FURIOS 10 – Lebensläufe

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SOMMER 2013 AUSGABE 10

JUBILÄUMSAUSGABE 5 JAHRE FURIOS

ISSN 2191-6047


Julia, Berlin

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Editorial

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Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen, alt sind wir noch nicht. Gerade einmal fünf Jahre hat FURIOS mit Erscheinen dieser zehnten Ausgabe auf dem Buckel. Kinder haben bis zu diesem Alter Entwicklungsschritte gemacht, die sie für ihr ganzes Leben prägen. Ob das auch für FURIOS gilt? Abwarten. Sicher ist: Für unser zartes Alter haben wir einen nicht ganz unbeachtlichen Lebenslauf vorzuweisen, den wir in dieser Jubiläumsausgabe auf einer Doppelseite feiern möchten (S. 16). Von Lebensläufen handelt auch das Titelthema, bei dem wir zunächst weit zurück blicken: Im Leben der FU-Matrikelnummer 1 ging vieles drunter und drüber. Einen großen Plan für seine Zukunft hatte Stanislaw Kubicki während seines Studiums nicht (S. 6).

Und auch heute gibt es noch Studenten, die nicht schnurstracks auf den Abschluss hinarbeiten. Wie groß ist der Gegensatz zwischen ihnen und Kommilitonen, die nach vier Semestern ihren Bachelor haben? Ihr lest es im Titel-Streitgespräch (S. 8). Wie es ist, wenn der eigene Lebensplan in die Brüche geht, erzählt Sebastian, bei dem plötzlich eine Krankheit ausbrach (S. 10). Und für alle, die schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, ihren Lebenslauf ein wenig aufzumotzen: Eine unserer Autorinnen hat den Test gemacht – und ist dabei verblüffend weit gekommen (S. 12). Natürlich findet Ihr auf den folgenden Seiten auch noch viele andere tolle Artikel. So begeben wir uns etwa auf die Suche nach

der Demokratie an der FU (S. 18) und zeigen, was auf der Baustelle neben der Silberlaube entsteht (S. 24). Die üblichen Rubriken wie der »Ewige Ehemalige« (S. 29) und der »Empörte Student« (S. 38) sind wie gewohnt im Heft verteilt. Sogar das Wagner-Jahr begehen wir auf unserer Weise (S. 33).

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Wir hoffen, Ihr feiert diese Ausgabe genauso wie wir! Ein prächtiges Lesevergnügen wünscht Florian Schmidt Chefredakteur


INHALT 10 TITELTHEMA 06 LEBENSLÄUFE

POLITIK 18

18 Der Vorreiter lahmt In Sachen Demokratie war die FU einst strahlendes Vorbild. Inzwischen ist der Lack ab. 19 Ordnung muss sein Die FU ist so groß wie eine Kleinstadt – warum gibt es immer noch kein Grundsatzpapier, das das Zusammenleben regelt?

06 Der alte Mann und der Zufall Waren Lebensläufe schon immer so durchgeplant wie heute? Wir haben die Matrikelnummer 1 der FU gefragt. 08 »Nimm dir verdammt noch mal die Zeit!« Gemächlich oder lieber flott? Zwei Studenten mit unterschiedlichem Studientempo im Streitgespräch. 10 Totalausfall Krankheiten verändern das Leben drastisch. So war es auch bei Sebastian, dem über Nacht sämtliche Haare ausfielen. 12 Gefälscht gefällt Ein wenig flunkern, ein bisschen aufhübschen: Wie weit kommt man mit einem gefälschten Lebenslauf? Wir haben den Test gemacht. 14 4 aus 40 000 Manches läuft anders als gewollt. Vier FU-Mitglieder antworten auf die Frage: Was würdest du aus deinem Lebenslauf streichen?

JUBILÄUM 16

20 Der Nachbar mit der Bombe Nordkorea hat Südkorea den Krieg erklärt. Eine Studentin aus Seoul erzählt, was sie von Kim Jong Uns Drohungen hält. 21 Junioren in der Warteschleife Eigentlich sollten Juniorprofessoren gute Karrierechancen an der Uni haben. Doch ihre Aussichten an der FU sind schlecht. 22 Hilflos vor der Klasse Studenten kritisieren ein neues Lehrerbildungsgesetz. Es könnte aus Grundschullehrern Fachidioten machen.

CAMPUS 24 24 Die dritte Laube Was entsteht auf der Baustelle neben der Silberlaube? Wir zeigen es euch bei einem Spaziergang durch die neue »Holzlaube«. 26 Beauftragt mit Barrieren An anderen Unis gibt es ihn längst. Nur die FU tut sich schwer mit dem Einsetzen eines Behindertenbeauftragten. 27 Auf einen Kaffee bei Kommilitonen Wo ist die Mate am billigsten, wo sitzt es sich am schönsten? Wir stellen Euch die besten Studentencafés vor. 28 Wo bin ich hier gelandet? Regenschirme und Stöcke, Zahlen und Formeln – damit kämpfen zwei Studentinnen, die einmal etwas völlig Neues ausprobieren. 29 Ewiger Ehemaliger: Kiffen mit Kafka Der »Spiegel«-Journalist Matthias Mattusek hat an der FU studiert und philosophiert. Nur den Abschluss hat er nie gemacht.

16 5 Jahre FURIOS FURIOS wird fünf! Ein Rückblick auf zehn Ausgaben des studentischen Campusmagazins an der FU Berlin.

38 Der empörte Student Kaffee, Tee, Energy-Drinks – all das hilft unserem Morgenmuffel nicht. Er braucht morgens vor allem Eines: seine Ruhe!


KULTUR 30 30 »Besser als Photoshop« Was machen zwei FU-Studenten mit Chemikalien in einem düsteren Keller? Sie entwickeln Fotos – in einer Dunkelkammer.

31 Der anonyme Blog-Poet Ein unbekannter Literat begeistert das Internet. Wir haben den FU-Studenten, der sich Anton Mila nennt, getroffen.

Königin-Luise-Str.41, 14195 Berlin Tel: (030) 841902-0 Fax: 841902-13 E-mail: info@schleichersbuch.de

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32 Kunst aus der Box Dort ist es ein Billigjob, hier ist es Kunst: Die Berliner Galerie »Listros« zeigt unzählige Schuhputzkisten aus Äthiopien. 33 Die geklaute Rubrik Dieses Jahr ist Wagner-Jahr. Was könnten wir da Besseres klauen als die »Post von Wagner« aus der »Bild-Zeitung«?

Unsere Veranstaltungsreihe

WISSENSCHAFT

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DAHLEMER AUTORENFORUM Programm-Information im Internet

Unsere Filiale im Internet www.schleichersbuch.de 34 Copy, Paste und die wirklichen Probleme Wer glaubt, Doktoranden zittern vor Plagiatsjägern, der irrt. Prekäre Arbeitsbedingungen rauben ihnen den Schlaf! 36 Der Mensch macht Epoche Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete sind sich einig: Das Anthropozän bricht an, das Zeitalter des Menschen. 37 Zurück zur Nacht Berlin ist die Stadt, die nie dunkel wird. Ein FU-Physiker will das Phänomen Lichtverschmutzung untersuchen.

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Titel

Der alte Mann und der Zufall Ein geplantes Leben lebt nicht. Matthias Bolsinger besuchte Stanislaw Kubicki, FU-Gründungsmitglied, Matrikelnummer 1 und Vertreter einer Lebensphilosophie, die in Vergessenheit gerät.

Z

wei, vielleicht drei Sekunden lang ist nur der rasselnde Atem von Hündin Kira zu hören, die unter dem Wohnzimmertisch zwischen Halbschlaf und Schlaf wandelt. Die sonore Stimme Stanislaw Kubickis wird von den unter der Bücherlast ächzenden Regalen gedämpft. Er wählt seine Worte mit Bedacht, auch wenn er das meiste davon schon unzählige Male erzählen musste: seine Kriegsgefangenschaft, die Gründung der Freien Universität, ein Münzwurf, seine Matrikelnummer, seine Professur. Auf den ersten Blick erscheint die Lebensgeschichte des 87-Jährigen linear. Auf den zweiten aber ändert sich dieser Eindruck; auch er durchlebte Momente, in denen alles hätte anders kommen können. 1945: Der junge Kubicki stapft durch den Wald. Das Scharmützel an der Oder: verloren. Kubicki will nicht auf die andere Seite des zugefrorenen Flusses gehen, dort wartet die Wehrmacht. Er will aber auch nicht diesseits des Wassers bleiben, hier wartet die Rote Armee. Also entscheidet er sich einfach nicht. Er setzt einen Fuß vor den anderen, bis nach zwei Stunden das Schicksal für ihn entscheidet. Kugeln schlagen zu seinen Füßen ein. Die Russen nehmen ihn gefangen. »Natürlich dachte ich nach, was die Zukunft bringen wird. Ich hatte immer Pläne«, erzählt Kubicki. »Für mich stand fest: Ich will Medizin studieren.« Doch die Unwägbarkeiten des Krieges ließen es für junge Leute nicht zu, ihr Leben zu entwerfen: »Konnte ja ’ne Kugel kommen – bumms, war man weg«. Damals – Kubicki war Ein Porträtfoto aus dem Studienbuch Stanislaw Kubickis von 1948

keine 20 Jahre alt – träumte er von einem kleinen Grundstück mit einer Laube, für sich und seine Mutter. Sein Vater, bekennender Anarchist, war von der Gestapo in Polen ermordet worden. * * *

Heute ist der Krieg woanders. Die nachfolgenden Generationen können ihr Leben nach ihrem Willen gestalten. Wohl nie zuvor erlebte die Menschheit so intensiv, wie in jedem Augenblick die Zukunft wartet. Die Gegenwart schrumpft zusammen. Die Zukunft wird kalkuliert, das Vergangene kommt aufs Papier: in den Lebenslauf. Früher verwies dieser Begriff auf die Geschichte eines gelebten Lebens. Heute auf das, was die Gesellschaft an einem Menschen für wertvoll hält: Preise, Praktika, besondere Fähigkeiten. Der CV-Fetischismus ist allgegenwärtig. Er steht sinnbildlich für ein kapitalistisches Phantasma: Alles muss formbar sein – der eigene Körper genauso wie das eigene Leben. Die Freiheit, die diese Ideologie suggeriert, erfahren viele Menschen nicht nur als Last, sondern auch als Verantwortung für ein erfolgreiches Leben, das sie – wem auch immer – schuldig sind. Sie ist auch ein Trugbild. Mit ihr kommt ein unsichtbarer Beipackzettel, der diktiert, wie man diese Freiheit gefälligst zu verwenden habe. Die Grenzen, innerhalb derer ein Leben als gelungen gilt, sind längst gezogen. Sei frei! Aber sei glatt, sei geradeaus! Plane dein freies Leben! Der Zufall ist in der Moderne nicht willkommen. * * *

1944 hatte Kubicki noch erlebt, wie die Hörsäle der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin mit Männern in SA-


Titel

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Die Matrikelnummer 1 für den FU-Mitgründer: Stanislaw Kubickis persönliche Studienakte aus dem Jahr 1948 (links). Kubicki beim Gespräch in seinem Wohnzimmer (rechts)

Uniformen gespickt waren und Anatomieprofessor Anton Johannes Waldeyer, ebenfalls in Braun, die Studierenden mit dem Hitlergruß willkommen hieß. Jetzt musste Kubicki als Medizinstudent mit ansehen, wie an der LindenUniversität, der heutigen Humboldt-Universität, unter dem Einfluss der SED rote Fahnen gehisst wurden und alle Studierenden Vorlesungen in Marxismus-Leninismus belegen mussten. Wieder war die Wissenschaft nicht frei. Als Studierende aus politischen Gründen exmatrikuliert wurden, kam es zu Protesten. Mit der Unterstützung der Alliierten und einiger Politiker gründeten Kubicki und seine Freunde eine neue, freie Universität. Anfangs mussten die Gründungs-Studierenden der Freien Universität Berlin kräftig mit anpacken. Sie schleppten die Stühle von Raum zu Raum, sogar in einem Kino wurde eine Zeit lang gelehrt. Kubicki war für die Immatrikulation seiner neuen Kommilitonen zuständig. Als ihm im Herbst 1948 der Auftrag erteilt wurde, alle Medizinstudierenden von A bis K einzuschreiben, wollte sich Kubicki natürlich selbst die Matrikelnummer 1 geben. Doch auch sein Freund Helmut Coper hatte es auf die begehrte Nummer abgesehen. Coper und Kubicki warfen eine Münze. Es gewann Kubicki. Ein einschneidender Moment im Leben des Medizinstudenten: Ein Münzwurf machte ihn zur Galionsfigur der Freien Universität. Es war Zufall. * * *

Der große Plan widerspricht dem Leben. Er ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. »Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, sieht vieles so aus, als hätte es logischerweise passieren müssen«, sagt Kubicki. »Dabei war das meiste Zufall und Glück.« Er schwamm im Strom der Zeit mit. Wenn sich eine Gelegenheit bot, griff er zu. So wurde Kubicki schließlich Professor für Neurologie – an der Universität, die er selbst mitgegründet hatte. Auch Kubickis Liebesglück kam aus dem Nichts. Er war bereits im Ruhestand, als er Petra wiedertraf. Sie war ihm im Juni 1960 an der Uniklinik begegnet. Die adrette Dame

im Petticoat, die eine Ausbildung absolvierte, war ihm damals sofort aufgefallen. Die beiden lernten sich kennen, verloren sich aber wieder aus den Augen. Im Jahr 2007 wollte Kubicki eigentlich nur ein Gemälde seiner Mutter fotografieren lassen. Zufälligerweise befand es sich in ihrem Besitz. Ihre Lebenslinien kreuzten sich erneut. Petra und Stanislaw heirateten. Betrachtet man das Leben der Matrikelnummer 1 der FU – ein Leben komponiert vom Zufall – erscheint die Lebensverwaltung vieler junger Leute heute wie ein schlechter Witz. Dabei bedeutet das Sich-Einlassen auf den Zufall keineswegs Passivität. Wenn Kubickis Beispiel eines zeigt, dann, dass es selbst eine radikal aktive Wahl ist, für das Unwägbare offen zu bleiben. * * *

Kira schnaubt auf und döst weiter. Stanislaw Kubicki plaudert über seine Kindheit in der Britzer Hufeisensiedlung, in der er noch immer wohnt. Lebensgeschichten im Brennglas, alle im Wirbel der Unwägbarkeiten. Ein Freund Kubickis spielte öfter mit den Kindern von Adolf Eichmann, der um die Ecke wohnte. Wenige Häuser weiter dichtete der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam: »Das Leben und die Liebe ehren / das möchten wir Euch eben lehren.« Eine Gesellschaft aus Menschen, die ihr Leben minutiös am Reißbrett entwerfen, um es später in Tabellen einzutragen, hat das verlernt. Dem Zufall aber das Handwerk zu legen, das vermag sie nicht. Seinem fünfjährigen Neffen musste Matthias Bolsinger versprechen, dass sie noch gemeinsam studieren werden. Die Bachelorarbeit hat also Zeit. Foto (rechte Seite): Cora-Mae Gregorschewski Archivmaterial: Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Immatrikulationsamt, 1 (links oben); Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Vorlass Stanislaw Kubicki (links unten)


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»Nimm dir verdammt noch mal die Zeit!« Der Lebenslauf ist längst Statussymbol. Die Dauer des Studiums spielt dabei eine tragende Rolle – angeblich zumindest. Sollte uns das kümmern? Tycho Schildbach und Katharina Fiedler haben mit einem Langzeit – und einem Turbostudenten über Sinn und Unsinn ihrer Studiengestaltung diskutiert.

Filip Tuma (30) schreibt nach 13 Semestern seine Magisterarbeit in Sinologie. Als Nebenfächer studierte er Musikwissenschaft und Politikwissenschaft. Zusätzlich lernte er Chinesisch und war journalistisch tätig. Filip war anderthalb Jahre während des Studiums im Ausland, in Shanghai und Paris. Er finanziert sich durch Nebenjobs.

Christoph Schaller (22), genannt Chris, steht nach sieben Semestern vor seiner Masterarbeit in Mathematik. Nach zwei Jahren Studium hatte er schon den Bachelor in der Tasche. Nebenbei studierte Chris vier Semester Vollzeit Physik, weil Mathe ihn nicht genug forderte. Jetzt will er promovieren. Geld verdient Chris unter anderem als Tutor.

