Furios 18 - Vanitas

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SOMMER 2017 AUSGABE 18

VANITAS Geht alles zugrunde?


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Editorial

Liebe Kommilitoninnen, liebe Kommilitonen Nichts bleibt für die Ewigkeit, alles vergeht – eine eigentlich recht banale Wahrheit, die jedoch oft nur schwer zu begreifen ist. Mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit zu leben, gehört zu den schwierigsten Aufgaben, vor die das Leben uns stellt. Schon im Barock setzten sich Künstler*innen mit der Vanitas, der Vergeblichkeit, auseinander. Für sie war sie allerdings nicht allein Grund zur Verzweiflung, sondern auch Chance, im Angesicht der Vergänglichkeit das Leben in allen Zügen zu genießen. Auch in dieser Ausgabe möchten wir uns mit der Vergänglichkeit und dem, was sie für unser heutiges Leben bedeutet, beschäftigen. Gerade die letzte Zeit hat uns vor Augen geführt, wie vergänglich auch die Gesellschaft ist, in der wir leben. In einer Welt, in der Donald Trump, der Brexit und die Af D wüten, scheint es manchmal, als würden Politik und Gesellschaft, wie wir sie kennen, sich bald auflösen. Demokratische Werte und Rechte, die wir für selbstverständlich halten, sind plötzlich in Gefahr. Auch die Pressefreiheit wird mit der Verhaftung von Deniz Yücel und der Behandlung von Journalist*innen in den USA wieder in Frage gestellt. All das lässt uns die Vergänglichkeit der Strukturen, die wir kennen, spüren. Der Gedanke an Vergehendes fordert die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod. Wir haben uns die Stolpersteine in nächster Nähe zum Campus angesehen. Lest auf Seite 10-11 die Geschichten zweier jüdischer Menschen, die von den Nazis aus Dahlem vertrieben wurden.

Seit sich der Konflikt in Syrien zugespitzt hat und immer mehr Menschen dazu gezwungen hat, ihre Heimat zu verlassen, finden viele von ihnen ein neues zu Hause in Berlin. Wir sprachen mit zwei Studentinnen aus Damaskus darüber, was für sie Vergänglichkeit bedeutet. Erinnern wandelt sich auch in unserem digitalen Zeitalter zunehmend. Was passiert eigentlich mit meinem Facebook-Account oder meinen Fotos auf meiner Festplatte, wenn ich sterbe? Diese und weitere Fragen über unser digitales Erbe könnt ihr auf Seite 8 lesen. Unsere Ressorts haben sich ebenfalls mit interessanten Themen beschäftigt. 50 Jahre nach Benno Ohnesorgs Tod, der einer der Auslöser für die 68er Protestbewegung war, fragen wir uns auf Seite 16: Wie sieht Protest eigentlich heute an der FU aus? Auch unsere ewige Ehemalige, feministische Aktivistin und Mitgründerin der taz, erzählt, weshalb wir auf die Straße gehen sollten. Ihr Portrait ist auf Seite 25 zu lesen. Des Weiteren haben wir uns auf die Spuren der Kunstsammlung von Rudolf Mosse begeben, deren Werke von den Nazis gestohlen und weiterverkauft wurden. Wir hinterfragen außerdem, wie die Weltkarte, mit der wir groß geworden sind, die Proportionen der Länder falsch darstellt und welche sozialen Konsequenzen das mit sich trägt. Mehr dazu auf Seite 30. Wir wünschen euch allen viel Spaß beim Lesen unserer 18. FURIOS-Ausgabe. Hannah Lichtenthäler und Hanna Sellheim

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Inhaltsverzeichnis

INHALT – Ausgabe 18 TITELTHEMA: VANITAS 06 » Wir haben ein Leben aus Fotos verloren«

12 Vier Fälle und ein Todesfall

Wie fühlt es sich an, die Vergänglichkeit der eigenen Heimat zu erleben? Zwei Studierende aus Syrien berichten.

Verfällt unsere Sprache oder entwickelt sie sich bloß? Und mit wie viel Toleranz muss man dieser Entwicklung begegnen? Eine Glosse

08 Das Erbe von morgen

13 Im Lernrausch

Am Ende unseres Lebens müssen wir uns längst nicht mehr nur mit dem materiellen Erbe beschäftigen. Auch der digitale Nachlass wird immer wichtiger.

09 » Die Religion ist ein Bollwerk gegen den Tod«

Immer mehr Studierende nehmen während Prüfungsphasen Ritalin oder Speed, um besser lernen zu können. Zwei Erfahrungsberichte

14 4 aus 40.000

Warum haben die Menschen so große Angst vor dem Tod und inwiefern kann Glauben dagegen helfen? Ein Religionswissenschaftler erklärt.

Vier FU-Angehörige verraten, ob sie an ein Leben nach dem Tod glauben.

10 Gedenken auf der Straße In vielen Städten erinnern Stolpersteine an die Verfolgten des Nationalsozialismus. An wen erinnern sie in Dahlem?

POLITIK

CAMPUS

16 Auf die Barrikaden!

20 Viel Gejodel um nichts?

Gegen die Weltpolitik formt sich endlich wieder studentischer Protest. Zeit, dass auch an den Unis wieder demonstriert wird. Ein Essay

17 »Die Meinungsforschung hat nicht versagt!«

Trump, Brexit, die Neuwahlen in Großbritannien – Wahlprognosen scheinen immer häufiger daneben zu liegen. Ein Gespräch mit einem Wahlforscher

18 Chios: Ein Monat Außengrenze

Jeden Tag versuchen zahlreiche Menschen, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Ein Bericht aus einem Camp für Geflüchtete.

In allen Unistädten wird gejodelt – außer in Berlin. Warum ist die App hier nicht so verbreitet?

22 Zwischen äußerem Verfall und innerem Werden Kunst und Kultur gibt es auch auf dem Campus – viele Studierende laufen wahrscheinlich täglich daran vorbei.

23 Morgens Friedhof, mittags Uni Bestattungsunternehmen suchen mittlerweile auch nach studentischen Aushilfen. Von einer Jobsuche der besonderen Art.

24 Wo bin ich hier gelandet? Ein trister Besuch in Frankfurt (Oder) und eine Party im roten Café mit wüster Techno-Musik.

