Furios 16 - Zukunft

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SOMMER 2016 AUSGABE 16

Zukunftsmusik Von morgen, übermorgen und der Zeit danach


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Editorial

Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen sie liegt vor uns und doch kriegen wir sie nicht zu fassen. Sie verspricht uns das größte Glück und trotzdem fürchten wir sie. Sie kann uns unter Druck setzen oder Hoffnung machen. Kaum jemals ist die Zukunft so präsent wie in unseren Jahren an der Uni - auch wenn jeder andere Wünsche, Ängste und Träume für sie hat. In unserer sechzehnten Ausgabe haben wir uns deshalb mit der Zukunft in all ihren Facetten beschäftigt. Besonders die Zukunft Syriens scheint zurzeit ungewiss - der DAAD will helfen, sie zu gestalten und hat deshalb ein Stipendienprogramm für syrische Studierende ins Leben gerufen. Wir haben mit einem jungen Gelüchteten gesprochen, der dadurch nun an der FU studieren kann. Welchen Beitrag er für die Zukunft Syriens leisten will, lest ihr auf Seite 6. Das Vehikel des nächsten Jahrhunderts wird an der FU entwickelt: Seit 10 Jahren arbeiten Forscher an einem Auto, das ganz von alleine fährt. Was wir während unserer Probefahrt damit erlebt haben, verraten wir euch auf Seite 8. An unserer Uni gibt es sogar Menschen, die sich ganz professionell mit der Zukunft auseinandersetzen. Dabei haben wir erfahren, dass es nicht nur eine Zukunft gibt, sondern Zukünfte. Mehr zum Masterstudiengang Zukunftsforschung auf Seite 11. Und was passiert überhaupt, wenn die Apokalypse über uns hereinbrechen sollte, während wir in der Uni sind? Unser kleines Gedankenspiel dazu lest ihr auf Seite 12. Wie geht es weiter mit Deutschland im Angesicht von Anschlägen, Af D und Co.? Wir haben mit einem Zukunftsforscher und

einer Politikwissenschaftlerin über die Zukunft von Politik und Gesellschaft diskutiert. Das Interview indet ihr auf Seite 14. Außerdem überprüfen wir in unserem ultimativen Reality Check auf Seite 16, welche Filme mit ihren Vorhersagen für die Zukunft richtig lagen - und welche Luftschlösser bleiben. Auf Seite 18 könnt ihr herausinden, wie sich Studierende und Dozierende die Zukunft an der Uni vorstellen. Natürlich haben wie immer auch unsere Ressorts aufregende Artikel zu bieten: Wir haben untersucht, wo man an der FU überall auf Rassismus stößt (Seite 20). Schonmal einen Blick aufs Schwarze Brett gewagt? Wir haben die lustigsten Aushänge für euch auf Seite 26 zusammengestellt. Abgesehen davon haben wir uns mit einem japanischen Regisseur über die Fukushima-Katastrophe unterhalten (Seite 34) und uns eine spannende neue App angeschaut, die vielleicht schon bald helfen kann, Depressionen frühzeitig zu erkennen (Seite 38). Viel Spaß bei der Lektüre unserer sechzehnten FURIOS-Ausgabe wünschen Euch Alexandra Brzozowski Hanna Sellheim

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INHALT – Ausgabe 16 TITELTHEMA: ZUKUNFT 06 Von Bomben und Büchern »Leadership for Syria« ermöglicht Gelüchteten aus Syrien ein Studium in Deutschland. Die Geschichte eines Stipendiaten.

14 »Die Glaskugel gehört nicht zu unserem Rüstzeug« Was passiert gerade in unserer Gesellschaft und wohin führt uns das? Zwei Wissenschaftler diskutieren: Wohin steuert Deutschland?

08 Hände weg vom Steuer! Ein Auto, das alleine steuert: Ist das so futuristisch, wie es klingt?

11 Wahrsagen war gestern An der FU kann man »Zukunftsforschung« studieren. Was man dort so lernt – und was man später damit anfängt.

12 Dahlem Dystopia

16 Reality Check: Fünf Zukunftsvisionen auf dem Prüfstand »1984«, »Zurück in die Zukunft«, »Metropolis« – wie richtig liegen die Klassiker der Filmgeschichte mit ihren Zukunftsvisionen?

18 4 aus 40.000 Vier FU-Angehörige verraten, wie sie sich die Uni der Zukunft vorstellen

Wie überlebt man, wenn die Welt untergeht, während man in der Bib sitzt? Ein Essay über die Apokalypse in Dahlem.

POLITIK

CAMPUS

20 Ins Netz gegangen

26 Suche Schildkröte, biete Zahnbürste

Watchblogs setzen sich für eine rassismusfreie Uni ein. Wir sind zwei Fällen an der FU nachgegangen. Eine Reportage.

Das Schwarze Brett kann nützlich sein – und verdammt lustig. Eine Zusammenstellung der schönsten Anzeigen.

28 Tunnelblick oder Elfenbeinturm? 22 Abschauen erlaubt! Von wegen fortschrittlich: In so manchen Bereichen hinkt die FU ganz schön hinterher. Ein Überblick.

Lieber massenweise philosophische Texte verschlingen oder während des Studiums schon Praktika machen? Ein Pro und Contra: Forschungs- oder praxisorientiertes Studium?

24 Der Entscheider von morgen Christoph Husemann will Politiker werden. Was ihn antreibt und was er davon erwartet.

29 Familie ohne Bande Wer Glück hat, dem werden seine WG-Mitbewohner wie Bruder und Schwester, Mutter und Vater. Ein Essay.

26 Der Streberstaat Norwegen ist einer der vorbildlichsten Staaten Europas. Doch bei genauem Hinsehen tun sich zwischen Fjorden und Tannen so einige Abgründe auf.

30 Wo bin ich hier gelandet? Die Schikane des Career Service der FU und ein bibbernder Besuch bei einer Berliner Behörde.

31 Ewige Ehemalige: Im Kampf gegen die Zwänge Seyran Ateş zerstritt sich mit ihren Eltern, um Jura an der FU zu studieren. Heute setzt sie sich für Frauenrechte ein.

42 Der empörte Student Wer an der FU eine Mate erwerben will, muss dafür ein Vermögen hinblättern. Ein Aufschrei.


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KULTUR 32 »Ich will den Leuten Mut machen« Eiji Oguma drehte einen Dokumentarilm über die Anti-Atomkraft-Proteste nach der Fukushima-Katastrophe. Ein Interview.

33 Feiern für den Frieden Ein Festival im Kaukasus soll mitten in der Konliktregion eine Oase des Friedens bilden. Studierende der FU berichten darüber mit einem Radio-Feature.

34 Die geklaute Rubrik: Entscheidungsbaum Soll ich heute in die Uni gehen? Der Entscheidungsbaum aus der »NEON«.

36 Operation Schwarzmeerküche Zucchinipuffer gefällig? FU-Studierende stellen ein Kochbuch mit Rezepten aus dem Schwarzmeer-Raum zusammen.

WISSENSCHAFT 37 »IQ-Werte können selbsterfüllende Prophezeiungen werden« Katharina Schmidt führt Intelligenztests mit Kindern durch. Ihre Grundausstattung: Gummibärchen.

38 Der Psychologe im Smartphone Die App »Moodpath« soll dafür sorgen, dass Depressive sich schneller Hilfe suchen.

40 Wer bin ich? Gibt es überhaupt ein »Selbst«? Drei Wissenschaftler erläutern ihre unterschiedlichen Vorstellungen von Identität.

03 Editorial 42 Impressum

Inhaltsverzeichnis


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Von Bomben und Büchern Mit einem groß angelegten Stipendienprogramm des DAAD können Geflüchtete aus Syrien an der FU studieren. Nach dem Krieg sollen sie beim Wiederaufbau des Landes helfen. Ein Stipendiat erzählt uns von seiner Flucht und seinen Hoffnungen für die Zukunft. Text: Julian Jestadt Illustration: Jannis Fahrenkamp


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ünf Militärcheckpoints musste Laith passieren, um seine Uni in Aleppo zu erreichen. 200 Meter vor den Schranken lief er langsamer, das war Vorschrift. Er wurde nervöser, je näher er den Soldaten und Panzern am Checkpoint kam. Laith versuchte, möglichst freundlich zu lächeln. Er wollte sich die Anspannung nicht anmerken lassen. Dann zeigte er den Bewaffneten seinen Ausweis. Sie blickten auf sein Foto, musterten ihn, scheinbar endlos. Endlich winkten sie ihn durch. Laith durfte zur Uni gehen. »Es gibt keine Gesetze in Syrien. Überall kann dir etwas passieren. Entweder es fällt auf dem Weg eine Bombe, du wirst erschossen oder entführt«, sagt Laith heute. Heute – das ist in Deutschland, bei Sonnenschein und Vogelgezwitscher im Triestpark auf dem Campus der FU. Der 25-Jährige ist einer von 221 jungen Syrern, die mithilfe des Stipendienprogramms »Leadership for Syria« nach Deutschland kommen durften, um hier zu studieren. Seit dem vergangenen Wintersemester macht Laith nun an der FU seinen Master in Mathematik.

f Im September 2014 kündigte das Auswärtige Amt in Zusammenarbeit mit dem DAAD das Stipendienprogramm an. »Wir dürfen nicht zulassen, dass infolge des Syrien-Konlikts eine verlorene Generation heranwächst«, hieß es damals von Außenminister Steinmeier. Unter dem Titel »Leadership for Syria« wolle man mit neun Millionen Euro jungen Syrern durch Stipendien eine Perspektive geben, einen Beitrag zum Wiederaufbau Syriens leisten. Angestoßen wurde das durch eine deutschlandweite Kampagne. Christoph Schwarz, Postdoktorand an der Uni Marburg, und Greta Wagner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Uni Frankfurt, appellierten damals an das Auswärtige Amt und den DAAD. Sie forderten ein Stipendienprogramm für syrische Flüchtlinge. Die Resonanz an deutschen Hochschulen war enorm: 200 Professoren und mehr als 4000 weitere Uni-Angehörige unterstützten den Appell. «Leadership for Syria« war das Ergebnis. Es ist schwierig, sich mit Laith zu treffen. Er hat viel zu tun mit seinem Studium, dem neuen Leben in Berlin. Vor unserem Gespräch war er schon mit seiner schwangeren Frau am Wannsee. Sie ziehen häuig los, um Berlin zu erkunden: die Siegessäule, das Brandenburger Tor, den Zoo. Sein Lieblingsort aber ist die FU, besonders die Bibliothek. »Ich weiß, dass das komisch klingt, aber dort gibt es so viele Bücher, die ich lesen will.«

Der Krieg in Syrien war schon im dritten Jahr, als Laith seinen Abschluss machte. Dann hielt ihn nichts mehr. Er suchte Sicherheit, eine Perspektive, verließ Aleppo und lüchtete in die Türkei. Hier konnte er zwar leben, studieren aber nicht. Stattdessen arbeitete er zwölf Stunden am Tag: Bis in den Nachmittag gab er syrischen Flüchtlingen Matheunterricht, danach arbeitete er in einem Handyladen. Sein Geld reichte gerade für Miete und Lebenshaltungskosten. Als Laith dann von »Leadership for Syria« hörte, bewarb er sich. Mit passablem Englisch und Abschluss in Mathe hatte er eine Chance. Aus 5000 Bewerbern wählte der DAAD 221 Stipendiaten aus. Dabei spielten weder politische Ausrichtung noch humanitäre Kriterien eine Rolle. Schwarz, der damals den Appell initiierte, kritisiert das: »Die soziale Situation sollte ein eigenes Kriterium bei der Auswahl sein.« Ansonsten würden möglicherweise Ungleichheiten reproduziert, die unter anderem erst zum Konlikt in Syrien geführt haben. Laith erzählt auch von den Hubschraubern in Syrien, die Fassbomben abwarfen. Davon, wie er dann nicht wusste, wohin er rennen sollte. Er erzählt von Nächten, in denen er in die Felder liehen musste und wie er sich einmal sechs Stunden vor Soldaten in einem Fass versteckte.

f Laut der Ausschreibung spielte dies bei »Leadership for Syria« alles keine Rolle. »Das Programm soll eine nach fachlichen Kriterien ausgewählte Elite mit einem Studien- oder Forschungsaufenthalt in Deutschland auf die Aufgabe vorbereiten, das künftige Syrien mitzugestalten und zu führen.« So sagt es DAAD-Präsidentin Margret Wintermantel. Das widerspreche jedoch dem humanitären Grundgedanken des Appells, kritisiert Christoph Schwarz. Laith ist dankbar für sein Stipendium, fühlt sich aber eher nicht als Elite. »Jeder steht in der Verantwortung, Syrien aufzubauen«, sagt er. Wenn der Krieg vorbei ist, will er Mathe unterrichten – an Universitäten oder Schulen. Das wird sein Beitrag sein. »Das Denken der jungen Menschen wird – durch Angst und Gewalt – zerstört sein. Wir müssen zuerst ihr Denken ändern.« Der Masterstudent kann es immer noch nicht fassen, dass er in Deutschland ist. »Es ist wie ein Traum«, sagt er im Park. Man sieht ihm nicht an, dass er mal ein Teil einer verlorenen Generation gewesen sein soll. Oder dass er irgendwann die Zukunft eines ganzen Landes mitgestalten wird. Was allerdings auffällt, ist sein Lächeln: Es ist nicht das aufgesetzte aus Aleppo, als er vor den kontrollierenden Soldaten möglichst freundlich wirken wollte. Es ist ein unendlich erleichtertes Lächeln. Laiths Weg von der Uni nach Hause ist zwar inzwischen etwas weiter als in Aleppo. Aber in Dahlem muss er keine Checkpoints passieren.

»Das Denken der jungen Menschen wird zerstört sein.”

f In Aleppo war das anders: Weniger Bücher, leichterer Stoff. Sein Unialltag war trotz Krieg aber erstaunlich normal. Es gab Vorlesungen und Seminare. Nur die Zahl der Studierenden hatte sich im Laufe der Zeit halbiert. Viele seiner Freunde wurden vom Militär eingezogen oder lohen aus Aleppo. Laith wollte erst seinen Bachelor machen. Dass er ohne Bildung keine Perspektive haben würde, dessen war er sich bewusst. Deshalb blieb er – und passierte jeden Tag aufs Neue die fünf Checkpoints.

Julian Jestadt singt, tanzt und schreibt für die Revolution - aber für die gute. Singen und tanzen kann er nicht.

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Hände weg vom Steuer! Der Berliner Stadtverkehr kann die Hölle sein. Wie schön wäre es, sich dabei entspannt zurücklehnen zu können? Unsere Autorin wagte die Probefahrt im selbstfahrenden Auto der FU. Sie wurde bitter enttäuscht. Text: Sarah Ashraian Foto: Anke Schlieker


Titel

I

ch fahre in einem Cabriolet eine Küstenstraße entlang. Es ist Sommer und die Sonne knallt auf meinen Kopf, während ich hinter dem Steuer sitze. Mit der linken Hand greife ich nach dem kühlen Mojito neben mir, während ich mit der rechten meinen Lippenstift nachziehe. Moment, was? Schon bald könnte diese Vorstellung durch autonomes Fahren mehr als nur ein Traum sein. Nicht im Silicon Valley, sondern genau hier, an der Freien Universität, entwickeln Forscher zurzeit ein solches autonomes Auto. Seit 2006 sitzt ein Forscherteam der FU unter der Leitung von Raul Rojas, Professor für künstliche Intelligenz, an der Technik für das selbstfahrende Auto. Mittlerweile hat das Team schon das zweite Auto zu einem autonomen Modell umgebaut. Es trägt den Namen »Made in Berlin«. Bis jetzt ist es nur ein Prototyp, fahrtüchtig ist es aber allemal. So mache ich mich auf den Weg, um meinen Cocktail hinterm Steuer - wenn schon nicht an einer sonnigen Küstenstraße, so doch wenigstens in Berlin-Dahlem - genießen zu können.

f Doch leider werde ich gleich zu Beginn meines Auslugs in die Zukunft bitter enttäuscht. Denn nicht ich sitze hinter dem Steuer, sondern Daniel Göhring. Er ist Juniorprofessor für »Mobile Robotics and Autonomous Vehicles« an der FU. »Das Auto braucht immer mindestens zwei ausgebildete Fahrer, die mit der Technik vertraut sind«, erklärt mir Daniel Göhring. »Dabei hat der Beifahrer die Aufgabe, über einen Computer die gesam- te Technik des Autos zu überwachen.« So werde ich also auf die Rückbank verfrachtet. Und auch das Fahren ist noch lange nicht so autonom wie erwartet: Das Auto kann selbstständig nur Strecken fahren, die vorher mit eigens entwickelter Software kartographiert wurden. Das heißt, die Strecke muss dem Auto vollkommen bekannt sein. Dabei geht es nicht bloß um Ampeln, sondern auch um Spuren auf der Straße, welche das Auto dann während des Fahrens wahrnehmen kann. Deshalb fahren wir erst einmal heteronom bis zur Thielallee. Hier kennt sich »Made in Germany« aus. Zuerst muss das Auto sich auf einem Parkplatz sammeln. Durch einen Schlüssel verbindet es sich mit dem Laptop. Wenn dieser steckt, wird die Verbindung zwischen Auto und Computer freigegeben. Dann erst übernimmt der Computer die Regie. »Manchmal müssen wir das mehrmals probieren«, sagt Göhring. Tatsächlich stürzt die Technik immer wieder ab. Während die beiden Techniker in der ersten Reihe etwas von »neu starten« murmeln, nutze ich die Zeit, um die Hardware des Autos zu betrachten. Um das ganze Auto herum sind Kameras und Laserscanner installiert. So kann es während der Fahrt alles um es herum wahrnehmen. Einen toten Winkel hat es aber trotzdem – wie jeder Mensch hinterm Steuer auch. Nicht der einzige Aspekt, der human bleibt. Die sogenannte Trägheitsmesseinheit ist das Herzstück des Autos. Sie ist dem menschlichen Innenohr nachempfunden und sorgt für Stabilität.