FURIOS: Was ist für euch der Wert des Studiums? Chris: Selbstfindung. (lacht) FURIOS: Dafür hast du Zeit? Chris: Ja, das geht schon. Im Studium kann man vieles tun, was man später nicht mehr machen kann. Filip: Betreibst du Selbstfindung als Hobby oder im Studium? Chris: Ich bin kein Mensch, der darin aufgeht nur zu studieren. Ich bin im Fußballverein und spiele außerdem zwei Instrumente. Selbstfindung betreibe ich also nebenher. FURIOS: Deine Einstellung zum Studium ist also eher pragmatisch. Chris: Ja. Ich wusste schon nach dem Abi, dass ich Mathe studieren und promovieren möchte. Filip: Mit 21, als du deinen Mathe-Bachelor hattest, habe ich mein erstes Studium, Informatik, abgebrochen und nach einem Neustart gesucht. Ich würde niemanden verurteilen, der sich die Zeit nicht nimmt, um eine Entscheidung zu treffen. Ich habe sie gebraucht, also habe ich sie mir genommen. FURIOS: Die Frage ist, wie Arbeitgeber über Studierende urteilen, die länger brauchen als vorgeschrieben ist. Wie schätzt ihr eure Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein? Filip: Der Punkt ist, dass wir uns nicht nur auf die bekannten Arbeitgeber konzentrieren dürfen. Deshalb mache ich mir generell keine Sorgen, wenn ich bereit bin, ein bisschen über den Tellerrand zu schauen. Chris: Es ist nicht so, dass ich denke, ich wäre der Beste und mich würde jeder nehmen. Ehrlich gesagt mache ich mir darüber


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nicht wirklich Gedanken. Aber hast du nicht Angst, als Arbeitnehmer unattraktiver zu sein, weil du lange studiert hast? Filip: Nein. (lacht) Aber ich hatte natürlich diese Ängste. Chris: Die hast du wieder abgelegt? Filip: Der Lebenslauf bringt dich wirklich nur bis ins Personalbüro. Bei allem danach kommt es auf dich an und nicht auf deinen CV. Die Arbeitgeber wollen wissen, ob du die Arbeit machen kannst. Chris: Aber gerade wenn es um eine Beförderung geht, schaut der Personalbereich noch mal drüber. FURIOS: Also legst du großen Wert auf einen lückenlosen Lebenslauf? Chris: Nein, aber ich denke, es hat Vorteile. Es ist nicht der alles entscheidende Faktor, aber viele Unternehmen checken bei Bewerbungen erst einmal den Standardlebenslauf auf Regelstudienzeit und Auslandssemester. Filip: Nach diesem Schema wirst du nicht die besten Mitarbeiter finden. Aber da die Personalabteilungen der großen Unternehmen genau so arbeiten, poliert jeder seinen Lebenslauf auf. Tätigkeiten werden danach ausgewählt, wie sie sich im CV machen. Wenn das jeder macht, verliert der Lebenslauf an Wert und an dem Punkt sind wir schon längst. FURIOS: Der Lebenslauf ist also ein Statussymbol? Filip: Ja, genau. Chris: Da ist schon was dran. FURIOS: Wir studieren an einer staatlichen Uni. Kannst du, Filip, den Vorwurf nachvollziehen, dass du so lange Zeit auf Kosten der Steuerzahler studiert hast?

»Der Lebenslauf bringt dich nur bis ins Personalbüro« Filip: Das ist die Art von Propaganda, mit der die Bologna-Reform begründet wurde. Ich bin noch keine produktive Kraft dieser Gesellschaft. Aber was ist der Aufwand, den der Staat und die Uni haben, dass ich mich in Seminare setze? Die müssen die Gebäude in Stand halten und die nutze ich. Aber das hätten sie auch getan, wenn ich nicht hier wäre.

Chris: Wenn das jetzt aber jeder sagt, funktioniert das System nicht. Filip: Wir bemessen das Studium heute ausschließlich nach den potenziellen Produktivkräften: Welche Kosten ersparen wir der Gesellschaft? Was dabei völlig außer Acht gelassen wird, sind die Gedanken, die hier ausgetauscht werden.

»Das System funktioniert nicht, wenn jeder so lange studiert« Chris: Ich bleibe dabei: Nicht jeder kann es so machen wie du. Filip: Ich habe den Eindruck, dass da ein unglaublicher Bruch zwischen unseren Generationen ist, was die Gesellschaft von einem erwartet. Jede Sekunde, die du länger Student bist, giltst du als Schmarotzer. Ich bin hier, um mich ernsthaft mit Themen auseinanderzusetzen, die ich nicht in einem Sechssemesterstudium lösen kann. Chris: Man kann sich auch drei Jahre mit irgendwas auseinandersetzen und nicht sehr produktiv dabei sein. Filip: Wenn es dir um Produktivkraft geht, mach’ eine handwerkliche Ausbildung. Man geht nur noch an die Uni, um einen Schein zu haben, wo »Universität« draufsteht. FURIOS: Hat bei dir vielleicht auch Bequemlichkeit eine Rolle gespielt? Filip: (lacht) Das Problem ist, obwohl wir noch unser ganzes Leben vor uns haben, wird uns suggeriert, den perfekten Lebenslauf haben zu müssen: eine fröhliche Familie, Auslandserfahrung, einen super Job und fünf Hobbys – das ist der Anspruch heute. Irgendwann muss man sich entscheiden. Chris: Man kann doch mehrere Dinge gleichzeitig machen. Ich wäre nicht zufrieden damit, weniger als 30 Leistungspunkte im Semester zu machen. FURIOS: Du bist aber auch ein Stressjunkie! Chris: (lacht) Ich stehe da überhaupt nicht drauf. Wie kann einem Stress Spaß machen? Ich bin total happy, wenn ich etwas geschafft habe. FURIOS: Aber du rennst von einem Erfolg

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zum nächsten, weil dich das so glücklich macht? Chris: (lacht) Nein, nein, nein! Ich finde Stress doof! Trotzdem schiebe ich keine Aufgaben vor mir her. So ein Wischiwaschi ist für mich keine Option. Filip: Aber wenn du alles gleichzeitig machst, leidet irgendwann die Qualität. Ab einer gewissen Belastung kannst du einfach nicht das Ergebnis abliefern, das du möchtest. Chris: Das ist echt der Kernunterschied zwischen uns. Für dich ist es der Anspruch, etwas qualitativ Hochwertiges zu machen. Ich hingegen will Ziele sofort durchsetzen. Ich denke schon, dass die Qualität mitunter leidet. Manchmal finde ich es schade, nicht die Zeit zu haben, noch weiter in die Tiefe zu gehen. Filip: Aber da sag’ ich dir ganz offen: Du bist 22 – nimm dir verdammt noch mal die Zeit! Chris: Wenn ich alles mache, was mich interessiert, würde ich nicht fertig werden. Für mich ist es kein erstrebenswertes Ziel ewig zu studieren. Das passt nicht in mein Gesellschaftsbild.

»Selbstzweifel sind für mich eine Schwäche« FURIOS: Gab es Momente, in der ihr euer Studienkonzept in Frage gestellt habt? Chris: Nö. Filip: Keine Zeit für Selbstzweifel? Chris: Natürlich nicht. Selbstzweifel sind für mich eine Schwäche. Filip: Polemisch gesagt: Deine Generation ist nicht mehr in der Lage, Zweifel auszuhalten. Ich war nicht immer von dem überzeugt, was ich tue. Aber gerade das bringt dich voran. Ich bin aus solchen Phasen immer gestärkt hervorgegangen. Tycho Schildbach hält Katharina Fiedlers Lebenslauf für den Porsche unter den CVs, seinen eigenen für einen bunten Trabi. Die Diskussion läuft. Fotos: Christoph Spiegel


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Titel

Totalausfall Was macht eine plÜtzlich auftretende Krankheit mit dem Lauf des Lebens? Mareike-Vic Schreiber traf einen Studenten, dem schlagartig sämtliche Haare ausfielen.


E MOVI TE ST DA S ÄL

A

ls Sebastian an einem Donnerstag im Frühjahr 2012 aufwacht, hat er Haare im Mund. Er richtet sich auf, fasst sich an den Kopf und kann kaum glauben, was er spürt und sieht: Sein Kissen ist bedeckt mit Haarbüscheln, an seinem Kopf ertastet er kreisrunde kahle Stellen. Danach geht alles ganz schnell. Innerhalb von drei Wochen verliert Sebastian sein gesamtes Kopfhaar, ein Drittel davon bei einer einzigen Dusche. Es vergehen keine zwei Monate, bis der damals 19-Jährige auch von Augenbrauen und Wimpern Abschied nehmen muss, kurz darauf findet sich kein einziges Haar mehr an seinem Körper. Binnen kürzester Zeit verändert sich Sebastians Äußeres völlig. Der Schicksalsschlag reißt nicht nur ein tiefes Loch in den Alltag des Abiturienten – sein Lebenslauf gerät ins Stocken. Kurz vor seinem Abitur erkrankte Sebastian an Alopecia areata universalis, genannt »kreisrunder Haarausfall am gesamten Körper« – eine Krankheit, bei der das Immunsystem plötzlich körpereigene Organe bekämpft. Derzeit sind etwa zwei Prozent aller Menschen von der einfachsten Form dieser Krankheit betroffen. Die genaue Ursache des Haarausfalls ist immer noch unbekannt. Zwar ist es möglich, dass seine Haare irgendwann wieder wachsen. Die Therapien aber, die Sebastian schon hinter sich hat, blieben bislang ohne Erfolg. Zur psychischen Belastung kommt für Betroffene wie ihn auch eine enorme finanzielle: Haare erfüllen keine lebenswichtige Funktion, ihr Fehlen wird von den Krankenkassen als »kosmetisches Problem« betrachtet. Daher muss Sebastian die Kosten für viele Leistungen selbst aufbringen. Mit dem äußeren Erscheinungsbild veränderten sich auch Alltag und Lebenseinstellung des damals 19-Jährigen drastisch. »Ich bin anfangs nicht mehr aus dem Haus gegangen und habe mir durch meine ständige depressive Stimmung das Leben regelrecht selbst vorenthalten«, erzählt Sebastian. Er dachte an Selbstmord. Die Reaktionen seiner Mitmenschen auf sein neues Aussehen waren oft unsensibel. Besonders traf ihn die Frage seines Schuldirektors, ob er »unter die Radikalen gegangen« sei. Manche Freunde begannen, aus Angst oder Scham, Sebastian zu meiden. Auch der kommende Lebensabschnitt sah plötzlich düster aus. Viele von Sebastians Plänen für die Zeit nach der Schule wurden durch die Krankheit durchkreuzt: Sein Ausflug in die Modelbranche war beendet, das gesparte Geld für die erste eigene Wohnung investierte er in Behandlungen. Seine Krankheit schränkte sogar die Wahl seines Studienortes ein: Für die Therapie musste er in der Nähe von Berlin bleiben. Um seinen Ängsten entgegenzutreten, begann Sebastian, sein Leben mit Alopecia in einem Blog festzuhalten. Das war nur der Beginn einer langen und schwierigen Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Umfeld: »Die größte Herausforderung war es, mein Selbstbewusstsein rein auf meine charakterlichen Stärken zu bauen

– nicht auf mein Spiegelbild.« Über eine Perücke dachte er lange nach. Doch bei den Männerperücken, erzählt er, sei nie eine für ihn dabei gewesen. »Außerdem hätte mich eine Perücke nie zu dem selbstbewussten Menschen gemacht, der ich heute bin«, fügt er hinzu. Er findet, dass seine Krankheit ihm frühzeitig Lektionen erteilt hat, die andere erst später oder nie lernen: »Einige oberflächliche Bindungen gingen durch die Krankheit kaputt«, erzählt er, »andere entwickelten sich dafür umso intensiver.« Das gilt auch für die Partnersuche: »Ich lerne zwar deutlich weniger Leute kennen, jedoch sind diese Kontakte oftmals ehrlicher und weniger auf das äußere Erscheinungsbild fixiert.« Auf die häufigen Fragen nach seinem Erscheinungsbild reagiert Sebastian gelassen – wenn sie in angemessener Form gestellt werden. Doch er hat nicht den Eindruck, im Alltag angestarrt zu werden: »So wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus«, sagt er. Er bemühe sich, andere genauso wenig nach ihrem Äußeren zu beurteilen, wie er es sich umgekehrt von ihnen wünscht. Seinen neuen Lebensmut gewann er durch die Erfahrungen nach der Schule. Ein spezieller Hilfsantrag sicherte ihm einen Platz für Geografie und Englisch an der Uni Potsdam, in der Nähe seiner Heimat. Eine Erleichterung für Sebastian. »So ein Bruch im Leben bindet sehr stark an die Familie«, sagt er. Seine Ängste vor der Begegnung mit den Kommilitonen erwiesen sich schnell als unbegründet. »Ich wurde ganz normal angeschaut und konnte somit auch selbstsicher auf Leute zugehen und neue Freunde finden.« Die kleinen Alltäglichkeiten, die für andere lästige Pflicht sind, vermisst er immer noch, so etwa das Rasieren und Haaremachen morgens vor dem Spiegel. Doch Sebastian findet, dass ihn die Krankheit menschlich vorangebracht hat, wenn auch zu einem hohen Preis. Er schätze seine Gesundheit viel höher und habe gelernt, anderen Menschen unvoreingenommen zu begegnen, sagt er. Von kleineren Sorgen lässt er sich nicht mehr so schnell aus dem Gleichgewicht bringen. Anderen Betroffenen rät er, nicht aufzugeben und offensiv mit der Krankheit umzugehen: »Je aufgeschlossener man das Thema behandelt, desto besser ist die Resonanz der Mitmenschen.« Heute ist Sebastian ein Student unter vielen: Er strebt nach einem erfolgreichen Studienabschluss und träumt vom Reisen und einem erfüllten Leben. Er hat gelernt, sein Leben ohne Haare zu leben – auch wenn es sein größter Traum bleibt, die Mütze eines Tages wieder einmotten zu können. Mareike-Vic Schreiber studiert Deutsche Philologie. Sebastian kennt sie schon seit der Schulzeit und hat besonders Respekt vor seinem Mut. Foto: Lisa Kirchner

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Titel

Gefälscht gefällt Die Erwartungen an den Lebenslauf sind hoch. Zu hoch. Warum nicht ein bisschen schummeln? Hannah Knuth hat ihren Lebenslauf, nun ja, aufgehübscht – und sich beworben.

