrischen Truppen anrichten. Es sei ungerecht, sagt er, dass Menschen sterben müssten, um den Lebenden ein besseres Land zu ermöglichen. Deswegen wünscht sich Amir für sein Land, dass die NATO militärische Hilfe leistet. Auch er würde für Demokratie kämpfen, jedoch ohne Gewalt. Amir hat eine andere Möglichkeit gefunden, zu helfen. Er versucht sparsam zu leben und viel zu arbeiten. Sein restliches Geld spendet er an eine Organisation, die Nahrung und Unterkunft für syrische Flüchtlinge im Libanon und in Jordanien bereitstellt. Amir liebt Berlin, vor allem im Sommer. Während der heißen Jahreszeit versucht er die Stadt überhaupt nicht zu verlassen. Auch die Menschen hier gefallen ihm; die seien das Wichtigste. Die 3506 Kilometer Entfernung zu seiner Heimatstadt spürt er nicht. Doch eines Tages möchte er zurückkehren, trotz der schweren Veränderungen, die das Land durchlaufen wird. Denn eines ist für Amir sicher: Heimat bleibt Heimat.

*Name von der Redaktion geändert Lev Gordon studiert Politikwissenschaft und bewundert den Mut, den die Syrer täglich aufs Neue beweisen.

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Campus

VERBINDUNG GEKAPP T Nationalistisch, sexistisch, rassistisch – so stellen sich viele eine Studentenverbindung vor. Unser Autor LEV GORDON war Mitglied in einem der umstrittenen Männerbünde. Die Geschichte eines Aussteigers Illustrationen von SNOA FUCHS

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s ist ein sonniger Tag im März, als ich ausziehe. Alle scheinen glücklich sein: Meine Freunde, meine Familie – selbst meine ehemaligen Mitbewohner. Nun kehre ich der Südberliner Villa, die ein halbes Jahr mein Zuhause war, den Rücken. Ein letztes Mal. Frisch in Berlin angekommen, musste ich mir schleunigst eine dauerhafte Unterkunft suchen. Wochenlang klickte ich mich durch den orangegelben Internetauftritt von »WG-Gesucht«. Schließlich wurde ich fündig: 230 Euro für 22 Quadratmeter mitten im ruhigen Zehlendorf – ein echtes Schnäppchen! Vom Hinweis, dass es sich bei der Wohngemeinschaft um eine Studentenverbindung handele, ließ ich mich nicht abschrecken. Warnungen von Freunden und Verwandten fielen moderat aus und so sagte ich meinen neuen Mitbewohnern zu. Ich freute mich auf mein neues Zuhause in Berlin. Eine Ahnung, was sich wirklich hinter den Wänden einer Studentenverbindung abspielt, hatte ich jedoch nicht.

Studentenverbindungen stehen oft in der Kritik. Manche bezeichnen sie als Saufbünde, andere als Vereinigungen Ewiggestriger. Nicht nur der AStA erhebt schwere Vorwürfe gegen sie. Auch in den Medien werden Verbindungen regelmäßig wegen Sexismus, Rassismus und Nationalismus kritisiert. Tatsachen oder nur Vorurteile? Ein halbes Jahr lang wohnte ich in einem Verbindungshaus, wurde selbst Bundesbruder. Dann stieg ich wieder aus. Als ich das erste Mal vor der Villa stand, bot sich mir ein imposanter Anblick: Drei Stockwerke hoch, Gründerzeitstil, rote Backsteinmauern. Auch das Innere ließ mich staunen. Während sich der Gemeinschaftsbereich normaler WGs auf die Küche beschränkt, stand hier das gesamte erste Stockwerk allen zu Verfügung. Zur Einrichtung gehörten ein Kickertisch, ein Klavier und eine Bar. Doch auch Rüstungen, Fahnen und Fotos hunderter Mitglieder von anno dazumal zierten die Wände. In den beiden oberen Stockwerken befand sich der Wohnbereich – und ein Raum zum Fechten. Meine Mitbewohner sahen nicht aus wie Nazis. Sie wirkten wie normale Mittzwanziger. Als ich ihnen von meinem Migrationshintergrund erzählte, reagierten sie gelassen. Nie wurde das zum Problem. Schnell freundete ich mich mit meinen 13 neuen Nachbarn an. Alles schien gut zu laufen. Doch mit der Zeit häuften sich Ereignisse, die mich stutzig machten. Es fing mit einer Sache an: Bier. Ständig wurde Bier getrunken. Am Abend versammelten sich die Trinklustigen an der Bar, um sich den einen oder anderen Krug zu gönnen. Die Bar befand sich direkt unter meinem Zimmer. Das war am Anfang noch harmlos. Aber wenn ich lernen oder schlafen musste, wurde der Lärm schnell lästig. Irgendwann wurde ich zu meinem ersten Bierjungen herausgefordert. Das ist ein Trinkritual, bei dem einer »Bierjunge« ruft und der andere lautstark das Wort »hängt« erwidert. Dann müssen beide einen halben Liter eiskaltes Bier um die Wette kippen. Zuerst war das noch lustig. Doch schon bald konnte ich kein Bier mehr sehen. Gestört hat mich vor allem die Gruppendynamik. Dass wir alles als Gruppe machten, war für meine Mitbewohner eine Selbstverständlichkeit. So auch das Trinken und Singen. Besonders schlimm war es, wenn beides zusammenkam. Das war bei Veranstaltungen der Fall, bei denen die »alten Herren« unser Haus besuchten. Alte Herren sind im Verbindungsjargon Mitglieder, die ihr Studium schon abgeschlossen haben. Wenn sie zu trinken und zu singen anfingen, mussten alle Anwesenden mitmachen – ob sie wollten oder nicht. Das Gesangbuch war wohl bei der Gründung Deutschlands das letzte Mal aktualisiert worden. Ich fand es lächerlich. Als

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mein Tischnachbar mein Gesicht sah, gab er mir einen Rat: »Trink einfach mehr und sing lauter als die anderen.« Seltsam waren auch andere Rituale, die ich nach und nach kennenlernte. Einmal wurde unsere Fahne von einer anderen Verbindung gestohlen. Um die Ehre unserer Verbindung zu retten, mussten ein paar von uns zu der anderen Verbindung fahren, um dort »um die Fahne zu trinken«. Als ich spät am Abend von einer Party nach Hause lief, fand ich Karl*, meinen Zimmernachbarn, drei Blocks von unserem Haus entfernt. Er saß auf einem Bierkasten und sah aus wie ein Häufchen Elend. »Was machst du da?«, fragte ich ihn. »Wir ha‘m die Fahne zurück«, lallte er, »und ich bin betrunken«. Ich trug ihn nach Hause. Trotz allem überwogen die schönen Erlebnisse. Ich genoss meine Anfangszeit in Berlin und habe mit meinen Mitbewohnern gekocht, gebacken, bis tief in die Nacht über Mädchen diskutiert. Wir feierten, erkundeten zusammen die Stadt und bummelten durch den Mauerpark. Mit der Zeit wurde ich immer öfter gefragt, ob ich nicht endlich beitreten wolle. Stets lehnte ich höflich ab. Eines Abends kam Frederik* in mein Zimmer und wollte erneut über meinen Beitritt sprechen. In diesem Moment dachte ich mir: Wenn ich mich sowieso ständig dafür rechtfertigen muss, dass ich in einer Verbindung lebe, kann ich genauso gut auch Mitglied werden. Spontan sagte ich zu. Frederiks erste Reaktion war: »Echt jetzt?« Und dann ging alles ganz schnell: Alle wurden aus ihren Zimmern geholt, ich bekam eine Mütze und ein Band in den Verbindungsfarben übergeworfen und es wurde auf meinen Namen getrunken. Nun war ich ein Mitglied, ein Bundesbruder. Am Verbindungsleben, wie ich es bisher kannte, änderte sich wenig. Aber es nahm nun viel mehr Zeit in Anspruch. Alle Veranstaltungen waren jetzt Pflicht, ich musste dabei sein und mithelfen. Da ich in eine schlagende Verbindung eingetreten war, kamen noch drei Mal die Woche Fechtstunden dazu. Geübt wurde an einer Eisenstange, genannt das »Phantom«. Es hatte einen Kopf aus Lappen. Außerdem gab es Unterrichtsstunden zur Geschichte des Hauses. Das ergab einen Zeitaufwand von bis zu 15 Stunden die Woche; für Freunde blieb kaum Zeit und auch das Lernen für die Uni litt. Trotzdem war mir die Geselligkeit angenehm und ich war zunehmend davon überzeugt, das Richtige getan zu haben. Wie sehr mich die Gruppendynamik in die Mangel genommen hatte, sollte ich trotzdem bald merken. Als ich eines Abends mit mehreren Freunden am Tisch saß und wir einen spontanen Trip nach Rügen planten, erwischte ich mich dabei, wie ich sagte: »Ich kann nicht, ich muss morgen Fechten.« Als mir bewusst wurde, dass ich bereit war, eine Reise mit meinen Freunden wegen eines veralteten Rituals sausen zu lassen, wurde mir klar, dass ich mich zu weit hineingesteigert hatte. Ich fuhr mit nach Rügen und es wurden drei der schönsten Tage meines Lebens. Während dieser Fahrt erkannte ich, dass ich nicht in eine Verbindung gehörte. Ich mochte meine Freiheit und mein Leben sollte nicht von Leuten bestimmt werden, nur weil ich mit ihnen zusammenlebte. Irgendwann war es so weit und ich erklärte meinen Aus-