25 Ewige Ehemalige: Die feministische Vorreiterin Feministin, Publizistin, Sozialpädagogin: Gitti Hentschel

studierte in den 70ern an der FU und gründete 1979 die taz mit.

34 Der empörte Student Viel zu häufig werden Schulklassen auf Klassenfahrt nach Berlin geschickt. Ein Aufschrei


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Lesen macht schön.

KULTUR 26 Auf den Spuren der geraubten Werke Die Nazis versteigerten tausende Werke aus der Kunstsammlung des jüdischen Verlegers Rudolf Mosse. Ein FU-Projekt soll diese nun wiederfinden.

27 »In der jüngeren Generation nimmt kaum noch jemand ein Buch in die Hand« Das internationale Literaturfestival lädt seit 16 Jahren Autor*innen aus aller Welt nach Berlin ein. Eine Geschichte über den Gründer Ulrich Schreiber

28 Körper in Bewegung Körper, Objekte und Sexualitäten: Eine dänische Künstlerin entwickelt mit Masterstudierenden der FU Choreographien.

29 Die geklaute Rubrik: Torten der Wahrheit

Diesmal klauen wir die Torten der Wahrheit aus der ZEIT: So ist die FU wirklich.

WISSENSCHAFT 30 Die Weltkarte hat uns die ganze Zeit belogen Der globale Süden wird auf der uns bekannten Weltkarte fälschlich klein dargestellt - das ist nicht nur ein kartografisches, sondern auch ein soziales Problem.

32 Es gibt keine simple Erklärung

In den USA gibt es unverhältnismäßig viele Amokläufe an Schulen. Wie geht die Forschung damit um?

33 »Ein Computer ist kein lyrisches Ich« Eine Software, die von nun an das Metrum in der Lyrik bestimmt? Die Verschmelzung von Literatur und Informatik soll das ermöglichen.

03 Editorial 34 Impressum

DAHLEMER AUTORENFORUM Dienstag, 07.11.2017 19.30 Uhr, Museen Dahlem Buchvorstellung und Gespräch Herfried Münkler Karten (Stud: 3€) erhältlich bei Schleichers Buchhandlung


Titel

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»Wir haben ein Leben aus Fotos verloren« Wer flüchtet, muss erleben, wie vergänglich ein Gefühl von Heimat sein kann. Sara und Reem kommen aus Syrien und studieren nun an der FU. Ein Gespräch über Erinnerungen, den Krieg und Bücher. Text: Felix Lorber Fotos: Hannah Lichtenthäler und Marius Mestermann

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ara wollte schon lange in Deutschland studieren. Als sie vor fünf Jahren Syrien verließ, hatte sich die Situation vor Ort bereits zugespitzt. Sie dachte damals nicht daran, dass sie in Deutschland bleiben würde. Sie ließ unbedacht Fotos und andere Erinnerungen zu Hause bei ihren Eltern. Doch kurze Zeit später musste auch ihre Familie plötzlich die Wohnung in Damaskus verlassen und all ihre Sachen blieben zurück. »Wir haben ein Leben aus Fotos verloren«, sagt sie. Auch Reem ist aus Damaskus und kam, genau wie Sara, mit einem Studierendenvisum an die FU. Wir treffen die beiden in einem Café in Steglitz. Sie freuen sich über die Möglichkeit zum Gespräch, wollen gehört werden. »Viele Menschen wissen nicht, was in Syrien passiert«, sagt Sara. »Du musst ihnen erklären, dass diese Menschen, die hierher nach Deutschland kommen, flüchten. Dass sie um ihr Leben kämpfen.« Auch wenn Reem und Sara nicht geflüchtet sind, hat der Krieg in Syrien ihre Leben unweigerlich beeinflusst. Sara hat in Damaskus bereits ein Bachelorstudium abgeschlossen. Da in Syrien mit einem geisteswissenschaftlichen Studium kaum Arbeit zu finden ist, entschloss sie sich damals zu Elektrotechnik und Telekommunikation. In Berlin entschied sie sich für einen Neuanfang und studiert mittlerweile Nordamerikastudien im vierten Semester – das kommende Semester wird sie in Kalifornien verbringen. Ihre Familie lebt weiterhin in Damaskus, genauso wie manche ihrer Freund*innen. »Theoretisch könnte ich nach Syrien zurückgehen, aber praktisch ist es im Moment völlig unmöglich«, sagt sie. In Berlin hat sie inzwischen eine eigene Familie gegründet. Ihre Tochter ist zwei Jahre alt.

Sara studierte in Damaskus Elektrotechnik, hier hat sie nun einen Bachelor in Nordamerikastudien angefangen.

In Damaskus wurde mehr zerstört als Straßen und Gebäude. Etwas, das nicht wieder aufzubauen ist: Erinnerungen, und mit ihr ganze Lebenswelten. »Wenn ich ein Bild von meiner Stadt sehe, werde ich so traurig. Die Tage vergehen und du kannst nicht zurückkehren, während alles kaputt geht – deine Stadt, dein Land.« Es ist nur zu erahnen, was hinter Saras Worten alles steckt. Trauer, Schmerz, Ungewissheit? Was bedeutet es für einen Menschen, seine Heimat zu verlieren? »Ich glaube, Heimat meint Zeit. Dass man an einem Ort viel Zeit verbracht hat«, beschreibt Sara ihr Gefühl. »Du kennst die Leute dort, die gemeinsamen Abende, die Gerüche, die Bäume, selbst das Wasser, das du trinkst.« Was sie fühlt, ist stärker als Heimweh. »Ich werde Damaskus anders erleben, wenn ich es irgendwann wiedersehe.« Reem steht inzwischen kurz vor ihrem Bachelorabschluss in Informatik und möchte bald den Master beginnen. Sie verließ die Hochburg der Regierungstruppen ein Jahr später als Sara. »Da wusste ich schon, dass ich nicht zurückkomme. Ich habe alle meine Sachen zusammengepackt.« In Deutschland zu studieren, das hatte auch sie schon länger geplant. Doch ihre Familie schaffte den weiten Weg aus Syrien hierher nicht auf Anhieb. Visa für alle gleichzeitig zu bekommen, stellte sich als unmöglich heraus. Reem und ihre Schwestern reisten daher nacheinander. Heute lebt die Familie in Deutschland verstreut, jedoch in erreichbarer Nähe. Die Eltern haben sich in einer thüringischen Kleinstadt eingelebt, der Vater arbeitet wieder als Arzt, die Schwestern studieren oder arbeiten. Als wir sie fragen, was ihr am meisten fehlt, zögert sie kurz. »Ich vermisse am meisten das Gefühl, sicher zu sein, das Richtige zu tun. In Syrien wusste ich, wohin ich mit einem Problem gehen muss oder wen ich fragen kann. Das Gefühl habe ich hier nicht.« Obwohl sie bereits sehr gut Deutsch spricht, machen ihr die bürokratischen Hürden und der Papierdschungel deutscher Behörden immer wieder zu schaffen. Andererseits ist sie froh über Garantien wie die gesetzliche Krankenversicherung. Schließlich sagt Reem: »Heimat ist für mich dieses Gefühl, wenn man von einem Urlaub oder einem langen, anstrengenden Tag nach Hause kommt. Du weißt genau, was es bedeutet. Das habe ich hier in Berlin noch nicht. Aber ich denke, es wird kommen.« Als Reem entscheiden musste, was sie aus Syrien mitnimmt, verließ sie sich auf dieses Gefühl. Sie packte eine kleine Box ein, voll mit Tickets von Veranstaltungen, Theater- und Kinobesuchen, Abenden, an denen sie in ihrem früheren Leben Spaß hatte. Fotos konnte sie, genau wie Sara, nicht