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er Anzugträger auf der anderen Seite des Schreibtisches beugt sich nach vorne. »Sie haben also im letzten Jahr drei Praktika während des Studiums absolviert?« Ich nicke. Herzrasen. »Und trotzdem einen Notendurchschnitt von 1,4.« Das ganze Blut meines Körpers strömt in die Wangen. Ich ahne, in welche Richtung das geht. Gleich fliege ich auf. Der Anzugträger zieht seine Augenbrauen hoch und schaut mich auffordernd an. »Das ist ja ganz schön beachtlich.« Tja, wer würde mich nicht gerne einstellen? Mit meinen angegebenen 23 Jahren bin ich der Traum eines jeden Arbeitgebers. Ich studiere im fünften Semester Deutsche Philologie und Politikwissenschaft. Ich habe ein Jahr am University College London studiert, ein Praktikum beim Taschen Verlag in Paris gemacht und ein soziales Jahr in Indien. Außerdem spreche ich fließend Englisch, Französisch und Spanisch und habe ein Latinum in der Tasche. Die Wahrheit: Dieser Lebenslauf ist geschönt. Sehr geschönt. Man könnte auch von einer Fälschung sprechen. Doch wird das irgendwem auffallen? Wie weit werde ich es mit diesem Lebenslauf schaffen? Ich bewerbe mich für acht Praktika bei verschiedenen Verlagen und Online-Redaktionen – und der Zuspruch ist gigantisch! Die meinen das wirklich ernst. Niemand will Studiennachweise oder Zeugnisse sehen. Am Tag meiner großen Show steige ich um 10 Uhr am Alexanderplatz aus und blicke mit großen Augen auf das Hochhaus des Berliner Verlags. Mir steht ein Bewerbungsgespräch um einen Praktikumsplatz bei dem Internetportal »Berlin Online« bevor. Das Hochhaus wirkt mächtig. Auf einmal bekomme ich Angst. Im Fahrstuhl nach oben bemerke ich meine schwitzigen Hände. Scheiße. Ich suche verzweifelt nach etwas Kühlendem. Vergeblich klatsche ich meine rechte Hand gegen die Fahrstuhlwand. Oben angekommen melde ich mich bei der Assistentin. Sie gibt mir einen verwunderten Blick: »Hannah Knuth?« Die Assistentin bringt mich in einen kleinen Konferenzraum. Beim Herausgehen fragt sie, ob ich was trinken möchte. Und mit einem Mal fühle ich mich moralisch schlecht. Ich stehle ihnen nicht nur die Zeit, sondern auch die Getränke. Mit der kalten Wasserflasche in der rechten Hand blicke ich aus dem großen Fenster über Berlin. »Schöner Ausblick, nicht?«, ertönt eine junge Männerstimme von hinten. Ich drehe mich um und schaue einem hübschen, braungebrannten Prinz Charming in die Augen. Traumtyp. Ich reiche ihm meine Hand. Muss er nicht sofort erkennen, dass ich mich als drei Jahre zu alt ausgebe? Wir setzen uns hin und beginnen zu reden. Es dauert eine ganze Weile, bis er den Lebenslauf in die Hand nimmt. »Du bist also im fünften Semester«, stellt er fest und blättert routiniert durch die Unterlagen. »Dann steht ja demnächst deine Bachelorarbeit an, was ist denn das Thema?«


Titel

Ich grinse, auf die Frage bin ich vorbereitet. Bei der Antwort hole ich ein bisschen weiter aus und erwähne den Auslandsaufenthalt in London, meine vielfältigen Sprachkenntnisse und den brillanten aktuellen Notendurchschnitt. Mein Gegenüber wirkt beeindruckt. Wow, ich bin super im Lügen. Wieso habe ich das nicht schon viel früher ausprobiert? Vielleicht wäre ich jetzt in Oxford und nicht an der FU. »Zeugnisse waren jetzt nicht dabei«, sagt er. »Aber da kann ich ja davon ausgehen, dass das alles so stimmt.« Soll das eine Frage sein? Ich gebe ihm ein unsicheres »mmhmm« und rattere im Kopf meine Möglichkeiten durch: Jetzt was sagen, später was sagen, gar nichts sagen. Lieber gar nichts sagen. Wir verstehen uns doch gerade so gut, Prinz Charming und ich. Außerdem habe ich den Platz noch nicht. Ich bemerke plötzlich, wie mich zwei Augen fragend angucken. Mist, was hat er noch gleich gefragt? Ob ich noch irgendwelche Fragen habe? »Nein«, antworte ich. Aber ich hätte dir einiges zu gestehen. Zweiter Versuch. Bewerbungsgespräch bei einer gemeinnützigen GmbH für Kommunikation. Ich habe ein schlechtes Gewissen – trägt meine Mission zum Gemeinnutz bei? Irgendwie schon. Mit dieser Überzeugung betrete ich beruhigt das Foyer des Bürogebäudes am Checkpoint Charlie. Der Geschäftsführer wirkt auf den ersten Blick wahnsinnig einschüchternd, obwohl er noch recht jung ist und aussieht wie Jakob Augstein. Er will alles wissen: meine Ziele, meine Wünsche, meine Erwartungen an das Leben. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich improvisiere und versuche dabei akribisch, die im Lebenslauf genannten Erfahrungen einzubringen. Trotz einladender Vorlagen fragt er nicht nach. Bis auf eine Bemerkung über meine Sprachkenntnisse hat er meinen Lebenslauf nicht kommentiert. Leicht verwirrt verabschiede ich mich von ihm. Wer bewirbt sich hier denn sonst noch, wenn mein Lebenslauf keine Besonderheit ist? Ein paar Tage später ist eine Nachricht auf meiner Mailbox. Eine Zusage. Die Kommunikations-GmbH möchte mich als Praktikantin für die Presse- und Öffentlichkeitsstelle. Mit Herzrasen drücke ich auf die Rückruftaste. Das wird unangenehm. Noch bevor der Geschäftsführer die Zusage wiederholen kann, erzähle ich ihm die Wahrheit. »Oh«, höre ich. Ein Moment Stille in der Leitung, dann sagt er: »Das ist jetzt schon ein bisschen komisch.« Ja, da hat er wohl recht. Der Geschäftsführer erklärt mir, er habe sich den Lebenslauf gar nicht so genau angeguckt. Lieber lerne er die Leute erst einmal kennen, um zu sehen wie sie so persönlich seien, sagt er. Es komme bei solchen Praktika auch nicht so sehr auf die Qualifikation an, sondern auf die Motivation.

Ihr wollt wissen, wie Hannah ihren Lebenslauf geschönt hat? Dann schaut ihn euch an auf furios-campus.de

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»Als nächstes hätten wir schon nach Zeugnissen gefragt, bevor man einen Vertrag schließt, will man das sehen«. Na ja. Ich will es ihm glauben. Eine Woche später kommt die Zusage von »Berlin Online«. Prinz Charming reagiert gelassen auf die Wahrheit – fast so, als sei er solche Aktionen gewohnt. »Mir ist das schon aufgefallen, dass deine Bewerbung keine Zeugnisse hatte«, sagt er. Auf ein Bewerbungsgespräch um eine Festanstellung hätte er sich besser vorbereitet. Es ist verführerisch, das Spiel mit der Identität. Aber will man auf Basis einer Lüge Tag für Tag im Büro sitzen? Ich will das nicht. Obwohl, es ist ja so schön einfach: Weder »Berlin Online« noch dem Geschäftsführer der KommunikationsGmbH ist aufgefallen, dass ich es gemeistert habe parallel zu meinem Sozialen Jahr in Indien in einem Hamburger Altenheim auszuhelfen. Vielleicht wollten sie es nicht merken. Vielleicht erfüllte es aber auch genau ihre Anforderungen. Hannah Knuth studiert Deutsche Philologie und Politikwissenschaft. Im Verlauf der Recherche hat sie ein neues Talent entdeckt: das Lügen. Illustration: Luise Schricker

jung, spontan, gut für nur 15 Euro ein Jahr Kultur in Berlin spontan ganz weit vorne sitzen Konzerte 8 Euro Oper / Ballett 10 Euro > 030-20 35 45 55 Deutsche Oper Berlin Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Komische Oper Berlin Konzerthaus Berlin Staatsballett Berlin Staatsoper im Schiller Theater RIAS Kammerchor Rundfunkchor Berlin Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin

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Titel

aus vierzig tausend Vierzigtausend Menschen bevölkern die FU. Vier haben wir gefragt, was sie aus ihrem Lebenslauf streichen würden. Notiert von Thomas Rostek, Friederike Werner und Friederike Oertel. Fotos: Cora-Mae Gregorschewski

»Es ist sehr anstrengend, ohne Interesse zu studieren« Francisco Vizcaíno, 23, ist Erasmus-Student aus dem südspanischen Sevilla. An der FU studiert er Informatik. Nach der Schule musste ich mich für eine Studienrichtung und damit indirekt für meinen zukünftigen Beruf entscheiden. Meine Interessen liegen eher im künstlerischen Bereich. Ich konnte mir deshalb ein Studium der Fotografie oder Architektur gut vorstellen. Mit Blick auf die Zukunft erschienen mir jedoch Karrierechancen, Jobsicherheit und Geld wichtiger. Letztendlich habe ich mich für ein Informatikstudium eingeschrieben. Die wirtschaftliche Situation in Spanien und besonders die hohe Jugendarbeitslosigkeit haben meine Entscheidung stark beeinflusst. Nun stehe ich kurz vor dem Bachelor-Abschluss. Das Studium hat mir wenig Freude bereitet und mich gleichzeitig sehr in Anspruch genommen. Meine persönlichen Interessen und meine Liebe zur Kunst musste ich immer hinten anstellen. Es kann sehr anstrengend sein etwas zu studieren, das dich nur bedingt interessiert – es erfüllt dich einfach nicht! Wenn ich heute zurückblicke, würde ich meine Entscheidung vielleicht sogar rückgängig machen. Natürlich ist Jobsicherheit wichtig, aber niemand kann ein Leben lang einen Beruf nur als Broterwerb ausüben.


Titel

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»Früher war der Lebenslauf statischer«

»Ich hätte ein Auslandsjahr machen sollen«

»Ich habe ein Jahr lang vergeblich eine Fotomappe erstellt«

Michaela Kemmesies, 48, arbeitet in der Kaffeebar der Silberlaube. Zum Studentenwerk kam sie über Umwege.

Tobias Neumann, 24, studiert am John-F.-Kennedy-Institut Nordamerikastudien und Geschichte im siebten Semester.

Dr. Stephanie Bung, 39, Privatdozentin und Gastprofessorin am Institut für Romanische Philologie

Mein bisheriger Lebenslauf war nahezu geradlinig. Deshalb würde ich auch kein Ereignis streichen wollen. Ich begann eine Ausbildung zur Frisörin und arbeitete einige Jahre in diesem Beruf. Als meine Tochter geboren wurde, blieb ich zunächst zu Hause. Es war mir immer wichtig, eine Familie zu gründen. Aber als das Kind größer wurde, fehlten mir die sozialen Kontakte. Ich entschied mich also, ein neues Kapitel in meinem Leben aufzuschlagen und in meinen Beruf zurückzukehren. Nach zehnjähriger Pause hat das jedoch nicht mehr funktioniert. Über eine Freundin kam ich zum Studentenwerk und es fühlt sich so an, als wäre ich in irgendeiner Form angekommen. Ich habe jeden Tag mit verschiedenen Menschen zu tun und erfülle eine Serviceaufgabe – genau das, was mir in einem Job wichtig ist. Ich frage mich öfter, ob ich nicht einen anderen Weg hätte einschlagen sollen. Früher war man schnell festgelegt – der Lebenslauf war statisch. Heutzutage führen deutlich mehr Wege zum Ziel. Aber ich denke, dass ich meinen Weg mittlerweile gefunden habe. Ich bekomme Familie und Job unter einen Hut und das macht mich glücklich.

Für mich als Nordamerika-Student sind gute Englischkenntnisse zwingend erforderlich. Mein Schulenglisch hat für den Eingangstest am John-F.-Kennedy-Institut zwar gereicht, zum Studienbeginn hat sich jedoch Frustration breit gemacht. Schnell kam ich zu der Erkenntnis: So wie viele meiner Kommilitonen hätte ich in meiner Schulzeit ein Auslandsjahr in den USA machen sollen! Damals habe ich mich dagegen entschieden. Heute bereue ich das. Vergangenes Jahr hat mich diese Erkenntnis ein zweites Mal eingeholt. Für meine Bewerbung um ein Auslandssemester in Kanada musste ich den TOEFLTest mit mindestens 100 Punkten bestehen. Es hat nur zu 99 gereicht. Ich musste den Test also wiederholen – Stress pur! Am Ende ist alles gut ausgegangen. Trotzdem habe ich gemerkt: Sprachgefühl ist aus der Ferne schwer erlernbar. Außerdem bietet ein Auslandsaufenthalt viele tolle Erfahrungen und neue Freundschaften. Könnte ich etwas aus meinem Lebenslauf streichen, so wäre es deshalb die elfte Klasse in Deutschland – die hätte ich viel lieber in den Staaten verbracht. Rückblickend denke ich, dass ich einiges verpasst habe.

Nach dem Abitur wollte ich Fotografin werden. Warum, weiß ich bis heute nicht genau, denn ich fotografiere weder gut noch gerne. Aber ich hatte diese Vorstellung von mir als kreativen Menschen. Also habe ich ein Jahr lang daran gearbeitet, eine Fotomappe zusammenzustellen, um mich an einer Hochschule für Fotografie zu bewerben – und bin letztlich mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Ich kann von den Dingen, die ich in diesem Jahr gemacht habe, praktisch nichts mehr verwenden. Das war ein klarer Umweg in meinem Lebenslauf, und doch möchte ich ihn nicht missen. Denn so besann ich mich auf das, was ich bis heute wirklich gerne tue, und studierte Literatur und Kunstgeschichte in Frankreich und Deutschland. Zunächst hatte ich keinen bestimmten Beruf vor Augen, aber nach und nach entwickelte sich der Wunsch, in der Wissenschaft zu bleiben. Man sollte nichts in seinem Werdegang bereuen, sondern aus Fehlern lernen. Dinge brauchen Zeit, um zu wachsen. Ich musste einsehen, dass nicht alle meine Vorstellungen realistisch waren, die ich von mir hatte, aber heute bin ich froh über diese Einsicht.


5 Jahre FURIOS In eigener Sache: Ihr haltet unser zehntes Heft in den Händen. FURIOS ist im Vorschulalter, das muss gefeiert werden – eine Doppelseite nur über uns! Illustration von Friederike Oertel. Wie alles begann … Am 18. September 2008 blickte die Welt nach New York. Die Investmentbank Lehman Brothers hatte Insolvenz angemeldet, die globale Finanzkrise nahm ihren Anfang. Auf die FU schaute niemand – obwohl es sich gelohnt hätte. Denn just dieser Tag markierte den Start eines neuen Campusmagazins an der Freien Universität: Die ErnstReuter-Gesellschaft kaufte mehrere Anzeigen bei der Redaktion von FURIOS, die kurz zuvor von einer Handvoll Studierender gegründet worden war. Der Weg für den Druck des ersten Heftes war geebnet. Nachdem es viele Jahre neben einigen Blogs und Asta-Publikationen kein studentisches Campusmagazin an der FU gegeben hatte, erschien im Wintersemester 2008/09 die erste Ausgabe des Magazins. Seitdem ist jedes Semester ein neues Heft herausgekommen, zu Themen wie »Humboldt«, »Verhältnisse« oder »Heimat«. Heft 8 über Schönheit wurde jüngst sogar zum zweitbesten deutschsprachigen Campusmagazin gekürt. Die FURIOS-Redaktion ändert im Semesterrhythmus ihr Gesicht, der Anspruch aber ist in fünf Jahren derselbe geblieben: Unabhängiger Campusjournalismus – von Studierenden für Studierende.

Die drei fiesesten Online - K omment are

Zu einem

Artikel über »son pseu dow itzige überfüllte U-Bahnen: r mumpit nachba rn z. meine kotzten a sitzlle sa mt a b ! « Zu einem A rtikel über d en studentisc »Der A rti hen Hochsc kel ist so hulpolitiker M athias Barte was von lt: d a n eben! Ihr euch Sch solltet ä men!!!!« Zu einem

»kümmer Artikel über den Stupa-Wa hlka t euch um eure stud mpf: welt m it ium,a ls d diesen n ie onsense gen. das z u belästiwa r d a s e rste und m a l d a ss letzte ich m ir d ie s e s e ite a ngeta n habe…«


e dsätzlich Drei grun FURIOS Fragen zu

S ist völS? FURIO IO R lich U F h ausschließ s zier t sic n n u a n n fi re ie ie nz W intrei. Wir fina eft neu e ig H g n s ä e h d b a je n r .  Hat lig u ir fü en, die w rucktermin D ig e r z o n v A e g h i Ta durc Wer uns al noch dre usrichtung? Nein. m h c n a M A berales b en . politische reit »Neoli ung h e c in S e . h S c u das a FURIO e Mein liest, weiß t – wer ein RIOS regelmäßig latt!«, so oft ihr woll sie bei FU b rf a a d d n , a n g n a a Prop en k RIOS aufschreib h die FU hat und sie en.  Wie setz t sic uns kommt, h u veröffentlic zusammen? Wer z azu. Wer n rt o eh ö d Redakti d bleibt, g t, leitet ein n u t ib re h d u ck gu t s c rechtzeitig die gansich nicht le g oder ich Ressort – on . ze Redakti

Drei Schlagzeilen , die wir gern einmal drucken w ürden

Asta-Vorsitzender bekennt: »Ich wähle FDP!« Mensa -Skandal: Café Creme und Tasse Kaffee sind das Gleiche! Erster Schlafsaal in der Philbib einge weiht!