tritt. Das blieb nicht ohne Folgen: Die ganze Gruppe wandte sich plötzlich gegen mich. Nachdem alles vorbei war, erzählte mir Karl, wie er sich hintergangen gefühlt hatte: »In dem Moment, als du ausgetreten bist, habe ich dich gehasst.« Niemand redete mehr mit mir. Ich versuchte auf meine Ex-Bundesbrüder zuzugehen, aber es wollte keiner mehr etwas mit mir zu tun haben. Mir blieb nichts anderes übrig, als anderthalb Monate lang das Auslaufen meines Mietvertrags abzusitzen. Nach der Uni fuhren meine Freunde zurück in ihre WGs, wo ihre Mitbewohner sie erwarteten – ich wurde nur von einer bedrückenden Stille empfangen. Es war eine einsame Zeit. Schließlich kam der Tag, an dem ich auszog. Meine Möbel waren bereits verladen, ich stand in meinem Zimmer und hatte nur noch einen Koffer in der Hand. Ich dachte an die vergangenen sechs Monate. Hätte ich noch einmal die Wahl, würde ich nicht wieder eintreten. Doch abgesehen von dem vielen Trinken und den Ritualen war es eine schöne Zeit. Ich verließ die Villa und schaute nicht zurück. Es würde mir sowieso keiner hinterherwinken.

*Namen von der Redaktion geändert

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Lev Gordon bedankt sich bei den großartigsten Freunden der Welt, die ihn in der Folgezeit während der dreimonatigen Wohnungssuche beherbergt haben.

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Illustration von Christoph Spiegel

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studiert eigentlich Mathematik. UNGLAUBLICH E X T R E M Für FURIOS wagt er sich in Räume, die & kannte. er bisher nur vom Hörensagen

KEIN TYP

MAX KRAUSE

LAUT BLA

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Eindrücke aus einem Literaturseminar. MAX KRAUSE

studiert eigentlich Mathematik. Für FURIOS wagt er sich in Räume, die er bisher nur vom Hörensagen kannte. Eindrücke aus einem Literaturseminar

Ballett ist doch kinderleicht. Das dachte sich FLORIAN SCHMIDT – allerdings nur so lange, bis ihn der Hochschulsport eines Besseren belehrte. Foto von FABIAN HINSENKAMP

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o also sieht ein Literaturwissenschaftsseminar von innen aus. Meine Vorstellungen bestätigen sich auf den ersten Blick: Schon der Dozent wirkt mit seinem aus dem Strickpullover stehenden Hemdkragen und den zerzausten Haaren wie die Karikatur eines Literaten; die Teilnehmer sind Studierende von dem Typ, der sich gern gegenseitig als Hipster beschimpft. Das Seminar eröffnet ein besonders eloquenter Kommilitone mit einem Referat. Genüsslich erzählt er von Foucaults Text, dem Stoff der Woche. Natürlich darf auch ein Verweis auf Werke anderer Philosophen nicht fehlen. Zum Schluss wird noch ein Fight-ClubZitat gereicht, um klar zu machen, dass für den Vortragenden Hoch- und Popkultur kein Widerspruch sind. Am Ende des Vortrages weiß ich zwar wenig über den Text, dafür aber umso mehr über das Geltungsbedürfnis des Referenten. Dann beginnt das, was sich unter Geisteswissenschaftlern wohl gemeinhin »Diskussion« schimpft: ein Feuerwerk aus Worthülsen und Satzkonstruktionen, deren Sinn sich mir nicht erschließt. Da sollen »sedimentierte Alltagsideologien aufgebrochen« werden, es wird behauptet, die Wahrheit habe die Aufgabe, sich selbst zu verschleiern, und überhaupt: Als Strukturmotiv einer Archäologie der Wissenschaften könne der Wahrheitsbegriff nicht weggedacht werden. Genau! Als eine Studentin irgendwann die Frage stellt: »Diskurseffekt – was heißt das überhaupt?«, bin ich ihr zutiefst dankbar; eine Antwort bleibt die Runde aber leider schuldig. Überhaupt scheint man hier weniger an Antworten als vielmehr am Klang der eigenen Stimme interessiert zu sein. Als die Stunde zu Ende geht, bin ich froh, aus diesem trüben Sumpf der Worte wieder in die klare Welt der Zahlen zurückkehren zu dürfen. Die Literaten überlasse ich lieber sich selbst – damit sind sie beschäftigt genug.

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in weiter Saal, überall Spiegel, große Fenster; leichte Klaviermusik schwingt durch den Raum. Aber an mir läuft der Schweiß runter. »Halbe Spitze und jetzt zur Seite«, ruft eine Frau. »Du hast gut reden«, denke ich, während ich versuche, gleichzeitig die Arme auszubreiten und den Fuß auf Zehenspitzen nach hinten rechts zu strecken. Vor ein paar Jahren in »Dornröschen« sah das doch so einfach aus. Jetzt merke ich zum ersten Mal am eigenen Körper, wie viel Arbeit hinter dem so anmutig wirkenden Sport steckt. Für eine Stunde nehme ich am Ballett-Anfängerkurs des FU Hochschulsports teil – ich, der sich sonst eher grobmotorisch auf Judomatten oder bei McFit austobt. Gemeinsam mit 20 weiteren jungen Leuten, unter ihnen auch zwei weitere Männer, versuche ich es so zu machen wie Ana, die Ballettlehrerin. Sie gibt sich wirklich große Mühe mit mir, zeigt mir alles ganz genau. Trotzdem wird der Verdacht, dass mein Körper nicht für diesen Sport gemacht ist, schnell zur Gewissheit. Stattdessen habe ich nach einer Stunde ein neues, äußerst schmerzhaftes Gefühl dafür gewonnen, wie viele Muskeln eigentlich in meinen Füßen stecken. Ich humpele zurück in die Umkleide und hänge die Ballettschläppchen für immer an den Nagel. Dann doch lieber pumpen.