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Reem nahm eine kleine Kiste voll Erinnerungen mit nach Berlin.

mitnehmen. Das schmerzt beide sehr. Bilder bekommen eine neue Bedeutung, wenn sie etwas vor Augen führen, das für immer verloren ist. Doch auch daraus haben Reem und Sara etwas gelernt, nämlich, wie unbedeutend materieller Besitz wirklich ist. Reem erzählt von ihrem Vater, der immer wieder versucht hat, seinen Kindern genau das beizubringen. »Wir haben immer gesagt, was soll schon passieren? Und dann, auf einmal, herrschte Chaos. Unser Geld, unsere Wohnung, unsere Praxis – nichts davon half uns.« Sara erinnert sich, welche Gegenstände ihr damals am Herzen lagen: »Ich liebte meine Bücher, habe mir immer zu viele auf einmal gekauft. Kurz bevor ich nach Deutschland kam, habe ich mir bei einer Buchmesse wieder ganz viele besorgt, die jetzt alle verloren sind.« Im Café ist es laut, lebendig. Die Erzählungen von Reem und Sara zeichnen ein Bild von Verlust, aber auch von Neuanfang und Optimismus. Wem die Vergänglichkeit der Welt bewusst ist, der weiß das Leben anders zu schätzen, sagten schon die barocken Künstler*innen. »Alle Sachen, die wir angesammelt hatten, waren einfach weg. Geholfen haben uns da unsere Ausbildung und unsere Werte. Der Mut zur Offenheit, die Fähigkeit, flexibel zu sein. Diese Dinge bleiben, das kann man nie ausradieren«, sagt Reem vor dem Abschied.

Felix Lorber hätte Damaskus gern einmal vor dem Krieg besucht.

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Titel

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Das Erbe von morgen Was passiert nach dem Tod mit unseren Daten? Diese Frage wird in Zeiten zunehmender Online-Aktivitäten immer dringlicher, nicht zuletzt um Angehörige zu entlasten. Unsere Autorin sprach mit zwei Expert*innen darüber, welche Schwierigkeiten sich beim digitalen Nachlass ergeben. Text: Hannah Lichtenthäler Illustration: Eugènia López Duran

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nstagram-Bilder, Tweets, Facebook-Chroniken - wir hinterlassen viele Spuren in dieser Welt, auch digital. Doch was passiert, wenn unser Leben zu Ende geht? Statt bloß unsere Habseligkeiten zu vererben, müssen wir uns heute auch die Frage stellen, was mit unserem digitalen Fußabdruck passieren soll. Unser digitaler Nachlass wird immer umfangreicher. Dieser beinhaltet sämtliche Zugangsdaten im Netz, Online-Banking, Software-Lizenzen, soziale Netzwerke – aber auch Datenträger und Cloud-Dienste. Jedoch machen sich nur die wenigsten Gedanken darum, was mit den digitalen Zeugnissen ihres Lebens nach ihrem Tod geschehen soll. Das liegt auch daran, dass die Frage nach dem digitalen Nachlass rechtlich noch nicht eindeutig geregelt ist. Grundsätzlich gilt zwar: Wer ein Erbe antritt, erbt auch den digitalen Nachlass; mit einem Erbschein ist es also theoretisch möglich, sich an Banken oder Internetkonzerne zu wenden, um die Daten anzufordern. Ganz so einfach sei dies allerdings nicht, erklärt Internetsoziologe Stephan Humer, der an der FU zum Thema Digitale Identitäten promoviert hat und inzwischen den Forschungs- und Arbeitsbereich Internetsoziologie an der Hochschule Fresenius leitet. Sobald internationale Firmen involviert seien, sei diese Definition keine juristische Frage mehr, sondern eine politische. Deshalb kommt es auch vor Gericht zu Problemen: Seit mehreren Jahren kämpfen die Eltern eines verstorbenen 15-jährigen Mädchens aus Berlin vor Gericht darum, Zugang zu den Facebook-Login-Daten ihrer Tochter zu erhalten. Der Todesfall ist ungeklärt - durch einen Blick in die Chats des Mädchens wollen die Eltern herausfinden, ob es sich um einen Suizid gehandelt haben könnte. Das Kammergericht entschied in zweiter Instanz, dass die Eltern keinen Anspruch auf die Daten haben. Der Fall soll nun vor den Bundesgerichtshof nach Karlsruhe ziehen. Ausgerechnet Facebook verweigert auch in anderen Fällen die Herausgabe von Login-Daten und verweist dabei auf den Datenschutz. Die Begründung: Es könne ja sein, dass die verstorbene Person das gar nicht gewollt hätte. Rechtliche Schritte dagegen seien in der Regel langwierig, mühsam und teuer, erläutert Humer: »Man wird damit leben müssen, dass man nach dem Tode eines Angehörigen keine Kontrolle über dessen digitalen Nachlass hat. Das ist nicht mehr so