f »Und wir sind autonom in drei, zwei, eins.« Daniel Göhring lässt nun tatsächlich das Steuer los und »Made in Germany« saust von ganz alleine die Thielallee hinunter. Einen richtigen Unterschied merke ich nicht. Aber ein wenig mulmig wird mir schon. Mein Leben liegt nun nicht mehr in der Hand von Men-

Von außen ein Auto wie jedes andere - doch der Schein trügt.

schen, sondern in der einer Maschine. »Natürlich können wir jederzeit eingreifen«, beruhigen mich die Prois auf der Steuerbank, »wir müssen nur Gas und Bremse berühren oder den roten Notknopf drücken.« Trotzdem bleibe ich ängstlich. Und da bin ich nicht die Einzige, auch das Auto scheint reichlich nervös. Immer wieder bremst es abrupt ab und ich liege wie bei einer Notbremsung nach vorne. Dabei reagiert das Fahrzeug auf alles, was gefährlich werden könnte - egal, ob Mensch oder Grashalm. Die Technik des »Made in Germany« ist noch nicht soweit, dass es zwischen den Dingen unterschieden kann, die es gerade sieht. »Dies zu verändern ist unser Ziel für die nächsten Jahre«, erklärt Göhring. »Es ist auch wichtig, damit autonomes Fahren im Stadtverkehr besser wird - die wirkliche Herausforderung.« Kurze Zeit später merke ich auch, warum. Das Auto bremst, obwohl die Ampel grün ist und wir bleiben mitten auf der Straße stehen. Kurz vor der Ampel hält ein Bus. Das Auto verwechselt die roten Rücklichter des Busses mit Ampeln. Es folgt prompt ein Hupkonzert.

f Im internationalen Vergleich liegt »Made in Germany« noch ein ganzes Stück zurück - obwohl es in den 90ern eines der ersten autonomen Fahrzeuge war. Mittlerweile haben es aber fast alle Modelle mit ihrer Technik überholt. Das »Google Car« kann zum Beispiel kann je nach Größe, Form oder Bewegungsmuster die Menschen und Dinge in der Umgebung klassiizieren und danach sein Verhalten besser koordinieren. Es kann sogar einschätzen, wie sich die anderen Objekte im nächsten

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Titel

Und jetzt ohne Hände! Daniel Göhring lässt das Steuer los.

Schritt verhalten werden. Die Schwierigkeiten, die »Made in Germany« im Straßenverkehr hat, haben andere Modelle schon längst ausgelotet. »In zwei bis drei Jahren könnten wir soweit sein, dass autonomes Fahren auf Autobahnen möglich ist«, sagt Daniel Göhring. Das oberste Ziel sei dabei, dass die Autos dann untereinander kommunizieren können. Dann könnten sich die Fahrer tatsächlich zurücklehnen und die Autos den Rest machen lassen. Diese entscheiden dann, wer wann bremsen muss oder wer überholt. Doch wer trägt die Verantwortung dafür, wenn etwas schief geht? Was, wenn das Auto die falsche Entscheidung trifft und jemand zu Schaden kommt? »Das können wir als Informatiker nicht beantworten. Mit den Fragen muss sich die Gesellschaft auseinander setzen«, so Göhring. Seiner eigenen Verantwortung scheint er sich wenig bewusst. Auch wer konkret Antworten auf diese Fragen inden soll, lässt er unerwähnt. Dabei müsste es Hand in Hand mit der Entwicklung gehen, dies zu klären.

Zukunft. Nun steige ich aber auf mein Fahrrad und fahre vollkommen selbständig nach Hause. Vielleicht gönne ich mir dort später noch einen Cocktail auf meinem Balkon.

f Für mich ist die Testfahrt erst einmal beendet. Ein bisschen autonomer hätte ich mir das Fahren schon vorgestellt. Ich weiß aber gar nicht, ob ich es mir wirklich so viel autonomer gewünscht hätte. Wenn tatsächlich niemand die Verantwortung übernehmen möchte, bin ich nicht nur skeptisch – ich habe auch Angst vor der

Sarah Ashraian hätte gerne einen Cocktail Cocktail Cocktail. Und einen Balkon.


Wahrsagen war gestern

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Von der Zukunft träumt jeder - an der FU verbringen Studierende sogar ihr ganzes Studium damit. Der Masterstudiengang »Zukunftsforschung« ist in Deutschland der erste seiner Art. Vier Fragen an die Zukunftspioniere. Text und Foto: Kim Mensing

Bernd Stegmann Studiengang-Koordinator, zuständig für die Weiterentwicklung des Studiengangs

Sebastian Stagl Absolvent, hat bereits eine Stelle in der Entwicklung von Zukunftstechnologien gefunden

Für wen ist dieser Studiengang geeignet?

Was macht man mit einem Abschluss in Zukunftsforschung? Kannst du jetzt wahrsagen?

»Es gibt nicht den Typus ’Zukunftsforscher‘, v iel meh r lebt der sozialwissenschaftliche Studiengang von seiner Diversität. Zu uns kommen Absolventen verschiedenster Fachbereiche, die in der Regel mindestens ein Jahr Berufserfahrung haben. Diese Mischung ist interessant und fordert gleichzeitig heraus. Wer Zukunftsforschung studiert, muss sich vielfältiger Methoden bedienen und offen für neue Denkweisen sein. Spezialisieren können sich Studierende in den vier Einsatzfeldern Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Technik. Für eine interdisziplinäre Erforschung und Gestaltung von Zukunft kann jeder Bachelor relevant sein.«

Sascha Dannenberg Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ist nach seinem Masterstudium am Institut Futur geblieben Wie gestaltet sich die Lehre eigentlich, wenn Absolventen aus unterschiedlichsten Fachbereichen zusammenkommen? »Sie unterscheidet sich auf jeden Fall von anderen Studiengängen, sie erfordert mehr Flexibilität. In meinen Lehrveranstaltungen in der Zukunftsforschung nehme ich als Dozent die Rolle eines Moderators ein und stoße Prozesse lediglich an. Die Studierenden lernen hier vor allem, wie sie aus verschiedenen Perspektiven zu Lösungen kommen. Schließlich geht ein Ingenieur Probleme anders an als ein Philosoph. Im ersten Semester gibt es dazu ein »interdisziplinäres Forum - eine Art Tutorium. Die Zukunftsforschung kann durch ihre Interdisziplinarität nur dann produktiv sein, wenn der Zugang zur Fragestellung so offen wie möglich gehalten wird.«

»Nein, in dem Studiengang geht es nicht darum, die Zukunft vorherzusagen. Wir fragen uns stattdessen: »Wie sehen Zukunftsentwicklungen aus, und wie können wir sie gestalten?« Zusätzlich zu zukunftswissenschaftlichen Methoden greifen viele auf das Wissen aus ihrem Grundstudium zurück. Ich zum Beispiel habe einen Bachelor-Abschluss in »Exportorientiertes Management«, einer Mischung aus VWL, BWL und internationalen Beziehungen. Im Beruf habe ich dann Interesse an soziologischen und technischen Themen entwickelt, auf die ich im Master Zukunftsforschung meinen Schwerpunkt setzen konnte. Jetzt arbeite ich bei einem Technologie-Institut und beurteile im Auftrag der Europäischen Kommission, in welche Richtung Forschung gefördert werden soll, um neue Technologien entwickeln zu können.«

Heike Dietz Studentin, schreibt an ihrer Masterarbeit Kann man sagen, dass ihr an Fiktion forscht? Niemand weiß ja zu 100 Prozent, was die Zukunft bringt… »Wir forschen nicht an Fiktion – vielmehr denken wir über reale Handlungsspielräume nach, wie gegenwärtig Zukunft gestaltet werden kann. Und du hast vollkommen recht, keiner weiß, was diese eine Zukunft bringen wird. Daher geht es der Zukunftsforschung darum, von Zukünften und wahrscheinlichen, plausiblen, möglichen, wünschenswerten und nicht wünschenswerten Zukunftsbildern zu sprechen.«

Kim Mensing träumte von einer Karriere als Wahrsagerin. Doch »Zukunfsgestalterin« klingt auf einmal viel besser.

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Dahlem Dystopia Stell dir vor, du sitzt in der Bibliothek und die Welt geht unter. Der Kampf ums Überleben beginnt. Doch was nützen dir die gesammelten Werke von Foucault jetzt noch? Höchstens für ein Feuer. Willkommen in der Post-Apokalypse! Text: Lucian Blumeder Illustration: die greta

Tag 1 Die blühenden Kastanienbäume und ihre saftig grünen Blätter, die einst vor dem OSI Schatten spendeten, sind nicht mehr. Stumpfe schwarze Pfähle ragen an ihrer statt empor. Die Sonne prallt grell vom seltsam verschleierten Himmel und taucht die einst so vertraute Umgebung in ein hässliches Orange. Das Gras hat mit seiner Farbe auch all sein Leben verloren. Geblieben sind ein paar vereinzelte graue Halme, die bei der kleinsten Berührung zu Asche zerfallen.

kennen wir uns bestens aus. Aus diesen Katastrophenszenarien wissen wir: Grundversorgung ist das wichtigste. Wenigstens gibt es noch Wasser – wenn auch dreckig und warm. Wir sind nicht sicher, ob es überhaupt trinkbar ist, aber was bleibt uns anderes übrig? Wir schütten Kaffee hinterher und hoffen, dass er desiniziert. Davon ist noch genug da - den kaffeesüchtigen Bibliothekarinnen sei Dank. Auch der Strom funktioniert noch. Das macht Hoffnung, dass draußen noch jemand ist, dem es gelingt, das Stromnetz aufrecht zu erhalten. Das Internet hingegen ist genauso tot wie sämtlicher Mobilfunk.

Tag 2 Wir haben uns im offenen Magazin der Garystraße verbarrikadiert. Dass hinter dessen Betonmauern und massiven Stahltüren der sicherste Ort der Uni liegt, um eventuelle Katastrophen zu überleben, kam mir schon öfter in den Sinn. Aber nicht, dass es tatsächlich mal soweit kommen würde. Hier gibt es Schatten und Schutz. Und ein bisschen Trost: Man sieht nicht, was draußen geschieht.

Tag 3 Gut, dass wir gebildete Menschen sind. »The Walking Dead«, »The Day After Tomorrow«, »Mad Max« - mit der Apokalypse

Tag 4 Eine kleine Gruppe begibt sich auf die Suche nach Nahrung. Tische über den Köpfen tragend, schützen sie sich vor der Sonne und hoffen, bis zur Veggie-Mensa vorzudringen. Sie sehen aus wie kleine Schildkröten. Als sie wohlbehalten zurückkommen, ist der Jubel groß. Doch schnell wird die Freude getrübt, als sie über die Essensreste auf klären, die sie gefunden haben. Nudeln mit Getreidebolognese konnten wir schon nicht mehr sehen, bevor die Welt unterging.


Titel

Tag 5 Alle Autos, die auf der Straße geparkt haben, sind zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzen. Wenigstens die sozialen Unterschiede scheinen nach dem Untergang der Welt endlich ausgeglichen: Der BMW des Präsidiums hat sich ebenso zu einem traurigen Metallklumpen verwandelt wie mein alter VW.

en Kicker, der Abwechslung beschert. Dass es in unser preisgekröntes Gehirn hineinregnet, stört jetzt nicht mehr. Gerüchte machen die Runde, es solle sogar eine Dusche in der Uni geben. Doch bald wird der Wahnsinn um sich greifen. Immer hungrig sein, immer wieder dieselben Diskussionen führen, den ganzen Tag in einer Bibliothek hocken: Das macht die Leute verrückt.

Tag 6 Fragen werden laut, Diskussionen kommen auf. Alles, ohne genau zu wissen, was überhaupt passiert ist. Immerhin, damit kennen wir uns aus: Argumente und Theorien mit gesundem Halbwissen vertreten. Besser, als ums Überleben zu kämpfen. Die Debatten drehen sich irgendwann im Kreis. Und immer wieder Getreidebolognese. Ich weiß nicht, wie lange ich das hier noch aushalte.

Tag 7 Wir wollen versuchen, uns zum Hauptgebäude durchzuschlagen. Die glorreiche Laube ist unser Silberstreif am Horizont. Die Kühlräume der großen Mensa versprechen neue Nahrung, die Vielzahl von Cafés mehr Kaffee und vielleicht sogar ein-

Eigentlich kann man auf dem Campus effektiv arbeiten, indet Lucian Bumeder. Fehlt nur noch ein Raum für eine Siesta.

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»Die Glaskugel gehört nicht zu unserem Rüstzeug« Europa gleicht dieser Tage einer Hochsicherheitszone: Unser Leben ist längst nicht mehr so friedlich, wie es eimal war, so scheint es. Wir haben mit dem Zukunftsforscher Lars Gerhold und der Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp diskutiert - über Sicherheitskontrollen am Flughafen, die Machenschaften der AfD und Deutschland im Jahr 2050. Text: Alexandra Brzozowski, Hanna Sellheim Foto: Alexandra Brzozowski, Anke Schlieker FURIOS: Islamistische Terrorzellen in unserer Nachbarschaft, rechtsextreme Parteien, die Fremdenhass schüren. Herr Gerhold, Sie sind Zukunftsforscher. Können Sie uns verraten, wie es mit Deutschland weitergeht? Lars Gerhold: Die eine Zukunft gibt es für einen Zukunftsforscher nicht, nur »Zukünfte« – erwünschte, mögliche und wahrscheinliche. Welche davon eintritt, können wir beeinlussen. Geht das nicht etwas genauer, Frau Kropp? Was sagt Ihr Blick in die Glaskugel? Sabine Kropp: Sozialwissenschaftler sind eigentlich besser darin, ex-post-Analysen zu erstellen anstelle von Zukunftsdiagnosen. Die Glaskugel gehört sicherlich nicht zu unserem

methodischen Rüstzeug. Wenn Prognosen 40 Prozent Eintrittswahrscheinlichkeit haben, dann ist das eigentlich ganz gut. Die Zukunft ist für uns ein wattiges Gebilde, aber wir versuchen trotzdem, Kausalketten zu erkennen, die wir dann auf zukünftige Ereignisse anwenden können. Im Moment scheinen sich viele Ereignisse zu überschlagen Kausalketten zu erkennen ist da schwierig. Befördert das Unsicherheit? Gerhold: Häuig wird davon gesprochen, dass alles so unsicher und gefährlich geworden ist. Ich inde das ungerechtfertigt. Wir können zu jeder Zeit an jeden Ort gehen. Wir können fast alles tun, was wir wollen. Diese Freiheiten sind unfassbar viel wert. Dass es dafür auch ein wenig unsicher ist, muss man akzeptieren, das ist Teil des Lebens. Es geht um die Normalisierung des Bedrohlichen. Wir müssen damit umgehen lernen, statt es zu verdrängen. Nach den Anschlägen in Paris, Istanbul, Brüssel sind die Sicherheitsvorkehrungen bei der EM verschärft worden - dreifache Kontrollen vor den Stadien, Militär auf den Straßen. Opfern wir unsere Freiheit der Sicherheit? Gerhold: Absolut, und das ist ein großes Problem. In der Forschung stellen wir drei Entwicklungen fest: Zunehmende Überwachung, Technologisierung und Privatisierung. Es gibt immer mehr Kameras, die mithilfe von Algorithmen

»Es geht um die Normalisierung des Bedrohlichen« beurteilen, ob ich mich normal verhalte. Immer mehr Technologien – wie etwa Körperscanner am Flughafen – tragen zur Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen bei. Und überall tauchen private Sicherheitsleute auf, da verlagert sich die Verantwortung des Staates in das Private. All das schränkt natürlich Freiheiten ein. Leider treiben wir diese Entwicklungen massiv voran, ohne die damit verbundenen Folgen abzusehen. Sicherheit ist ein Prozess, in dessen Verlauf wir immer überprüfen müssen, ob wir uns gerade in die richtige Richtung bewegen. Und leider bewegen wir uns gerade in die falsche Richtung.