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wir Ru e, für die rmulieren: »Ein er. Einige von il e z g la h c fo S r e r e e h d ie Ja h Ein so nie w as ist jetzt vier l ihr Abitur! ir w n e würd ht ma hey: D noch nic « – aber igenes Dahlem s hat ten damals unser e hon ir w un n e n sc mal ken hemen , manch ber ein paar T merkt … n e b e g shalb ü ssen zu iner ge Wir mü t und haben de ntlich hat’s ke fe h f ic o n seid Archiv n geschrieben. H m? Dan a lt s e lt p e p s o n d en: Wer enkäste e Autor -Rache geword mt h c n a m r m t Ihr finde en der Layoute r schreibt, beko g e u lb e e Z s r t Ih ben … ex t nich seinen T einen geschrie


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Politik

Der Vorreiter lahmt Wenn Studierende gegen Zustände an der FU protestieren, fordern sie mehr studentische Mitbestimmung, mehr Demokratie. Mara Bierbach sucht die historischen Wurzeln dieses Wunsches.

A

ls »pseudodemokratisches Schmierentheater« beschreibt ein aktueller Flyer des Bildungsprotestes die Zustände an der FU. Der Vorwurf: Die Entscheidungsprozesse an der Uni seien undemokratisch. Professoren haben in den wichtigen Gremien eine absolute Mehrheit. Dadurch würden »die Interessen der größten Statusgruppe – die der Studierenden – bagatellisiert.« Der Traum vieler Aktivisten: eine Viertelparität. Das bedeutet gleiche Stimmenanzahl für Studierende und Professoren. »Wir kämpfen nicht nur um das Recht, länger studieren zu können. Es geht vielmehr darum, dass Entscheidungen, die die Studenten betreffen, demokratisch nur unter Mitwirkung der Studenten getroffen werden.« Auch dieses Zitat könnte auf einem Bildungsprotest-Flyer stehen. Tatsächlich stammt es aus einer studentischen Resolution gegen Zwangsexmatrikulationen – aus dem Jahr 1966. Dass mit Debatten an der Uni immer wieder ein Grundsatzdiskurs über universitäre Demokratie einhergeht, hat an der FU Tradition. Keiner anderen Hochschule ist der Anspruch auf Mitbestimmung so sehr in die DNS gewoben. Fast nirgends haben Studenten aber auch so viele hart erkämpfte Machtansprüche aufgeben müssen. Bei ihrer Gründung 1948 war die FU eine Exotin: Während etwa in Köln und München Lehrstuhlinhaber – auch Ordinarien genannt – die Fäden fest in der Hand hielten, gründeten Studierende und Professoren die FU gemeinsam. Studierende waren von Anfang an in fast allen Entscheidungsgremien vertreten – wenngleich mit einer Minderheit. In den 1950ern und -60ern drifteten Professorenschaft und linke Studentenvertretung auseinander. Die einstige Reformuniversität wandelte sich zur traditionellen Ordinarienuniversität. Die Professoren spielten ihre Mehrheit in den Gremien aus. Entscheidungen fällten sie zunehmend an den Lehrstühlen, nach und nach wurden die Studenten aus den Kommissionen verdrängt. Das »Berliner Modell«, die Kooperation Lehrender und Lernender, scheiterte.

Mehr zur Demokratie an der Freien Universität Berlin auf furios-campus.de/politik

Immer wieder kam es zu heftigen Studentenprotesten. Unter dem steigenden Druck verabschiedete der SPD-geführte Westberliner Senat 1969 ein neues Hochschulgesetz. Dieses sah vor, dass in allen Gremien Professoren weniger Stimmgewicht haben sollten als die übrigen Universitätsmitglieder zusammen. Doch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts beendete 1973 die Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Miteinander. Danach muss die Machtverteilung in Gremien zu Lehre, Forschung und Berufung »der herausgehobenen Stellung der Hochschullehrer« Rechnung tragen. Seitdem können Professoren nicht überstimmt werden. Weitere Reformen in den 1980ern durch die regierende CDU stärkten den Einfluss der Hochschullehrer. Im März 1997 führte der Berliner Senat die sogenannte Erprobungsklausel ein, um Entscheidungsprozesse an der Uni zu beschleunigen. An der FU fallen seither dem professoral geführten Präsidium mehr Kompetenzen zu – zulasten des Akademischen Senats (AS), der immer mehr zum bloßen Kontrollorgan degenerierte. Kritiker wie Mathias Bartelt, Studierendenvertreter im AS, bezeichnen die heutigen Verhältnisse gern als »Präsidialdiktatur«. Seit den frühen 1970er-Jahren haben professorale Machtansprüche studentische Interessen immer weiter verdrängt – vor allem an der FU. Die RSPO-Proteste aber zeigen: Der Kampf um Demokratie an der FU geht weiter. Mara Bierbach studiert Nordamerikastudien mit Schwerpunkt Kultur- und Politikwissenschaft und prokrastiniert gerade ihre Masterarbeit.


Politik

Ordnung muss sein Die FU braucht eine Grundordnung, eine Art Verfassung. So will es das Gesetz. Veronika Völlinger über einen Findungsprozess im Schneckentempo.

E

s ist einer der ersten heißen Maitage. Im Sitzungssaal des Akademischen Senats (AS) ist es stickig. Seit mehr als einem halben Jahr steht ein ums andere Mal der Zwischenbericht der Arbeitsgruppe Grundordnung auf der Tagesordnung des AS – und wird nie behandelt. Diesmal wäre es fast so weit gewesen, doch nach vier Stunden endete die Sitzung – einen Tagesordnungspunkt vor der Grundordnung. »Ich bin maßlos enttäuscht«, sagt Klaus Hoffmann-Holland, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe. »Die Studierenden sind ernüchtert«, sagt Mathias Bartelt, studentisches Mitglied der AG. Der Streit um die Verabschiedung einer Grundordnung an der FU ist ein leiser, aber ein zäher und langwieriger. Die Ordnung soll, ähnlich einer Verfassung, die inneruniversitären Strukturen regeln. Seit den 1980er-Jahren schreibt das Berliner Hochschulgesetz das vor. 1998 verabschiedete die FU eine Teilgrundordnung. Diese besteht bis heute – als Erprobungsmodell. Seitdem ruhte die Erarbeitung einer Grundordnung vorerst. Erst 2007 habe sich wieder verstärkt etwas getan, berichtet Bartelt. Die Studierenden seien es gewesen, die sich unermüdlich dafür eingesetzt hätten. Im Juli 2011 setzte der AS schließlich eine Arbeitsgruppe zur Grundordnung ein, die zunächst die Teilgrundordnung auswerten sollte. Um dann – laut AS-Beschluss »gegebenenfalls« – eine neue Grundordnung für die FU zu erarbeiten. Studierende erhoffen sich von der Grundordnung mehr Demokratie – und eine Beschneidung der Rechte des Präsidiums. Doch davon ist die AG weit

entfernt. »Das Präsidium wird alles in seiner Macht Stehende tun, um eine Änderung des Status quo zu verhindern«, glaubt Bartelt. Das fange schon bei den Rahmenbedingungen an: Die AG tagt nicht öffentlich. Informationen sind deshalb schwer zu bekommen. Hoffmann-Holland schweigt. Bis sich der AS mit dem Zwischenbericht beschäftigt habe, wolle er keine Stellungnahme abgeben. Das Gremium solle sich unvoreingenommen eine Meinung bilden. Dennoch betont er, wie wichtig ihm der Prozess sei. Der AS wird nicht nur den Zwischenbericht diskutieren. Mit der neuen Legislaturperiode des Gremiums muss auch der Fortbestand der AG geregelt werden. Bis dahin habe Hoffmann-Holland alle AG-Sitzungen abgesagt, berichtet Bartelt. Auf der nächsten Sitzung sollten erstmals Anhörungen stattfinden, um die Teilgrundordnung zu evaluieren. Die Studierenden gehen hart mit den Abläufen ins Gericht. Der Kampf um die Einsetzung der AG, die Nichtbeachtung des Zwischenberichts über mehrere Monate hinweg – »es war durchweg ein Spiel der Verzögerung«, sagt Bartelt. »Die Studierenden haben das lange genug mitgemacht.« Womöglich werden sie einen eigenen Grundordnungsentwurf einbringen. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass just am Abend der unvollendeten AS-Sitzung die TU Berlin eine neue Grund­ ord­nung beschloss, die eine Vier­tel­pa­ri­tät im Erweiterten Akademischen Senat vorsieht. Das heißt, die TU-Studierenden haben genauso viele Stimmen wie Professoren und andere Statusgruppen – eine kleine Sensation. Die FU jedoch diskutiert weiter – über den Fortbestand der AG Grundordnung und über Evaluierungskriterien für die Teilgrundordnung, damit die Auswertung stattfinden kann. Damit in ferner Zukunft womöglich eine Grundordnung erarbeitet wird. Ordnung ist bekanntlich das halbe Leben. Politikstudentin Veronika Völlinger lebt eher in der anderen Hälfte.

Illustration: Clara Straessle

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Politik

Der Nachbar mit der Bombe Nordkorea droht seinem südlichen Nachbarn mit einem Atomkrieg. Beobachter sagen, die Lage sei angespannt wie nie – »Ich habe keine Angst mehr«, sagt Südkoreanerin Eunjie Wie. Von Vanessa Ly

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uf dem Wohnzimmertisch stehen in zwei Porzellanschalen Paprikachips und kirschförmige Gummibärchen. Es ist Samstag, Eunjie Wie und ihre zwei Freunde planen einen Filmabend – irgendetwas zum Lachen. Doch es kommt anders. Die Moderatorin der Nachrichtensendung verliest eine Meldung der nordkoreanischen Nachrichtenagentur. Nordkorea hat Südkorea den Krieg erklärt. Eunjie und ihre zwei Freunde auf dem Sofa irgendwo in Seoul sagen erstmal nichts. Damals war sie erst seit zwei Monaten zurück in ihrer Heimat, der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. »Ich hatte wirklich Angst«, sagt Eunjie im Rückblick. Zuvor hatte sie das Wintersemester an der Freien Universität in Berlin verbracht, hier Englisch auf Lehramt studiert. Da waren die Probleme mit Nordkorea ganz weit weg. Die 21-Jährige aß Schweinshaxe, tauchte in das hippe Stadtleben Berlins ein und erlebte den kältesten Winter ihres Lebens. »Die vielen Eindrücke haben mich mein Heimatland manchmal völlig vergessen lassen.« Seit Eunjie zurück in Seoul ist, ist alles wieder da. Zuerst provozierte der nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un Südkorea und die USA Mitte Mai 2012 mit einem makabren Propagandavideo, dann kündigte er an, seine Atomwaffen in Stellung zu bringen, schließlich dann die Kriegserklärung. Doch das alles ist nur der medienwirksame Höhepunkt einer viel längeren Geschichte: Schon seit Ende des Koreakrieges 1953 herrscht zwischen den beiden koreanischen Staaten eine Pattsituation.

Im Leben von Eunjie hat das nie eine Rolle gespielt. Als Kind spielte sie draußen, als Teenager stürzte sie sich ins Gewusel der Seouler Innenstadt, auch heute bewegt sie sich dort frei. Nur in der Schule war der Kalte

fürchtet, dass Kriminalität, Gewalt und Arbeitslosigkeit dann wachsen würden – »das möchte ich hier nicht«. Zwar hat sie, als sie in Berlin war, die deutsche Geschichte der Wiedervereinigung kennengelernt – und gesehen, dass es geht. Trotzdem: »Die Situationen sind verschieden«, sagt sie. Während das DDR-System 1989 schon bröckelte, sei das Regime in Nordkorea immer noch sehr widerstandsfähig. Eine Abneigung gegenüber Nordkoreanern habe sie aber nicht. Es sei nicht die Bevölkerung, die sie nicht ausstehen kann: »Es sind Kim Jong Un und seiEunjie Wie ist 21 Jahre alt und lebt in Südkorea. Vergangenes Wintersemester hat sie an der FU Englisch studiert ne Regierung.« Er sei für die sozialen Missstände in NordKrieg Thema. »Uns wurde beigebracht, dass korea verantwortlich. Nordkorea die gleichen Wurzeln hat und Doch seine Drohungen nimmt die 21-Jähdass sich die Südkoreaner die Wiederverei- rige mittlerweile nicht mehr ernst. »Er will uns nigung wünschen.« nur einschüchtern.« Sie redet viel mit ihren Dieser Wunsch wird auch auf diploma- Freunden über die Situation, einige davon tischer Ebene immer wieder betont. Eunjies sind im Wehrdienst. »Sie vermuten, dass er Generation ist dennoch mit der Teilung aufge- nur Geld will.« Ein Krieg würde ihm überhaupt wachsen. Die Studentin hat sich an die zwei nichts bringen. Das hat sie beruhigt. »Jetzt koreanischen Staaten gewöhnt: »60 Jahre habe ich keine Angst mehr.« leben wir jetzt schon so«, sagt sie. Die zwei Vanessa Ly hat mehr Angst vor Nachbarstaaten trenne längst mehr als nur ihrer alten Mathelehrerin als vor der Grenzstreifen. Sogar die Sprache sei Kim Jong Un – denn die schlägt teilweise anders. »Wir sind uns fremd geworwirklich zu, wenn sie das sagt! den.« Mit einer Wiedervereinigung würden außerdem viele Nordkoreaner nach Seoul Foto: privat kommen, um Arbeit zu finden. Die Studentin

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14.05.2013

12:44 Uhr

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Politik

Junioren in der Warteschleife Juniorprofessoren an der FU – junge Wissenschaftler mit Karriereaussicht oder billige Arbeitskräfte mit schlechten Arbeitsbedingungen? Fanny Gruhl hat bei einigen nachgehakt.

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tephan van Gasselt seufzt. »Ich konnte nicht ruhig schlafen«, sagt er. Seit einem Jahr trägt der Wissenschaftler die alleinige Verantwortung für die Arbeitsstelle Planetologie und Fernerkundung an der FU – und für die 25 Mitarbeiter dort. Das heißt: Drittmittel einwerben, Papierkram erledigen und die Arbeitsgruppe leiten. Normal ist das nicht: Van Gasselt ist Juniorprofessor. Eigentlich sollte er sich um seine Forschung kümmern, um sich so für eine Lebenszeitprofessur zu qualifizieren. Vor einem Jahr aber verließ der Planetologie-Professor Gerhard Neukum das Institut, seine Stelle blieb vakant. Die Planetologie an der FU ist seitdem im Umbruch – ihre Zukunft ungewiss. Genauso wie die von van Gasselt. Denn im April 2016 endet seine sechsjährige Anstellung als Juniorprofessor. Da er bereits an der FU promoviert hat, darf er nicht bleiben – das sieht das Berliner Hochschulgesetz vor. »Ich habe derzeit hier an der Uni keine Zukunftsaussichten«, sagt er. Dabei soll die Junioranstellung, die so genannte W1Professur, Nachwuchswissenschaftlern eine Perspektive schaffen. Sie wurde 2002 deutschlandweit eingeführt und ist die Alternative zur früheren Habilitationsstelle. Die Vorteile: Junge Nachwuchswissenschaftler können schon früher den Titel »Professor« tragen. Außerdem können sie selbstständiger arbeiten, weil sie keinem Professor untergeordnet sind. An der FU ist das ein beliebtes Modell: Mittlerweile tragen schon 100 der 460 Professoren einen »Junior« vor dem Titel. Die Juniorprofessuren sind auf sechs Jahre begrenzt. An vielen ausländischen Universitäten haben die Nachwuchswissenschaftler dann die Aussicht auf eine Lebenszeitprofessur – diese Option nennt man »Tenure-Track«. An der FU gibt es das nicht. Das »Tenure-Track-Modell« sei für die Uni nicht finanzierbar, sagt der Präsidiumssprecher Goran Krstin. Das bedeutet: Wenn ihre Juniorprofessur ausläuft, müssen sich die Wissenschaftler an anderen Unis bewerben. Nur im Einzelfall bietet die FU ihnen eine befristete W2-Professur an. Die meisten müssen aber gehen. Die Uni profitiert, wenn ständig neue Juniorprofessoren kommen – die Fachbereiche können flexibler neue Forschungsprojekte einrichten. Ein zusätzliches Argument gegen den »Tenure-Track«: Wenn klar ist, dass nach der Juniorprofessur eine Langzeitanstellung folgt, ginge für die Fanny Gruhl studiert Publizistik, Politik und Philosophie. Sie hofft auch auf Verlängerung – nach ihrem Bachelor. Illustration: Cora-Mae Gregorschewski