überschaubar wie früher, als man die Sachen zusammengepackt und das Bankkonto gekündigt hat.« Es sei deshalb entscheidend, sich früh genug um den eigenen digitalen Nachlass zu kümmern, meint Sabine Landes vom unabhängigen Infoportal digital-danach.de. Das Portal will Menschen darüber informieren, was digitaler Nachlass ist und wie sie ihre digitalen Hinterlassenschaften regeln können. Besonders wichtig seien regelmäßige Backups der eigenen Konten, um Datenmüll zu vermeiden, sowie die Bestimmung eines Nachlasskontakts, der sich der digitalen Fußabdrücke annimmt. »Diese Entscheidung ist sehr persönlich und kann nicht richtig oder falsch sein, aber man sollte den Angehörigen die Entscheidung abnehmen«, sagt Landes. Es sei daher wichtig, mit Familie und Freund*innen zu besprechen, was man sich wünsche und wer sich im Todesfall kümmern solle. Auch Humer betont, jede*r müssen sich genau überlegen, was ihm*ihr Bauchschmerzen bereiten würde, sollten Daten nach dem Tod weiterhin im Netz kursieren. Doch was, wenn jemand unerwartet aufgrund von Krankheit oder eines Unfalls verstirbt? »Für die Hinterbliebenen, die dann großen Kummer haben, ist es nicht leicht, das alles zu regeln«, sagt Landes. Einige Vorkehrungen gibt es bereits: E-Mail-Accounts würden zum Beispiel nach etwa sechs Monaten Inaktivität gelöscht. Ein Facebook-Konto kann von Angehörigen durch Vorlage einer Sterbeurkunde in den Gedenkstatus versetzt werden. Die Frage unserer Zeit ist also längst nicht mehr, wem ich mein Vermögen vererbe, sondern wo ich am sichersten Passwörter für meine Hinterbliebenen hinterlege. Landes rät, dafür einen geschützten Passwortmanager wie KeePass zu nutzen. Das Zugangspasswort dazu hinterlegen manche Leute in einem Bankschließfach oder auf einem passwortgeschützten USBStick. Am Ende bleibt jedoch immer ein Passwort - an Stift und Papier führt für dessen Weitergabe dann wohl doch kein Weg vorbei. Hannah Lichtenthäler hat zwar kein Bankschließfach - hat aber ihr Passwort aller Passwörter sicher hinterlegt.


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»Die Religion ist ein Bollwerk gegen den Tod« Der Glauben macht das Sterben einfacher, meint der Religionswissenschaftler Hartmut Zinser. Mit FURIOS spricht er über das Leben nach dem Tod und erklärt, warum auch Religionen verfallen. Text: Lucian Bumeder Foto: Hannah Lichtenthäler Hartmut Zinser forscht seit 1990 am Institut für Religionswissenschaft der FU zu Atheismus und Religionsgeschichte. Die Religionswissenschaft untersucht im Gegensatz zur Theologie nicht Glaubensinhalte, sondern analysiert die Erscheinungsformen von Religionen, ihre Veränderung und die Rolle, die sie für die Menschen einnehmen. FURIOS: Herr Zinser, wieso wenden sich Menschen Religionen zu, wenn es um den Tod geht? Hartmut Zinser: Der Tod gehört zum Leben. Wir alle werden sterben. Aber Gläubige sterben einfacher, das ist empirisch bewiesen. Es ist schwer, sich unter dem Tod etwas vorzustellen. Niemand weiß, was danach kommt. Genau daraus entsteht die Furcht vor dem Sterben. Religion wirkt hier als Bollwerk, indem sie dem Tod seine Sinnlosigkeit nimmt. Die Religion als Bollwerk gegen den Tod - wie funktioniert das? Religionen trösten viele Menschen, die sich vor dem Tod fürchten. Sie liefern Erklärungsversuche, wenn jemand stirbt, dem man nahe stand. Denn Erinnerungen sterben dabei nicht, genauso wenig wie verbliebene Schuldigkeiten und Emotionen. Daher kommt auch die Angst vor der Missgunst von Verstorbenen und davor, an nicht verarbeiteten Gefühlen zu zerbrechen. Die Religionen geben durch ihre Totenrituale eine eindeutige Handlungsanweisung. Damit bieten sie Hinterbliebenen in Zeiten schwerer psychischer Belastung eine große Hilfe. Aber Religionen erfüllen ja nicht nur eine tröstende Rolle beim Sterben. Ganz im Gegenteil, viele Religionen sind auch für Tod und Leid verantwortlich. Alle Religionen kennen die Todesstrafe, ausnahmslos. Das liegt vor allem daran, dass sie in vormodernen Gesellschaften entstanden sind. Auch in den zehn Geboten war lange Zeit nicht das „Töten“, sondern das „Morden“ verboten. Für Hinrichtungen und Kriege gelten damit immer besondere Regeln. Religionen müssen zudem weder konsistent noch logisch sein. Die Kriege buddhistischer Herrscher wurden damit gerechtfertigt, dass der Mensch wie ein Spiegelbild sei. Wenn er Substanz hätte, könnte man ihn gar nicht töten. Da er nur ein Spiegelbild ist, zerschlägt man nur das Bild, nicht aber die Sache.