Titel

Kropp: Ich sehe das nicht ganz so pessimistisch. Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit wurde durch das Bundesverfassungsgericht immer wieder zugunsten der Freiheit justiert. In der öffentlichen Debatte wird dieses Verhältnis häuig als Nullsummenspiel begriffen. Das ist es aber nicht. Sicherheit ist eben auch eine Voraussetzung dafür, dass Bürger ihre Freiheit leben können. Damit stellt sich die Frage, inwieweit man Freiheit beschränken darf, um Sicherheit zu gewährleisten und umgekehrt. Dadurch ergibt sich ein permanentes Spannungsverhältnis, das man nie befriedigend austarieren kann. Glauben Sie, dass sich die Einstellung ändern wird, wenn es doch einen Anschlag in Deutschland geben sollte? Kropp: Man kann davon ausgehen, dass Sicherheitsgesetze verschärft würden, wenn ein Ereignis von der Größenordnung des 13. November in Frankreich in Deutschland eintreten würde. Die Zustimmung der Bevölkerung für solche Maßnahmen und ihr Sicherheitsbedürfnis wachsen in solchen Situationen enorm. Gerhold: Wir haben einen gewissen Punkt längst überschritten. Die Anschläge von Paris, aber auch schon von London und Madrid, haben das Gefühl vertieft, dass etwas näher kommt. Dadurch ist die Verunsicherung stärker geworden. Natürlich wird es die Menschen schockieren, wenn hier etwas passiert. Ich wünsche mir, dass wir dann als Land, als Menschen, die Größe besitzen, damit souverän umzugehen und nicht unüberlegt zu handeln. Dieses Gefühl des allgegenwärtig drohenden Terrors macht vielen Menschen Angst. Wie macht sich das in der Politik bemerkbar? Kropp: Wir sehen, dass im Augenblick eine weitere Partei beginnt, sich im Parteiensystem zu etablieren - die Af D. Diese instrumentalisiert relativ erfolgreich das Sicherheitsbedürfnis der Bürger und auch deren subjektiv empfundene Unsicherheit. Das erkennt man auch daran, welche Meldungen die Af D auf ihrer Website präsentiert. Da geht es vor allem um Kriminalität, um Migrationspolitik, auch um Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Mit dieser Strategie hat sich die Af D vorerst erfolgreich im politischen System und im Parteiensystem platziert. Glauben Sie, dass die Af D uns in fünf oder zehn Jahren immer noch beschäftigen wird? Kropp: Das ist schwer zu sagen. Ich glaube aber nicht, dass wir die Probleme, von denen die Af D proitiert, innerhalb einer kurzen Zeitspanne werden lösen können. Der Erfolg der Af D hängt aber auch davon ab, wie sie sich in den Parlamenten präsentiert. Sollte Wissenschaft nicht helfen, solche Probleme zu lösen? Gerhold: Wissenschaft wird in der Politik oft nicht gehört. Vielleicht formulieren wir unsere Erkenntnisse zu wissenschaftlich - vielleicht wollen die Politiker sie aber auch nicht in ihrer ganzen Komplexität verstehen. Wir müssen deshalb Brücken bauen und lernen, wissenschaftliche Erkenntnisse besser für politische Entscheider aufzubereiten.

Kropp: Die wissenschaftliche Expertise indet schon Eingang in politische Strategien. Allerdings werden Ratschläge aus der Forschung in den Ministerien häuig „schubladisiert“. Sie verschwinden dann im Schreibtisch und ruhen dort unbeachtet vor sich hin. Zum Schluss ein kleines Gedankenspiel: Wie stellen Sie sich Deutschland im Jahr 2050 vor? Gerhold: In Deutschland im Jahr 2050 haben wir gelernt, Unsicherheiten als Bestandteil des Lebens zu akzeptieren und Bedrohungen zu normalisieren. Das bedeutet, dass wir uns von der Sicherheitsixierung abkehren und das freiheitliche Leben als Grundmaxime anerkennen. Sicherheit wird 2050 in speziischen Bereichen zielgerichtet hergestellt und Maßnahmen nicht koplos beschlossen, sondern ihre Auswirkungen gründlich bedacht. Kropp: Ich will es mal optimistisch betrachten. Ich hoffe, dass wir in einer friedlichen und toleranten Gesellschaft leben werden, eingebettet in die EU und eine Weltgemeinschaft, in der wir erfolgreich Konlikte lösen und gesellschaftliche Ungleichheiten einebnen. Ob wir das schaffen, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Politik kann sich aber Ziele setzen, auf die sie hinarbeitet - wenn auch ohne Erfolgsgarantie.

Alexandra Brzozowski und Hanna Sellheim glauben, ein Teil dieser Antworten könnte Sie beunruhigen.

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Fünf Zukunftsvisionen auf dem Prüfstand Über die Zukunft haben sich schon viele Gedanken gemacht. In Filmdystopien werden allerlei Zukunftsvisionen entworfen. Wir haben sie uns angesehen und sie anhand unserer Realität geprüft. Text: Julian Daum, David Rouhani Illustration: Jette Pfeiffer

Metropolis (1927): Technik, Künstliche Intelligenz Fritz Langs Meisterwerk ist die Mutter aller Filmdystopien. Die Stadt Metropolis im Jahr 2027 ist gezeichnet von hohen Betontürmen und tiefen Straßenschluchten, durch die auf verschiedenen Ebenen der Verkehr rauscht. Während die Arbeiter tief unter der Erde monströse Maschinen im Akkord bedienen, thronen auf den Türmen die Herren um den Herrscher Joh Fredersen und führen ein sorgloses Leben – bis Johs Sohn Freder den grausamen Alltag der Arbeiter sieht und beschließt, ihnen zu helfen. Er wird damit zum Gegenspieler seines Vaters, der ihn mithilfe einer Maschine in Menschengestalt auf halten will. Sie bringt die Arbeiter schließlich dazu, die Maschinen der Stadt zu vernichten und somit ihren eigenen Lebensraum zu zerstören. Check: Die Abhängigkeit der Menschheit von den Maschinen ist auch uns bekannt: Studieren ohne Computer? Völlig undenkbar! Neben aller Gesellschaftskritik – faszinierend ist vor allem, wie Lang sich vor knapp 90 Jahren unser Jahrhundert ausmalte: Der Verkehr hat in der Tat stark zugenommen, das Flugzeug gehört heute fest in unser Reiserepertoire, weltweit sprießen Häusertürme in die Höhe. Auch die Entwicklungen auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz entsprechen Langs Vorstellungen. Cyborgs, die Menschen manipulieren, gibt es zwar noch nicht. Doch bis 2027 bleibt ja noch ein wenig Zeit.

1984 (1984): Überwachungsstaat, Geschichtsfälschung, Dauerkrisen Vor etwas mehr als 20 Jahren wurde George Orwells grausam-dystopischer Entwurf eines totalitären Staates verilmt. Seit Protagonist Winston ein kleiner Junge war, beindet sich sein Land Ozeanien im Krieg mit fremden Mächten. Mithilfe von Überwachungskameras, minutiös geregelten Tagesabläufen und der Gedankenpolizei kontrolliert das Regime jede Sekunde im Leben seiner Bürger. Liebe ist verboten – gewünscht ist nur die Liebe zum geheimnisvollen Führer Big Brother. Wer nicht in das Weltbild des Regimes passt, wird durch Folter bekehrt und anschließend aus den Geschichtsbüchern gestrichen. So verschwimmt in den Köpfen der Menschen der Sinn für das, was wirklich ist. Check: Zu Orwells Lebzeiten noch Dystopie, wacht Big Brother heute tatsächlich über uns – NSA und IT-Riesen wie Google sei Dank. Wer Geschichtsfälschung erleben möchte, vergleiche einfach Schulbücher aus der DDR mit solchen aus der BRD. Ein dauerhafter Krisenzustand wird vielleicht nicht bewusst herbeigeführt. Dennoch kommt es den Beteiligten durchaus gelegen, wenn eine sogenannte »Flüchtlingskrise« die geheimen TTIP-Verhandlungen an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung drängt. Unsere Welt mag bei weitem nicht so düster sein wie der Alltag in Ozeanien, doch viele von Orwells Ideen erwiesen sich als kluge Vorhersagen.


Die Tribute von Panem (2012-2015): Zweiklassengesellschaft, Brot und Spiele Titel Nach einem Krieg auf dem nordamerikanischen Kontinent gibt es nur noch zwölf Distrikte. Sie werden beherrscht vom Kapitol, wo die Privilegierten in Saus und Braus leben, während die Bewohner der Distrikte unter elenden Bedingungen Güter für das Kapitol produzieren. Einmal im Jahr müssen Teenager aus den Distrikten an Hungerspielen teilnehmen, bei denen sie sich in einer künstlichen Arena abmetzeln, bis nur noch einer von ihnen übrig bleibt. Durch die Spiele führt der autokratische Präsident Snow den Distrikten vor Augen, dass ein Auf bäumen gegen seine Herrschaft zwecklos ist. Bis Katniss Everdeen das Gegenteil beweist. Check: Eine Zweiklassengesellschaft, getrennt in Produzenten und Konsumenten, nicht nur im Lebensstil, sondern auch räumlich – ist das schon Realität? Unsere Welt liefert tatsächlich einige Parallelen: Auch heute herrscht ein enormes Wohlstandsgefälle zwischen Industrienationen und dem Rest der Welt – ein Teil des Reichtums der ersten beruht auf der Armut letzterer. Auch das Motiv der Spiele ist altbekannt: Regime missbrauchen Großereignisse, um sich zu inszenieren und von Missständen abzulenken. Da werden Erinnerungen an die Olympischen Spiele von Peking oder Sotschi wach.

Children of Men (2006): Flüchtlingskrise Wir schreiben das Jahr 2027. Seit 18 Jahren wurde kein Kind mehr geboren, die Menschheit steht vor ihrem Untergang. Unzählige, durch globales Chaos getriebene Flüchtlinge werden verfolgt und in Ghettos gesteckt. Das ruft die Pro-Flüchtlings-Terrorgruppe »Fishes« auf den Plan. Plötzlich taucht die Gelüchtete Kee auf – schwanger. Als letzte Hoffnung der Menschheit soll sie an einen sicheren Ort gebracht werden, wo Wissenschaftler am Fortbestand der Menschheit tüfteln. Dabei wird sie jedoch von den »Fishes« verfolgt, die das Kind politisch für sich nutzen wollen.

Zurück in die Zukunft II (1985): Technik Der junge Marty McFly reist mit Doc Brown in die Zukunft. Während seines Aufenthalts im Jahr 2015 kauft er ein Buch, das alle Sportergebnisse von 1950 bis 2000 enthält. Das veranlasst McFlys Erzfeind Biff dazu, das Buch samt Zeitmaschine zu klauen, damit sein jüngeres Ich ein Vermögen verdienen und die Zukunft verändern kann. Und ganz nebenbei fährt McFly auf einem schwebenden Hoverboard, trägt selbstschnürende Nikes und sitzt, klar, in einer Zeitmaschine, während liegende Autos durch die Straßen schwirren. Check: Der zweite Teil von Robert Zemeckis legendärer Trilogie zeichnet keinen Gesellschaftsentwurf, der moralisch-ethische Fragen aufwirft, sondern spielt mit allerlei technischen Ideen die feuchten Träume aller Nerds durch. Fliegende Autos sind zum jetzigen Zeitpunkt Zukunftsmusik, auch über Zeitreisen wird allenfalls theoretisch diskutiert. Handfester sieht es beim Hoverboard aus: Hier haben Firmen wie Lexus schon funktionierende Modelle entwickelt. Fast alle Prototypen arbeiten jedoch mit Magnetfeldern – und dazu muss ein spezieller Boden verlegt sein. Nicht gerade alltagstauglich. Nike indes hat es tatsächlich geschafft, einen selbstschnürenden Schuh zu entwickeln. Er soll Ende des Jahres auf den Markt kommen.

Check: »Children of Men« lässt kaum ein Problem unserer heutigen Gesellschaft unerwähnt. Die eindrucksvollen Szenen der Camps, in denen Gelüchtete eingepfercht werden, erinnern nur allzu lebhaft an Idomeni. Wie Flüchtlinge hier mutwillig ferngehalten werden, weckt Erinnerungen an dubiose Flüchtlingsdeals mit der Türkei.

Keine Ahnung Orange Hufe zu schnell wie Protzessin Cocktail Cocktail. Herzlichst, Julian und David

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Titel

4 aus 40.000 An der FU tummeln sich täglich 40.000 Menschen. Vier von ihnen wagten den Blick in die Glaskugel und verrieten uns, wie sie sich die Uni der Zukunft vorstellen. Text: Camares Amonat Fotos: Camares Amonat, Anke Schlieker, Hanna Sellheim

Karolina Heck ist 21 Jahre alt und studiert im sechsten Bachelorsemester Geographische Wissenschaften.

«Homeoffice wird das Studieren der Zukunft” Die Uni der Zukunft wird auf jeden Fall anders sein, papierloser und viel digitaler. Ich kann mir vorstellen, dass der Großteil der Vorlesungen dann online stattinden könnte und viele Seminare über Skype ablaufen, wie bei einem Fernstudium. Auch die Anwesenheitsplicht würde wegfallen. Mir persönlich würde das überhaupt nicht gefallen, da das Studium dann gar nichts mehr mit sozialen Kontakten zu tun hätte. Viele Menschen würden vereinsamen. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass dadurch auch nicht mehr so viele Menschen direkt nach Berlin ziehen würden. Ohne Anwesenheitsplicht könnten viele praktisch von zu Hause aus studieren, ohne ihre Heimatstadt zu verlassen. Außerdem werden Bibliotheken in Zukunft für Unis überlüssig, da alles in digitalisierter Form existieren wird und dann auch alle Bücher und Texte vom heimischen Laptop aus abruf bar wären. So würden in der Zukunft viele Uni-Gebäude leer stehen. Aus diesen leeren Flächen könnte dann neuer Wohnraum entstehen.


Titel

Jenny Fleischer studiert Global Communication und International Journalism im zweiten Mastersemester.

Thembi Wolfram ist 25 Jahre alt und studiert Politikwissenschaft im Monobachelor an der FU.

Edgardo Flores Rossel ist 41 Jahre alt und unterrichtet Spanisch an der FU. Geboren ist er in Chile.

«Die Universitäten in Deutschland werden mehr Geld haben«

«Eigene Schwerpunkte setzen wird einfacher«

»Es wird weniger Geld für Bildung übrig bleiben«

Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in der Zukunft in Deutschland mehr Geld für die Unis geben wird. In Deutschland ist Bildung - im Gegensatz zu anderen Ländern, wie etwa Russland - ein sehr wichtiges Thema. Aus diesem Grund wird die Politik bald merken, dass in Universitäten mehr Geld investiert werden muss. Dieses Geld könnte dafür sorgen, dass die Semestergebühren in Deutschland auf Dauer nicht großartig ansteigen müssen. Zusätzlich könnten dadurch mehr Studienplätze geschaffen werden. Weil immer mehr Menschen studieren wollen, wird das unbedingt notwendig sein. Ich nehme aber an, dass das NC-System überarbeitet wird und es viel mehr Einstufungstests, so wie beispielsweise in Österreich, geben könnte. Außerdem wird es sicherlich mehr und auch neue Studiengänge im technischen Bereich geben, da diese noch relevanter für die Arbeitswelt sein werden.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in Zukunft an den Unis eine größere Auswahl an Kursen geben wird. Es wird bestimmt möglich sein, vermehrt die Module zu wählen, die einen wirklich interessieren. Das Studium der Zukunft wird es zulassen, dass die Studierenden stärker ihre eigenen Schwerpunkte setzen können. Das wäre sehr förderlich, um sich schon vor dem Studienabschluss in eine bestimmte Richtung zu spezialisieren und dann einfacher ins Berufsleben einsteigen zu können. Allgemein denke ich, dass die Uni in der Zukunft praxisorientierter sein wird. Die Zahl der Dozenten mit Praxiserfahrung könnte im Laufe der Jahre steigen und es wird bestimmt mehr Zeit für Arbeitserfahrungen und Praktika neben dem Studium geben. Leider kann ich mir vorstellen, dass durch mehr Praxisnähe auch mehr private Investoren an die Unis kommen, die versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Es wird für die Forschung eine Herausforderung sein, trotzdem unabhängig und kritisch zu bleiben.

Für die Zukunft wünsche ich mir an der Universität billigeres und vor allem besseres Essen. Da ich aber vermute, dass es eher noch weniger Geld als jetzt für die Unis geben wird, ist dieser Wunsch wahrscheinlich unrealistisch. Es wird immer viel davon gesprochen, dass in die Bildung investiert werden muss, aber ich denke nicht, dass das in absehbarer Zeit passieren wird. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Nutzung von interaktiven Whiteboards steigen wird und dass man diese dann viel und auch produktiv in die Seminare einbringen kann. Sowieso wird meiner Meinung nach alles verstärkt online ablaufen. Digitale Möglichkeiten, wie das Einbauen von Videos in Vorlesungen und Seminare, werden noch häuiger genutzt werden. Besonders bei Sprachkursen wird das nützlich sein. Allerdings immer nur als Ergänzung zum normalen Kursangebot, nie als Ersatz dafür. Denn der persönliche Kontakt und Austausch mit dem Sprachdozenten und den Kommilitonen im Kurs selbst ist sehr wichtig.