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EWIGER EHEMALIGER:

DER MANN MIT DEM SPARSCHWEIN In seinen wilden Jahren als FU-Student wollte er die Gesellschaft ändern. Später wurde Hans Eichel Bundesfinanzminister und »Sparkommissar«. MARGARETHE GALLERSDÖRFER hat mit ihm gesprochen. Foto von FABIAN HINSENKAMP

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st-Berlin in den frühen 60er Jahren: Zwei FU-Studenten stehen im Foyer des Kabaretts »Distel« und begutachten feixend ein Porträt von Walter Ulbricht. Darunter ist ein Sparschwein aufgestellt; der große Vorsitzende soll zum Spenden animieren. Sie schreiben etwas auf einen Fetzen Papier, wickeln ein Geldstück darin ein, werfen es durch den Schlitz – und geben Fersengeld. Was stand denn auf dem Zettel, Herr Eichel? »Da stand: Für den Friseur. Der Spitzbart muss weg.« Inzwischen ist Hans Eichel 70 Jahre alt und Berlin nicht mehr geteilt. Er lacht heute noch über seinen Studentenstreich. »Wir hatten eine Angst, erwischt zu werden! Wir waren froh, als wir über die Heinrich-Heine-Straße raus aus Ost-Berlin waren. Als wir zwei Wochen später wieder hinkamen, hing das Bild noch da...dafür war das Sparschwein weg.« Er sitzt an einem schönen Morgen im Mai im Café Einstein Unter den Linden, dem Berliner Politiktreff – sein Vorschlag, und man scheint ihn dort auch gut zu kennen. 1999 machte Gerhard Schröder ihn zum Finanzminister. Als er sich anschickte, das Defizit der Bundesrepublik auf ein verfassungskonformes Maß zu reduzieren, hatte er seinen Spitznamen schnell weg: »der Sparkommissar«. Irgendwann überreichte ihm ein Besucher nach einer Veranstaltung ein Sparschwein; es wurde das erste Stück FURIOS 08/2012

einer großen Sammlung, die er inzwischen dem Deutschen Zollmuseum in Hamburg geschenkt hat. Doch wieso war Eichel der Richtige für den Job? Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte und Erziehungswissenschaft hat er in Marburg und Berlin studiert; eigentlich ist er Gymnasiallehrer. Vor Publikum, erzählt er, habe er damals gern gescherzt: »Als Finanzminister muss man gar nicht so viel können. Von den Grundrechenarten genügen zwei: zuzählen und abziehen. Man muss den Dreisatz beherrschen, weil einem meistens zugemutet wird, gleichzeitig die Steuern zu senken, keine Schulden zu machen und die Ausgaben zu erhöhen. Und drittens kommt man mit einem sehr geringen Wortschatz aus: Man muss vorzugsweise ›Nein‹ sagen können.« Mit der Materie vertraut war Eichel natürlich vorher schon, unter anderem als Finanzexperte der SPDgeführten Bundesländer im Bundesrat. Als Finanzminister war er beliebt. Doch als Student hätte sich Hans Eichel wohl niemals träumen lassen, dass man ihm später auch mal vorwerfen würde, Kapitalgesellschaften unverantwortlich große Steuergeschenke gemacht zu haben. Während seiner drei Semester an der FU 1962 und 1963 ließ er sich mitreißen von der quirligpolitisierten linken Studierendenschaft. Den Burschenschaftler und späteren Berliner Bürgermeister Eberhard Diepgen

(CDU) als AStA-Vorsitzenden absetzen, die Auslieferung der studentenfeindlichen Bild-Zeitung verhindern – Eichel war dabei, »mit voller Überzeugung«. In die SPD trat er 1964 ein, inspiriert von einem Professor, der wegen Linksabweichung schon wieder ausgeschlossen worden war. Als er 1968 für sein Staatsexamen lernte, wurde ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt – als Kasseler Juso-Vorsitzender organisierte Eichel Demonstrationen gegen die gesamtgesellschaftliche Stimmung, die den Angriff provoziert hatte. Die Gesellschaft, die er verändern wollte, hat am Ende sich, aber auch ihn geändert. Vielleicht, weil sie den aufrührerischen Studenten doch Einiges zu bieten hatte: »Wir hatten Zukunftsvertrauen. Wir bekamen nicht nur auf jeden Fall einen Studienplatz, sondern danach in der Regel auch sofort den Arbeitsplatz, den wir wollten.« So habe es sich natürlich bequem protestieren lassen. »Das war die Situation der 68er: Wir haben volle Kanne und zu Recht opponiert. Aber wir hatten kein persönliches Zukunftsrisiko. Die Perspektiven für meine Generation waren viel besser als für die jungen Leute heute.«

Margarethe Gallersdörfer studiert Literatur und Politik und kann auch Nein sagen. Trotzdem wäre es für alle besser, wenn sie Journalistin würde. 29


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LEICHEN CAMPUS AUF DEM

Sie liegen 15 km von Dahlem entfernt mitten auf dem Charité-Gelände. Während sich die meisten Menschen mit Hilfe von Papier und PC weiterbilden, lernen die MedizinStudierenden an toten Menschen. Aber woher kommen die Leichen? Und kann man sich tatsächlich an sie gewöhnen? VALERIE SCHÖNIAN besuchte den fernen Campus Illustration von CHRISTOPH SPIEGEL

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as Skalpell ist scharf. Das weiß Hanna. Ein mulmiges Gefühl macht sich in ihrem Magen breit. »Wenn jemand nicht damit klarkommt oder ihm schlecht wird, kann er auch kurz raus gehen«, hatte der Tutor am Anfang gesagt. Hanna ist geblieben. Durchatmen. Du schaffst das. Behutsam setzt sie das Instrument an, übt leichten Druck aus. Dann zieht sie das Messer durch die Haut, bis ein langer Schnitt im Oberschenkel klafft. Kein Blut, das spritzt. Dann blickt Hanna zum ersten Mal in ihrem Leben in einen toten Menschen. So beschreibt Hanna rückblickend ihre erste Anatomie-Stunde vor zwei Jahren. Mittlerweile studiert sie im sechsten Semester Medizin an der Charité. In den ersten zwei Jahren steht Anatomie auf dem Lehrplan – Lernen mit Leichen. Während des zweiten und dritten Semesters warf sich Hanna also zweimal die Woche ihren weißen Kittel über und begab sich in den Präpariersaal im dritten Obergeschoss des Anatomieinstitutes mitten auf dem Charité-Campus in Mitte. Der Raum ist hell, versteckt sich hinter Milchglasscheiben. Es müffelt nach Desinfektionsmittel. HAUT AB UND FETT DURCH

Woche für Woche arbeiteten Hanna und ihre Kommilitonen dort an »ihrer« Leiche. Sie begann mit dem Bein, präparierte nach und nach die Haut ab und durchtrennte

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das tote Fettgewebe, um an die Muskeln zu kommen. Mit dem Klischee einer klassischen Operation hat das alles nur wenig zu tun: »Man sieht im Fernsehen immer den OP und alles ist rot und blutig. Aber als Präparat sind die Farben nicht mehr so kräftig. Alles ist irgendwie braun«, sagt Hanna. Ganz wohl war ihr trotzdem nicht. Vor dem Kurs hatte sie Angst, nicht mit der Situation umgehen zu können: »Einen Abend davor war ich total aufgeregt und dachte, das kann ich einfach nicht. Und dann lag die Leiche da.« Mit sechs oder sieben anderen Studierenden arbeitete sie gleichzeitig an einem leblosen Körper. Insgesamt liegen über 40 Leichen in vier Präpariersälen. Aber woher stammen sie?

ten haben, müssen in der Nähe von Berlin wohnen und eines natürlichen Todes sterben. Die Registrierung ist zudem erst ab dem 65. Lebensjahr möglich. Mit Jüngeren geht die Anatomie den Vertrag nicht ein; die Laufdauer wäre zu lang. Denn das Institut kann – im Gegensatz zu den Körperspendern – nicht einfach wieder aus dem Vertrag aussteigen. Die Spender wiederum müssen dem Institut versichern, ihm das Geld für ihre Bestattung zukommen zu lassen. Denn seit einer Gesetzesänderung 2004 erhält die Charité nicht mehr das Sterbegeld von den Krankenkassen. »Und wir können nicht alle Kosten zahlen«, erklärt Winkelmann.