Der Tod bringt auch viele praktische Fragen mit sich. Wie ist es zu erklären, dass sich Menschen aus religiösen Gründen gegen Organspenden entscheiden? Die meisten Menschen haben wdas Bedürfnis, ordentlich unter die Erde gebracht zu werden. Das geht noch auf Fürsten zurück, die Vorsorge für ihr Nachleben getroffen haben. Heute spiegelt sich das zum Beispiel in Sterbeversicherungen. Das Christentum lehrt dazu, dass der gesamte Körper begraben werden muss, um wieder aufzustehen. In der alten Version des Glaubensbekenntnisses steht sogar noch die Formulierung „Auferstehung des Fleisches.“ Auch wenn sich in den letzten Jahren etwas verändert hat - Feuerbestattungen sind ja inzwischen zum Beispiel erlaubt. Manche Religionen sind über die Jahrhunderte von der Bildfläche verschwunden - wie lässt sich das erklären? Historisch gesehen war dafür häufig eine militärische Niederlage verantwortlich: Dann löste sich die Gemeinschaft auf, die die Gottheit verehrt hatte. Auch Naturkatastrophen konnten Religionen gefährden. Denn eine Gottheit, die ihre Glaubensgemeinschaft nicht schützen kann, ist machtlos. Was bedeutet das im Hinblick auf die sinkende Zahl an Kirchenmitgliedern in Deutschland? Heute spielen diese Faktoren keine so große Rolle mehr. Die Menschen sind aber dadurch nicht ungläubig geworden, selbst wenn in Deutschland nur noch sechzig Prozent der Bevölkerung Mitglied einer Kirche sind. Freidenker und Atheisten haben es trotzdem nicht geschafft, die Ausgetretenen zu mobilisieren. Folglich haben sie auch keine einflussreiche Interessenvertretung. Wir wissen zwar nicht, was genau der Rest glaubt. Aber das Verlassen der Religion ist selten ein Ausdruck von bewusstem Atheismus.

Angst vor dem Tod hat Lucian Bumeder nicht (im Moment). Wieso? Das ist seine ganz eigene geheime Mischung.

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Gedenken auf der Straße Stolpersteine sollen dort an die Verfolgten der Shoah erinnern, wo sie zuletzt gelebt haben. Auch in Dahlem liegen einige. Auf den Spuren zweier Schicksale. Text: Hanna Sellheim Fotos: Marius Mestermann Illustration: Julia Fabricius

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in paar Daten sind alles, was von Franziska Thomans Leben geblieben ist: 23. Dezember 1881. 8. Februar 1945. Ein paar Daten, die ihr Leben auf 64 Jahre eingrenzen, in denen Franziska Thoman gelebt hat, gearbeitet, gelacht, geträumt und geweint. Dazwischen gibt es ein weiteres Datum: 26. Oktober 1943. An diesem Tag wurde Franziska, genannt Fanny, in ihrem Haus in Berlin-Dahlem abgeholt und nach Ravensbrück gebracht, in das Konzentrationslager für Frauen im Norden von Brandenburg. Man kann sich vorstellen, wie es an diesem Dienstag in Dahlem aussah. Vielleicht war es stürmisch. Vielleicht segelten Blätter von den Bäumen in der Koserstraße und landeten vor Fannys Haus, der Nummer 21. Die Berliner Morgenpost berichtete an diesem Tag von Kämpfen an der südlichen Ostfront. Im Kino am Zoo lief die Komödie »Ein glücklicher Mensch« und Potsdam 03 stand an der Spitze der Berliner Meisterschaftstabelle. Darüber, was Fanny Thoman an diesem Tag dachte, was sie fühlte, als sie in den Zug gezwungen wurde, stand nichts in der Zeitung. Die Koserstraße 21 beherbergt heute den Forschungsverbund SED-Staat der FU. Und doch bleibt nicht vergessen, dass hier einmal Fannys Zuhause war. Ein goldener Stolperstein liegt davor, wie es in Berlin viele gibt und erinnert an sie. An ihr Leben, an ihre Deportation, an ihren Tod. Seit 1992 gibt es das Stolperstein-Projekt, initiiert hat es der Kölner Künstler Gunter Demnig. »Menschen sind vergessen, sobald ihr Name vergessen ist«, erläutert Demnig seine Idee. »Ich möchte dort an sie erinnern, wo sie zuletzt gelebt haben.« Stolpersteine beantragen kann jede*r, vorher müssen die Lebensdaten der Person, an die der Stein erinnern soll, recherchiert werden. Demnig fertigt jeden einzelnen Stolperstein selbst an und verlegt ihn dann. Fanny Thoman zog 1923 in die Koserstraße, wohnte dort gemeinsam mit ihrem Ehemann Ignaz, einem Kaufmann. Als er starb, lebte Fanny weiter in dem Haus mit der Backsteinfassade.

1940 bot ihr das NS-Regime 80.000 Reichsmark für ihren Auszug aus der Koserstraße. Eine Wahl hatte Fanny nicht. Und auch das Geld sollte sie nie bekommen. Nachdem sie fort war, zog Oswald Pohl in das Haus ein, ein hochrangiges SSMitglied. Er veranlasste einen Umbau des Hauses durch KZInhaftierte, ließ einen privaten Luftschutzbunker anlegen. Fanny Thoman war inzwischen selbst inhaftiert, musste vermutlich, wie die anderen Insassinnen in Ravensbrück, früh morgens bei jedem Wetter zum Zählappell antreten, tagsüber Zwangsarbeit verrichten. Vielleicht wurden an ihr, wie an etlichen anderen Insassinnen, medizinische Experimente vorgenommen. Sicher ist, dass Fanny am 8. Februar 1945, wenige Monate vor der Befreiung des Lagers, in einer Gaskammer starb. Der Rest lässt sich rekonstruieren: Fanny wurde an diesem Donnerstag aufgefordert, sich zur Dusche zu begeben und sich auszuziehen. Dort wurde sie zusammen mit anderen gefangenen Frauen aus dem Konzentrationslager - wie so viele andere Jüdinnen und Juden, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, Kommunisten und Kommunistinnen, Sinti und Roma, vor und nach ihr - vergast. Dass all diese Menschen und die grauenhaften Umstände ihres Todes nicht vergessen werden, dazu könnten die Stolpersteine beitragen, meint auch Stefan Heinz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am OSI und Experte für Erinnerungskultur und Gedenkstättenpolitik: »Die Stolpersteine sind eine Form der gelebten Erinnerungskultur, die in einem langjährigen Prozess von unten erkämpft wurde.« Gerade junge Leute könne eine solche Form der Erinnerung, die auf der Straße stattfindet, erreichen. »Wenn Schülerinnen und Schüler solch einen Stein in ihrer Nachbarschaft sehen, wird ihnen bewusst, dass die nationalsozialistische Verfolgung überall stattgefunden hat, auch vor ihrer Haustür«, sagt Heinz. »Das ist sehr viel eindringlicher, als nur eine abstrakte Größe von zahlreichen Millionen Verfolgten zu hören. «Auch Demnigs Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen bestätigt das. Gerade im Angesicht aktueller politischer Entwicklungen scheint


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es wichtiger denn je, an die Grauen der Shoah zu erinnern. Denn während die letzten Zeitzeug*innen sterben, drängen rechtspopulistische Parteien auf ein Vergessen. Davor warnt auch Heinz: »Es gibt Parteien wie die Af D, die versuchen, die geschaffene Erinnerungskultur zurückzudrängen. Das ist gefährlich. Wir müssen uns zu unserer Verantwortung bekennen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschehen kann.« Projekte wie die Stolpersteine könnten dann auch zur Demokratiebefähigung beitragen.