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Politik

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Ins Netz gegangen Eigentlich sollte eine Universität ein toleranter Ort sein, frei von Rassismus - sollte man meinen. Watchblogs wie »Uniwatch« zeichnen jedoch ein anderes Bild. Wir sind Vorfällen von Diskriminierung an der FU auf den Grund gegangen. Text: Enno Eidens Illustration: Julia Fabricius

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onglei referiert in ihrem Seminar zu mathematischer Visualisierung. Die 28-Jährige ist noch nicht lange in Deutschland. Erst für ihr Masterstudium kam die Chinesin an die FU. Im Kurs von Konrad Polthier soll sie einen Vortrag halten. Doch auf einmal unterbricht sie der Professor: »Er war ungeduldig und fragte, was ich noch vorzustellen hätte. Irgendwann hat er sich komplett abgewandt und mich gar nicht mehr beachtet«, erinnert sich Honglei. Hastig beendet sie ihr Referat. Eine Nachbesprechung oder konstruktive Kritik des Dozenten bleiben aus. »Nach dem Kurs habe ich ihn direkt angesprochen. Er lehnte ein Gespräch ab und blieb dabei nicht einmal stehen.« Sogar bis zu seinem Büro sei sie ihm gefolgt – Polthier habe sie ignoriert. Zwei weitere chinesische Studentinnen berichten Honglei von ähnlichen Vorfällen mit Polthier. Kommilitonen aus dem Kurs hingegen behaupten, er habe sich das ganze Seminar über schon recht unfreundlich allen Studierenden gegenüber verhalten. Und Hongleis Präsentation sei schlichtweg nicht gut gewesen. Lag es an Hongleis Herkunft oder an ihrer Leistung im Kurs, dass ihr Vortrag unterbrochen wurde? Das bleibt unklar, verdeutlicht aber, wie vertrackt das Thema Rassismus an der Uni sein kann. Ihn zu erkennen ist schwierig, ihn zu benennen einfach und ihn zu beweisen oft unmöglich. Auch, weil er viele Formen annehmen kann: Ein Dozent, der Studentinnen mit Kopftuch konsequent übersieht. Oder eine Vorlesung über Kolonialisierung, die sich nur aus Texten von weißen europäischen Gelehrten speist.

f Dass Rassismus an deutschen Hochschulen existiert, belegt eine Umfrage des Asta der Universität Köln. Ein Großteil der Studierenden distanzierte sich zwar von Rassismus, dennoch stimmten 36 Prozent der Aussage »Slawinnen sind leicht zu haben« zu. Mehr als die Hälfte gab an, dass es seit den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof mehr antimuslimische Ressentiments auf dem Campus gebe. Doch konkrete rassistische Vorfälle zu dokumentieren, ist schwierig. Meist wird nur eine Sicht auf die Geschehnisse publik, oft gar keine. Sogenannte »Watchblogs« wollen da Abhilfe schaffen. Ein prominentes Beispiel dafür ist »Münkler-Watch«. Das Blog machte es sich im vergangenen Jahr zur Aufgabe, die Vorlesungen des deutschlandweit bekannten Politologen Herfried Münkler kritisch zu kommentieren. Dabei wurden Münkler nicht nur Rassismus, Sexismus und Militarismus

vorgeworfen – sondern auch, er nutze seine Macht als Dozent, um die Diskussion zu unterdrücken. Münkler bekundete öffentlich, er fühle sich ungerecht behandelt. Zu einer Einigung kam es nicht. Auch die FU haben die Watchblogs im Blick. Der Arbeitskreis »UniWatch« etwa berichtet im Netz über einen Fall vom vergangenen November, bei dem einem Dozenten rassistische Äußerungen vorgeworfen wurden: Einem Studierenden zufolge, der anonym bleibt, habe der Professor in einer Vorlesung das N-Wort genutzt, um eine Sprache zu benennen. Die darauffolgende Debatte habe er abgewürgt, stattdessen den Beitragsschreiber als »Sprachstasi« bezeichnet. Sein Versprechen, die Beschwerde am Beginn der kommenden Sitzung zu besprechen, habe er kurzfristig revidiert. Das Blog nennt weder den Namen des Autors noch den des Dozenten. Doch der Dozent Uli Reich bestätigt, dass diese Auseinandersetzung in seiner Einführungsvorlesung für Sprachwissenschaft stattgefunden habe.

f Der Romanistik-Professor weist jegliche Schuld von sich, spricht von »übler Nachrede«. Die Darstellung von »UniWatch« sei völlig falsch und ignoriere das Thema der Veranstaltung: In der betroffenen Sitzung sei es um eine Kreolsprache gegangen - deren Name nun einmal das Wort beinhalte. Seines Wissens gebe es dafür keinen anderen Namen. Er selbst habe das N-Wort auch nicht gebraucht, sondern lediglich eine Tabelle aus der Fachliteratur vorgelegt, in der es vorkam. Außerdem habe er das Wort nicht unkommentiert genutzt. »Ich wollte darauf hinweisen, dass es in anderen historischen Kontexten, in denen es zu diesen Worten einfach keine Alternative gab, durchaus auch antirassistisch verwendet werden konnte.« Er habe davon abgesehen, das Thema in einer weiteren Vorlesung aufzurollen, weil ihm »und übrigens auch der überwältigenden Mehrheit der Studierenden die ganze Sache zu abstrus war.« Ein Rassist sei er natürlich nicht. Björn hat den Vorfall miterlebt: »Reich schien sich direkt angegriffen zu fühlen, hat die Unterstellungen sehr schnell und sehr schroff von sich gewiesen«, erinnert er sich. Der 19-jährige Student indet es schade, dass man an der Uni heutzutage kaum noch diskutieren könne. »Vor allem als Mensch mit weißer Hautfarbe sollte man über die negative Konnotation dieser Worte und deren Auswirkungen sprechen. Reich hat sich dieser Relektion verweigert«, meint Björn. Dass man an der Uni über Rassismus spricht, ist jedoch un-


Politik

umgänglich. Wenn im akademischen Zentrum unserer Gesellschaft kein Platz für wichtige Debatten ist, wo soll man sie dann führen? Watchblogs mögen zwar dafür sorgen, dass vermeintliche Fälle von Rassismus publik werden. Mit bloßer anonymer Dokumentation lässt sich noch längst keine Debatte führen.

f Honglei ist sich sicher: Sie wurde von Konrad Polthier diskriminierend behandelt. »Ich behaupte ja nicht, dass meine Arbeit einwandfrei war.« Doch gerade deshalb hätte sie gerne von Polthier konstruktive Kritik erhalten. Die habe er ihr aber verweigert: »Selbst wenn ich noch mehr Arbeit reingesteckt hätte – seine Vorurteile hätte ich damit auch nicht aus dem Weg schaffen können.« Polthier möchte sich nicht zu den Anschuldigungen äußern, sondern verweist auf die Pressestelle der FU. Diese gibt an, dass Polthier direkt nach dem Seminar »terminlich eingebunden gewesen« sei, Honglei aber keineswegs ignoriert habe. Außerdem entbehre der Vorwurf der »Diskriminierung aus Gründen von Geschlecht oder Herkunft jedweder Grundlage«. Es habe in Folge der Anschuldigungen ein Gespräch mit der zuständigen Frauenbeauftragten stattgefunden. Das FU-Institut für Mathematik habe darüber hinaus ein klärendes Gespräch angeboten.

f Ob Diskriminierung oder bloße Unfreundlichkeit - abschließend klären lässt sich das nicht. Es steht Aussage gegen Aussage. Die überlegene Stellung der Universität schwächt dabei die Position der Betroffenen und derer, die sich um Auf klärung bemühen. Die wichtige Debatte über Rassismus kann jedoch nur vorankommen, wenn

Enno Eidens ist kein Rassist und hat sogar schwarze Freunde. Folgt @bostonbblack auf Twitter.

sie öffentlich und ohne Hierarchie geführt wird. Dazu braucht es Dozierende, die sich offen auf Gespräche einlassen. Und Studierende, die bereit sind, die Gegenseite anzuhören. Wenn Du von Diskriminierung betroffen bist, kannst Du dich an das Dekanat deines Fachbereichs, die Sozialberatung (sozialb.thielallee@ studentenwerk-berlin.de) oder die Beratung des AStA (www.astafu.de/ beratungen) wenden.

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Abschauen erlaubt!

Studium Generale

Die FU gilt offiziell als Eliteuni, dümpelt jedoch in vielen Bereichen hinterher. Wir haben einige Punkte entdeckt, bei denen sie sich von anderen Unis eine Scheibe abschneiden kann. Eine Bestandsaufnahme.

Direkt nach dem Abitur weiß nicht jeder junge Mensch, was er später einmal werden möchte. Deshalb bieten einige Universitäten ein sogenanntes Studium Generale an. Dieses Orientierungsjahr gibt Studieninteressierten die Möglichkeit, einen Blick in den Uni-Alltag zu werfen. Das Text: Corinna Schlun, Cana Durmusoglu Leibnitz Kolleg der Uni Tübingen ist Vorreiter auf diesem Gebiet. Illustration: David Stach Studieninteressierte können dort aus einem breiten Fächerangebot Seminare wählen, um die verschiedenen Fachrichtungen kennenzulernen - inklusive Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten. Auch die TU Berlin bietet schon seit einigen Jahren ein derartiges Studium an. Bei »MINTgrün« können Interessierte in naturwissenschaftliche und technische Bereiche hineinschnuppern. Erbrachte Prüfungsleistungen können in einem späteren Studium angerechnet werden. Zwar hat FU-Präsident Alt nach seiner Wiederwahl angekündigt, ein Studium GenStudierendenausweis erale einzuführen, Taten folgten bisher jedoch nicht. U-Bahn fahren, kopieren, in der Mensa essen – feste Bestandteile des Studi-Alltags. Im Gegensatz zur FU nutzt man dafür an unzähligen anderen Universitäten eine Multifunktionskarte. Diese hat die Universität Bamberg als eine der ersten deutschen Universitäten eingeführt. Schon seit 2005 wird hier für jeden neuen Studierenden ein Ausweis im praktischen Kreditkartenformat ausgestellt und zu Semesterbeginn neu aktiviert. An der FU schlagen wir uns noch immer mit einem übergroßen ladderigen Papierlappen herum, der im Portemonnaie vor sich hinwelkt. Seit 2015 planen die Berliner Hochschulen die Einführung eines elektronischen Studierendenausweises. 2017 möchte dann auch die FU ihre Campuscard einführen. Auch in Sachen Datenschutz soll diese dann auf dem neuesten Stand sein: Persönliche Daten sollen nicht direkt gespeichert, sondern lediglich in verschlüsselter Form vom Server abgerufen werden können. Mit dieser Masterkarte können Studis dann Bücher ausleihen, in der Mensa bezahlen und das Semesterticket nutzen. Wurde aber auch Zeit!

Studierendenbeteiligung Es ist immer dieselbe Leier: Studierende haben an der FU in der Hochschulpolitik nur wenig zu melden. Weder Urabstimmung noch Vollversammlungen sind hier bindend. Die Allmacht des Präsidiums wird von den meisten nur achselzuckend zur Kenntnis genommen. Das ist nicht überall so: An anderen Universitäten wie der Uni Greifswald gehört die Vollversammlung zu einem der wichtigsten Gremien der Studierendenschaft. Bei einer beschlussfähigen Vollversammlung - fünf Prozent der Studierenden müssen dafür anwesend sein - sind die Beschlüsse bindend, ebenso wie die Ergebnisse der Urabstimmung. Eine besondere Konstellation gibt es außerdem an der TU: Seit 2013 stellen die Professoren nicht mehr die größte Statusgruppe im Senat. Sie haben nur noch ein Viertel der Sitze inne. Zum Vergleich: An der FU stellen die Professoren mit 13 von 25 Sitzen die absolute Mehrheit. Höchste Zeit, auch an der FU mehr Raum für Mitbestimmung zu schaffen.


Tarifverträge Wer an der Universität forscht und lehrt, leistet einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag – und verdient damit einen großzügigen Lohn. Klingt plausibel, bleibt aber für die meisten bloßes Wunschdenken. Viele Dozierende (wie wissenschaftliche Mitarbeiter, Lehrkräfte für besondere Aufgaben oder auch Juniorprofessoren) leiden unter prekären Beschäftigungsverhältnissen. Rund 90 Prozent aller Wissenschaftler an Hochschulen haben derzeit einen befristeten Arbeitsvertrag und verdienen rund ein Drittel weniger als in der freien Wirtschaft. Auch an der FU ist die Tendenz der befristeten Arbeitsverträge steigend: Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft schätzt, dass 2005 etwa 14 Prozent der Mitarbeiter einen unbefristeten Arbeitsvertrag hatten, 2012 waren es nur noch neun Prozent. So kam es schon häuiger vor, dass sich Dozenten der FU in ihren Seminaren über ihre Arbeitsbedingungen beschwerten. Rettung bietet erst eine feste Professur, doch deren Zahl stagniert. So erhalten Lehrende an der FU zumeist einen Lehrauftrag mit einer Laufzeit von ein bis zwei Semestern und verdienen zwischen 25 bis 40 Euro für eine Lehrstunde. Der Betrag richtet sich dabei nach der Fachrichtung. Aus inanzieller Sicht steht die FU aber nicht alleine da. Im bundesweiten Vergleich erkennt man, dass Hessen Privatdozenten am meisten zahlt, in etwa 4.000 Euro im Monat. Die Berliner Hochschulen zahlen dagegen ungefähr 3.300 Euro.

Politik

Klimaneutralität Im Winter dreht man gerne mal die Heizung auf und wenn es dunkel wird, dann schaltet man mal eben das Licht an. Das steigert aber nicht nur das Wohlbeinden, sondern auch die Energiekosten. In inanziell schwierigeren Zeiten ist das für Universitäten ein erheblicher Kostenfaktor: Die FU hatte allein 2014 eine Rechnung von 13,4 Millionen Euro für Energiekosten zu zahlen. Damit sie ihre persönlichen CO2-Ziele, die Senkung der Emissionen und der damit verbundenen Kosten erreicht, wurde 2010 der neue Klimaschutzvertrag mit dem Land Berlin geschlossen. Schon 2014 zeigte sich, dass die FU mit ihrer Sparpolitik Erfolg hat: Im Vergleich zum Vorjahr sparte die FU rund 1.400 Tonnen CO2 ein, ebenso schaffte sie es erfolgreich, den CO2-Ausstoß zum letzten Jahr auf 38.749 Tonnen zu senken. Die Uni Greifwald zeigt jedoch, dass es auch ganz ohne CO2-Ausstoß geht: Sie will bis Ende 2016 vollständig klimaneutral sein. So werden dort seit 2012 Wasserkraftwerke zur Stromerzeugung genutzt und der Energieverbrauch durch energiesparende Geräte, Bewegungsmelder und LED-Technik reduziert. Daran sollte die FU sich ein Beispiel nehmen!

Barrierefreiheit Zwar gibt es an der FU bereits Informationsseminare, die Aus- kunft über nachteilsausgleichende Maßnahmen bei Prüfungen, Hilfe bei der Wohnungssuche oder der Studieninanzierung erteilen. Eine Einzelfallberatung bietet die Behindertenbeauftragte jedoch nicht an. Und auch bei den barrierefreien Zugängen an kleineren Instituten besteht noch Verbesserungsbedarf. Studierende mit Gehbehinderung können diese Gebäude meist nicht ohne Hilfe erreichen – ein unhaltbarer Zustand. Andere deutsche Unis sind bereits ein ganzes Stück weiter. So hat die Uni Potsdam untersucht, wie selbstständig sich Gehbehinderte zwischen den einzelnen Gebäuden bewegen können. Darauf hin wurde ein Ampelsystem entwickelt und auf einem Uni-Lageplan markiert, bei welchen Gebäuden nachgerüstet werden muss. Ein ähnliches Projekt gab es an der Uni Siegen. Es lohnt sich also ein Blick über den Tellerrand, um gleiche Studienbedingungen für alle zu schaffen!

Cana Durmusoglu und Corinna Schlun wissen nun ganz genau, wo die FU top ist und wo sie Verbesserungsbedarf hat.