DIE MENSCHEN HINTER DER LEICHE

Diese Frage kann Andreas Winkelmann, Lehrkoordinator der Anatomie an der Charité, beantworten: »In unserer Kartei befinden sich hunderte Körperspender.« Körperspender: So heißen die Menschen, die ihren Körper nach dem Ableben der Anatomie vermachen. Sie stellen sich aus verschiedenen Gründen zur Verfügung, so der Mediziner. Einige wollten der Wissenschaft helfen, andere hätten keine Angehörigen. Doch nicht jeder kann spenden, es gibt verschiedene Beschränkungen: Die Spender dürfen keine ansteckenden Krankhei-

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Fotos: Valerie Schönian/Christoph Spiegel

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Links: Hanna studiert im sechsten Semester Medizin. Das Präparieren hat sie erstmal hinter sich. Mitte: Ein Präpariersaal im Anatomieinstitut der Charité. In den grauen Kühlkästen verbergen sich jeweils zwei Leichen. Rechts: Andreas Winkelmann, Lehrkoordinator der Anatomie an der Charité.

Scheinbare Kostenvorteile sind ein Grund, warum manche Menschen zu Spendern werden. Andere wollen ihre Angehörigen entlasten. »Dabei ist es gerade für Familie und Freunde am schwersten«, meint Winkelmann: »Sie müssen ein bis drei Jahre warten, bis sie sich von ihren Lieben verabschieden können.« So lange kann es nämlich dauern, bis die Leichen nicht mehr gebraucht werden. Gleich nach dem Tod müssen die Körper konserviert werden. Dafür werden sie in den Keller des Anatomie-Institutes gebracht, wo sich Formaldehyd-Anlagen be-

finden. Mindestens drei Monate müssen die Körper darin liegen, um die Verwesung aufzuhalten. Dann fahren sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock zu den Studierenden in die Präpariersäle. Über zwei Semester lagern sie dort dann in Kühlboxen und werden regelmäßig von den Medizin-Neulingen hervorgeholt und untersucht. Danach ersetzt das Institut sie durch andere Körperspender. »Irgendwann müssen die Menschen schließlich auch einmal bestattet werden, um in Frieden zu ruhen«, sagt Winkelmann. Der letzte Weg der Leichen führt ins Krematorium – eine Erdbestattung ist wegen des Formalins nicht möglich, weil die Körper nicht mehr verwesen würden. Die Urne wird dann an den Ort gebracht, den sich der Verstorbene gewünscht hat, oft anonym. Ihre Wünsche geben Spender in einer letztwilligen Verfügung an. DIE SPENDER BLEIBEN FÜR DIE STUDIERENDEN ANONYM

Hanna weiß nichts über die Spender oder ihr Leben. Das einzige Mal, dass sie Angehörige sah, war bei der Abschlussveranstaltung, die die Studierenden und das Institut zum Ende jedes Semesters für Spender, Familie und Studierende organisieren – eine Art Gedenkfeier. »Wir haben große Achtung davor, dass sich Menschen dazu bereit erklären«, sagt die Studentin.

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Doch gesprochen hat sie mit niemandem. »Es war ein komisches Gefühl.« Hanna weiß, dass »ihre« Leiche ein Mann war, keine Gallenblase hatte und auch den Blinddarm entfernt bekam. Mehr will sie nicht wissen. Einen Namen gaben sie und ihre Kommilitonen ihrem Körperspender nicht. Wenn sie nicht am Gesicht arbeiteten, deckten sie es ab. »Es wäre sonst zu persönlich gewesen.« Schon so hatte es einen Monat gedauert, bis Hanna den Präpariersaal ganz ohne das mulmige Gefühl betreten konnte. Dank der Anonymität fand sie sich schließlich in die Lage ein. »Es ist dann auch spannend zu sehen, wie alles im Körper aufgebaut ist. Zum Beispiel das Herz: Manchmal ist es total klein, manchmal richtig groß.« Für Hanna ist das Arbeiten an Leichen zur Gewohnheit geworden. Laut Winkelmann geht es den meisten Medizin-Studierenden so. Spannung, Neugier und Prüfungspanik überwiegen schnell den Ekel und die Skrupel. »Aber von außen betrachtet ist es schon komisch«, findet Hanna. »Man geht da hin und präpariert an der Leiche. Und dann geht man frühstücken.« Valerie Schönian studiert Deutsche Philologie und Politikwissenschaft und ist heilfroh, dass sie dafür keine Leichen auseinandernehmen muss.

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Kultur

NOCH EIN SCHUSS LYRIK?

Das studentische Lyrikkollektiv G13 erfreut sich nicht nur in Berlin zunehmender Beliebtheit. Wer sind die jungen Dichter? CHRISTOPHER HIRSCH ist zu einer ihrer Lesungen gegangen Foto von CHRISTOPH SPIEGEL

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ie Ruhe nach dem Sturm. Der altbautypisch hohe Raum in der Villa des Literaturhauses Lettrétage ist voll besetzt; es herrscht angespannte Stille. Gerade haben die Lyriker des Autorenkollektivs G13 wieder eine Salve Wortbilder auf das Publikum abgefeuert. Bilder, die jetzt die Köpfe der Zuhörer und den Raum füllen. In den letzten Wochen war das Autorenkollektiv G13 in Leipzig, München, Freiburg und Zürich zu Gast. Jetzt, zur Abschlusslesung ihrer Tour, sind sie zurück im heimatlichen Berlin. Doch wer oder was ist G13? »Letztlich ein Haufen Menschen, die sich auf zufälligen Wegen getroffen und gemerkt haben, dass sie Spaß am Texte schreiben und diskutieren haben«, erklärt Lyrikerin Lea Schneider. Sie studieren – unter anderem an der FU – Medizin, Politikwissenschaft, Sinologie, Tanz, sind Gärtnerin oder eben Schriftsteller. Kennengelernt haben sich die Lyrikbegeisterten in Seminaren und auf Lesungen. Vor eineinhalb Jahren fingen sie an, sich regelmäßig zu treffen. Mittlerweile sitzen sie alle zwei Wochen bis zum Morgengrauen zusammen. Der aktive Kern des Kollektivs besteht aus rund einem Dutzend Lyrikern, die ihre Texte auf einem Blog veröffentlichen und dort bearbeiten.