Stolpersteine seien respektlos, forderten sie doch dazu auf, die Opfer des Nationalsozialismus mit Füßen zu treten. Auch Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, ist aus diesem Grund eine scharfe Kritikerin des Projekts. Demnig wird wütend, wenn man ihn auf diese Gegenstimmen anspricht. Seiner Meinung nach verharmlost der Vergleich die Schrecken der Shoah: »Die Nazis haben nicht auf den Menschen herumgetrampelt, sondern sie systematisch vernichtet.«

Auch vor der Breisacher Straße 19, nahe der Universitätsbibliothek, liegt ein Stück Erinnerungskultur aus Messing. Der Stein erinnert an Bruno Asch, der hier mit seiner Familie lebte. Asch war SPDMitglied, setzte sich für den sozialen Wohnungsbau ein. Er wurde am 31. März 1933 entlassen, floh darauf hin mit seiner Frau Margarethe und seinen Töchtern Ruth, Mirjam und Renate nach Amsterdam. Doch 1940 wurden die Niederlande durch das deutsche Militär besetzt, Bruno Asch nahm sich das Leben. Margarethe, Ruth und Renate wurden 1943 in das Vernichtungslager Sobibór in Polen deportiert und dort ermordet. Nur Mirjam schaffte es 1939, nach Palästina auszuwandern.

Heinz hält die Kritik am Projekt ebenfalls für falsch: »Auch wenn man die jüdische Kritik ernst nehmen muss, schieben viele andere diesen Vorbehalt gegen die Stolpersteine nur vor, weil sie sich nicht mit der Shoah auseinandersetzen wollen.« Dennoch hält er es für wichtig, dass dieser Konflikt öffentlich ausgetragen wird. »Jede Form des Gedenkens, die nicht hinter verschlossenen Türen stattfindet, kann nur einen positiven Effekt auf die Gesellschaft haben.«

Während die Aschs um ihr Leben kämpften, zog Kurt von Hammerstein mit seiner Familie in ihr Haus. Dieser stieg zunächst in der Reichswehr bis zum Generaloberst auf. Doch als erklärter Gegner Adolf Hitlers und des Faschismus trat er 1934 von seinem Posten zurück. Fortan unterstützte er den Widerstand gegen Hitler von der Dahlemer Villa aus, bis er 1943 an Krebs starb. Die Stolpersteine stehen häufig in der Kritik; in München werden keine solchen verlegt. Gegner*innen argumentieren,

Denn immerhin erinnern die goldenen Steine daran, dass es einmal Geschichten gab, deren Protagonist*in Fanny Thoman und Bruno Asch hießen. Der Stein zwingt Vorbeigehende dazu, zu mutmaßen über Fannys und Brunos Leben, über dessen Daten und über die Dinge, die keine Zahl jemals fassen kann.

Hanna Sellheim hält Stolpersteine auch für eine gute Idee. Bei der Recherche für diesen Artikel half sie, die in Dahlem zu putzen.

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Vier Fälle und ein Todesfall Sprache ist ein ewiger Flow, hat unsere Autorin im Studium gelernt. Trotzdem hält sie sich gerne genau an die Regeln vong Grammatik her. 1 nachdenkliche Glosse mit Bilder. Text: Corinna Segelken Illustration: Jannis Fahrenkamp

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ch gebe es zu: Ich bin eine Sprach-Neurotikerin. Kommt meine Freundin »wegen dem Seminar« zu spät zu unserem Treffen, verzieht sich mein Gesicht zu einer leidenden Grimasse, ähnlich der, die ich mache, wenn ich Fingernägel auf einer Tafel quietschen höre. »Wegen des Seminars!«, schreit es in meinem Kopf und ich muss mich kurz sammeln, bevor ich mich wieder auf den Inhalt des Gesprächs konzentrieren kann. Veränderung von Sprache ist ein natürlicher Prozess, ich kann ihn nicht auf halten und das will ich eigentlich auch gar nicht. Aber warum rollen sich mir dann innerlich die Fußnägel hoch, wenn der Typ in der U-Bahn von der »einzigsten Frau in seinem Leben« spricht? Ständig scheine ich mir selbst versichern zu müssen, dass ich die Grammatikregeln aus dem Deutschunterricht noch beherrsche und fühle mich erschreckend gut, wenn ich es kann. Vielleicht ist es mein Beitrag dazu, die Vergänglichkeit auf halten zu wollen: Andere engagieren sich für die Denkmalpflege, ich benutze den Genitiv. Dabei habe ich eigentlich schon deutliche Fortschritte gemacht. Als ich begann, Linguistik zu studieren, wurde mir eingetrichtert, dass Sprache einem ständigen Wandel unterliegt und es daher nie ein eindeutiges Richtig oder Falsch geben kann. Seitdem gehe ich mit meiner Sprachneurose um wie mit einem nervösen Tick. Ich akzeptiere sie als Teil meiner Persönlichkeit und versuche dennoch, sie unter Kontrolle zu halten. Belehrte ich zuvor noch bei jedem vermeintlichen Fehler mein Gegenüber, presse ich nun bei einem Konjunktiv mit »würde« nur stumm die Lippen zusammen. Vor meinem inneren Auge bildet sich jedoch instinktiv die korrekte Form