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Politik

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Der Entscheider von morgen Für viele Missstände sind die Verantwortlichen schnell ausgemacht: Die Politiker sind schuld! Kaum ein Berufsstand ist dermaßen unbeliebt. Wer will sich schon solch eine Karriere antun? Ein Porträt über jemanden, der es wagen möchte. Text: Lukas Burger Foto: Anke Schlieker

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arum haben im Deutschen Bundestag eigentlich viel mehr Menschen Jura oder Lehramt studiert als Politik? »Ein politikwissenschaftliches Studium ist ja keine Ausbildung zum Berufspolitiker, sondern dient der Analyse des politischen Diskurses«, sagt Christoph Husemann. Dann setzt er zu einer ausführlichen Beschreibung seines Studiums an - und es fällt gar nicht weiter auf, dass die Eingangsfrage unbeantwortet bleibt. Eine typische Politikerantwort? In der Tat, Christoph will Berufspolitiker werden. Im letzten Jahr war er Landesvorsitzender und Sprecher der Grünen Jugend Berlin. Er möchte sein Studium nutzen, um seine Leidenschaft besser zu verstehen. Kann man Vollzeit Politik machen, ohne seine Ideale aufzugeben? Christoph möchte das glauben: Seine eigenen Prinzipien dürfe man niemals verraten, sagt er. Seine politische Überzeugung ließt ganz natürlich in seine Sprache ein, er sagt »mensch« statt »man« und »kriminalisierte Gelüchtete« statt »Flüchtlinge«. Die sind auch Teil von Christophs schlimmstem Erlebnis in der Politik: Als 2015 die Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg geräumt werden sollte, die von Flüchtlingen besetzt war, stimmte seine Partei der Räumung zu. »Die unangenehmste Erfahrung für mich war es, Kompromisse eingehen zu müssen, weil es keine andere Lösung mehr gab«, sagt er. Christoph musste als Sprecher vor der Öffentlichkeit einen Polizeieinsatz rechtfertigen, der seinen Überzeugungen zuwider lief. Für Christoph, der von klein auf politisiert wurde, eine schwere Zeit. Bereits seine Eltern waren in der Friedensbewegung aktiv. Im Leistungskurs Politikwissenschaft stellte er den Kapitalismus in Frage, während seine Mitschüler nur stumm auf das Ende der Stunde warteten. Nach dem Abitur 2008 trat er dann der Grünen Jugend bei. Damals kam für ihn eine politische Karriere noch nicht in Frage. Zunächst begann er in Paderborn ein Informatikstudium, ließ sich dort in den Asta wählen. Die Besetzung des Audimax war ein Wendepunkt: Danach traf er

die Entscheidung, in Berlin Politikwissenschaften zu studieren und sich dort politisch zu engagieren. Christoph versucht immer wieder, das Gespräch auf grüne Lieblingsthemen zu lenken: Ein autofreies Kreuzberg, kostenfreier Nahverkehr und vor allem - uneingeschränktes Recht auf Asyl. Man hört, dass er mit Leidenschaft dabei ist. Serien wie »House of Cards« zeichnen ein düsteres Bild von Politik: Um erfolgreich zu sein, muss man seine Ideale zugunsten von Intrigen und Machtkämpfen opfern. Als skrupellosen Karrieristen kann man Christoph jedoch beim besten Willen nicht bezeichnen. Trotzdem will er von der Politik leben können, um ihr weiter so viel Zeit widmen zu können. Doch wie weit kann er es mit seiner Einstellung bringen? Christoph sieht den Konlikt: persönliches Fortkommen auf der einen Seite, die eigenen Ideale und die der Partei zu bewahren auf der anderen. Bei der Räumung der Schule musste er das am eigenen Leib erfahren. Dennoch glaubt er, dass es in der Berufspolitik Platz gibt für Menschen wie ihn, die versuchen, sich für ihre politischen Vorstellungen stark zu machen statt für persönliche Zwecke. Im September wollte Christoph zur Wahl zum Abgeordnetenhaus antreten. Doch seine Bewerbung war nicht erfolgreich: Zu idealistisch? Natürlich sei das ein Rückschlag gewesen, sagt er. An seinem Ziel, professionell Politik zu betreiben, hält er dennoch fest. Ob er eines Tages der erste grüne Bundeskanzler wird? Christoph lächelt. »Mir wäre eine grüne Bundeskanzlerin lieber.« Lukas Burger indet House of Cards ohnehin overrated. Er empiehlt The West Wing. Das macht zumindest noch Lust auf Politik.


Politik

Der Streberstaat Egal was du tust, Norwegen macht’s besser! Im Land der Fjorde und Polarlichter leben die glücklichsten Menschen der Welt. Wie das bei den hohen Alkoholpreisen möglich ist, fragt sich unser Autor. Text und Foto: Clemens Milan Polywka

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onnenschein kann man nicht kaufen. Diese Lektion lernt man schnell in Bergen. Die norwegische Stadt gilt als die regenreichste Europas. An einem der wenigen Sonnentage bin ich mit Tuva, meiner norwegischen Kommilitonin, zum Arbeiten verabredet. Dann kommt ihre Nachricht: «Die Sonne ist da, ich bin im Stadtpark!« Als ich dort ankomme, tummeln sich auf den Wiesen Bergener aller Berufs- und Altersgruppen. Termine und Arbeit sind offenbar abgesagt. Kein Wunder - Geldsorgen werden viele von ihnen nicht haben. Norwegen gilt als eins der reichsten Länder der Welt. Während beinahe jeder Staat horrende Summen an Schulden angehäuft hat, besitzt Norwegen ein Staatsvermögen von 740 Milliarden Euro. Es könnte Griechenland komplett entschulden und hätte immer noch Geld übrig. Die Einnahmen Norwegens stammen vor allem aus dem Ölgeschäft. Während der Staat von der Ausbeutung und dem Export fossiler Ressourcen proitiert, versorgt er seine fünf Millionen Einwohner mit sauberem Strom aus regenerativen Energiequellen. So subventioniert der Staat Elektroautos und Selbstversorgung durch Wasserkraft. Käufer von Elektroautos erhalten neben dem staatlichen Zuschuss auch das Privileg, die Busspur mitbenutzen zu dürfen. Oslo soll, bis auf die E-Karossen, die auch weiterhin im Stadtzentrum fahren dürfen, bis 2017 komplett autofrei werden. Den Tesla Model S sieht man hier an jeder Straßenecke. Auch auf anderer Ebene will Norwegen die Entwicklung der eigenen Bevölkerung vorantreiben: Das Land betreibt eine Art Optimierung der Bevölkerung. Die Erziehung des Menschen hört nicht nach der Schule auf, sondern wird auch im Erwachsenenalter fortgeführt. Und, auch wie in der Schule, von Einigen in Frage gestellt, doch von der Mehrheit befolgt. So gibt es zum Beispiel eine Zuckersteuer, die die norwegische Bevölkerung vor übermäßigem Konsum warnen, bestenfalls

sogar schützen soll. Gummibärchen sind etwa fünfmal so teuer wie in Deutschland. Um den steigenden Zahlen von alkoholbedingten Todesfällen entgegenzuwirken, wurden die Steuern auf Alkohol drastisch erhöht. Doch aufgrund der hohen Gehälter hat der Staat damit nur größere Steuereinnahmen generiert. Wer in Norwegen trinken will, der wird auch weiterhin ins »Vinmonopolet«, dem staatlichen Supermarkt für Spirituosen aller Art, gehen und dort einkaufen. Trinken darf man in der Öffentlichkeit aber natürlich nicht. Der Preis für die Selbstoptimierung sind eine Menge Regeln und Einschränkungen, die aufgrund der hohen Lebensqualität jedoch von der Bevölkerung nicht als solche empfunden werden. Die norwegische Strategie scheint zu funktionieren. Zu diesem Schluss kommt der von der UN aufgegebene World Happiness Record: Skandinavier seien die glücklichsten Menschen auf diesem Planeten. Das Klima in Bergen ist geprägt von Wohlstand, von Entspanntheit. Ganz anders als in Berlin. Doch kommt die Zufriedenheit von den politischen Entscheidungen, oder ist die Wahrheit doch simpler? Wer Geld hat, dem geht es gut. Doch auch mit allem Geld der Welt - das Wetter bleibt, wie es ist.

Clemens Milan Polywka mag weder Sommer noch Sonne, weswegen er sich im regnerischen Bergen außerordentlich wohl fühlte.

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Campus

Suche Schildkröte, biete Zahnbürste Ein Blätterwald bedeckt die Wand: Studien werben um Teilnehmer, Nachhilfeschüler und -lehrer suchen sich gegenseitig und Catering-Firmen versprechen Studierenden ein Nebenjob-Schlaraffenland. Auf den ersten Blick erscheint das, was an den Schwarzen Brettern der FU aushängt, öde und banal. Bei genauerer Betrachtung jedoch finden sich inmitten dieser eher konventionellen Gesuche auch Perlen, die den oft trockenen Uni-Alltag ungemein versüßen. Wir haben einige dieser Kuriositäten genauer unter die Lupe genommen. Text: Theo Wilde Illustration: Cecilia T. Fernandez

Nicht nur sauber, sondern rein Am Lateinamerika-Institut wird auf einem schwer leserlichen, handgeschriebenen Zettel eine originalverpackte elektrische Zahnbürste eines namhaften Herstellers angeboten. Und das alles zum sagenhaften Preis von nur 50 Euro statt 130, die der Verfasser als ursprüngliche unverbindliche Preisempfehlung angibt. Der Ort des Aushangs scheint klug gewählt, wo doch auf Dentalhygiene bedachte Sparfüchse bekanntermaßen besonders häuig an der Uni auf Schnäppchenjagd gehen. Unglücklicherweise war unter der angegebenen Nummer niemand zu erreichen, sodass nicht bekannt ist, ob schon ein Feind des Zahnsteins zugeschlagen hat.

Weit Schwa ere Kuriositä rze te online! n Bret t gibt’s n vom Auf fur ios-cam ab jetzt auch wir für pu euch d ie neue s.de stellen zusam sten Update s men.

Verschollenes Panzertierchen Nicht an einem schwarzen Brett, dafür aber an einer Laterne in der Fabeckstraße, wird ein Finderlohn für eine etwa 16 Zentimeter große, männliche Landschildkröte ausgelobt. Diese habe sich aus ihrem Gehege befreit und sei seitdem von ihren Besitzern nicht mehr gesehen worden. Es gibt Gerüchte, wonach das Reptil sich in ei-nen Abwasserkanal gelüchtet hat, um dort Pizza zu essen und Ninjutsu mit seinen drei Schildkröterich-Freunden zu praktizieren. Allerdings sind diese ebenso unbestätigt wie das Gemunkel, dass die Schildkröte gerade einem besorgten Clownisch bei der Suche nach seinem Sohn hilft. Aber aufgepasst! Falls eine weibliche Schildkröte gefunden werden sollte - es ist die falsche.


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Anonyme Romantiker Am Nordamerika-Institut jagt eine einsame Seele die ganz große Liebe. Gerade mal ein Jahr, nachdem sie sich zum ersten und bisher letzten Mal in ihrem Leben begegneten, sucht ein junger Mann per Aushang nach einer Amerikanistikstudentin Anfang 20. Ihren Namen hat sie leider nicht verraten. Dafür weiß der hoffnungslos romantische Verfasser noch, dass es ihr schaurig blauäugiger Lebenstraum ist, »jeden Moment noch mehr in den Moment zu leben«. Das Aufeinandertreffen vollzog sich nachts in einem nicht näher benannten Club und fand seinen Höhepunkt in heftigem Händchenhalten in der kalten Morgenluft des beginnenden nächsten Tages. Der Plan, darauf hin gemeinsam zu frühstücken, konnte jedoch nicht mehr verwirklicht werden. Der Suchende würde dies aber gerne nachholen. Die Tatsache, dass sie es scheinbar nicht für nötig befand, ihm ihre Nummer mit auf den Weg zu geben, legt dem unvoreingenommenen Leser die Vermutung nahe, dass der Suchende seine amourösen Ambitionen doch besser auf jemand anderes verlegen sollte.

Theo Wilde fühlt sich hintergangen: Die meisten Schwarzen Bretter sind weder schwarz, noch bestehen sie aus Holz.

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Ein unmoralisches Angebot Kostenloser Striptease gefällig? Ein Aushang neben dem Eingang zur Mensa schafft Abhilfe. Die zeigefreudige Person, die dieses verlockende Angebot präsentiert, hält sich leider mit Informationen zu sich selbst sehr bedeckt. Außer einer Handynummer und dem Hinweis, dass sie oder er »etwas älter und fülliger« sei, verrät der Zettel nichts zu diesem verführerischen Phantom. Das Angebot richtet sich selbstverständlich nicht nur an Studenten, sondern auch an »Dozenten oder wer sonst den Aushang gelesen hat«. Lediglich reine Männerrunden werden ohne Angabe von Gründen aus dem Adressatenkreis der Afiche ausgeschlossen. Schade, für den nächsten zünftigen Abend im Burschenschaftshaus kommt diese Showeinlage dann wohl doch nicht in Frage…


Campus

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Tunnelblick oder Elfenbeinturm?

Sollen wir Angewandte oder Allgemeine Literaturwissenschaft studieren? Politikwissenschaft oder doch lieber Governance? Immer mehr Studiengänge sind praxis- statt forschungsorientiert. Sie versprechen Praxisnähe und einen besseren Einstieg in den Beruf. Eine sinnvolle Entwicklung? Unsere Autoren im Pro und Contra. Texte: Michael Fleck, Corinna Segelken, Illustration: die greta

Pro

Contra

Nach schier endlosen Tagen in der Bibliothek oder am eigenen Schreibtisch macht sich bei Studierenden häuig ein ernüchtertes Gefühl breit. Welchen Sinn hat es, sich mit schwer verdaulichen Theorien herumzuplagen, die mit dem späteren Berufsalltag nichts zu tun haben? Da verwundert es nicht, dass jeder dritte Studierende das Studium mindestens einmal abbricht oder das Studienfach wechselt. Universitäten sind gefordert, derartigen Sinnkrisen vorzubeugen, indem sie den Studierenden den praktischen Mehrwert ihres Studiums vermitteln. Denn bisher sind Praxisseminare und berufsorientierte Module Mangelware. Dabei nutzt es einem angehenden Betriebswirt mehr, selbstständig einen Businessplan zu entwerfen, anstatt den Großteil des Studiums damit zu verbringen, Theorien zum Rechnungswesen oder Organsationsstrukturen zu pauken. Passend dazu äußerte kürzlich knapp die Hälfte aller Studierenden bei einer bundesweiten Umfrage den Wunsch nach mehr Praxis im Studium. Schließlich wird nur ein geringer Anteil der Studierenden später im Bereich der Forschung arbeiten – von daher nehmen diese Inhalte in forschungsorientierten Studiengängen zu viel Raum ein. Wer einen Einblick in potenzielle Tätigkeitsfelder gewinnt, kann eindeutig besser beurteilen, ob er die richtige Studienwahl getroffen hat. Und Studierende könnten endlich sehen, wofür sie sich tagtäglich quälen.

Im Studium schon alles für den Beruf lernen? Klingt vielversprechend. Doch ist ein praxisorientiertes Studium wirklich die bessere Berufvorbereitung? Nein, denn wer sich schon an der Uni auf die Praxis fokussiert, der fährt sich auf ein Thema fest und verbaut sich seine breit gefächerten Optionen. Ein forschungsorientiertes Studium bereitet ebenfalls auf den Berufsalltag vor - nur liegt das nicht immer sofort auf der Hand. Klar, das Hauptwerk von Geoffrey Chaucer oder die Öffentlichkeitstheorie von Jürgen Habermas haben mit der Arbeitswelt erst einmal sehr wenig zu tun. Doch wer es schafft, aus einem Gewirr von Theorien eine zentrale These herauszuarbeiten, beweist einen Blick für das Wesentliche. Im stressigen Berufsalltag kann das von Vorteil sein. Eine wissenschaftliche Herangehensweise stellt also wichtige Soft Skills bereit. Der praktische Arbeitsalltag hingegen lässt sich in Seminaren schlecht simulieren, da viele Herausforderungen sich erst in der Praxis ergeben. So kann man zum Beispiel unmöglich eine universelle Anleitung für den Umgang mit einer Krisensituation aufstellen. Theorien hingegen können das nötige Rüstzeug liefern, um mit Problemen umzugehen. Grundsätzlich sollte daher gelten: Erst Theorie, dann Praxis. Denn wer mit der Praxis anfängt, wird sich wohl kaum noch mit anderen Disziplinen auseinandersetzen. Ein forschungsorientiertes Studium dagegen fördert die kritische Relexion und hilft außerdem, die Entscheidung bei der Berufswahl überlegter zu treffen.

Michael Fleck ist ein ziemlich guter Hobbykicker mit leichtem Hang zur Selbstüberschätzung.

Corinna Segelken fand Theorien schon immer spannend. Ihre Hausarbeiten treiben sie trotzdem regelmäßig in den Wahnsinn.