Nachwuchswissenschaftler der Anreiz verloren, ehrgeizig zu arbeiten. Darunter leide ihre Arbeit. Eine weitere Juniorprofessorin an der FU findet das absurd. »Diejenigen, die das entscheiden, sitzen selbst auf den Lebenszeitprofessuren«, sagt sie. »Die Machtstrukturen sind für sie angenehm – sie profitieren von der Abhängigkeit anderer.« Die Kurzfristigkeit und Unsicherheit, die mit dem System einhergehen, seien belastend. »Man ist stets auf Abruf.« Für die Uni sind die Juniorprofessoren vor allem eines: billige Arbeitskräfte, die sie temporär einsetzen kann. Denn sie kosten weniger als Vollprofessuren und machen fast den gleichen Job. Früher führte der Weg zur Lebenszeitprofessur über eine Habilitationsstelle, die an der FU immer unüblicher wird. Für diese Stellen muss die Uni Sozialleistungen zahlen – für die Juniorprofessuren nicht. Van Gasselt habilitiert jetzt noch – neben seiner Juniorprofessur. Denn für ihn ist klar, dass er nicht bleiben kann. Seine Qualifikation als Juniorprofessor allein helfe ihm bei Bewerbungen nicht, da sie wenig anerkannt sei. »Ich kann nicht warten, dass etwas von selbst passiert – der Te n u r e -Tr a c k wird nicht kommen«, sagt van Gasselt. »Ich muss versuchen, den Absprung zu schaffen.«

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Politik

Hilflos vor der Klasse Lehramtsstudierende werden zu Fachidioten. Ein neues Lehrerbildungsgesetz soll das noch verschärfen – und erntet schon jetzt Kritik. Von Rebecca Eickfeld und Max Krause

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ie erklärt man Kindern den Satz des Pythagoras? Jennifer, ehemalige Lehramtsstudentin, weiß es nicht. Das Gefühl didaktisch nichts zu lernen, quält viele Lehramtsstudierende an der FU. Statt ihnen das Unterrichten beizubringen, bombardieren die Dozenten sie mit Herleitungsformeln aus den Abgründen der Mathematik. »Wir lernen Dinge, die wir im Beruf nie benötigen werden«, beklagt sich die 22-Jährige. Vor zwei Semestern ist die Studentin daher vom Ethikund Mathelehramt zur Grundschulpädagogik gewechselt. Jetzt sitzt sie in anderen Seminaren als die Lehramtsstudierenden. Während diese meistens zwei Fächer studieren und die Pädagogik nur am Rande abdecken, hat Jennifer nun neue Fächer: In Seminaren lernt sie, wie sie Mathe, Deutsch und Sachkunde am besten vermittelt. »In meinem neuen Studiengang wird sehr viel stärker auf Didaktik und Pädagogik eingegangen«, sagt Jennifer. Doch jetzt ist ein neues Gesetz in Arbeit, das die Grundschulpädagogen beunruhigt: Wird es verabschiedet, könnte sich das Problem der Lehramtsstudierenden an der FU auch auf die Grundschulpädagogik ausweiten. In einem ersten Vorschlag einer Expertenkommission aus SPD-Politikern und Universitätsprofessoren heißt es, dass für Grundschulpädagogen »die Studienfelder sprachliche Grundbildung in Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Lernbereich Deutsch) sowie mathematische Grundbildung (Lernbereich Mathematik)« verbindlich werden sollten. Das heißt: Alle angehenden Grundschullehrer sollen in Deutsch und Mathe das gleiche lernen wie spätere Germanisten und Mathematiker. Theoretisch

Alle weiteren Entwicklungen auf furios-campus.de/politik

können damit die Berliner Abschlüsse in Grundschulpädagogik auch in anderen Bundesländern anerkannt werden. Praktisch müssten künftig wohl die Didaktikseminare den Fachvorlesungen der jeweiligen Institute weichen. Die angehenden Lehrer würden also Mittelhochdeutsch und partielle Integration büffeln, um am Ende das Alphabet und das EinMal-Eins zu vermitteln. Diese Idee erntet sogar parteiintern Kritik. Der SPDFachausschuss sprach sich dafür aus, dass die Pädagogik im Mittelpunkt des Studiums stehen soll. Es schwäche die Attraktivität der Berliner Grundschulen, wenn zu sehr nur auf Fachwissen gesetzt werde. Auch die Grundschulpädagogen sind wenig begeistert. »Mit der neuen Regelung wäre ich total überfordert«, sagt Jennifer, »sowohl fachlich als auch später pädagogisch.« Was sie an den Änderungsvorschlägen schätzt: Im Master ist ein Praktikumssemester vorgesehen. Mehr Praxiserfahrung wäre für sie eine wichtige Verbesserung. Fest steht bis jetzt aber noch nichts. Ein erster Entwurf für das neue Gesetz stand bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch aus. Trotzdem hat Jennifer Angst – davor, dass die Grundschulen bald mit Fachidioten beliefert werden. Wer auf diese Weise ein guter Pädagoge werden will, müsste sich sein Wissen dann in seiner Freizeit aneignen.

Max Krause studiert Mathematik und ist gern ein Fachidiot. Rebecca Eickfeld studiert auf Lehramt und war schon immer von Fachidioten genervt. Illustration: Luise Schricker


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Campus

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Die dritte Laube Stahlstreben, Beton, Kräne: Was entsteht da eigentlich neben der Rost- und Silberlaube? Margarethe Gallersdörfer hat einen kleinen Spaziergang gewagt – durch die »Holzlaube« im Jahr 2015.

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ie Rost- und Silberlaube wird erweitert. Seit Anfang 2012 laufen die Bauarbeiten, Ende 2014 sollen sie beendet sein. 51,5 Millionen Euro soll das Projekt insgesamt kosten, der Bund zahlt ein Drittel davon. An der Ostseite des FU-Hauptgebäudes entsteht eine neue Bibliothek. Außerdem bekommen die so genannten »Kleinen Fächer« des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften ein gemeinsames Dach über dem Kopf – Institute wie die Iranistik, die Judaistik oder das Ägyptologische Seminar. Noch sind sie in Dahlem verteilt und in Villen untergebracht, denen der Zahn der Zeit an der Bausubstanz knabbert – feuchte Keller, schimmelnde Bücher, einsturzgefährdete Balkone. Auch von Barrierefreiheit kann vielerorts keine Rede sein. Im Sommersemester 2015 soll mit alldem Schluss sein: 17 Institute siedeln auf das Obstbaugelände um, die 16 Teilbibliotheken der Kleinen Fächer sowie die der Mathematik, der Informatik und der Naturwissenschaften werden im Bibliotheksneubau unter einem Dach vereint. Der Neubau ist in jeder Hinsicht eine Fortsetzung der »Rost- und Silberlaube«; was die Fassaden angeht, ist nach Kupfer und Aluminium jetzt Holz an der Reihe. Die Folgen sind klar: »Ein offizieller Name für den Neubau für die Kleinen Fächer mit Naturwissenschaftlicher Bibliothek steht bisher nicht fest«, lässt das Präsidium zwar verlauten – dabei hat man selbst Universitätspräsident Peter-André Alt das Gebäude schon »Holzlaube« nennen hören. Sehen wir uns in ihrem Inneren um! Margarethe Gallersdörfer studiert Literatur und Politik. Seit ihrer Liebeserklärung an die Silberlaube ist sie Gebäudebeauftragte bei FURIOS. Fotos: Christopher Hirsch Bauplan und Visualisierung: Florian Nagler Architekten

Anschlussstelle: Hier wird die neue Bibliothek mit der Erziehungswissenschaftlichen Bibliothek (links) verbunden

er Spaziergang beginnt im L-Gang der Silberlaube ● 1 . Wir gehen durch den neuen Eingang; direkt an die bestehende Erziehungswissenschaftliche Bibliothek ● 2 angeschlossen ist ein Büro- und Auskunftsbereich ● 3 , der gleichzeitig auch Teil der neuen Bibliothek ● 4 sein wird. Hier stehen wir in einer Art mehrstöckigem Atrium ● 5 in der Mitte der Bibliothek. Durch ein Glasdach fällt Tageslicht bis in die unterste Ebene. Im Erdgeschoss, wo wir stehen, und im ersten Stock sind die Teilbibliotheken der Kleinen Fächer untergebracht; im Keller befinden sich die Bestände der Mathematik, der Informatik und der naturwissenschaftlichen Bibliotheken. Etwa 920 Arbeitsplätze für die Besucher sollen in der Erziehungswissenschaftlichen Bibliothek, die derzeit saniert wird, und in der neuen Bibliothek entstehen.

Die Baustelle betrachtet von der Südseite. Gut zu erkennen: der Säulengang, in dem sich die L-Straße der Silberlaube fortsetzt


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Die Fassaden der Holzlaube, von einem Innenhof aus gesehen. Die Visualisierung basiert noch auf dem ursprünglichen Plan, der drei oberirdische Stockwerke vorsah

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ir verlassen die Bibliothek und stehen im zweiten Teil des Neubaus, in der »Seminarspange« ● 6 . Hier befinden sich die Lehrräume. Zu unserer Linken sind es sechs Stück – jeweils zwei auf einer Etage. Auf der anderen Seite der Spange gibt es auf allen drei Etagen jeweils einen großen Raum. Die Spange ist geteilt durch einen Innenhof ● 7 , denn auch dieses Prinzip der Rost- und Silberlaube wird im Neubau fortgeführt: Die Gebäudezüge laufen wie Straßen um quadratische bepflanzte Innenhöfe mit Sitzgelegenheiten herum. Drei von ihnen wird es in der Holzlaube insgesamt geben. Auch die tieferen Höfe, die durch die Feuerwehrzufahrt entstehen, sollen begrünt werden.

ier befinden wir uns im Herz des dritten Gebäudeteils, in dem auf Ebene 0 und 1 die 17 Institute 8 des Fachbereichs Geschichts- und Kul● turwissenschaften ansässig sein sollen. Im Keller werden Drittmittelprojekte und Archive untergebracht. Schon machen Gerüchte die Runde, der Platz werde nicht ausreichen, Dozenten ohne feste Stelle und Doktoranden beispielsweise bekämen keine Büros. Laut Michael Vallo, Verwaltungsleiter des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften, wird über die Belegung des Gebäudes erst entschieden, wenn feststeht, wie viel Personal 2014 am Fachbereich arbeiten wird.

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ür Studierende interessant: Neben Büros und Seminarräumen sollen hier zwei Aufenthaltsflächen ● 9 entstehen, jeweils 100 Quadratmeter groß. Im Kellergeschoss wird es nur eine dieser »Multifunktionsflächen« geben, da hier die Feuerwehrzufahrt ● 10 verläuft. Tische und Sitzgelegenheiten sind geplant – ob man sich dann dort auch wirklich aufhalten möchte, bleibt abzuwarten. Schon einmal ist ein solcher Plan nicht ganz aufgegangen: Auch das Foyer der großen Mensa in der Silberlaube war als Aufenthaltsraum gedacht, ist aber im Unialltag eher ein Durchgangsbahnhof geworden.

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ie Wiese ● 13, die den Eingangsplatz noch von der Silberlaube trennt sowie der ganze Bereich zwischen den Achsen der J- und der K-Straße bleiben frei. Auf der Homepage des Münchner Architekturbüros »Florian Nagler Architekten« ist noch zu sehen, dass ursprünglich auch diese Flächen bebaut werden sollten. Nun dienen sie als »Baulandreserve« – FURIOS freut sich schon auf die Goldlaube!

Weitere Hintergrundinformationen zum Neubau auf furios-campus.de

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ir haben das Gebäude auf der Südseite verlassen und einen Säulengang ● 11 durchquert, der die Fortsetzung des L-Gangs der Silberlaube ist. Jetzt stehen wir auf einer der einschneidendsten Neuerungen für den gesamten Komplex: ein Eingangsplatz 1 ●2, auf der Internetseite des Bauamts etwas pompös »Kirschbaumhain« genannt. Mit 48 Bäumen ist er bepflanzt – leider nur Zierkirschen. Sie sind Auflage des Bezirksamts SteglitzZehlendorf, weil die FU für den Neubau 40 Apfelbäume hat fällen lassen. Der Platz ist etwa so groß wie der Institutsteil des Neubaus und endet an der Achse der K-Straße. Noch braucht es viel Fantasie, um hier ein Unigebäude zu erkennen. Ende 2014 sollen die Arbeiten beendet sein


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Campus

Beauftragt mit Barrieren Studierende mit Behinderung bekommen an der FU Unterstützung von Georg Classen. Doch mit dem Einsetzen eines offiziellen Beauftragten für sie lässt sich die Universitätsleitung weiterhin Zeit – zu lange? Melanie Böff hat nachgefragt.

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eorg Classen ist kein Freund der Hektik. Der Mann mit den kurzen lockigen Haaren und der silbernen Nickelbrille hat sein Büro in der Thielallee 38. Seit mehr als 20 Jahren unterstützt er von hier aus FU-Studierende mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen. Er kämpft für barrierefreie Gebäude und hilft bei der Beantragung von Hilfsmitteln oder Assistenten. Dinge, die nicht auffallen, wenn sie da sind – wohl aber, wenn sie fehlen. Mit Dozenten diskutiert er über Ersatzleistungen oder verlängerte Schreibzeit in Klausuren, sogenannte Nachteilsausgleiche. All das tut er ohne eine Bestellung als Beauftragter für Studierende mit Behinderung, offiziell eingesetzt wurde Classen nie. Seit zwei Jahren schreibt das aber der Artikel 28a des Berliner Hochschulgesetzes vor. Die formale Bestellung stärkt die Rechte der Beauftragten. Bisher konnten sie nur beratend zur Seite stehen. Eingesetzte Beauftragte müssen dagegen über alle Entscheidungen, die Studierende mit Behinderung betreffen, informiert werden. Ihnen steht das Recht zu, in allen universitären Gremien mitzuarbeiten. An der HU und der TU erfolgte die Bestellung der Beauftragten schon wenige Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes. Die FU dagegen zögert – und darf das prinzipiell auch, weil für die Einsetzung keine Frist festgelegt ist. Welche Hindernisse Classen dadurch entstehen, zeigen die Verhandlungen um die kürzlich erlassene Rahmenstudien- und Prüfungsordnung (RSPO). »Erst durch die studentischen Proteste habe ich überhaupt von den Plänen zur Erarbeitung einer RSPO erfahren«, erzählt er. Seine Beteiligung habe er nachdrücklich einfordern müssen. Schließlich habe er mit viel Einsatz erreichen können, dass Nachteilsausgleiche in der neuen Ordnung nicht wie bisher nur auf körperliche Behinderungen begrenzt sind, sondern auch bei psychischen Einschränkungen gewährt werden. Als offizieller Beauftragter hätte Classen die RSPO

womöglich stärker zugunsten behinderter Studierender beeinflussen können. Das Präsidium habe im Vorfeld ausführliche Gespräche mit Experten geführt und sich beraten lassen, erklärt Präsidiumssprecher Goran Krstin die Verzögerung. Das Einsetzen eines Behindertenbeauftragten solle noch in diesem Sommersemester erfolgen. Trotz der bisher nicht erfolgten Bestellung nehme die Universität die Belange behinderter Studierender sehr ernst, sagt er und verweist auf das weitreichende Beratungsangebot. Das Sozialreferat des Astas sieht diese Darstellung kritisch. Auf der Internetseite der FU werde Classen fälschlicherweise bereits als Beauftragter präsentiert. »Es ist eine Schande, dass das Präsidium diesen Posten benutzt, um sich nach außen hin zu profilieren«, kommentiert ein Referent die Verzögerung. »Ein wirkliches Interesse für die Belange behinderter Studierender scheint die Unileitung nicht zu zeigen.« Mehrere Versuche, den Fall Georg Classen im Akademischen Senat zur Sprache zu bringen, seien ohne Erfolg geblieben. Doch selbst wenn offiziell ein Behindertenbeauftragter eingesetzt wird, muss Georg Classen nicht zwangsweise auf den Posten rücken. Zwar kennt Classen die Bedürfnisse behinderter Studierender mittlerweile sehr genau, doch es steht dem Präsidium frei, die Stelle neu auszuschreiben. Melanie Böff studiert Publizistik und Politik. Zurzeit ist sie auf Krücken unterwegs – und freut sich daher über jedes Stückchen Barrierefreiheit an der FU. Foto: Cora-Mae Gregorschewski

Mehr Infos zum Thema auf furios-campus.de/campus


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Auf einen Kaffee bei Kommilitonen Keine Lust auf die große, volle Mensa? Studentische Cafès bieten eine Alternative. Wo es gemütlich ist und wo es die Mate am günstigsten gibt, verraten Lisa Paul, Laura Betram und Helena Moser.