und führt zu einer ungemeinen inneren Ausgeglichenheit, wie es sonst nur eines dieser »oddly satisfying«-GIFs in meiner Facebook-Timeline kann. Warum meine ich immer noch, vermeintlich korrekte Grammatik beherrschen zu müssen? Schließlich kam schon Mark Twain zu Lebzeiten nicht umhin, der deutschen Sprache in verschiedensten Essays und flammenden Reden einen wohlformulierten Tritt in den Hintern zu versetzen. »Es liegt auf der Hand, dass die deutsche Sprache zurechtgestutzt und repariert werden sollte. Nur die Toten haben genügend Zeit, sie zu lernen«, schrieb er im Jahr 1880. Seitenlang zählt er Beispiele aus dem Deutschen auf, die sein englischsprachiges Hirn verwirrten. Der, die, das - und dann auch noch den, dem und des? Keine Sorge, Mark, könntest du heute den Gesprächen in einer Berliner U-Bahn lauschen, dann würdest du feststellen, dass auch der malträtierende Grammatik-Unterricht an deutschen Schulen der Artikel-Wahlfreiheit kaum etwas entgegen zu setzen hat. Mark Twains Wunsch nach einer Reparatur des Deutschen stellen sich jedoch auch heute noch vehemente Gegner*innen in den Weg. Der Verein Deutsche Sprache etwa kämpft unter dem Vorwand der Sprachbewahrung mit aller Kraft gegen jegliche Einflüsse auf die deutsche Sprache. Dabei zeigt er eindrücklich, dass der Wunsch, die Vergänglichkeit aufzuhalten, leider oft auch mit nationalistischen Tendenzen einhergeht. Und zu denjenigen, die das Internet Weltnetz nennen, möchte ich nun erst recht nicht gehören. So schlimm kann der sogenannte Sprachverfall wohl doch nicht sein, denke ich, schließlich hat der Schulunterricht zumindest mir ein automatisches Zusammenzucken bei falscher Imperativbildung ohne Stammvokaländerung beigebracht. Vielleicht sollten wir auch Veränderungen der deutschen Grammatik nicht mehr als Sprachverfall klassifizieren, sondern als kreative Neuschöpfungen. Dann könnte ich in Zukunft bestimmt gelassener mit meinen sprachlichen Neurosen umgehen.

Wie viel Toleranz muss man für die grammatikalisch fragwürdigen Ergüsse anderer aufbringen?

Für diesen Artikel versorgten ihre Redaktionskolleg*innen Corinna Segelken mit grammatikalischen Fehlgriffen. Sie schockt jetzt nichts mehr.


Titel

Im Lernrausch Drogen gehören in den verruchten Nachtclub? Falsch gedacht. Rauschmittel wie Ritalin oder Speed dienen nicht nur als Stimmungsaufputscher, sondern haben sich auch längst in den Lernalltag einiger Studierender geschlichen. Zwei Konsumenten berichten von ihren Erfahrungen. Text: Karolin Tockhorn Illustration: Eugènia López Duran

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it 17 Jahren sniffte Samuel* das erste Mal Amphetamine. Das Rauscherlebnis war kein schönes. Er und seine Freunde gerieten in eine Polizeikontrolle. Es passierte nichts, trotzdem wurden sie panisch. Sobald Samuel zu Hause war, musste er sich übergeben. »Voll drauf« seien sie damals gewesen, sagt Samuel. Trotzdem nimmt der FU-Student die Droge bis heute. Nach der ersten Einnahme konnte Samuel die Finger nicht von der tückischen Substanz lassen. Vielleicht war es die Neugier, vielleicht der Adrenalin-Kick. Der Konsum von Speed integrierte sich schnell in seinen Alltag, schnell kamen andere Drogen wie MDMA und Ketamin hinzu. Bald fing er an, Speed auch zum Lernen einzunehmen. Auf der Droge sei sein Kopf frei von unnötigen Gedanken. Samuel findet es nicht verwerflich, Amphetamine zur Prüfungsvorbereitung einzusetzen. »Andere halten sich schließlich auch mit Koffein wach«, sagt er zum Vergleich. Einmal zog er sogar unmittelbar vor einer Klausur Pep. Das Ergebnis war seine bisher beste Note. Dass solche Erfolgserlebnisse den Konsum so gefährlich machen, weiß der Student genau. Denn wenn der Plan funktioniere, habe man schließlich keinen Grund aufzuhören. An die Nebenwirkungen wie Schlafstörungen, innere Unruhe oder Appetitlosigkeit hat sich Samuel inzwischen gewöhnt. Außerdem sei Speed eine Droge, die gut in unsere Gesellschaft passe: Der Wachmacher, der es uns ermöglicht, auf Abruf 100 Prozent zu geben - bis eben gar nichts mehr geht. Denn der Konsum ist ein Tanz auf dem Drahtseil. »Man kann so schnell die Kontrolle verlieren - dafür muss sich nur eine winzige Sache im eigenen Leben ändern.«

Auch Tobias* hat die schlechten Seiten des Konsums erlebt. Die Pillen hatte er von einem Freund bekommen, der sie schon seit langem zum Lernen einsetzte und von der Wirkung überzeugt war. Tobias war allerdings kaum in der Lage, einen komplexen Gedanken zu fassen – die Drogen machten ihn high, nicht konzentriert. Er hatte zwar während des Rausches das Gefühl, den Lernstoff zu verstehen, im nüchternen Zustand musste er jedoch feststellen, dass seine Ergebnisse nicht halb so gut waren, wie er sie sich ausgemalt hatte. Nach einer Woche RitalinDoping erzielte er eine seiner schlechtesten Noten jemals. »Das war das erste und letzte Mal, dass ich Ritalin genommen habe«, beteuert Tobias. Doch gerade vor diesem funktionellen Einsatz der Substanzen zum Lernen warnt Betzler: »Wer in dieser Situation Amphetamin einsetzt, kann schnell darauf kommen, auch in anderen anstrengenden Situationen darauf zurückzugreifen.« Besonders Speed sei dann gefährlich, da es im Regelfall illegal hergestellt und gestreckt werde. Mit Ritalin werde zumindest ein zugelassenes Medikament konsumiert. Auch Samuel hat die Gefahr seines Konsums erkannt. Die Drogen bahnen sich schleichend ihren Weg in den Alltag und werden zu mehr als nur einem Aufputschmittel während der Lernphase. Trotzdem weiß Samuel, dass er in naher Zukunft nicht auf hören wird. Dass es nicht auf ewig so weitergehen kann, ist ihm aber bewusst: »Spätestens wenn ich eine Familie habe, ist der Drogenkonsum für mich tabu.« *Namen von der Redaktion geändert.