Campus

Familie ohne Bande Das Leben in einer WG ist nicht immer einfach - und doch lässt es sich mit niemandem so schön lachen und weinen, streiten und versöhnen wie mit den eigenen Mitbewohnern. Unser Essay erzählt, wie man in ihnen nicht nur Freunde, sondern sogar eine Familie finden kann. Text: Charlotte Kutz Illustration: die greta

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ichts ist privater als das eigene Zuhause. Es ist Rückzugsort und Raum zum Austoben. Hier können wir wir selbst sein, die Hosen und die Hölichkeit ablegen. Doch viele von uns leben in Wohngemeinschaften und teilen sich ihr Heim mit Menschen, die ihnen anfangs fremd sind – und die manchmal zur Familie werden. So ist es bei mir gekommen: Meine WG ist nicht nur der Ort, an dem sich mein Bett, mein Bad und mein Kühlschrank beinden. Meine WG ist meine Familie. Lea, Christian und ich – wir teilen uns nicht nur den Wohnraum, sondern auch den Alltag. Morgens treffen Lea und ich uns verschlafen im Flur und schlurfen in die Küche, wo Christian schon Kaffee für alle gemacht hat. Abends bringe ich die WG-Einkäufe mit und Lea kocht. Wenn ich dann später über einen Text gebeugt an meinem Schreibtisch sitze, bringt Christian mir einen Teller warmes Essen in mein Zimmer. Wenn weniger zu tun ist, sitzen wir manchmal auch stundenlang in Leas Zimmer. Wir lümmeln uns auf ihre Couch und hören ihr zu, während sie von all den Dingen erzählt, von denen sie so viel mehr weiß als wir: Musik, Beziehungen, Klamotten. Irgendwas können wir von ihr immer lernen. Zu Hause ist aber auch der Ort, an den ich mich zurückziehe, wenn es mal nicht läuft: Liebeskummer, Streit mit Freunden, Uni-Stress – darüber spreche ich mit der WG-Familie. Schließlich sollen sie sich keine Sorgen machen, wenn ich mal eine Woche abtauche, um mich auf der Couch beim Binge Watching zu erholen. Auch wenn ich krank bin, sind meine Mitbewohner dem ganzen Elend ausgesetzt. Christian bringt mir dann Tempos mit und beschwert sich nicht, wenn mein lautes Husten ihn nachts wachhält. Wann ich wusste, dass wir eine Familie werden? Wahrscheinlich an dem Tag, als ich kurz nach meinem Einzug krank wurde. Ich lag auf meinem Hochbett und dachte, ich sterbe. Da kam Lea mit einem Tablett in mein Zimmer, auf dem eine Tasse Tee, ein Mufin, ein Strauß Blumen und eine Zigarette lagen. Ich glaube, in genau dieser Sekunde wurde ich schlagartig wieder gesund. Familien kann man sich nicht aussuchen. Mitbewohner auch nicht. Klar, im Prinzip entscheidet man sich für eine WG. Aber das meist nach einem knappen WG-Casting und mit dem Druck des Berliner Wohnungsmarkts im Nacken. Dabei kratzt man höchstens an der Oberläche, erst nach dem Einzug offenbaren sich Macken und Stärken. Ob das Zusammenleben dann klappt, hat auch viel damit zu tun, wie viel Liebe und Verständnis man diesen Menschen entgegenbringen kann. Wenn man Glück hat, so wie ich, indet man hier bedingungslosen

Zusammenhalt. Der grundlegende Unterschied zu einer Familie ist jedoch das Ablaufdatum, das eine WG hat. Ich werde wahrscheinlich noch in einigen wohnen und weiß noch nicht, ob ich meinen neuen Mitbewohnern so gebannt lauschen werde wie Lea, oder ob sie mir Tempos kaufen werden, wenn ich krank bin. Vielleicht wird meine nächste WG eine Zweckgemeinschaft, vielleicht auch ein Albtraum. Sicher ist, dass ich Lea und Christian als Familienmitglieder nicht mehr verlieren werde.

Charlotte Kutz schreibt unter einem Pseudonym. Doch an ihrer Liebe zu ihrer WG ist alles echt.

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Campus

Wo bin ich hier gelandet? Bei Kapitalisten-Barbie

Eisklotz ante portas

Wer denkt, nach dem Praktikum wäre die Arbeit erledigt, irrt ungemein. Denn der Career Service lauert schon darauf, uns produktives Zeitmanagement beizubringen. Zehn. Stunden. lang.

Vor den Pforten der Hölle ist es kalt. Und wer hätte gedacht, dass man drei Stunden vorher da sein muss, um hereingelassen zu werden? Willkommen in der Ausländerbehörde! Text: Cecilia T. Fernandez

Text: Hanna Sellheim Ich starre auf mein Blatt. In die Mitte soll ich mich selbst malen. Punkt, Punkt, Komma, Strich – mit eddingdicken Linien entsteht ein reichlich abstrahiertes Porträt meiner selbst. Die Dozentin meines Praktikumskolloquiums beugt sich über meine Schulter. Ich nehme ihre Hillary-Clinton-hafte Föhnfrisur aus dem Augenwinkel wahr. »Und jetzt noch die Energiepfeile!« Widerwillig ziehe ich einen kleinen Strich von dem Symbol, das für Hobbies steht – ein Buch und ein kleiner Turnschuh, den der Edding zu einem seltsamen Klumpen hat verschwimmen lassen – auf meinen Körper zu. Ich soll dadurch lernen, wie der Stress in meinem Leben entsteht. Danach erklärt uns Kapitalisten-Barbie, wie wir unsere Zeit möglichst gut einteilen, um bloß keine unproduktive Sekunde an so etwas wie Spaß zu verschwenden. Ich male mir inzwischen all die schönen Dinge aus, die ich mit meiner Zeit anfangen könnte, müsste ich nicht dieses Kolloquium besuchen: Endlich mal Cake Pops backen, einen kleinen Badezimmervorleger weben, »Faust II« lesen, um für den Zweifelsfall gute Zitate zur Hand zu haben. Während dann in einer Art Selbsthilfe-Teil der Veranstaltung alle Teilnehmer sich mit Schicksalsgeschichten aus ihrem stressigen Leben überbieten, kommt mir mein Leben zunehmend so anstrengend vor wie die Aufgabe, einen Tag lang mit 25 Babykaninchen zu kuscheln. Und dabei hatte ich mich immer für einen vielbeschäftigten Menschen gehalten. Doch meine Glückseligkeit währt nur kurz: Zu Hause inde ich auf meinem Laptop eine E-Mail des Career Service vor. Ich solle bitte meinen Praktikumsbericht umschreiben. Er umfasst nämlich nur 1800 statt 2000 Wörter. Doch ich habe hinzugelernt und bin gewappnet: Ich füge einen Punkt zu meiner To-Do-Liste hinzu – und plane 40 Prozent Pufferzeit ein.

Morgens, halb fünf im Wedding. Ein Knoppers hat hier niemand. Stattdessen Thermoskannen und Wolldecken. Bei Minusgraden stehen wir – nunmehr rund zwanzig Menschen – in der Dunkelheit vor einem verschlossenen Tor. Seit gut einer Stunde spüre ich nur noch einen stechenden Schmerz, wo meinen Berechnungen zufolge meine gefrorenen Gliedmaßen liegen müssten. Eine ähnliche Art von qualvoller Taubheit hat schon mein Gesicht befallen. Wie schnell kann man wohl Skorbut entwickeln, die Krankheit waschechter Polarfahrer? Ich bin ganz froh, dass ich Dr. Google mangels funktionstüchtiger Finger nicht konsultieren kann. Was aussieht wie eine eklektische Choreographie, bei der sich alle völlig unkoordiniert schütteln und zittern, ist in Wahrheit etwas viel Banaleres: Ein Besuch bei der Ausländerbehörde. Und wir sind die Glücklichen, die irgendwo im Darknet oder durch einen vorherigen Sondierungsbesuch erfahren haben, dass man hier mittlerweile drei Stunden vor Beginn der ofiziellen Öffnungszeiten antanzen muss, wenn man an diesem Tag das Antlitz eines Beamten erblicken möchte. Wehe den törichten Tölpeln, die erst eine Stunde vor Einlass ankommen! Sie werden zwei Minuten nach Öffnung der Pforten mit einem freundlichen Lächeln und einem »Für heute gibt es keine Wartenummern mehr« heimgeschickt. Und so tänzeln wir in der Kälte vor uns hin, um uns unserer Beine zu vergewissern und einen Funken Wärme zu produzieren. Sollten sich um diese Uhrzeit Liebhaber der modernen Künste auf die Straßen verirrt haben, hoffe ich sehr, dass sie dieses Spektakel mit polierten Monokeln verfolgen: Ein Dutzend erwachsener Menschen, die in Decken gehüllt heftig mit ihren Leibern hin nund her wippen – um das zu sehen, muss man normalerweise 80 Euro für’s Ballett bezahlen.


Campus

Ewige Ehemalige: Im Kampf gegen die Zwänge Ein Leben als Hausfrau kam nicht in Frage. Seyran Ateş floh vor der Zwangsheirat und studierte Jura an der FU, um sich für die Rechte von Frauen einzusetzen. Nicht einmal ein Anschlag hielt sie auf.

Text: Jonas Saggerer, Foto: Presse

eyran Ateş ist 21 alt, als ein Mann auf sie und ihre Klientin schießt – weil sie sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Um ihr Jura-Studium an der FU zu inanzieren, arbeitet sie damals in einer Beratungsstelle für türkische Frauen. Ateş überlebt das Attentat nur knapp, ihre Klientin stirbt. Sechs Jahre lang kann sie danach ihr Studium nicht fortsetzen. Trotzdem soll es einer der entscheidenden Momente in ihrem Leben werden: »Mir wurde klar, dass ich mich nun erst recht für Frauenrechte einsetzen werde.« Denn sie weiß: Der Anschlag galt nicht ihr persönlich. »Er galt der Freiheit, die Frauen für sich beanspruchen«, so Ateş. Als Tochter einer kurdischen Mutter und eines türkischen Vaters kam sie im Alter von 6 Jahren nach Berlin. «Das Aufwachsen in einer sehr traditionellen Großfamilie hat mich politisch geprägt”, sagt Ateş. Schon als Kind wurden ihr klassische Rollenbilder auferlegt. Während ihr Bruder seine Freiheit in vollen Zügen ausleben konnte, versuchten Ateş’ Eltern, sie zu einer guten Hausfrau zu erziehen. «Viele meiner Cousins und Cousinen wurden gegen ihren Willen verheiratet«, so Ateş. Für sie selbst unvorstellbar, das Leben sollte mehr für sie zu bieten haben. So kam es schließlich zum Bruch mit ihrer Familie: Kurz vor dem Abitur verließ die damals 17-Jährige ihr Zuhause und ließ ihren Eltern das Sorgerecht entziehen. «Ich konnte das Gericht überzeugen, dass ich zu Hause nicht nur unglücklich bin, sondern in meiner persönlichen Entwicklung behindert werde«, sagt sie heute. Anfang der 80er-Jahre nahm Ateş ihr Jura-Studium an der FU auf. Hier fand sie sich zwischen alternativen Weltverbesserern und, wie sie sagt, »Schicki-Micki-Studenten« im Anzug wieder. »Ich mochte die akademische Atmosphäre, auch wenn die Professoren nicht besonders mitreißend waren«, erinnert sie sich. Deswegen engagierte sie sich außerhalb des Studiums – unter anderem in der Anlaufstelle, in der sie Opfer des Attentats wurde. So setzte sie sich schon in ihrer Studienzeit für die Rechte von Frauen aus türkischen und kurdischen Familien ein. Als eine der ersten Deutschen trat sie 2003 dafür ein, dass Zwangsheirat zum Straftatbestand wurde. Ihr Engagement war es schließlich, das 2011 dafür sorgte, dass die Zwangsheirat als Tatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Für ihr Engagement für Integration und Gleichberechtigung wurde sie später mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Verdienstorden der Stadt Berlin ausgezeichnet. Trotz Ateş Errungenschaften sieht sie die Rechte der Frauen in Deutschland weiterhin maßgeblich gefährdet - Pegida und Af D bezeichnet sie als frauenfeindlich. Der Attentäter, der den

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Seyran Ateş will besonders türkischen und kurdischen Frauen helfen.

Tod von Ateş’ Klientin verschuldete, wurde bis heute nicht verurteilt. Er arbeitete wahrscheinlich als Auftragskiller für die rechtsextreme türkische Vereinigung »Graue Wölfe«. Immer noch belastet es Ateş, dass Polizei und Gericht den politischen Hintergrund des Anschlags nicht aufgeklärt haben. Auch heute erhält sie noch Morddrohungen - und steht deshalb unter ständigem Polizeischutz. Doch sie engagiert sich weiter: In Istanbul hilft sie, eine Anwaltskanzlei zu errichten. Außerdem gründet sie dort eine Moschee, die einen »toleranten und weltoffenen« Islam predigen soll - damit nie wieder muslimische Frauen Anschlägen zum Opfer fallen.

Jonas Saggerer studiert ebenfalls Jura. Er ist einmal mehr beeindruckt davon, wie viel man doch mit diesem Studium bewegen kann.

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Kultur

»Ich will den Leuten Mut machen« Nach der Katastrophe von Fukushima gingen Tausende Japaner auf die Straße. Sie forderten das Ende der Atomkraft - doch die Regierung ignorierte ihre Proteste. Eiji Oguma drehte mitten unter den Demonstranten eine Doku über die Unruhen. Nun lehrt er als Gastprofessor am Ostasien-Institut der FU und sprach mit uns über die Folgen des Super-GAU. Text und Foto: Paul van Kaldenkerken

Eiji Ogumas Film »Tell the Prime Minister« kritisiert scharf die Atompolitik von Japans Regierung.

FURIOS: Herr Oguma, Ihr Film handelt im Grunde vom Versagen der japanischen Medien: Die Anti-Atom-Bewegung wurde ignoriert. Wie erklären Sie sich das? Eiji Oguma: Ich denke, das liegt an der konservativen Struktur der Medien. Diese sammeln all ihre Informationen von etablierten Organisationen wie Parteien oder Gewerkschaften. Zudem erreichen sie heutzutage nur noch einen kleinen Teil der Bevölkerung, hauptsächlich die Älteren. Die urbane junge Generation ist vom System und den Massenmedien entfremdet und verlässt sich stattdessen auf das Internet als Informationsquelle.

gewinnt die LDP 30 Prozent der Stimmen von den etablierten Organisationen, der Rest fühlt sich von politischer Teilhabe ausgeschlossen. Diese Frustration führt zu weiter sinkenden Beteiligungszahlen - ein globaler Trend.

Haben Sie sich daher entschieden, einen Film zu machen und kein Buch? Tatsächlich habe ich sowohl eine Abhandlung als auch ein Buch über die Bewegung veröffentlicht. Ich sah es schlichtweg als meine Verplichtung als Historiker, die Geschehnisse festzuhalten. Die Menschen brauchen Geschichte. Sie sollte als Grundlage für die Planung der Zukunft dienen. Es ist eine andere Art, Geschichte zu bewahren und die Gesellschaft zu beschreiben. Bücher sind analytischer und eher für die ältere Generation, während der Film jüngere Menschen anspricht, die sensibler für Bilder und Sound sind. Es ist ein anderes Erlebnis.

Können Sie mit all dieser Frustration und politischen Enttäuschung optimistisch an Japans Zukunft denken? Ich lebe in Japan und habe eine zehn Jahre alte Tochter. Ich darf nicht pessimistisch sein. Deswegen habe ich einen so optimistischen Film gedreht.

Der Film endet, als sich die Regierung dazu entschied, alle Nuklearreaktoren bis 2030 abzuschalten. Wie ist die Situation heute? Die jetzige Regierung, die konsevative Partei LDP, hat die Entscheidung der vorherigen Regierungspartei DPJ wieder rückgängig gemacht. Durch das japanische Wahlsystem

Was kann dagegen unternommen werden? Genau das ist das Ziel meines Films: Ich will den Leuten damit Mut machen. Teile der japanischen Bevölkerung haben ihr Vertrauen in die Gesellschaft verloren, sogar in die Macht ihrer Stimme. Sie müssen sich erheben und sehen, wozu sie imstande sind.

Paul van Kaldenkerken lässt sich nicht nur von Fremden sein Textchen schreiben – er gibt sich auch mit einem Stockfoto als Bild zufrieden. Was für ein Draufgänger!


Kultur

Feiern für den Frieden Der Kaukasus ist Schauplatz zahlreicher Konflikte. Trotzdem finden sich beim »One Caucasus Festival« junge Menschen aus der ganzen Region zum Tanzen zusammen. FU-Studierende sind dieses Jahr dabei und wollen mit einem Radiobeitrag Aufmerksamkeit schaffen. Text: Friederike Oertel

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ingebettet zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer bildet der Kaukasus die natürliche Grenze zwischen Europa und Asien. Die Vorstellungen davon, was genau sich hinter dem Begriff verbirgt, sind ähnlich vielfältig wie die dortigen Ethnien und Sprachen. Und auch die Konliktlandschaft des Kaukasus ist so zerklüftet wie das Gebirge selbst. Doch bei der Vielzahl an Auseinandersetzungen, mit der es die Welt derzeit zu tun hat, verschwinden die Probleme der Region immer wieder aus dem medialen Blickfeld. Sieben Studierende des Osteuropa-Instituts wollen nun den Menschen im Kaukasus eine Stimme geben. In ihrer Projektgruppe »One Caucasus FM« produzieren sie ein Radiofeature, um in Deutschland mehr Aufmerksamkeit für die Region zu generieren. Tatsächlich sind Georgien, Armenien und Aserbaidschan von sich überlagernden Auseinandersetzungen um Staatsgebiete zerrüttet. Die Fronten sind seit Jahren verhärtet und immer wieder hallen Schusswechsel und Panzermotoren durch Berge und Täler. Trotz der Konlikte wird seit dem Sommer 2013 in Tserakvi, einem kleinen Dorf im Südosten Georgiens an der Grenze zu Armenien und Aserbaidschan, das »One Caucasus Festival« ausgerichtet, von dem das Feature handeln soll. »Für vier Tage kommen hunderte Menschen aus aller Welt nach Tserakvi, um Musik, Gedanken, Fähigkeiten und nationale Gerichte zu teilen. Es gibt Workshops und Konzerte, die den Dialog zwischen den Ländern fördern sollen«, fasst Roman Poplawski, Mitglied der Projektgruppe, das Festivalgeschehen zusammen. Die Studierenden haben vor, nach Tserakvi zu fahren und mit den Veranstaltern das Festival vorzubereiten. Während der drei Tage werden sie dann Gespräche mit Organisatoren, Künstlern und Besuchern führen: »Im Mittelpunkt stehen die Menschen und das Zusammenleben im Grenzgebiet. Wir wollen wissen,

wie sie ihren Alltag erleben und die Konlikte in ihrer Region wahrnehmen«, erklärt die ebenfalls an dem Radiofeature beteiligte Stephanie Ligan. Denn auch wenn sich der Dialog in der Grenzregion oft schwierig gestaltet, setzen sich die Bewohner mit ihren Möglichkeiten für Frieden und Völkerverständigung ein. Und das ist bitter notwendig. Denn obwohl die Konlikte im Südkaukasus nach mehrfach gescheiterten Bemühungen der internationalen Politik als eingefroren gelten, haben spätestens die jüngsten Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan in Bergkarabach diese Annahme als gefährlichen Trugschluss entlarvt: Das Eis ist brüchig und taut auch im Alltag immer wieder an. Das »One Caucasus Festival« soll helfen, das Misstrauen untereinander zu überwinden, den Dialog zu suchen und verhärtete Diskurse aufzubrechen. Genau das wollen die sieben Studierenden mit ihrem Feature abbilden – und den temporären Begegnungsraum für ein größeres Publikum öffnen: »Der Beitrag soll auf möglichst vielen Radiosendern gesendet werden, um ein großes Publikum zu erreichen«, sagt Stephanie. Das Feature soll nicht nur die Konlikte im Kaukasus wieder in den Fokus rücken, sondern zudem ein Beispiel für die Aussöhnung junger Menschen in der Region liefern – Aspekte, die in der aufgeheizten Mediendebatte oft untergehen und doch entscheidend sind für eine dauerhafte Konliktlösung. Beim Recherchieren musste Friederike Oertel feststellen, dass der Kaukasus in den deutschen Medien eher rudimentär vertreten ist – umso mehr freut sie sich auf das Radiofeature.