PI-CAFÉ Wer sich einmal am Ende des K-Ganges die Treppe ganz hoch zum Pi-Café verläuft, sollte hier auf jeden Fall eine kleine Pause einlegen. Die große Terrasse und viele grüne Pflanzen laden über den Dächern der Rostund Silberlaube zum sonnigen Ausspannen mit Urlaubsflair ein. Betreiber: Studierende Specials: Rundum-Dachterrasse mit Blick über die Silberlaube Unser Tipp: Veganer Kuchen Kaffeepreis: 1 € Matepreis: 1,60 € Angebotsvielfalt: Ökoindex (vegan, vegetarisch):

CALEDONIAN CAFÉ Das Caledonian Café im Raum JK 29/231 in der Rost- und Silberlaube lädt vor allem durch seine helle und freundliche Atmosphäre ein. In dem großen Raum kann man sich seiner Arbeit widmen oder mit seinen Kommilitonen einen fair gehandelten Kaffee trinken. Betreiber: FSI Anglistik Specials: Antisexistische Leseecke Unser Tipp: Sandwiches mit hausgemachten vegetarischen und veganen Aufstrichen Kaffeepreis: 0,60 € Matepreis: 1,20 € Angebotsvielfalt: Ökoindex:

ROTES CAFÉ Das kleine rote Häuschen mit Café im Hinterhof der Ihnestraße 22 hat unter anderem einen Raucher- und einen Frauenraum. Statt eines festen Angebotes findet man hier täglich etwas Neues, donnerstags kochen Studierende veganes Essen für Kommilitonen in der VoKü. Betreiber: FSI OSI Specials: im Sommer auch Party-Location Unser Tipp: Erst Tischkicker spielen, dann auf der Wiese rund um das Café chillen Kaffeepreis: 0,50 € Matepreis: Angebotsvielfalt: Ökoindex:

Weitere Cafes und zusätzliche Informationen findet ihr auf furios-campus.de CAFÉ TRICKY Wer einen günstigen Kaffee sucht, sollte an der Garystraße 55 einen Blick ins Café Tricky werfen. Hierbei handelt es sich um ein kleines, neu eingerichtetes Café, das im Sommer außerdem mit seinem Außenbereich zum gemeinsamen Lernen mit den Kommilitonen einlädt. Nichtstun ist auch ok. Betreiber: FSI PuK Specials: Bier Unser Tipp: Jeden Dienstag Filmabend Kaffeepreis: 0,50 € Matepreis: 1,50 € Angebotsvielfalt: Ökoindex:

CAFÉ TATORT Das Café Tatort in der Boltzmannstraße 3 lässt nicht nur Juristenherzen höher schlagen. Die studentenfreundlichen Preise und die gemütliche Atmosphäre machen das Café zu einem angenehmen Ort für eine entspannte Pause. Betreiber: FSI Jura Specials: PC mit Internet für Besucher Unser Tipp: Hier gibt‘s die billigste Mate und den billigsten Kaffee - trotzdem Bio Kaffeepreis: 0,30 € Matepreis: 1,15 € Angebotsvielfalt: Ökoindex:

Laura Bertram, Helena Moser und Lisa Paul studieren Publizistik. Die Nase voll vom Mensa-Essen, suchten sie nach Alternativen: Studentische Cafés! Fotos: Christopher Hirsch und Christoph Spiegel


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Campus

wo bin ich hier gelandet?

Kämpfen wie Mary Poppins

Algorithmus im Blut

Prügeleien waren bisher nicht gerade Isabelle Caps-Kuhns Sache. Trotzdem traute sich die Filmwissenschaftsstudentin in eine Trainingseinheit der asiatischen Kampfsportart »Arnis Stockkampf«.

Von Gameboys und Gigahertz haben auch Politikstudenten schon mal gehört. Die Details sollten sie aber doch besser den Informatik-Nerds überlassen, wie Ines Küster merkte.

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or meinem inneren Auge sehe ich mich schon mit aufgeklapptem Regenschirm gegen eine Horde philippinischer Macheten-Kämpfer antreten. Die Kampfsportler des philippinischen Arnis-Stockkampfs üben ihre Kampfkunst nämlich auch mit Alltagsgegenständen wie Hut, Stock oder Regenschirm, um sich auf der Straße verteidigen zu können. Mary Poppins lässt grüßen! Als ich jedoch bei meinen 15 Mitkämpfern im Sportzentrum ankomme, sehen die Stöcke zum Glück nicht angsteinflößend aus. Sie sind auch viel kleiner, als ich gedacht hatte. Erst einmal ist alles ganz simpel: Die Kampfgeräte liegen auf dem Boden, wir springen darüber. Das kann ich! Wer die Stöcke berührt, muss Liegestützen machen. Jetzt folgen Koordinationsübungen: In jeder Hand ein Stock, den wir in unterschiedliche Richtungen kreisen lassen. Klingt einfacher als es ist. Sieht auch ziemlich dämlich aus. Aber zum Glück nicht nur bei mir. Danach fangen wir tatsächlich an zu kämpfen: Wir lernen eine Schlagabfolge, die es anschließend zu parieren gilt. Links, rechts, oben, unten, über Kreuz – falsche Handhaltung! Links, rechts, oben, unten. Mir schwirrt der Kopf. Die Übung ist zu Ende, ich inspiziere meine Übungspartnerin: Puh, sie atmet noch. Ich bin stolz auf mich. Nach 90 Minuten habe ich dann vor allem eines: schmerzende Füße. Erschöpft fahre ich nach Hause; im Bus treffe ich einen meiner Mitkämpfer. Aus seiner Tasche ragt ein philippinischer Holzstock. Sieht gefährlich aus, meine neu antrainierten Reflexe springen an. Mist! Nie habe ich meinen Regenschirm dabei, wenn ich ihn brauche.

uallererst bin ich maßlos enttäuscht: Wir hacken uns nicht auf CIA-Seiten ein. Wir bauen nicht einmal Computer zusammen! Mein Sitznachbar klärt mich auf: »Hier geht’s darum, wie Computer aus technischer Sicht aufgebaut sind.« Langweilig! Etwas geknickt schaue ich mich in der Einführungsvorlesung für Informatiker um. Mit mir sitzen noch 200 andere Studierende im Hörsaal. Einige von ihnen sind allem Anschein nach sogar weiblich. Es gibt sie also: Frauen in der Informatik! Eine davon bin heute ich. Das Modul ist für Erst- und Zweitsemester gedacht. Theoretisch also könnte sogar ich als Politologin etwas verstehen – dachte ich. Praktisch scheitere ich schon an der ersten Folie: »Principle of Operation of Computer Instruction Execution«. Aha. Jedes Mal, wenn ich etwas Bekanntes höre, freue ich mich dafür umso mehr: Daten, Befehle, Play Station 2, Game Boy, Gigahertz. Als es ans Rechnen geht, schaffe ich es sogar, eine Zahl ins Zehnersystem umzurechnen – Nerd-Feeling pur. Eins aber fehlt mir noch: mysteriöse Formeln. Doch ich habe Glück! Der Dozent erklärt einen »euklidischen Algorithmus« – Fragezeichen in meinem Kopf. Die anwesenden Informatiker scheint es nicht zu stören. Die haben wohl den Algorithmus im Blut. Um eins beneide ich Informatik-Studierende jedoch definitiv: um ihre Dozenten. Wenn meine Profs auch so lebendig vortrügen, könnte mich selbst »Politische Ideengeschichte« vom Hocker reißen!


Campus

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Kiffen mit Kafka Anfang der 1970er-Jahre gingen die meisten Studierenden auf die Straße statt zur Vorlesung. Matthias Matussek blieb im Hörsaal. Maik Siegel fragte den Journalisten warum.

Matthias Matussek wurde 1954 in Münster geboren. An der FU studierte der Journalist Anglistik, Germanistik, Amerikanistik, Komparatistik und Publizistik. Nach Stationen beim »Berliner Abend«, »TIP« und »Stern« landete Matussek beim »Spiegel«. Er lebte als Korrespondent u.a. in New York, Rio de Janeiro und London. Von 2003 bis 2007 leitete er das Kulturressort des Spiegels und arbeitet dort heute als freier Autor. Matussek lebt in Hamburg.

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est-Berlin im Jahr 1973: Hausbesetzer, Drogenabhängige, RAF-Anhänger, Aussteiger. Und mittendrin: Matthias Matussek, der einfach nicht zur Bundeswehr wollte. Deswegen schrieb sich der damals 19-Jährige an der FU ein. Der heutige »Spiegel«-Journalist war damals noch genauso unruhig wie seine Zeit: Am Anfang studierte er fünf Fächer auf einmal, zog gleichzeitig etliche Male um – ziellos, immer unterwegs. Am Ende landete er in Neukölln, von wo aus er täglich in die U-Bahn Richtung FU stieg, um Vorlesungen in Germanistik und Anglistik zu hören. In Dahlem lag zu dieser Zeit noch ein Hauch der 60er in der Luft. Viele Studierende hatten die Revolution vor Augen, gingen auf die Straße um Deutschland zu verändern. Doch der Student Matussek, der mit 17 »Das Kapital« von Karl Marx gelesen hatte, erklärte seine revolutionäre Laufbahn

schon mit 20 für beendet. Die Protestkultur an der FU ging ihm auf die Nerven: »Das war teilweise unerträglich«, sagt der 59-Jährige heute. »Diskussion war nicht mehr möglich, es ging um fest umrissene Welt- und Feindbilder.« Matussek ging stattdessen voll in seinem Studium auf: Er vertiefte sich in Kafka-Lektüre, betete Gedichte von den Beat-Poeten vor sich her und lauschte der Musik von Jim Morrison oder The Cream. »Die hat man am besten verstanden, wenn man bekifft war«, sagt er und lacht. Ein Seminar zu Adornos ästhetischer Theorie beeinflusste ihn noch Jahre später zu seiner Zeit als Theaterkritiker. Am meisten aber hat ihn ein privater Zirkel von gleichgesinnten Studenten geprägt. Dort haben sie sich mit den Dingen beschäftigt, die damals dem politischen Aktionismus geopfert wurden, erzählt Matussek. Sie schrieben Kurzgeschichten und lasen Gedichte, sprachen über Sehnsüchte und Empfindungen, diskutierten die Schönheit und die Literatur. »Wir haben gespürt: Das war das eigentlich Wichtige.« Bald jedoch fragte er sich, was er mit der Kombination seiner Orchideenfächern anfangen sollte. An einem Gymnasium in Steglitz probierte Matussek sich als Lehrer. Schnell aber merkte er, dass er dafür nicht

geboren war – er wollte einen antiautoritären Unterricht. »Aber das Diskutieren im Stuhlkreis hat die Schüler nicht interessiert«, sagt er. »Und als Solo-Entertainer an der Tafel habe ich mich nicht wohl gefühlt.« Also begann Matussek neben seinem Studium als freier Mitarbeiter bei Stadtteilzeitungen zu arbeiten. Das JournalistenDasein wurde schnell zu seinem Traumberuf. Und er hatte großes Glück: Mitten im Studium wurde Matussek an der Deutschen Journalistenschule in München angenommen. Sein Plan, parallel seine Magisterarbeit zu schreiben, ging neben seiner journalistischen Arbeit unter. Auch, wenn er es damals noch nicht wusste – er ist nie an die FU zurück gekehrt. »Mein Weg war eben ein anderer«, schaut Matussek heute zurück. Er stand damals erst am Anfang seiner journalistischen Karriere. Auch ohne Studienabschluss.

Maik Siegel wohnt in Neukölln – und ist richtig froh, dass er keinen Kohleofen hat. Foto: Frank Siemens (Pressefoto)


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Kultur

Matthias Nizinski (Mitte) und Tilman Kalckhoff (übrige Aufnahmen) entwickeln in der Dunkelkammer ihre Fotos

»Besser als Photoshop« Fotografie ist einfach und für alle da. Das zumindest sagt Tilman Kalkhoff, FU-Student, Fotoliebhaber und der Begründer der einzigen »Dunkelkammer für alle«. Von Kirstin MacLeod

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bgedunkelte alte Kellerräume sind Tilman Kalkhoffs Lieblings- und Arbeitsplatz: Nein, der 29-jährige FU-Student ist nicht professioneller DarkRoom-Betreiber – wobei die Bezeichnung nicht ganz falsch ist. Denn wörtlich übersetzt arbeitet Tilman genau dort, in einer Dunkelkammer. Im Kellerraum der »Ida Nowhere«, einem Projektraum für Kunst und Kultur in Neukölln, können Fotoliebhaber und Laien lernen, dass zur analogen Fotografie mehr gehört, als im richtigen Moment den Auslöser zu drücken. Das Konzept der »Dunkelkammer für alle«, wie Tilman sagt, sei in Berlin einzigartig. Zusammen mit vier anderen Fotonarren betreibt der Englischund Geschichtsstudent das Labor seit knapp zwei Jahren. Zwar gebe es in der Stadt viele sogenannte »Laborgemeinschaften«. Deren Benutzung sei mit 25 Euro jedoch sehr teuer, sagt Tilman. Im »Ida Nowhere« können Bilder für etwa 8 Euro entwickelt werden. Komplette Foto-Ausstellungen sind schon in dem Keller entwickelt worden. Das Fotolabor gehört zu einem gemeinnützigen Verein. »Unser Equipment setzt sich komplett aus Mitglieds- und Spenden-

beiträgen zusammen«, erklärt der Student. Manche Teile der Ausrüstung lassen sich im Fachhandel kaum noch erwerben. Tilman betritt die Dunkelkammer und erklärt, wie ein authentisches Bild entsteht, ganz ohne Instagram: Das fertige Bild, die Kontraste, die Helligkeit, der Schatten – alles hänge nur noch von der Fähigkeit des Entwicklers ab. »Das ist doch viel besser als Photoshop«, sagt Tilman und grinst. »Und das Schöne ist: Bei uns kannst du mit den Bildern machen, was du willst.« Das Entwickeln allein sei eigentlich ganz einfach. Zunächst müsse man die Bilder unter dem Vergrößerer belichten, erklärt er. Dann legt Tilman das noch weiße Fotopapier nacheinander in verschiedene Chemikalien: Im »Entwickler« wird plötzlich das Bild sichtbar, der »Stopper« beendet diesen Prozess und der »Fixierer« sorgt dafür, dass die Motive nicht verschwimmen. Ein Wasserbad reinigt das Fotopapier schließlich von den verbliebenen Chemikalien. Das Ganze geht so schnell, dass man gern noch ein zweites Mal hinsehen würde, um zu verstehen, wie aus dem Nichts plötzlich ein Bild entsteht. Auch Matthias Nizinski fasziniert das. Der 30-Jährige, der an der FU Theaterwissenschaft studiert, ist von Anfang an bei

»Ida Nowhere« dabei. »Ida Nowhere heißt für mich, raus aus der Realität und rein in eine Wirklichkeit, für die man selbst verantwortlich ist.« Es sei ein zwangloser Verein mit wenigen Regeln, sagt Tilman. An den Wochenenden gibt es Fotografieworkshops, unter der Woche Konzerte und Lesungen. Tilman und die anderen setzen dabei auf die Motivation der Gruppe: »Hier ist nicht einer der Lehrer und der Rest hört zu. Jeder kann sich einbringen«, ergänzt der Student. Mit dem eigenen Bild zufrieden sein – das ist für Tilman besonders wichtig. So ist »Ida Nowhere« wohl für jeden Fotoliebhaber etwas, der sich nicht vor ein bisschen Kollektivcharakter scheut und am Ende etwas andere Bilder mitnehmen möchte – als »Andenken an die Parallelwelt«, wie Mathias sie beschreibt. Tilman fügt hinzu: »Klar, was wir hier machen ist Spielerei für Liebhaber – aber eben eine authentische Spielerei.« Kirstin MacLeod wurde endlich aufgeklärt: Nicht nur mit Instagram lassen sich gute Fotos »entwickeln«. Fotos: Cora-Mae Gregorschewski


Kultur

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Der anonyme Blog-Poet Ein FU-Student gewährt auf seinem Blog intime Einblicke in seine seelischen Abgründe. Die Leserschaft wächst stetig. Wer ist dieser Anton Mila?, fragen Ute Rekers und Bente Staack.