Christopher Hirsch studiert Englisch und Kommunikationswissenschaften und ist offen für alles außer Elektrofahrräder und kurzämelige Hemden. 32

DER ERFOLG WÄCHST

Lyriker versehen ihre Texte mit einer dramatischen Dimension. Sie drehen Stühle, starren das Publikum an oder stehen mitten im Raum. Indirektes Licht macht aus ihnen eine Gruppe dunkler Gestalten. Der Gitarrist Julius Theo Helm vervollständigt das Spektakel zandvoort aan zee mit mal expressiv minimalisan der endhaltestelle war der tag geräumt, hatte jemand tischen, mal verträumt meeinen geruch aus den ginsterbüschen gerissen lancholischen Intermezzi. und seine ungeduld damit gefüttert. wir passierten hilflose industrieparks, vollgestellt mit schafen, WIRKLICHKEIT IM VISIER in halbstündigen abständen radfahrer, bruchsekunden. Es bleiben vor allem die sand in den schuhen und der beständige wunsch, Bildhaftigkeit und die Modie vögel mit tesa am tageslicht zu fixieren, etwas dernität der Lyrik im Geaufzuhalten, was sich anders nicht benennen ließ. dächtnis. Viele Gedichte in einer abgezogenen landschaft suchten wir weiter sind Moment- und Nahnach autowracks, erntehaufen, irgendwas, an dessen aufnahmen. Zwischen Wiwundgescheuerter innenseite man einschlafen könnte. derspruch, Absurdität und Lea Schneider Komik werden Unwörter mehr G13 online auf gdreizehn.wordpress.com unserer Realität zur Schau gestellt und in neue Kontexte nen verweisen. Aktuelle Veröffentlichun- gesetzt. Pendelverkehr, Abtropfsieb, Sichergen sind Max Czolleks Debüt »Druck- heitsglas, Causa Strunk. Und dazwischen kammern« sowie eine Sonderausgabe der ein Liebesgedicht. Zeitschrift »Belletristik«, die sich komplett Aber warum der Name G13? Verraten den Texten von G13 widmet. Auch Anfrawollen die Autoren die Bedeutung nicht. gen von anderen Zeitschriften und LesereiDoch ihre Lesung weckte Assoziationen an hen nehmen zu. Doch trotz des Erfolgs gibt ähnlich klingende Gewehrtypen – intensies wohl kaum eine hauptberufliche Persver Beschuss mit präzisen Worten und Bilpektive im Bereich der modernen Lyrik. So dern. Für die Zukunft rüstet G13 auf: Die ist das Texten vor allem eine Passion, der Autoren feilen an eigenen Publikationen, die Dichter von G13 nachgehen und nachhalten Lesungen und nehmen an Wettbegehen werden. werben teil. Wer die Lyrik der G13 am eiVor Publikum werden die Gedichte nicht genen Leib erfahren will, hat dazu im kombloß rezitiert, sondern erlebbar gemacht – menden Herbst die Möglichkeit. Dann bisweilen unterstützt von einer Regisseu- nämlich will das Kollektiv mit einer eigerin. So wird aus neun Autoren mit ihren nen Anthologie bewaffnet auf seine dritte unterschiedlichen Stilen ein Ensemble. Die Tour gehen. Das Schaffen von G13 genießt zunehmend Aufmerksamkeit. Die Gruppe kann inzwischen auf zwei selbst organisierte, gut besuchte Touren und mehrere Publikatio-

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Kultur

DAS IST KUNST UND KANN WEG Jahr für Jahr scheitern unzählige junge Künstler an den Auswahlverfahren der Berliner Kunsthochschulen. Dieses verlorene Potenzial wollen vier Studentinnen in der Ausstellung »This is for Losers« wieder sichtbar machen. Von VERONIKA VÖLLINGER

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ie Uni Gießen sagte Nein. Gießen sagte auch »künstlerisch nicht ausreichend«. Für Jana und Jule hieß das: Tschüss Studienplatz für Angewandte Theaterwissenschaft. Willkommen im Club der Verlierer! Ein Plan B musste her: Berlin. Mittlerweile studiert Jana Kulturarbeit an der FH Potsdam und Jule Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft an der FU Berlin. Ihr Studium ist nicht uninteressant, trotzdem bleibt es für sie die Zweitwahl – ein Schuss vorbei am großen Traum. Und es bleibt die Frage: Woran lag es denn jetzt? Warum bin ich ein Loser?

gelandet. Jana meint: »Da draußen laufen ganz viele potenzielle Künstler rum.« Gegen Ende des Jahres wird man die Arbeiten in einer Ausstellung bewundern können – von allen Verlierern, deren Kunst doch eigentlich weg sollte. Ob tatsächlich alle gezeigt werden können, steht und fällt vor allem mit der Größe des Ausstellungsortes. »Wir wollen Bewertung und Selekti-

meint Antonella. Jana ergänzt: »Wir lassen uns auf die Unsicherheit ein.« Außer einem Konzept haben die Studentinnen nichts vorzuweisen. Sie gehen ein Wagnis ein – dazu muss auch die Galerie bereit sein. »Wir brauchen von denen einen Freifahrtschein«, erklärt Jana. Mittlerweile sind sie im Gespräch mit einigen kleinen, nichtkommerziellen Galerien, haben erste Partner in der Kunstszene gefunden und

Jahr für Jahr investieren unzählige hoffnungsvolle Bewerber Zeit, Geld, Arbeit und Liebe in ihre Mappen. Berliner Kunsthochschulen sind für viele der große Traum. Doch nur ein Bruchteil wird angenommen. Was passiert mit denen, die abgelehnt werden? Mit den Losern? Als Pete Doherty aus dem Lautsprecher singt: »This is for lovers/Running away«, entsteht in Janas Kopf plötzlich eine Idee: This is for Losers – eine Ausstellung für verschmähte, abgelehnte Künstler. LOSER IN DIE GALERIEN!

Aus der Idee wurde ein Konzept und aus dem Konzept ein Projekt. Mit an Bord kamen Janas Kommilitoninnen Antonella und Anja. Zu viert geht es für die Nachwuchs-Kuratorinnen jetzt in die heiße Phase. Noch bis Ende Juli können Bewerber, die dieses oder letztes Jahr an Berliner Kunsthochschulen abgelehnt wurden, ihre Arbeiten einschicken. Das künstlerische Genre ist egal – bis jetzt ist eine wilde Mischung aus Malerei, Musik, Video, Kostümbild und Schauspiel bei den Vieren Veronika Völlinger studiert Politikwissenschaft, fand Kunstunterricht ab der Mittelstufe doof und weiß jetzt, warum: künstlerisch nicht ausreichend. FURIOS 08/2012

Die Studentinnen Jana, Antonella, Jule und Anja (v.l.) bei der Arbeit: Für ihre Ausstellung müssen sie Bewerbungen sichten und eine Galerie für die Loser-Kunst finden. Auch Promotion gehört dazu; den Internetauftritt der Gruppe findet man unter facebook.com/ThisIsForLosers.

on umgehen«, erklärt Anja und Jana fügt hinzu: »Jeder kriegt eine Plattform, ob das jetzt eine Wand ist oder eine Seite im Katalog.« Ausschlaggebend ist für die vier Studentinnen dabei ein stimmiges Zusammenspiel der Ausstellungsstücke. Wie die Kunstwerke gehängt oder gestellt werden, wollen sie entscheiden. EINE REISE INS UNGEWISSE

Eine Galerie finden, Marketing, Fundraising – all das lernt man im Studiengang Kulturarbeit. Das macht die Sache aber auch nicht einfacher. »Wir können überhaupt nicht voraussehen, was kommt«,

bekommen insgesamt positives Feedback. Im Juli schickt die UdK die Zu- und Absagen raus. Dann stehen auch die letzten Loser der Berliner Kunstschulenbewerber für dieses Jahr fest, deren Träume und Mappen in der hintersten Schrankecke landen und dort einsam verstauben werden. Oder sie landen bei Jana, Jule, Anja und Antonella und finden zusammen mit anderen Losern doch noch den Weg in die Öffentlichkeit. Bis dahin haben die Heilerinnen für wunde Künstlerseelen noch viel Arbeit: »Stadt plakatieren, Galerie finden und natürlich: Künstler, Künstler, Künstler. Wir hoffen auf ganz viele Einsendungen!«

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Kultur

BEST OF MÄSSIG MENSA-HÖHEPUNKTE IN BUCHFORM

Wer sich nichts sehnlicher gewünscht hat, als die kulinarischen Kreationen des Berliner Studentenwerks auch auf heimischer Herdplatte nachzuzaubern, der kann zum offiziellen Kochbuch der Berliner Mensen greifen. Die FURIOS-Redaktion schmeckte rein. Zum Nachtisch griffen VERONIKA VÖLLINGER und FLORIAN SCHMIDT zum Stift

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arauf haben Sie sicher schon lange gewartet, nun ist es endlich da: Unser Mensa-Kochbuch ›Best of Berlin Mensa‹.« Kein Witz: So lautet es im Vorwort des Mensa-Kochbuchs. Herausgegeben vom Studentenwerk für all jene, die ihren Gaumen auch am Wochenende mit ausgewählten Mensagerichten aus der Zeit von 1979 bis 2005 verwöhnen wollen. Die FURIOS-Redaktion wollte. Schweren Herzens entschieden sich 14 Redakteure, »die besten Gerichte aus den fünf neuen Bundesländern« für’s nächste Mal aufzuheben und diesmal italienische Rezepte von 1994 auszuprobieren. Team Fleisch kochte Hähnchen in Marsala, Team Veggie probierte sich an Spinat-Lasagne. Hier das Ergebnis – zu Hause nachmachen? Na ja, wer es unbedingt will ...