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Kultur

Die geklaute Rubrik Wir sind großartig. Aber andere machen auch schöne Sachen. An dieser Stelle pflücken wir die besten Rubriken im Blätterwald und füllen sie mit unseren Inhalten. Folge VIII: »Entscheidungsbaum« aus der NEON. Text: Sarah Ashraian, Anke Schlieker Fotos: Antonia Stuhm

Im Hörsaal die Neuronen spielen lassen oder doch lieber einen gemütlichen Tag in den eigenen vier Wänden verbringen? Hier erfährst du, ob du heute in die Uni gehen solltest.

>3 Stunden

Wie lange hast du geschlafen?

<3 Stunden

Liegst du alleine im Bett? NEIN

JA

Sieht er/sie gut aus? NEIN

Siehst du heute richtig gut aus?

NEIN

Ist heute Montag? NEIN

JA

NEIN

Wie viel Kaffee hast du zu Hause?

Kann er dir Kaffee bringen? GENUG

Jemand, dessen Namen du nicht kennst

Ist dein Schwarm in der Vorlesung?

JA

Wer liegt neben dir?

Mitbewohner

Hast du schon die neue Folge Game of Thrones geschaut?

JA

Ist dein Prof über 80? NEIN

Dein Ex?

NEIN JA

JA

Spricht er besser als Edmund Stoiber?

NEIN

JA

Musst du in dem Kurs eine Klausur schreiben?

JA NEIN

NE IN

JA

Ist der Weg länger als die Veranstatlung?

NEIN

GEH HIN!

NEIN

NEIN JA

Interessiert dich das Thema? N NEI

JA Streikt die Bahn?

Gibt es Anwesenheitspflicht?

JA


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ZU WENIG

BLEIB ZU HAUSE IM BETT!

MACH DEN HÖRSAAL ZU DEINEM SCHLAFZIMMER!

ASISI PANORAMA BERLIN Friedrichstraße 205

Checkpoint Charlie

10117 Berlin

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Dienstag ist Studententag: Zahle nur 5 Euro bei Vorlage des Studentenausweises asisi.de


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Kultur

Operation Schwarzmeerküche Kochbücher besitzen die wenigsten Studierenden. Wozu auch, wenn der Dönerladen um die Ecke ist und das Internet Köstlichkeiten innerhalb von 30 Minuten ins Haus zaubert. Vier FU-Studierende wollen ihre Kommilitonen wieder zum Kochen bringen - mit Rezepten vom Schwarzen Meer. Text: Eva Famulla Illustration: Lucie Hort

U

nd, was kommt heute auf den Teller? Döner, Pizza oder doch wieder Asianudeln? Der kulinarische Alltag des durchschnittlichen Studenten spielt sich vor allem zwischen Imbissbude und Mensa ab – die Abwechslung bleibt auf der Strecke. Dabei kann Essen so vielfältig sein. Genau das will jetzt eine fünf köpige Gruppe von Osteuropa-Studentinnen unter Beweis stellen. Für einen Projektkurs ihres Masterstudiums stellen sie ein Kochbuch mit gesammelten Rezepten aus der Schwarzmeer-Region zusammen. Zu dieser Region zählen sechs Länder: Bulgarien, Rumänien, die Ukraine, Russland, Georgien und die Türkei. Sie alle verbindet das über 400.000 Quadratkilometer große Binnenmeer. Historisch gesehen ist die Region ein Knotenpunkt europäischer Zivilisation. Jahrhundertelang führte hier die Seidenstraße von

jung / spontan / gut

für nur 15 Euro ein Jahr vorne sitzen Konzerte 8 Euro Oper / Ballett 10 Euro > 030-20 35 45 55 Deutsche Oper Berlin Deutsches Symphonie-Orchester Berlin Komische Oper Berlin Konzerthaus Berlin RIAS Kammerchor Rundfunkchor Berlin Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Staatsballett Berlin Staatsoper im Schiller Theater

> für alle unter 30

Eva Famulla kann das Kochbuch kaum erwarten. Während der Recherche musste sie in Zeitnot ihren Hunger mit Pizza stillen. Anzeige

www.ClassicCard.de

China nach Europa. Im 20. Jahrhundert gehörte ein Großteil des Schwarzmeerraumes zum sozialistischen Ostblock. Auch wenn die wirtschaftliche Bedeutung der Region schwand, blieb der kulturelle Reichtum der verschiedenen Länder erhalten. So divers die Kulturen der Schwarzmeer-Region sind, so abwechslungsreich ist die Küche. Genau diese Vielfalt wollen die Studentinnen in ihrem Kochbuch »Das Geheimrezept des Schwarzen Meers« einfangen. Seit Ende Februar sammeln sie dafür Rezepte aus den Ländern dieser Region. Ihre bisherigen Funde haben sie bereits auf Facebook veröffentlicht, die besten 18 sollen dann im Kochbuch landen. Zucchinipuffer mit Garnelen von der Krim, Bulgarische Fischsuppe und Türkisches Maisbrot – schon jetzt verspricht die Auswahl Abwechslung. Dabei ist es gar nicht so einfach, authentische regionale Gerichte zu inden. Denn Menschen mit Wurzeln am Schwarzmeer sind in Berlin schwer zu inden. Die Gruppe befragt deshalb vor allem Freundesfreunde und deren Bekannte, die vor Ort leben. Auch Berliner Restaurants mit Bezug zum Schwarzmeer-Raum liefern anregende Rezeptideen. Doch es geht der Gruppe um mehr als nur Rezepte. Schließlich handelt es sich um ein Uniprojekt mit Forschungsbezug: Essen als Kulturgut. Deshalb unterhalten sich die Studentinnen auch mit den Menschen der Schwarzmeer-Region: über ihren kulinarischen Alltag, ihre Traditionen oder die Frage, ob und wie die Globalisierung die Essgewohnheiten in der Region verändere. »Das Buch soll auch unterhalten,« meint die 27-jährige Kristina. »Wir wollen Geschichten erzählen. Wir fragen die Menschen nicht nur nach ihrem Lieblingsrezept, sondern auch nach Erinnerungen, die sie damit verbinden.« Pro Land stellen sie drei Menschen vor, die ihr Lieblingsgericht verraten, erläutert sie. Ein persönliches Lieblings- oder Geheimrezept haben die Studentinnen selbst noch nicht. Wenn die Rezepte und Interviews gesammelt sind, werden sie zwei Tage lang alle Gerichte nachkochen und fotograieren. Das Buch soll dann nicht nur gedruckt, sondern auch als PDF erhältlich sein – wann, steht allerdings noch nicht fest. Bis dahin muss es wohl erstmal bei Mensa und Dönerbude bleiben.


Wissenschaft

»IQ-Werte können selbsterfüllende Prophezeiungen werden.« Katharina Schmidt weiß, dass genaue IQ-Werte Kinder unter Druck setzen können.

Diplom-Psychologin Katharina Schmidt führt eine Normstudie mit Erwachsenen und Kindern ab drei Jahren durch. Mit den Ergebnissen können später Intelligenzwerte von Menschen in jedem Alter verglichen werden. Mit uns sprach sie über Gummibärchen, kluge Kinder und übereifrige Eltern. Text und Foto: Anke Schlieker FURIOS: Frau Schmidt, Sie arbeiten in Ihrer Studie mit Kindern ab drei Jahren. Das kann ja manchmal schwierig sein. Was machen Sie anders als in der Arbeit mit Erwachsenen? Katharina Schmidt: Erwachsenen würde ich keine Gummibärchen anbieten. Die habe ich für Kinder natürlich immer dabei - vorausgesetzt natürlich, die Eltern sind einverstanden. Gibt es Situationen, in denen auch Gummibärchen nicht weiterhelfen? Was sind die alltäglichen Herausforderungen im Umgang mit Kindern? Ich inde es generell schwieriger, mich auf Kinder einzustellen, die ich nicht kenne. Ich bin zwar Mutter, aber das befähigt mich leider nicht, mit Kindern jeden Alters sofort richtig zu kommunizieren. Gerade bei Kleinkindern fällt auch die Beurteilung der Fähigkeiten oft schwer, wenn ein Kind eine Aufgabe nicht löst. Dann weiß ich nicht immer: Ist es dazu nicht in der Lage oder hat es keine Lust? Und was ist mit Kindern einfacher als mit Erwachsenen? Kinder sind viel spontaner. Wenn man fragt: »Wollen wir die nächste Aufgabe machen?«, sagen die schon mal »Nö!«. Viele von ihnen halten sich nicht zurück und fragen dann »Was schreibst du denn da?« oder »Habe ich das richtig gemacht?«. Ich persönlich inde das toll, aber einfacher würde ich das nicht unbedingt nennen. Man muss eben auch als Psychologin Spaß an dieser Arbeit haben. Ihre Studie soll Normen entwickeln, um Intelligenzwerte vergleichbar zu machen. Aber wie deiniert sich Intelligenz eigentlich? Als Intelligenz wird die Fähigkeit bezeichnet, sich mit der Umwelt erfolgreich auseinanderzusetzen, Probleme zu lösen und mit Situationen so umzugehen, dass es für einen selbst und auch für andere sinnvoll ist. Denken Sie, dass es eine Auswirkung auf die Entwicklung kleiner Kinder hat, wenn man ihnen oder ihren Eltern einen

IQ-Wert nennt? Einen genauen Wert würde ich niemals nennen. Ich würde Eltern etwa sagen, ob das Kind für sein Alter normal entwickelt ist und ob es besondere Fähigkeiten hat. Es gibt ja nicht nur einen Wert, sondern wir erstellen ein Proil der Fähigkeiten. Man kann so zum Beispiel sagen: »Im Schlussfolgern ist Ihre Tochter überdurchschnittlich gut, dafür braucht sie in der Testsituation etwas länger als Gleichaltrige, um Informationen zu verarbeiten.« Warum sind Sie dagegen, bei Intelligenztests genaue IQ-Werte zu nennen? Testwerte sind immer mit Messfehlern behaftet. Zudem befürchte ich, dass ein geringer Testwert zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden könnte. Dass Kinder also sagen: »Ich brauche mich gar nicht anzustrengen, ich bin ja eh doof.« Und umgekehrt kann es auch einen unheimlichen Druck aufbauen, wenn die Eltern sagen: »Du hast doch so einen hohen IQ, du musst jetzt auch gute Noten heimbringen.« Intelligenz ist relativ stabil, aber diese Werte können sich im Laufe des Lebens noch verändern. Vor allem sagen sie nicht unbedingt etwas darüber aus, wie ein Kind in der Schule zurechtkommt, weil hier auch andere Fähigkeiten wichtig sind, wie etwa soziale Kompetenzen. Was können Eltern dann überhaupt mit den Testergebnissen anfangen? Ich glaube, die Ergebnisse können sehr nützlich sein, um zu schauen, in welchen Bereichen das Kind gefördert werden kann und worauf man achten sollte. Nicht mit Druck, sondern sensibel, mit Blick darauf, was dem Kind gut tut.

Anke Schlieker war ein intelligentes Kind. Was ist nur aus ihr geworden?


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Wissenschaft

Der Psychologe im Smartphone Millionen von Menschen in Deutschland leiden an Depressionen. Ein Diplom-Psychologe hat die App »Moodpath« entwickelt, die Betroffenen den Weg zur Therapie erleichtern soll. Doch ist das Smartphone dafür das richtige Instrument? Text: Cecilia T. Fernandez Illustration: Friederike Oertel

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it neun Fragen am Tag will Mark Goering das Leben von Millionen Menschen verändern. Sie lauten etwa: Hast du gut geschlafen? Fühlst du dich zurzeit innerlich unruhig? Gibt es derzeit Dinge in deinem Leben, die du richtig genießen kannst? Die Antworten sollen die Menschen einer App verraten. Nach zwei Wochen wird sie ihnen eine Einschätzung geben. Manchen wird sie empfehlen, einen Therapeuten aufzusuchen. Denn sie sind möglicherweise depressiv. Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden innerhalb eines Jahres an einer Depression. Fast jeder Zehnte kämpft im Laufe seines Lebens mit der Erkrankung. Studien zufolge versucht etwa die Hälfte der Betroffenen, Suizid zu begehen. Etwa 15 Prozent der schwer Depressiven verlieren so ihr Leben.

wieder in eine depressive Phase geraten. »Dann können sie Strategien aus der Therapie bewusster einsetzen oder auch erneut Hilfe suchen, bevor es zur Krise kommt«, so Goering. Aber kann man sich auf Moodpath verlassen? Den größten Vorteil der App sieht Goering darin, dass sie Daten mitten aus dem Alltag der Betroffenen entnimmt. Denn sobald potenzielle Patienten beim Therapeuten vorstellig werden, bekommen auch sie Fragen zu den vergangenen zwei Wochen gestellt. Dann aber machen sie Angaben, die oft durch ihre Erinnerung verzerrt sind. Wer etwa beantworten soll, wie er in letzter Zeit geschlafen habe, der erinnert sich womöglich eher an drei qualvolle Nächte als an zehn ereignislose. Auch für Therapeuten ergebe sich durch die in der App gesammelten Daten ein neuer Einblick in das Leben ihrer Patienten, meint Goering.

f Goering will daran etwas ändern. Der Diplom-Psychologe hat die App »Moodpath« entwickelt. Sie wird zurzeit in Kooperation mit der FU und einer Klinik im Theodor-Wenzel-Werk, das sich auf psychologische und psychiatrische Behandlungen spezialisiert, entwickelt. Mit ihren insgesamt neun Fragen soll die App Nutzern helfen, die Symptome einer Depression zu erkennen. Zwei Wochen lang stellt Moodpath dem Nutzer Fragen zu seinem Wohlbeinden, seinem Schlafrhythmus, seinen Gedanken. Sie antworten ganz einfach »ja« oder »nein«. Die App sammelt diese Daten und liefert eine detaillierte Auswertung. Mithilfe von Graphen und Texten wird Nutzern erklärt, ob sie Symptome einer Depression vorweisen und wenn ja, wie stark diese jeweils ausgeprägt sind. Nutzer, deren Angaben auf eine depressive Erkrankung hinweisen, haben die Möglichkeit, in einem Beratungsgespräch mit einem Experten grundlegende Fragen zu klären: Wo ist der nächste Therapeut? Welchen Antrag braucht die Krankenkasse? Mit einer ärztlichen Diagnose sei das nicht zu verwechseln, so Goering: »Wir wollen Leute dazu befähigen, sich Hilfe zu holen.« Goerings Plan: Das Smartphone soll zum Erstberater werden. Und noch mehr – Patienten und Therapeuten sollen die App auch therapiebegleitend einsetzen, um Fortschritt und Schwierigkeiten zu verfolgen. Auch nach der Therapie könne sie als Warnsystem fungieren, um Rückfällen vorzubeugen. Anhand ihrer Angaben können Nutzer frühzeitig erkennen, wann sie

f Langfristig will Goering Moodpath als wissenschaftlich anerkannte Lösung etablieren. Daher kooperieren die Macher der App mit der FU. Am Arbeitsbereich »Klinische Psychologie und Psychotherapie« betreut Sebastian Burchert eine Pilotstudie. Drei unterschiedliche Probandengruppen testen die App: stationäre Depressionspatienten, ambulante Patienten und Studierende, bei denen keine Erkrankung bekannt ist. Funktioniert die Einschätzung der Anwendung, wird sie unterschiedliche Schweregrade in den jeweils verzeichneten Symptomen messen. Doch auch, wenn die App schon präzise funktionieren sollte – werden Therapeuten sie nutzen? »Gerade, wenn sie noch keine Erfahrungen mit dieser Technologie gesammelt haben, könnten Therapeuten zunächst skeptisch reagieren«, meint Burchert. Doch sie haben die Plicht, ihren Patienten die bestmögliche Behandlung anzubieten: »Und dazu gehört es auch, neuen Technologien gegenüber offen zu bleiben«, so Burchert. Wissenschaftlich geprüfte Apps wie Moodpath könnten Psychologen gewinnbringend in ihrer Arbeit einsetzen: »Für eine vernünftige Diagnose müssen Therapeuten verstehen, wie Erkrankte ihren Alltag erleben, was sie wann empinden.« Dazu seien sie auf die Angaben der Erkrankten angewiesen. Und diese Daten können Betroffene am Smartphone bequem und unmittelbar eintragen. Natürlich gebe es Alternativen, etwa Tagebücher, wie sie heute schon in Therapien eingesetzt werden. Aber: »Die Menschen werden in Zukunft kaum et-