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anz hinten in der Ecke sitzt er, den obligatorischen Jutebeutel neben sich auf dem Sofa, entspannt das Kneipenleben beobachtend. Dichter Zigarettenqualm hängt in der kleinen Bar, das bunte Szenevolk von Friedrichshain tummelt sich an der Theke. Seit geraumer Zeit geistert der Name Anton Mila durch die virtuelle Welt des Internets. Seine Kurzgeschichten begeistern zahlreiche Leser. Er veröffentlicht sie auf seinem Blog. »In unregelmäßiger Regelmäßigkeit«, sagt er lässig. Das Blog, das in einer alkoholgeschwängerten Nacht im Juni 2012 Gestalt annahm, gibt Einblicke in das emotionale Innenleben des Mittzwanzigers, der an der FU studiert. Zum Erhalt seiner Privatsphäre schreibe er unter Pseudonym. Auch seinen Studiengang will er nicht nennen. Das mache ihn interessanter, sagt Anton und grinst. Nicht selten bekommen seine Leser einen Spiegel vorgehalten. Als »jungen Erwachsenen in einer Welt voller schlechter Sachen« bezeichnet sich der Blogger. Damit kann sich wohl jeder im Studentenalter identifizieren, von nächtlichen Begegnungen mit Frauen bis hin zu Abschied und Selbstzweifeln. Kritiker warfen ihm dafür schon einmal an den Kopf, ein »Ikea-Baukasten-Autor« zu sein, weil er sich immer wieder mit diesen Inhalten beschäftige. Darauf angesprochen zuckt Anton nur mit den Schultern. Das lasse sich doch auf viele Künstler übertragen, sagt er. »Die drei großen Themen Tod, Liebe und Angst kommen vermutlich in 95 Prozent der Popliteratur vor.« Seit der junge Literat mit elf Jahren »Herr der Ringe« gelesen hat, sei er dem Schreiben verfallen, erzählt er. Zunächst war alles nur ein »Dummer-Jungen-Quatsch«. Bis ihm das Herz gebrochen und seine Texte zur Selbsttherapie wurden - auch präventiv: »Bevor

ich nackt über den Alexanderplatz renne, schreibe ich lieber«, erklärt Anton, während er an seinem Bier nippt. Oft kommen Frauen aus seinem Leben in den Texten vor. Nicht selten muss er sich auf Diskussionen mit ihnen einlassen, wenn sie sich in seinen Texten wiedererkennen. Unter seinem ersten Pseudonym »berlin_bombay« begann er vor knapp drei Jahren auf »Neon.de« seine biografisch angehauchten Texte zu veröffentlichen. Einige Male schaffte er es sogar auf die Startseite des Magazins. Wenn er schwierige Phasen durchlebt, küsse ihn besonders häufig die Muse. Doch statt in langen Monologen vor Selbstmitleid zu zerfließen, versuche er sich knapp zu halten: »Ich will mit möglichst wenig Worten möglichst große Bilder malen.« Es mag der Digitalisierung und den immer kürzer werdenden Aufmerksamkeitsspannen geschuldet sein, dass Anton mit seinen Kurzgeschichten den Nerv der Zeit und des Publikums trifft. Auf seinem Blog weiß er das geschickt zu nutzen. Für die Zukunft plant er den Sprung hinaus aus der Virtualität und aufs Papier. Mit anderen Nachwuchsautoren arbeitet er am »Projekt Projekt 13«. Für die Produktion eines Kurzgeschichtenbandes suchen sie derzeit einen Verlag, um dem großen Traum von einem eigenen Buch ein Stückchen näher zu kommen. Ganz unrealistisch scheint das nicht. Denn schon Antons Blogbeschreibung titelt: Buchstaben, nichts als Buchstaben. Und darauf versteht er sich. Ute Rekers und Bente Staack haben trotz eines Treffens mit Anton Mila noch so ihre Probleme damit, sich in ihren Texten kurz zu fassen. Foto: jujurocks

Anton Mila ist ein Phantom. Sein wahres Gesicht gibt er nicht zu erkennen


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Kultur

Kunst aus der Box Eine Berliner Galerie macht auf die Lebensbedingungen von jungen Schuhputzern in Äthiopien aufmerksam. Auch ein Mitarbeiter der FU stellt aus. Von Inga Stange und Julia Brakel

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is zur Decke stapeln sich die vielen kleinen Holzkisten an den Wänden der Berliner Galerie Listros. Wer genauer hinsieht, erkennt in ihnen Schuhputzboxen. Alle aus altem Holz und ähnlich groß. Ihre ehemaligen Besitzer, Jugendliche aus Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba, haben sie selbst zusammengebaut und auf ihnen die Schuhe unzähliger Passanten geputzt. Hinter jeder einzelnen Box steckt eine Geschichte – in der Galerie Listros findet sie nun Gehör. Vor zehn Jahren gründete der gebürtige Äthiopier Dawit Shanko die Galerie Listros und den gleichnamigen gemeinnützigen Verein in Berlin. »Listros« werden in Äthiopien meist noch sehr junge Menschen genannt, die sich durch das Schuhputzen ihren Lebensunterhalt finanzieren. Auch Dawit Shanko hat sich so neben der Schule etwas dazu verdient. Nach Deutschland kam er als 17-Jähriger mit einem Stipendium. »Der Verein Listros möchte die Sicht auf Äthiopien in eine positivere Richtung lenken«, beschreibt der 46-Jährige sein Ziel. »Außerdem sollen die Schuhputzer für ihre harte Arbeit Anerkennung erhalten, unterstützt werden und genauso als Zukunft Äthiopiens angesehen werden wie die so genannte Elite.« Obwohl die jungen Schuhputzer zum alltäglichen Straßenbild in Addis Abeba gehörten, sei ihr Dasein von Vorurteilen und einem Leben am Rande der Gesellschaft geprägt. Listros engagiert seit einigen Jahren Mentoren, die in zehn Schulen den Schülern helfen, Arbeit und Lernen miteinander zu vereinbaren. Während der Verein vor Ort in Äthiopien mit lokalen Akteuren arbeitet, konzentriert sich die Galerie in Berlin auf Kunst mit afrikanischem Kontext. Christophe Ndabananiye nutzte diese Ausrichtung. Der 36-Jährige ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Kunst Afrikas am kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin. Christophe kommt aus Ruanda; dort hat er in der Hauptstadt Kigali an einer Kunstschule studiert. Nach dem Genozid der Hutu an den Tutsi im Jahr 1994 verließ er das Land, kam nach Deutschland und begann, freie Kunst in Saarbrücken zu studieren. Unter dem Titel »Überreste« zeigt er in der Galerie nun Fo-

tografien und mit Bootslack gemalte Bilder aus Ruanda. »2011 bin ich ein weiteres Mal nach Ruanda zurückgekehrt«, berichtet er. »Meine Werke handeln von den Eindrücken und Erlebnissen dieses Besuchs.« Die Arbeit mit Bootslack gebe ihm die Möglichkeit, Veränderung darzustellen. Der Lack verändert sich, er arbeitet weiter und zeigt so den Prozess der Alterung in den Gesichtern. Inspiriert haben ihn die Menschen, Städte und die Kunst Ruandas. »Es ist auch eine Spurensuche nach Vergangenheit, um die Gegenwart zu gestalten«, sagt Christophe. Ihre afrikanischen Wurzeln verbinden Christophe und die neun anderen Künstler der Reihe »Von dort bis hier«. Sie thematisieren in ihren Werken ihr Leben in Deutschland, die eigene Herkunft und ihre persönlichen Erfahrungen in den jeweiligen Kulturen. Sie wollen zum Nachdenken anregen und eine Brücke bauen - von hier nach dort.

Hinweis: Eine der Autorinnen arbeitet in der Galerie Listros. An der beschriebenen Ausstellung ist sie nicht beteiligt. Julia Brakel und Inga Stange sind dankbar, dass sie nicht für ihr Abitur arbeiten mussten und haben umso mehr Respekt für die Arbeit in Äthiopien. Foto: Cora-Mae Gregorschewski

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Unzählige Schuhputzkisten wie diese zeigt die Galerie »Listros« in der Kurfürstenstraße


Wir sind großartig. Aber andere machen auch schöne Sachen. An dieser Stelle pflücken wir die besten Rubriken im Blätterwald und füllen sie mit unseren Inhalten. Folge III: »Post von Wagner«, »Bild-Zeitung«

POST VON Florian Matthias Wagner Liebe ZEITCampusRedaktion, ich mochte Euch. Bis vor kurzem zumindest. Bis ich vor wenigen Wochen Eure aktuelle Ausgabe aus dem Briefkasten gefingert habe. Eine gutaussehende Frau mit scheuem Blick schaute vom Cover zu mir hoch. Frauen mögen mich. Dann wanderten meine Augen zu der Schlagzeile, die Ihr neben ihr hübsches Gesicht gesetzt habt. Und mir blieb fast mein Doppelkorn im Rachen stecken! Ich musste husten! »Leben statt Lebenslauf!« Warum macht Ihr das immer? Warum müsst Ihr uns immer das Titelthema klauen? Ich weiß genau: Euch läuft stets das Wasser in den Backentaschen zusammen, wenn Euch der FURIOS-Maulwurf mal wieder das geheime nächste Titelthema durchfaxt. Als wir 2011 über Geld schrieben, da wart Ihr mit der Ausgabe

03/12 noch einen Tick zu langsam. Ihr seid schneller geworden. Dieses Mal hatten wir uns schon im Januar auf das Thema »Lebensläufe« für unser Heft festgelegt – und dann habt Ihr abgeschrieben! Genau so wie Guttenberg! Ihr seid gewissermaßen die Guttenbergs des Campusjournalismus! Pfui! Schämt Euch, ZEIT Campus! Schämt Euch! Das Geld für mein Abo werde ich in Zukunft sparen. Davon kaufe ich mir lieber Korn. Korn macht mich betrunken. Ihr nicht. Herzlichst,

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Wissenschaft

Copy, Paste und die wirklichen Probleme Wo über Doktorarbeiten geredet wird, ist eine Plagiatsdebatte nicht weit. Dabei haben Promovierende ganz andere Probleme. Von Valerie Schönian

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ans Brittnacher braucht keine schlaue Software, um Plagiate zu finden. Wenn eine Hausarbeit auf den ersten Seiten vor Grammatikfehlern strotzt und dann drei Seiten makelloser Prosa folgen; wenn eine Ortsangabe in der Fußnote blau und unterstrichen ist; oder wenn zwei Studierende eine komplett identische Hausarbeit abgeben – dann erkennt er die Kopie auch mit bloßem Auge. Brittnacher ist Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Freien Universität. Er hat schon einige Betrugsversuche gesehen – in Master- und Bachelorarbeiten. In einer Doktorarbeit aber noch nie. Während ganz Deutschland immer wieder medienwirksam über neue Plagiatsskandale bei Promotionen diskutiert, weiß Brittnacher: Die wichtigen Probleme des wissenschaftlichen Arbeitens von Doktoranden sind nicht die Plagiate – sie liegen ganz woanders. Etwa bei der Betreuung: Für 21 Doktoranden ist Brittnacher zurzeit verantwortlich. Zu viele? »Es ist zumindest grenzwertig«, sagt er. »Aber wenn ich es nicht mache, macht es keiner.« Denn nicht jeder Professor ist bereit, Doktorarbeiten zu übernehmen. Der Grund: Für das Betreuen eines Doktoranden gibt es kein Geld. Wer promoviert, steht am Ende der universitären Nahrungskette. Unter dem Geldmangel leidet

aber nicht nur die Betreuung, sondern auch das Portemonnaie der Promovierenden. Wissenschaftliche Mitarbeiter an Lehrstühlen haben meist nur eine halbe Stelle, laut Vertrag knapp zwanzig Stunden pro Woche. De facto arbeiten drei Viertel von ihnen 40 Stunden und mehr. Dafür bekommen sie brutto je nach Dauer der Beschäftigung 1100 bis 1300 Euro. Christof Mauersberger und Frithjof Stöppler sind nach ihrem Master dennoch im Unibetrieb geblieben. Mauersberger promoviert in Internationaler Politischer Ökonomie (IPÖ) am Otto-Suhr-Institut, Stöppler über Unternehmensnetzwerke am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft. Beide haben eine halbe Stelle, glücklich schätzen sie sich trotzdem. Stöppler ist Anfang 30. Begonnen hat er seine Promotion 2008 in einem Graduiertenkolleg. Diese Schulen sind stärker strukturiert als eine Individualpromotion. Mit gemeinsamen Kursen und Forschungen ähnelt diese Promotionsform einem fortgesetzten Studium. »Das System bietet viele Vorteile«, sagt Stöppler. So gebe es statt eines Betreuers ganze Betreuungsteams. »Ein einzelner Professor kann schließlich nicht in allen Themen ein Experte sein.« Doch auch an den Graduiertenschulen ist die Förderung ein Problem: Die Promovierenden haben keinen arbeitsrechtlichen


Wissenschaft

Schutz, da die Stipendien eine Schenkung sind. Wer Pech hat, bekommt nach einem Jahr einfach keinen Anschlussvertrag. Meistens würden die Stipendien zwar fortgesetzt, sagt Stöppler. »Aber krank werden kann man sich nicht leisten.« Denn die Finanzierung werde nicht verlängert – »wenn dir ein halbes Jahr fehlt, fehlt es.« Stöppler ist nach drei Jahren im Graduiertenkolleg seit 2011 am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft angestellt. In seinem fünften Promotionsjahr hat er den fünften Vertrag mit der FU. Für ihn waren das fünf Mal Hoffen und Bangen, ob er sich im kommenden Jahr noch finanzieren kann. Er sagt, er hatte Glück: »Ich kenne Doktoranden, die hatten in vier Jahren zehn verschiedene Verträge.« Mauersberger promoviert am Lehrstuhl IPÖ über Medienregulierung in Lateinamerika. Er geht also den klassischen Weg der Individualpromotion. Fragt man ihn nach seiner persönlichen Situation, kommt er ins Schwärmen: »Ich kann zu einem Thema forschen, das mich interessiert und werde dafür bezahlt.« Ihm gefällt die Kombination aus Lehre und Forschung. Und er mag die Freiheiten einer Individualpromotion. Seine Betreuerin unterstütze ihn, fordere, aber überlaste ihn nicht. Fragt man ihn jedoch nach den strukturellen Bedingungen, klingt sein Urteil anders. Wer frisch von der Uni komme wie er, freue sich über das Gehalt. »Aber ich kenne genug Leute, die eine Familie gründen wollen oder keine günstige Wohnung haben – dann kann es knapp werden.« Auch die Perspektiven der Nachwuchswissenschaftler sind nicht rosig. »Unbefristete Stellen haben nur die Professoren«, sagt Mauersberger. »Alle anderen erhalten Zeitverträge und hoffen, dass irgendwann irgendwo eine Professur ausgeschrieben wird, die nicht schon intern vergeben ist.« Nach dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz dürfen wissenschaftliche Mitarbeiter, die nicht durch Drittmittel finanziert werden, maximal sechs Jahre lang auf Basis befristeter Verträge arbeiten. Dann müssten sie unbefristet angestellt werden – theoretisch. Praktisch müssen viele vorher, spätestens aber dann, gehen. Ihre größte Hoffnung: Weiter an der Uni als Juniorprofessor arbeiten – wieder befristet. »Du bist promoviert, Anfang 30 und willst eine Familie gründen. Und du weißt: Es wird nicht besser, sondern schlimmer«, beklagt sich Stöppler. Ein Witz unter Doktoranden geht so: »Und, was machst du, wenn du fertig bist?« Antwort: »Anderer Job oder anderes Land.« Wer in Deutschland im Wissenschaftsbetrieb arbeiten will, hat Überstunden ohne Ende, dazu Geldsorgen und unsichere Zukunftsaussichten. Wozu all diese Faktoren im Zusammenspiel führen ist absehbar und hat sogar schon einen Namen: »Brain Drain« – das Abwandern qualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland, wo sie besser bezahlt werden und eine Perspektive haben. »Und das fängt gerade erst an – im großen Stil«, sagt Stöppler. Er selbst will in der Wissenschaft bleiben. Er weiß, dass er dafür regional sehr flexibel sein muss. Trotzdem: »Es ist der Job, in dem du dich am besten selbst verwirklichen kannst.« Professor Brittnacher nennt das »pädagogischen

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Idealismus.« Der Impuls dabei: die Wissenschaft voran bringen und sie anderen Menschen vermitteln. Die meisten Doktoranden besitzen diesen Idealismus, vor allem in den Geisteswissenschaften, wo der Nutzen eines solchen Titels fraglich ist. Promovierende, denen es um die Wissenschaft geht, plagiieren nicht. Deswegen trifft es sie, wenn einige »Titelhascher« den Ruf des Doktors beschädigen. »Wir Wissenschaftler besitzen nicht viel«, sagt Professor Brittnacher. »Ich habe nur meine Redlichkeit und mein intellektuelles Kapital.« Das werde ihm durch Plagiatsskandale genommen. Insofern hatte sogar die Causa Guttenberg und die jüngste Debatte um FU-Honorarprofessorin Anette Schavan ihr Gutes: Das Plagiieren ist eine zu ahndende Straftat geworden – es ist Diebstahl. Aber vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um auf die alltäglichen Sorgen der Doktoranden um Arbeit und Zukunft aufmerksam zu machen. Valerie Schönian würde niemals eine Doktorarbeitschreiben. Sie braucht schon für ihre Hausarbeiten Jahre.