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Spinatlasagne. Treue Begleiterin der 18-Uhr-Mensa-Gänger. Bei uns sollte sie jetzt mal frisch, saftig und lecker werden. Falsch gedacht – die Nudelplatten nicht durch, zu wenig Soße und alles schmeckt irgendwie fad. Dafür kommen Klagen über penetranten Knoblauchgeschmack: »War auch nicht abgewogen«, murmeln die Schnipplerinnen.

Veronika Völlinger und Florian Schmidt mussten das Mensa-Essen eine Weile verdauen. Das Kochbuch kommt ihnen so bald nicht wieder in die Küche.

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Bevor es ein erfrischendes Marsala-Bad nimmt, bräunt sich das Hähnchen in der Pfanne. Gestählte Männermuskeln zerkleinern den Pfeffer und kümmern sich liebevoll um das Stück Fleisch: »Misch dich nicht ein!«, bekommt eine Vegetarierin zu hören, die sich nach dem Marsala erkundigt. So bleibt der Bräter ein Einzelgänger – der Rest schaut zu und nuckelt an der Bierflasche.

Einen besseren Eindruck macht das Hähnchen. Die NichtVegetarier stellen fest: Das Fleisch ist zart, die Marsala-Sauce schmeckt. Nur die Nudeln kommen dem zerkochten Original made by Mensa sehr nahe: 14 Redakteure haben es nicht geschafft, sie im al dente-Zustand vom Herd zu nehmen.

Bildquelle: Studentenwerk Berlin

Auf den Geschmack gekommen sind nur die Fleischfresser in der mensaerfahrenen Studentenjury. Das MarsalaHühnchen schmeckte gut; oder lag es am Alkohol? Die Spinat-Lasagne hingegen enttäuschte. Ganz anders als bei den Penne zum Hühnchen gelang es nicht, auch die Lasagne mensagetreu zu zerkochen – eine knusprige Angelegenheit! Der Spinat schmeckte fad. Daran änderte auch Knoblauch in rauen Mengen nichts. Fest steht: Gewartet hat auf das Mensakochbuch wohl niemand – schon gar nicht »lange«, wie im Vorwort behauptet wird. Lange warten, das sollte man dann doch lieber in der Schlange vor Mustafas Gemüsekebab. Einziger Pluspunkt: Wir konnten das Mensa-Preisniveau unterbieten! 1,92 Euro pro Person statt 3,95 Euro! Ha!

Los geht’s: Manch einer überlegt noch, wie er sich am besten vor dem Kochlöffel drücken kann. Die meisten FURIOS-Redakteure aber machen sich mit scharfen Messern am Schneidebrett zu schaffen. Das Fleischgericht erfordert viele kleingeschnittene Pilze, für die Spinatlasagne schnippeln die Redaktionsköche große Mengen Knoblauch.

Der Herd ist aus und die Teller sind voll – endlich kann das Ergebnis mit allen Sinnen begutachtet werden. Weil Geschmack ja Geschmacksache ist, beginnt sogleich eine rege Diskussion über das, was da gerade noch im Ofen schmorte. Um die Eindrücke für die Nachwelt festzuhalten, tauscht so manch eine umgehend Gabel gegen Netbook und tippt die Debatte um das Mensa-Kochbuch mit.

Nur wo Mensa drauf steht, ist auch Mensa drin: So sieht das Kochbuch von außen aus. Zu kaufen gibt es »Best of Berlin Mensa« in allen Mensen des Studentenwerkes und im Internet. Der Nachfolger ist erst vor Kurzem erschienen und enthält nur vegane und vegetarische Gerichte. Beide Bücher kosten jeweils 5,95 Euro.

FURIOS 08/2012


Kultur

GEKLAUTE RUBRIK Wir sind großartig. Aber andere machen auch schöne Sachen! Ab sofort pflücken wir an dieser Stelle die besten Rubriken im Blätterwald und füllen sie mit unseren Inhalten Folge 1: Mitten in … aus der Illustration von KIRSTIN MACLEOD MITTEN IN . . .

Mottoparty

Kreuzberg

Waldbühne

Wir wollen alle schlafen, nach Hause, es ist kalt. Doch die UBahnfahrt zieht sich. An jedem Bahnhof wird konsequent und seltsam ausgiebig gehalten. Der Fahrgast schmunzelt ob des korrekten Fahrverhaltens. Schließlich – endlich! – am Ziel. Der Lokführer steigt mit aus. Tapst um die Mülleimer herum, stöbert darin – und entdeckt seine

Wieso nur ist Verkleiden plötzlich wieder toll und lustig? Uncool und peinlich war irgendwie besser. »Wär' schon scheiße ir-

Das hat im alten Rom schon gut geklappt: Brot und Spiele, auf dass niemand auf dumme Gedanken komme! Damit am 1. Mai niemand auf die verrückte Idee verfällt, sich zu empören oder gar Steine zu werfen, gibt’s in Kreuzberg das MyFest. Und verdammt, es ist großartig: Nach zwei Caipirinhas ist der Kater der vergangenen Nacht wie

Ich stehe auf der Südtribüne im Westfalenstadion. Um mich herum: alles schwarz-gelb. »Dou-

Beute. Mit drei Pfandflaschen im Arm begibt er sich zurück in seine Kabine. Und wünscht noch eine gute Nacht. Henrice Stöbesand

gendwie«, sagte die Gastgeberin zur Ankündigung, unverkleidet zu kommen. Also steht man mit Pfauenmaske auf der »Alice im Wunderland«-Party – und ist schnell beruhigt: Eine Herzdame knutscht auf der Tanzfläche mit einem riesigen Hasen. Und die Hand des Hutmachers greift matt nach einem Eimer. Es gibt Dinge, die ändern sich nicht. Margarethe Gallersdörfer

weggeblasen. Sonnenbrille auf! Musik, Tanz, Rausch! Gewitterregen? Pfff! Soziale Probleme? Papperlapapp?! Matthias Bolsinger

Ihr wollt eure Lieblingsrubrik vorschlagen? Schreibt uns:

Fotos: Pedelecs, Valerie Schönian, Lev Gordon, Florian Schmidt

U3

ble-Sieger, Double-Sieger! Hey! Hey!« brülle ich gemeinsam mit 18.000 Dortmund-Fans. Gerade hat der BVB die Bayern im DFBPokalfinale besiegt. Bengalos flammen auf, die Vereinshmyne wird gesungen. Ich liege Wildfremden in den Armen. Stadionfeeling pur. Da fällt mir wieder ein, wo ich eigentlich bin: Nur beim Public Viewing. In der Berliner Waldbühne. Florian Schmidt

REDAKTION@FURIOS-CAMPUS.DE

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FURIOS 08/2012

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Wissenschaft

SCHWARZ-ROT-GEILER

Auch die »schönste Nebensache der Welt« kann der Wissenschaft nicht entkommen. Forscherinnen und Forscher der FU inspizieren das Spannungsfeld zwischen Fußballfans und Emotionen, Nationalismus und Kommerz. Von MATTHIAS BOLSINGER Illustration von FOKEA BORCHERS