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was so viel benutzen wie ihr Smartphone. Das müssen Therapeuten für sich nutzen«, so Burchert. Die Angst, von der App ersetzt zu werden, sei unbegründet.

f Das sieht auch Sabine Hoffmann so. Sie leitet in den Kliniken im Theodor-Wenzel-Werk den psychologischen Dienst zweier Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie. Zwölf ihrer Patienten testen die App bereits. Hoffmann versichert: »Persönliche Therapie wird immer wichtig bleiben.« Dennoch sei internetbasierte Therapie besser als gar keine. Angebote wie Moodpath können Therapien unterstützen und Wartezeiten bis zum Erstgespräch mit einem Experten überbrücken. Doch darüber, ob die Patienten die App nutzen sollten, gab es laut Hoffmann angeregte Diskussionen. Manche ihrer Kollegen befürchteten, das Smartphone könne Erkrankte von ihrer Behandlung ablenken. Diese Bedenken teilt Hoffmann nicht: »Im Gegenteil, bei Moodpath müssen Patienten sich ja ganz bewusst damit auseinandersetzen, wie es ihnen gerade geht. Das fördert die Konzentration auf das Hier und Jetzt.« Trotzdem gebe es natürlich Fälle, in denen das Smartphone keine Hilfe sei: »Gerade bei schweren Erkrankungen müssen wir Patienten manchmal aus ihrem gewohnten Umfeld holen und schädliche Beziehungen unterbrechen«, erklärt sie. Bei bestimmten Krankheitsbildern vernetzen sich Betroffene außerdem via Internet, tauschen sich etwa in Foren darüber aus, wie man sich selbst verletzen könne. »Diesen Patienten durch die Nutzung von Moodpath nahezulegen, ihr Smartphone min-destens drei Mal täglich zu nutzen, wäre der falsche Weg«, sagt Hoffmann. Auch Moodpath-Gründer Goering weiß um diese Probleme. »Die Antwort darauf kann aber nicht sein, das Internet zu ignorieren, sondern ein Gegenangebot zu schaffen.« Goering plant schon den nächsten Schritt. Er will das Prinzip der App künftig auch auf die Erkennung anderer Krankheiten, etwa auf Suchterkrankungen, übertragen. Die Zukunft der therapeutischen Versorgung - für Mark Goering liegt sie auf einem kleinen Bildschirm.

Cecilia T. Fernandez studiert noch ein Semester lang im Master Global History. Danach ist sie verfügbar. Zwinkersmiley.


Wissenschaft

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Wer bin ich? Bin ich witzig oder gemein, eingebildet oder selbstbewusst? Die Frage nach dem Selbst stellt sich jedem, denn so ganz sicher ist sich keiner: Bin ich gerade ich selbst oder verstelle ich mich? Oder bin ich vielleicht doch Manuel Neuer? Text: Evelyn Toma Illustration: Marcel Wichmann

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ch bin sehr schüchtern - dachte ich zumindest. Mir fällt es schwer, auf Menschen zuzugehen, ich stehe auch nicht gerne im Mittelpunkt. Meine Kommilitonen sehen das aber anscheinend anders. Einer hat mich sogar neulich als Rampensau bezeichnet. Wie können die Menschen, die mich jeden Tag erleben, so ein falsches Bild von mir haben? Oder habe ich ein falsches Bild von mir selbst? Kann ich zwei so unterschiedliche Dinge gleichzeitig sein? Der Mensch hat drei Gesichter, besagt ein japanisches Sprichwort. Das erste Gesicht zeigen wir der Öffentlichkeit: Wir inszenieren uns tagtäglich in der Uni, auf Facebook, in der U-Bahn. Ganz anders verhalten wir uns, wenn wir von Freunden oder Familie umgeben sind. Wir haben dann das Gefühl, wir selbst sein zu können. Das Selbst aber ist dem Sprichwort nach das dritte Gesicht, das wir überhaupt niemandem zeigen. Es sind unsere intimsten Gedanken und Gefühle. Ist mein Körper dann nur eine Hülle, das Selbst mein Innenleben? Wer bin ich? Ich gebe mich mit der Antwort des Sprichworts nicht zufrieden und wende mich an die Wissenschaft. Sie liefert uns dazu die verschiedensten Antworten. Religionswissenschaft, Philosophie oder Neuropsychologie, sie alle sind sich uneinig.

f Alessandro Stavru forscht seit 13 Jahren an der FU zu den Religionen der Antike. Als Philosoph und Religionswissenschaftler befasst er sich täglich mit der Frage nach dem Selbst. »Das Selbst beginnt da, wo wir uns von dem absetzen, was uns umgibt«, erklärt er. Wir sind also all das, was uns von anderen unterscheidet. Nach Stavru würden wir uns nicht nur körperlich abgrenzen, sondern auch in unserem Denken und Fühlen.« Diese Einzigartigkeit ist es, die unser Selbst ausmacht.« Ich lege also meinen ganz persönlichen Instagram-Filter über die Welt. Diesen mentalen Prozess nennt Stavru den Geist. Er sei an den Körper gebunden und sterbe zusammen mit ihm. Doch lebt etwas von mir weiter, wenn Körper und Geist nicht mehr sind? Die Religionswissenschaft beantwortet diese Frage mit der Existenz der Seele. »Die Seele ist vom Körper losgelöst«, meint Stavru. Sie gilt als ewiger Kern, der einer Person innewohnt und ist damit unsterblich. In vielen Kulturen, so Stavru, gelte der Körper sogar als Gefängnis der Seele: »Dort geht man davon aus, dass die Seele nacheinander in mehreren Körpern lebt.« Der Religionswissenschaft zufolge besteht das Selbst also aus dem Geist,

der mit dem Körper stirbt, und einer unsterblichen Seele, die unabhängig vom Körper existieren kann.

f Der Philosoph und FU-Professor Georg Bertram sieht das anders. Für ihn ist das Selbst untrennbar mit dem Kör-per verbunden, eine ewige Seele gibt es nicht. Das Selbst aber verschwindet nicht vollständig mit dem Tod, sondern existiert in den Erinnerungen anderer weiter: »Es ist nicht ganz weg, kann sich aber nicht mehr aktiv ausdrücken.« Das leuchtet ein: Wenn Verwandte oder Freunde sterben, verschwinden sie schließlich nicht aus meiner Welt, sondern bleiben in meiner Erinnerung erhalten. Diese Erinnerung bleibt dann meistens so bestehen, wir haben ein festes Bild von der Person. Dabei ist das Selbst zu Lebzeiten nie etwas statisches, das man festnageln könnte. Die »Selbstverständnisse« einer Person verändern sich immer wieder, so Bertram. Dies sei charakteristisch für uns Menschen. »Wer ich bin, hängt immer auch davon ab, wie ich mich in bestimmten Situationen sehe«, so Bertram. Wir sind demnach, wer wir sind, weil wir bestimmte Selbstverständnisse entwickeln. Ich erinde mich also in jeder Situation neu und bin viel zu komplex, als dass man von einem festen Selbst sprechen könnte. Das Bild, das man von anderen Personen hat, ist hingegen meistens an konkrete Situationen geknüpft und bleibt deshalb eher statisch. Neulich zum Beispiel traf ich eine frühere Freundin wieder. Ich hatte sie ganz anders in Erinnerung - eben wie zu der Zeit, als wir zusammen Abitur gemacht hatten. Ich erkannte sie kaum wieder, es war, als hätte ich einen ganz neuen Menschen vor mir.

f Bei uns selbst kann das nicht passieren, denn wir erschaffen unser Selbstbild ständig von Neuem. Der Neuropsychologe Jakub Limanowski erklärt, das Selbst sei lediglich ein Modell, das sich mit jeder neuen Erfahrung aktualisiert. Dies sei einem nicht immer bewusst: »Man kann immer nur wissen, wer man war. Im aktuellen Moment aber ist der Mensch ein Prozess, den man nicht greifen kann.« Wenn ich mich aber mit jedem neuen Moment verändere, kann ich dann überhaupt von einem Ich sprechen, das ist? Nein, so Limanowski - man sei von einem Moment auf den anderen nie dieselbe Person: »Das Selbst ist


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Wissenschaft

ein Zusammenspiel von meinem jetzigen Funktionieren in der Welt und meiner Vergangenheit.« Doch wie sieht dieses Selbst aus? Ist es in meinem Körper gefangen, mit ihm verbunden oder völlig losgelöst davon? Ähnlich wie die Philosophie sieht auch die Neuropsychologie Körper und Selbst untrennbar miteinander verbunden. »Was wir als zu uns gehörig erleben, hängt auch davon ab, was wir als Teil unseres Körpers verstehen«, so Limanowski. Ein Beispiel ist der Phantomschmerz. Dabei empindet man Schmerzen in Gliedmaßen, die man verloren hat. »Man fühlt den Schmerz in einem Körperteil, den man als Teil von sich selbst empindet, auch wenn es gar nicht mehr da ist«, erklärt Limanowski. Das Selbst kann sich also sogar über die Grenzen des Körpers hinaus erstrecken. »Wir können zum Beispiel Werkzeug wie einen Blindenstock als Teil unserer Selbst verstehen, quasi als Verlängerung unseres Körpers«, meint Limanowski. So gesehen seien auch Computer, Stift und Papier eine Erweiterung unseres Gedächtnisses, nur eben eine ausgelagerte. Abhängig davon, in welcher Umgebung ich mich beinde, aktualisiert sich also das Modell meines Körpers - und damit mein Selbst.

gestellt werden muss.« Und bis dahin müssen wir uns vielleicht mit einem japanischen Sprichwort begnügen.

f Wer bin ich also - ein vergänglicher Körper mit einer unsterblichen Seele? Ein Produkt meines Selbstverständnises? Ein wandelbares Modell meines Körpers? »Auf diese Frage gibt es keine objektive Antwort, die man einfach nachschauen könnte«, antwortet Bertram. Vielleicht hören wir also am besten einfach auf, nach uns selbst zu suchen. Stavru widerspricht: »Das Schöne an dieser Frage ist, dass es auf sie keine endgültige Antwort gibt und sie wirklich immer wieder

Evelyn Toma weiß immer noch nicht, wer sie ist. Inzwischen indet sie das aber auch nicht mehr so schlimm.

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Der empörte Student

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Um den Vorlesungswahnsinn des Uni-Alltags zu überstehen, hilft nur eins - eine eiskalte Mate. Doch mit dieser Abhängigkeit wird vielerorts Schindluder betrieben. Unser Autor fühlt sich abgezockt. Text: Max Krause Illustration: Robin Kowalewsky

Liebe Kapitalistenschweine, man könnte meinen, ihr würdet hier an der Uni schon genug Fett wegbekommen. Doch die traurige Wahrheit ist, dass ihr euer unmenschliches Unwesen ungestört betreiben könnt. Dass ihr nicht davor zurückschreckt, die innersten Bedürfnisse eurer Mitmenschen in klimpernde Münzen zu verwandeln. Und dass eine Hochschule voller selbsterklärter Trotzkisten und Systemgegner euch ohne mit der Wimper zu zucken gewähren lässt. Renommierte Wissenschaftler haben herausgefunden, dass der durchschnittliche FU-Studi rund 0,62 Liter Mate pro Tag einnimmt. Damit rangiert der teebasierte Softdrink neben Falafel, Gras und Chiasamen unter den wichtigsten Futtermitteln für angehende Akademiker. Beim Studentenwerk hat man das schnell erkannt und gehandelt. Schon lange wird aus einem Grundbedürfnis Proit geschlagen. Wir alle kennen das Gefühl, als wir in einer Zeit der Not vor dem Mensa-Kühlregal standen und mit einem lebensrettenden Griff eine Flasche auf unser Tablett hievten, nur um an der Kasse hillos zuzusehen, wie die Maschine unsere letzten Ersparnisse von der Mensacard saugt. 1,90 Euro sollten wir blechen – plus Pfand. Der eigentliche Skandal ist jedoch, dass studentische Cafés, diese angeblichen Inseln der Toleranz, dieses Geschäftsmodell schamlos kopieren. Die bunt angemalten Kapitalisten vom Café Kauderwelsch verlangen für eine Flasche Mate locker das Doppelte des Einkaufspreises! Von solchen Gewinnmargen konnte

selbst Steve Jobs nur träumen. Mit 1,60 pro Flasche liegen sie nur marginal hinter der Mensa. Wo das Geld hinließt, bleibt verborgen. Doch egal, ob die Kauderwelschis sich davon einen nagelneuen Firmen-Tesla kaufen oder ihre Fairtrade-Produkte querinanzieren - beides ist unlautere Ausbeutung hilloser Akademiker. Sollen euch doch eure veganen Bio-Gözleme im Hals stecken bleiben! Bisher widerstehen manche Cafés dem Trend. Versteckt in obskuren Zwischengängen der Silberlaube oder in weit abgelegenen Exklaven der FU stellen sie sicher, dass auch Studis mit weniger als 40.000 Euro Jahreseinkommen die Uni überstehen. Und glaubt bloß nicht, ich würde euch verraten, wo man die Mate auch für einen Euro bekommt – ihre Tage wären sonst gezählt. Auch so ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis ein übereifriger Funpreneur daherkommt und auch diese letzten Bastionen dem System einverleibt. Unsolidarische Grüße, Max

FURIOS 16 IMPRESSUM Herausgeber: Freundeskreis Furios e.V. Chefredaktion: Alexandra Brzozowski, Hanna Sellheim (V.i.S.d.P., Freie Universität Berlin, JK 26/222a, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin) Ressortleitung Politik: David Rouhani, Corinna Segelken Ressortleitung Campus: Sarah Ashrafian, Anke Schlieker Ressortleitung Kultur: Julian Daum, Evelyn Toma Ressortleitung Wissenschaft: Eva Famulla, Cecilia T. Fernandez, Kim Mensing Layout: Cecilia T. Fernandez Chefin vom Dienst: Monica Camposeo, Corinna Schlun Redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe: Camares Amonat, Sarah Ashrafian, Alexandra Brzozowski, Lucian Bumeder, Lukas Burger, Julian Daum, Cana Durmusoglu, Enno Eidens, Eva Famulla, Cecilia T. Fernandez, Michael Fleck, Julian Jestadt, Paul van Kaldenkerken, Max Krause, Charlotte Kutz (Pseudonym), Kim Mensing, Friederike Oertel, Clemens Polywka, David Rouhani, Jonas Saggerer, Anke Schlieker, Corinna Schlun, Corinna Segelken, Hanna Sellheim, Evelyn Toma, Theo Wilde

Illustrationen: Julia Fabricius, Jannis Fahrenkamp, Cecilia T. Fernandez, Lucie Hort, Robin Kowalewsky, Jette Pfeiffer, Greta Seldmayr, David Stach, Antonia Stuhm Fotografien: Alexandra Brzozowski, Marie Halbich, Kim Mensing, Anke Schlieker, Hanna Sellheim Titelgestaltung: Julia Fabricius, Cecilia T. Fernandez, Marie Halbich, Roger van der Weyden Lektorat: Mareike Edler, Hannah Reiners, Friederike Werner ISSN: 2191-6047 www.furios-campus.de redaktion@furios-campus.de Jeder Autor ist im Sinne des Pressegesetzes für den Inhalt seines Artikels selbst verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansicht der Redaktion wider. Gemäß dem Urheberrecht liegen die Rechte an den einzelnen Werken bei den jeweiligen Autoren.


FÜR DIE OPTIK IM HEFT SORGTEN:

Monica Camposeo hat einen neuen Rekord aufgestellt: 27 Minuten in der Wartschleife, um einen Werbekunden zu erreichen.

Die greta studiert Illustration und Comic in Kassel.

Julia Fabricius meint: „Die Erwartungen an perfekte Zeichnungen kann gefährlich sein. Deswegen benutze ich zur Zeit nur Stifte von Spielzeugläden.“

Jannis Fahrenkamp hat sich gerade 25 kg Comictrash aus den 80ern gekauft und amüsiert sich damit prächtig.

Marie Halbich fotograiert am liebsten Natur und Architektur. Für FURIOS kamen ihr aber auch viele Autoren vor die Linse.

Lucie Hort – Augen zu und durch.

Robin Kowalewsky ist ein notorischer Autorenkastentextverweigerer.

Da Jette Pfeiffer in einer Chaos-WG in HH St.Pauli wohnt, liebt sie lange Spaziergänge an der frischen Luft und Kaffee.

Frisch im AVL-Master, greift Hannah Reiners ambitioniert als Grammatik-Expertin ein, um sich richtig unbeliebt zu machen.

Antonia Stuhm ist leidenschaftlich Illustrationsstudentin, schlemmt gerne und wünscht sich für die Zukunft noch mehr mutige Mitmenschen.



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