Illustration: Robin Kowalewsky

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Der Mensch macht Epoche Strände aus Plastik, Fleisch aus dem Labor – Geologen fragen sich nun, ob es genügend Gründe gibt, ein neues Zeitalter auszurufen: das Anthropozän, das Zeitalter der Menschen. Von Fan Ye und Josta van Bockxmeer

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in monotones Brummen irritiert das Trommelfell. Dann steigt die Pilzwolke auf. Obwohl ihr Anblick eigentlich bekannt ist, schockiert sie: die Atombombe. Ein Film über sie ist derzeit im Rahmen der Ausstellung »The Whole Earth« im Haus der Kulturen der Welt zu sehen. Die Atombombe ist vielleicht das beste Zeugnis davon, wie der Mensch Natur und Umwelt beeinflusst hat. Im »Anthropozän« ist der Mensch der wichtigste Einflussfaktor auf unserem Planeten. Der Begriff stammt von dem Nobelpreisträger für Chemie, Paul Crutzen. Er schlug vor, das Anthropozän als Nachfolge-Erdzeitalter des Holo-

bezeichnet werden können«, sagt Leinfelder. Der Einfluss des Menschen sei nicht mehr wegzudenken, geschweige denn zu widerrufen. Das Anthropozän bedeute für ihn auch ein systematisches Umdenken: Die Trennung zwischen Mensch und Natur werde aufgehoben. Die Macht, die der Mensch über die Natur ausübt, könne »ins Positive gedreht werden«, sagt Leinfelder. Dabei gehe es nicht darum die Erde komplett nach unserem Willen zu gestalten, sondern anzuerkennen, dass sie ein komplexes System ist und es viele Umweltprobleme keine einfachen Lösungen gibt. Er

zäns einzuführen, das vor mehr als 11 000 Jahren begann. Es wäre wahrhaft der Beginn einer neuen Erd-Epoche. 2017 soll die »International Commission on Stratigraphy« über den Vorschlag entscheiden. Im Haus der Kulturen der Welt diskutieren Wissenschaftler und Künstler im Rahmen des »AnthropozänProjekts« darüber, was die Einführung des Begriffes für die Gesellschaft bedeuten würde. Die Ausstellung »The Whole Earth« ist Teil einer zweijährigen Reihe von Konferenzen und Ausstellungen. Auch an der Freien Universität denkt man bereits über das neue Zeitalter nach. Reinhold Leinfelder, Professor für Paläontologie und Geobiologie an der FU, sitzt im Leitungsteam des Anthropozän-Projekts. In seinem hellen Arbeitszimmer auf dem Campus Lankwitz erläutert er die Relevanz des Begriffes »Anthropozän«. »Bereits 77 Prozent der eisfreien Erde sind vom Menschen so benutzt worden, dass sie nicht mehr als Urnatur

plädiert für das »Vorsorgeprinzip«: Der Mensch soll Räume schaffen, in denen die Natur sich erholen kann. Was die Vorsorge an der FU betrifft, platzt Leinfelder geradezu vor Ideen: Er möchte ein Urban-Gardening-Projekt starten, an dem sich Studierende beteiligen können. Auch ist er im Gespräch über den Aufbau einer interdisziplinären Anthropozän-Arbeitsgruppe, die zu dem Thema lehren und forschen soll. Die institutionellen Hindernisse entmutigen ihn nicht: «Ich bin inzwischen an meiner fünften Universität. Ich gebe da nicht so schnell auf.« Das ist der Geist des Zeitalters: Der Mensch gestaltet seine Welt. Fan Ye und Josta van Bockxmeer freuen sich schon darauf, im Unigarten ihre eigenen Kartoffeln anzubauen. Illustration: Luise Schricker


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Zurück zur Nacht Die Dauerbeleuchtung in Städten wirkt sich negativ auf Mensch und Umwelt aus. Gemeinsam mit Schülern will der Physiker Christopher Kyba das Problem angehen. Von Francis Laugstien

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oderne Städte wie Berlin sind heute 24 Stunden lang hell erleuchtet. Mit der Erfindung der Glühbirne hat der Mensch die Nacht erobert, gleichzeitig aber auch eine neue Art der Umweltverschmutzung erfunden: Lichtverschmutzung. Der kanadische Physiker Christopher Kyba untersucht am Institut für Meteorologie der FU, wie sich die künstliche Aufhellung des Nachthimmels auf den Menschen und seine Umwelt auswirkt. Die Erforschung der Lichtverschmutzung steckt noch in den Kinderschuhen, doch es gibt viele Hinweise darauf, dass die Wissenschaftler hier auf ein gewichtiges Problem gestoßen sind. Ein Beispiel ist der Einfluss der Dauerhelligkeit auf den circadianen Rhythmus, die innere Uhr des Menschen: Bei Dunkelheit produziert unser Gehirn das Hormon Melatonin. Dieser körpereigene Müdemacher sorgt dafür, dass wir einschlafen. Das ist wichtig, weil im Schlaf das Immunsystem den Körper repariert und so auch Krebs vorbeugt. Licht blockiert die Ausschüttung von Melatonin, hält uns wach und scheint auf diese Weise tatsächlich das Krebsrisiko zu erhöhen. »Es gibt einen mehr als starken Verdacht, dass Licht in der Nacht zu einem Anstieg von Brustkrebserkrankungen führt«, sagt Kyba. Doch nicht nur die menschliche Gesundheit ist beeinträchtigt; die nächtliche Bestrahlung stört auch Tiere und Pflanzen. Nachtaktive Lebewesen sind ohne den Schutz der Dunkelheit ihren natürlichen Feinden ausgeliefert. Das Problem ist in der Bevölkerung noch weitgehend unbekannt. Auch deshalb ist es eines von Christoph Kybas Hauptanliegen, Nicht-Wissenschaftler in die Forschung einzubeziehen. Mit seinem Projekt »Skyglow Berlin« möchte Kyba zusammen mit Schülern aus Berlin und Brandenburg die Helligkeit des Nachthimmels messen. Die Schüler erhalten tragbare Lichtmessgeräte, mit denen sie nachts ins

Freie gehen und die Lichtbelastung dokumentieren. Auf diese Weise sollen sie nicht nur für das Problem sensibilisiert werden, sondern auch praktische Erfahrung in wissenschaftlicher Feldforschung sammeln. »Mit etwas Glück werden einige dieser Schüler später zu Lichtdesignern, Astronomen oder Biologen«, hofft Kyba. Die ermittelten Daten werden über eine Onlineplattform Wissenschaftlern und interessierten Personen weltweit zur Verfügung gestellt. Finanziert wird das Projekt durch Crowdfunding im Internet – also nicht durch eingeworbene Drittmittel aus der Industrie, sondern durch eine interessierte Öffentlichkeit. Bis zum 10. Juni müssen mindestens 5000 Euro eingegangen sein. Mit dieser Summe könnten vier Schulen eingebunden und 20 Lichtmessgeräte angeschafft werden. Momentan sucht der FU-Forscher nach Partnerschulen, die an dem Projekt teilnehmen wollen. Mit seiner unkonventionellen Art der Finanzierung geht er allerdings ein hohes Risiko ein. Wird der erforderliche Betrag nicht erreicht, wären alle Mühen umsonst gewesen. Um die Lichtverschmutzung zu minimieren, so Kyba, müsste Licht sinnvoller eingesetzt werden. So ließe sich die Verschwendung etwa verringern, indem man große Leuchtreklamen in der Nacht abstellt. Eine düstere Zukunft schwebt Kyba dabei nicht vor. Wohl aber ein kluger Einsatz der Leuchtmittel, mit denen wir die Nacht erobert haben. Francis Laugstien geht nachts joggen. Natürlichen Feinden ist er bis jetzt zum Glück noch nicht begegnet. Berlin bei Nacht: ESA/NASA (André Kuipers) Nachthimmel und Bearbeitung: Christoph Spiegel

Berlin bei Nacht ist alles andere als dunkel. Sogar die Teilung der Hauptstadt ist auf dieser Aufnahme von der Internationalen Raumstation noch erkennbar – im Osten leuchten die Laternen in einer anderen Farbe als im Westteil der Stadt


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Der empörte Student

der empörte student

FURIOS 10 IMPRESSUM

Morgenstund hat Gold im Mund? Nicht für Max Krause. Er würde morgens lieber ein paar unflätige Beschimpfungen in den Mund nehmen – wenn er nur nicht so müde wäre. Guten Morgen liebe Frühaufsteher, wisst ihr, ich bin ein umgänglicher Mensch – von mittags bis abends. Morgens brauche ich aber einfach meine Ruhe. Der Wecker klingelt einmal, zweimal, dreimal und mit jedem Mal sinkt meine Laune. Wenn ich dann aus dem Bett krieche und in die Küche schlurfe – die Schrecken des anstehenden Tages schon vor Augen – bin ich sowieso schon spät dran und habe keinen Nerv für ausführliche Zwiegespräche mit dir, liebe Mitbewohnerin. Du hast erst in zwei Stunden Uni, konntest aber seit sechs Uhr nicht mehr schlafen? Das Leben ist ungerecht und ich fühle mit dir. Das bedeutet aber nicht, dass ich jetzt die Zusammenfassung der vergangenen 16 Stunden deines Daseins hören will. In denen ist nämlich erstaunlich viel Nichts passiert. Nachdem du fünf Minuten lang mit der verschlossenen Badtür gesprochen hast, hinter der ich mich zwischendurch verschanzt habe, ist wohl auch dir klar geworden, dass ich deine Ausführungen nur mäßig spannend finde. Zur Strafe für mein Desinteresse erinnerst du mich süffisant daran, dass ich heute noch bei unserem Vermieter anrufen soll, um meinen verlorenen Schlüssel nachmachen zu lassen. Danke! Darf ich vielleicht erst einmal richtig die Augen öffnen, ehe du mir ein schlechtes Gewissen machst? Am U-Bahnsteig steht mir dann das nächste Treffen bevor, diesmal mit dir, mein quirliger Frühaufsteher-Kommilitone. Ich habe schon in den ersten Wochen unseres Studiums beschlossen, deine Existenz zwar zu akzeptieren, nicht jedoch zu beachten. Eigentlich dachte ich immer, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. Aber heute

ist es früh, du bist allein am Bahnsteig und brauchst offensichtlich jemanden, dem du dein übervolles Herz ausschütten kannst. Selbstverständlich ergehst auch du dich ausschließlich in Belanglosigkeiten. Glaube ich jedenfalls. Nach dem dritten Satz habe ich aufgehört zuzuhören. Alles, was mich davon abhält jetzt in der Bahn einzudösen, ist meine anerzogene Höflichkeit und deine unangenehm quiekende Stimme, die jedes zweite Wort betont als würde es die Welt bedeuten. Als die U-Bahn schließlich am Bahnhof Dahlem-Dorf ankommt, wartet dort das nächste Ärgernis. Das seid ihr, liebe Baumtöter vom U-Bahnausgang. Den fünf Kilo Totholz, die ihr mir in die Hand drückt, entnimmt mein weiches Hirn Folgendes: Ich soll eine Zeitung abonnieren, die Welt retten, den HenryFord-Bau besetzen und irgendein neoliberales Campusmagazin lesen. Leider bin ich nicht Chamäleon genug, um euren geschulten Blicken zu entgehen. Und eine schlagfertige Entgegnung auf eure dubiosen Angebote wird mir auch erst in einer halben Stunde einfallen. Wehrlos nehme ich alles entgegen. Ich habe nichts gegen euch alle. Wirklich nicht. Aber könnt ihr euch nicht einfach für die erste Stunde, nachdem ich aufgestanden bin, kollektiv in Luft auflösen? Wenn es gar nicht anders geht, dürft ihr danach auch wieder materialisieren. Dann werde ich mit blanken Augen deinen Ausführungen lauschen, liebe Mitbewohnerin, glaubwürdig Interesse an deiner Existenz heucheln, lieber Kommilito-

ne und euch geben, was ihr verdient, liebe Zeitungswegelagerer. Nur morgens hätte ich gerne meine Ruhe. Klar? Denn so, wie es jetzt abläuft, laugt mich der Weg zur Uni regelrecht aus. Dann komme ich in meiner Vorlesung an – und muss mich erstmal erholen. Indem ich in der ersten Stunde selig schlummere.

Herausgeber: Freundeskreis Furios e.V. i.G. Chefredakteur: Florian Schmidt (V.i.S.d.P, Freie Universität Berlin, JK 26/222a, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin) Stellv. Chefredakteurin: Veronika Völlinger Ressortleitung: Max Krause und Valerie Schönian (Politik), Katharina Fiedler (Campus),Kirstin MacLeod (Kultur), Matthias Bolsinger (Wissenschaft) Layout: Christopher Hirsch und Christoph Spiegel Chef vom Dienst: Fabian Hinsenkamp Redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe: Laura Bertram, Mara Bierbach, Josta van Bockxmeer, Melanie Böff, Matthias Bolsinger, Julia Brakel, Isabelle Caps-Kuhn, Rebecca Eickfeld, Katharina Fiedler, Margarethe Gallersdörfer, Fanny Gruhl, Hannah

Knuth, Max Krause, Ines Küster, Francis Laugstien, Vanessa Ly, Kirstin MacLeod, Helena Moser, Friederike Oertel, Lisa Paul, Ute Rekers, Thomas Rostek, Tycho Schildbach, Florian Schmidt, Valerie Schönian, Mareike-Vic Schreiber, Maik Siegel, Bente Staack, Inga Stange, Björn Stephan, Veronika Völlinger, Friederike Werner, Fan Ye Fotografien: Cora-Mae Gregorschewski, Christopher Hirsch, Christoph Spiegel Titelgestaltung: Christopher Hirsch, Robin Kowalewsky, Friederike Oertel, Luise Schricker, Christoph Spiegel Autorenfotografien: Cora-Mae Gregorschewski, Christoph Spiegel Illustrationen: Cora-Mae Gregorschewski, Chris-

topher Hirsch, Robin Kowalewsky, Friederike Oertel, Luise Schricker, Christoph Spiegel, Clara Straessle Lektorat: Lisa Ebinghaus Inserate: Katharina Fiedler, Fabian Hinsenkamp ISSN: 2191-6047

Illustration: Robin Kowalewsky

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