S

chon bemerkt? Es ist Fußballzeit! Eine Zeit, in der von scheinbar unwichtigen Dingen wie Michael Ballacks Wade das Wohl der Nation abhängen kann. Offenbar hat das ganze Land nur darauf gewartet, sich wieder dem kollektiven Rausch hinzugeben. Alles dreht sich um das runde Leder, alles fiebert, alles ist »schwarz-rot-geil«. Doch Menschenmassen, Emotionen, nationales Wir-Gefühl – all das ruft in Deutschland schnell auch Gewissensbisse auf den Plan. Forscherinnen und Forscher der FU wollen klären, ob diese Gewissensbisse tatsächlich gerechtfertigt sind. Wie fließend ist der Übergang von positiven kollektiven Emotionen zum Nationalismus? Um das herauszufinden, arbeiten im Exzellenzcluster »Languages of Emotions« Soziologen und Psychologen zusammen. Hinter dem Namen »Projekt 408« verbirgt sich die Untersuchung von »Kollektiven Emotionen und nationaler Identifikation am Beispiel der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2010«. Vor und nach dem Großereignis in Südafrika legten die Forscher Probanden einen Fragenkatalog mit Bildern vor. Unter anderem zeigten sie ihnen das Brandenburger Tor, führende Politiker und die deutsche Flagge. Die Versuchspersonen mussten sie bewerten – positiv oder negativ. Um den Bezug zu den kollektiv erlebten Emotionen herzustellen, erfragten die Wissenschaftler außerdem, wie sehr die Person subjektiv an der Weltmeisterschaft Anteil genommen hatte. Die größte Steigerung in der PHAbo12_210x74_SpreeKombi:Layout 1

04.06.2012

14:46 Uhr

positiven Bewertung konnte – na klar – ein Bild der Nationalmannschaft für sich verbuchen. Durch die Befragung konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass kollektive Emotionen, Fußball und das Konstrukt »Nation« eng miteinander verknüpft sind. Die These des französischen Soziologen Emile Durkheim, dass kollektive Rituale den Zusammenhalt in gesellschaftlichen Gruppen stärken, scheint bestätigt. Das allein wäre nicht weiter bedenklich. Doch die Forscherinnen und Forscher fanden noch mehr heraus: einen signifikanten Anstieg der Feindlichkeit gegenüber fremden Gruppen. Ablehnung gegen Immigranten ohne deutsche Vorfahren, Behinderte oder Homosexuelle stehen zwar nicht in direkt nachweisbarem Zusammenhang mit der Fußballbegeisterung. Doch verändert der athletische und heterosexuelle Diskurs während der Meisterschaften anscheinend das Klima in der ganzen Gesellschaft, nicht nur in der Gruppe der Fußballfans. Der medialen Bilderflut von gut gebauten, heterosexuellen und deutschen Männern kann sich niemand entziehen. Wie wahsinnig der Wahnsinn wirklich ist und werden darf, definieren die Medien. Sven Ismer untersucht für seine Dissertation die Rolle von Emotionen für den Nationalismus. Dafür erforscht er die Fernsehberichterstattung zu Fußball-Großereignissen. Er konzentriert sich darauf, wie Delling, Netzer und Konsorten, sowie die kurzen Einspielbeiträge während der letzten 30 Minuten vor dem

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Wissenschaft

Leid durch Leidenschaft? Der Grat zwischen Fußballbegeisterung und Nationalismus ist schmal.

Anpfiff ganz bestimmte Bilder von Nation und Fremdheit, von »uns« und den »Anderen«, konstruieren. Als die deutsche Nationalmannschaft im Jahr 1974 den Weltmeistertitel errang, herrschte noch Skepsis gegenüber dem Konzept der Nation, die Berichterstattung stand dem Geschehen betont nüchtern gegenüber. Ganz anders heute: Franz Beckenbauer wird zur deutschen Volksseele schlechthin stilisiert; seine zeitweiligen Fehltritte machen ihn da nur noch dufter. Diego Maradona hingegen wird mit Kommunismus, Gewalt und Drogen assoziiert und seine Spieler mit ihren spanischen Spitznamen vorgestellt, die an Tierbezeichnungen erinnern. Thematisieren die Medien die Herkunft Lukas Podolskis und Miroslav Kloses, wecken sie mit ihrer Bildsprache Assoziationen an ein ländliches, rückständiges Polen. Und Günther Netzer faselt in seinen »Expertenanalysen« von »deutschen Tugenden«, die jeder nötig habe – disziplinierte, kämpferische deutsche Männer also treffen auf launisch-verspielte Diven aus Südamerika. Es ist alles so einfach. Die skeptische Distanz zur Nation, für die die Deutschen oft bestaunt oder auch belächelt werden, ist völlig aufgehoben. Medien kommentieren nicht mehr den kollektiven Rausch, sie sind ein aktiver Teil davon und jubeln und weinen kräftig mit. »Natürlich müssen Medien emotionalisieren«, meint Sven Ismer, das gehöre zum Geschäftsmodell: Emotionen machen Quote, Quote macht Profit. »Doch heutzutage sehen wir uns einer gefährlichen Allianz gegenüber: Im Fernsehen schüttelt der Nationalismus dem Kommerz die Hand.« Kollektive Emotionen spielen dabei eine effektive Mittlerrolle. Sie machen das Erlebte authentisch. Was gefühlt wird, scheint wahr. Und eben darin liegt die Gefahr. Der leidenschaftliche Ausstieg aus der alltäglichen Routine ist nur scheinbar ein Ausnahmezustand. Nationalistische Ideologie wird über Emotionen zum gelebten Alltag – das Wir und die Anderen werden ganz normale, quasi-natürliche Kategorien. Der Fußball ist nicht mehr unschuldig. Es scheint, als verhedderten sich seine Fans allzu leicht in ideologische und kommerzielle Fallstricke, um dann in einem irrationalen Rausch den falschen Zwecken zu huldigen. Fans als verrückte, dumpfe Masse, lenk- und verwertbar? Jochen Roose hat ein positiveres Fanbild. Der bekennende Fußballfan ist Professor am Institut für Soziologie der FU und veröffentlichte die Ergebnisse seiner Fanforschung in einem Buch. »Fan sein ist eine Erlebnisstrategie«, so Roose. Das klingt vergleichsweise FURIOS 08/2012

nüchtern, betrachtet man andere soziologische Perspektiven, die die Fans praktisch mehr mit einem Bein in der Klapse als mit beiden Beinen im Leben stehend sehen. Roose liefert ein Gegenbild zum Irren aus der Fankurve, der mit Vernunft recht wenig zu tun haben scheint. Er betrachtet Fantum als »fokussierte Freizeitbeschäftigung«. Ihr haftet nichts Pathologisches oder «Fan-atisches” an. Im Gegenteil: Sie sei rational, indem sie dem Fan intensive Erlebnisse beschere, die zum Leben zweifelsohne dazugehören. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Er braucht Gefühlsgipfel. Rooses soziologischer Sammelband liefert überraschende Einsichten, die ein durchaus positives Licht auf das Fantum werden. So scheint der Fußball auf den ersten Blick nicht gerade dazu berufen, die Geschlechterrollen aus den eingerosteten Angeln zu heben. Doch betrachtet man einmal aus der Nähe, was in den Fankurven und vor den Großleinwänden an Homophobie und Sexismus wirklich passiert, wird deutlich, dass die Rollen doch nicht so starr verteilt sind, wie es zunächst scheint: Wo sonst darf Mann in der Öffentlichkeit seinen Nebenmann herzen? Wo darf er Rotz und Wasser heulen, ohne dass seine Männlichkeit in Frage steht? Und ebenso wichtig: Auch Frau darf auf den Rängen aus dem Rahmen fallen und genau das machen, was ihr außerhalb des Stadions als »unweiblich« angekreidet würde: Fankutten tragen, pöbeln, saufen. Was bleibt, ist die gefährliche Nähe zum übersteigerten Nationalbewusstsein. Zwar sei die Dauer der intensiven Emotionen nur kurz – nach drei Tagen sei das übersteigerte Nationalbewusstsein wieder abgeschwollen, meint Roose. Dennoch: Die Forschungsergebnisse legen einen Zusammenhang zwischen Fußball, Emotionen und Nationalismus nahe. Wie also umgehen mit der Fußball-EM? Fernbleiben, um dem Nationalismus nicht den roten Teppich auszurollen? Fußball schauen ohne Leidenschaft? Für eingefleischte Fans ist das keine Option. Bleibt wohl nur der reflektierte Umgang mit dem Massenphänomen. Wie auch immer das möglich sein soll, wenn um einen herum alle wieder schwarz-rot-geil sind.

Für Matthias Bolsinger ist die EM der Höhepunkt des Sommers. Ignorieren? Geht nicht. Er hofft auf Jogis Jungs – und den ganz großen Wurf im Tippspiel.

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Der empörte Student

Der empörte Student Weil die radikalen Linken zu laut brüllen, flüchten sich die gemäßigten in rechte Phrasen. Franz Emanuel Brock fordert in seinem empörten Brief sein wahres Ich zurück. Julian Niklas Pohl hat die bösesten Schimpfwörter weggestrichen Illustration von Snoa Fuchs Liebe Studenten! Ganz Recht: StudentEN. Wie man das eben richtigerweise sagt, zwar in Scham und Schande, aber mit dem Duden auf seiner Seite. Ihrer Seite. _ Seite. Seht ihr, da geht es schon los! Euer Gewissen pocht in meinem Kopf. Es könnte jeder Tag gewesen sein: Ich betrete einen Seminarraum und stolpere über zwei Hunde, die sich zwischen den Anwesenden niedergelassen haben und laut und selig schnarchen (gut erzogen oder auch bekifft?). Es riecht ein bisschen so, wie es nachts in einer Bankfiliale riecht, in der ein Obdachloser schläft. Auf die Ankündigung des Dozenten hin, dass alle zwei Wochen eine einseitige Leistungsüberprüfung einzureichen ist, wird eine 35-minütige Diskussion über die dunkle Seite der Macht, Darth Leistung, angezettelt. Der Höhepunkt ist erreicht, als der halbe Kurs die Nicht-wirklich-Kleintiere zusammenpackt und rote Galle spuckend den Raum verlässt. Zurück bleibt eine sozialistische Kampfansage. Fieses linkes Pack, denke ich und male weiter Gesichter und Penisse auf das Blatt meines Nachba... fieses linkes Pack? FIESES LINKES PACK? Und das in meinem Kopf? Schockierend. Ich, SPDStammwähler, sozial engagiert, weltgewandt und zu allem Überfluss noch Politikstudent – ich bin doch auf der guten Seite der Macht! Aber im Laufe eines knappen Jahres hat mich die kleine, schrille Gruppe von Linksradikalen und deren institutionellen Verankerungen so weit nach rechts gedrängt, dass ich selbst nicht mehr weiß, wo ich stehe. Ein erschreckendes Muster, und durchaus bei vielen Kommilitonen zu erkennen. Wir verkehren in »rechten« Kreisen, weil wir nichts mit Personen zu tun haben wollen, die an der ohnehin linken FU noch extra als »links« bezeichnet werden müssen. Wir reden von »den Linken« und meinen damit die krakeelende Spitze eines riesigen Eisberges, an dessen Basis wir eigentlich selbst haften.

Hier findet negative Integration statt: Weil der Normalstudent keine Lust mehr hat auf redundante Diskussionen über Sonderforschungsbereich-Gelder und die aktuell gültige Anzahl von Geschlechtern; weil ein Seminar mit einem nicht-gendernden Dozenten zur Hölle wird, sobald zwei Krawallmacher_innen unter der Anwesenden sind; weil wir als angepasste Studenten, die nichts gegen Leistung haben, gern tote Tiere essen und Marx nicht mit klopfendem Herzen lesen – deshalb rücken wir alle ein Stück nach rechts, weg von Tofuburgern und den Kürbis schälenden Student_innen der »Volxküche«. Und vielleicht auch von uns selbst. Und plötzlich erwische ich mich bei Gedanken, die mir Franz Josef Strauß persönlich eingeflüstert haben könnte. Das finde ich empörend! Ich will nicht irgendwie rechts sein. Warum steht das plötzlich vor meinem Gewissen zur Diskussion? Ich will den Boden meines nicht-ideologischen, völlig angepassten, gemäßigten Links-Seins zurück. Und zwar von euch »Linken«. Ich will mich nicht schuldig fühlen, weil ich das »Wort« »jemensch« noch nie benutzt habe. Bisher bin ich damit niemandem auf den Schlips getreten. Warum fühle ich mich an der FU dauernd angeklagt? Liebe »Linke«: Aus mir unerfindlichen Gründen müsst ihr auf die Plakate Eurer FSI-Partys ja unbedingt noch extra drauf schreiben, dass ihr keine Sexist_, Rassist_, Wer-will-nochmal-wer-hat-noch-nicht_innen dahaben wollt. Das geht mir so auf die Nerven, dass ich mich ums Verrecken nicht auf eurer Fete blicken lassen will. Macht mich das dann in eurem Kausalitätsdenken zu einem dieser bösen, bösen Sith-Lords? Ich bleibe fern und die Nazis bleiben auch fern. Das macht mir etwas Angst. Gebt mir mein Herz zurück! Das sitzt links. Und zwar nicht auf den Barrikaden, sondern in einem Schaukelstuhl. Frei und glücklich dösend.

FURIOS 08 IMPRESSUM Herausgeber: Freundeskreis Furios e.V. Chefredakteurin: Margarethe Gallersdörfer (V. i. S. d. P., Memhardstraße 8, 10178 Berlin) Ressortleitung Politik: Valerie Schönian Ressortleitung Campus: Florian Schmidt Ressortleitung Kultur: Kirstin MacLeod, Veronika Völlinger Ressortleitung Wissenschaft: Matthias Bolsinger Layout: Christoph Spiegel Redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe: Eliese Berresheim, Leona Binz, Matthias Bolsinger, Margarethe Gallersdörfer, Lev Gordon, Fanny Gruhl,

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Christopher Hirsch, Judyta Koziol, Max Krause, Kirstin MacLeod, Rani Nguyen, Julian Niklas Pohl, Florian Schmidt, Valerie Schönian, Henrice Stöbesand, Catharina Tews, Veronika Völlinger Illustrationen: Kelsey Bass, Fokea Borchers, Snoa Fuchs, Kirstin MacLeod, Valerie Schönian, Christoph Spiegel Fotografien: Tillmann Brehmer, Katrin Dinges, Fabian Hinsenkamp, Valerie Schönian, Christoph Spiegel Titelgestaltung: William-Adolphe Bouguereau, Snoa Fuchs, Christoph Spiegel Lektorat: Carolin Benack

Inserate: Lisa-Marie Ebinghaus, Margarethe Gallersdörfer, Fabian Hinsenkamp – inserate@furios-campus.de  www.furios-campus.de  redaktion@furios-campus.de Jeder Autor ist im Sinne des Pressegesetzes für den Inhalt seines Artikels selbst verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansicht der Redaktion wider. Gemäß dem Urheberrecht liegen die Rechte an den einzelnen Werken bei den jeweiligen Autoren. FURIOS 08/2012


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Foto: Manfred Reschke

© Kulturland Brandenburg 2012, Fotos: Jürgen Hohmuth/zeitort.de

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