Offizielle Zahlen zum Drogenmissbrauch unter Studierenden gibt es nicht. Die psychologische Beratungsstelle der FU gibt an, dass sich nur sehr wenige Studierende dort melden, um vertraulich über ihren Drogenkonsum oder Suchtprobleme zu reden. Auch Samuel will seinen richtigen Namen nicht nennen, er hat Angst vor rechtlichen Konsequenzen. Denn beide Drogen sind illegal, sie fallen unter das Betäubungsmittelgesetz. Ritalin ist bloß zur Behandlung von ADHS erlaubt. Und das nicht ohne Grund: Felix Betzler von der Charité erklärt, dass eine Verbindung zwischen chronischem Konsum und bestimmten kognitiven Funktionen festgestellt worden sei, zum Beispiel komme es bei Langzeit-Konsumierenden häufig zu Störungen im Arbeitsgedächtnis. Auch wer Speed oder Ritalin nur selten konsumiert, habe oft mit »Durchhäng-Phasen« zu kämpfen. Man fühle sich dabei antriebslos, sei schnell gereizt und von inneren Unruhe verfolgt.

Dr. Felix Betzler hat eine Umfrage unter Studierenden in Berlin zum Konsummuster und zur Konsummotivation verschiedener Substanzen organisiert. Der Fragebogen ist online unter www.drugsurvey.de zu finden. Psychologische Beratungsstelle: Iltisstr. 4, 14195 Berlin; E-Mail an psychologische-beratung@fu-berlin.de oder telefonisch unter (030) 838 52247 Ganz ohne Drogen würde Karolin Tockhorn​die Klausurenphase auch nicht überstehen. Sie setzt dabei aber lieber auf Koffein und Zucker.

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Titel

4 aus 40.000 An der FU tummeln sich täglich 40.000 Menschen. Vier von ihnen verrieten uns, was sie glauben, was nach dem Tod passiert.

Dustin Merten ist 26 Jahre alt und studiert im vierten Semester Germanistik und Islamwissenschaft.

Text & Fotos: Rebecca Stegmann »Nach dem Tod passiert nichts« Nach dem Tod passiert nichts. Wir sind weg. Ich habe mir diese Meinung nach und nach gebildet. Meine Mutter ist gläubige Christin, aber ich wurde nicht christlich sozialisiert. Wir haben zwar die christlichen Feiertage gefeiert, aber wirklich praktiziert haben wir unseren Glauben nie. Je mehr ich Dinge wie die Größe des Universums dann reflektiert habe, desto unwahrscheinlicher erschien es mir, dass all das von einem kleinen Gott gemacht wurde, mit einem Fingerschnips. Ich kann verstehen, dass Religion vielen Menschen Hoffnung gibt. Dann kann man sich zumindest daran klammern, dass es nach dem Tod weitergeht. Doch niemand sollte anderen einen Glauben aufzwingen.


Titel

Büsra Açik ist 22 Jahre alt und studiert im sechsten Semester den Bachelor Turkologie.

Amyn Vogel ist 26 Jahre alt und studiert im zweiten Mastersemester Zukunftsforschung.

Lucía Cirianni Salazar ist 30 Jahre alt und Doktorandin an der Berlin Graduate School of Muslim Cultures and Societies.

»Man kommt entweder in den Himmel oder in die Hölle«

»Mein Geist müsste nicht sterben«

»Der Tod ist ein Mysterium«

Als gläubige Muslimin bin ich überzeugt, dass man nach dem Tod entweder in den Himmel oder in die Hölle kommt. Das hängt davon ab, wie man hier auf der Erde lebt. Es wird ein jüngstes Gericht geben, bei dem Sünden und gute Taten gegeneinander abgewogen werden. Alle Muslime kommen in den Himmel, wenn sie nur ein Stück Glauben haben – und sei es so klein wie ein Reiskorn. Wenn man nicht an den Islam glaubt, kommt man theoretisch in die Hölle. Das kann man aber so nicht pauschalisieren.

Ich kann mir vorstellen, dass ich mich mit dem Thema Tod nicht beschäftigen muss. Schließlich werden unsere technologischen Entwicklungen immer umfangreicher. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine Verschmelzung zwischen menschlichem Geist und Maschine möglich ist. Das könnte schon 2050 der Fall sein. Dann bin ich erst 60. Mein Geist müsste dann also nicht sterben. Wie genau das technisch gehen soll, kann ich noch nicht abschätzen. Auch nicht, was das für Konsequenzen haben könnte.

Ich vertrete eine agnostische Position, das heißt, ich habe keinen festen Glauben an das, was nach dem Tod kommt. Ich denke, der Tod ist ein Mysterium. Er ist das einzige im Leben, das wir nicht erleben können. Trotzdem sollte man diese Frage nicht so leicht abtun.

Gott will, dass alle Menschen gerecht miteinander umgehen und verbietet Grausamkeiten zwischen Menschen, unabhängig von ihrer Religion. Ich glaube kaum, dass ein Gott, der selbst den Menschen die Ungerechtigkeit verbietet, einen Menschen ungerecht behandeln kann.

Wer weiß schon, ob der Geist wirklich tausende Jahre leben kann oder ob er doch irgendwann zerfällt. Davon abgesehen glaube ich eigentlich, dass wir ein Zufallsprodukt der Evolution sind. Ich glaube an keine Geschichten über Himmel und Hölle.

Zu behaupten, dass nach dem Tod überhaupt nichts passiert und einfach aufzuhören, sich darüber Gedanken zu machen, finde ich faul. Zugegeben, ich habe keine Ahnung, was passiert, nachdem wir sterben. Ich schätze aber den tieferen Sinn, den unterschiedliche Gesellschaften dem Tod zuschreiben und beschäftige mich gerne damit.

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Politik

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Auf die Barrikaden! Häufig wird behauptet, Studierende seien nicht mehr politisch. Gleichzeitig wird es ihnen schwer gemacht, Protest auszudrücken. Gerade an der Uni droht die Protestkultur daher einzuschlafen. Dabei sollte studentische Kritik genau hier ansetzen. Text: Alexandra Brzozowski Foto: Marius Mestermann

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s herrscht Untergangsstimmung: Weit verbreitet ist die Ansicht, dass unsere Generation sich nicht mehr für politische Themen interessiere, gar eine apolitische sei. Das Internet und die Zeitungen sind voll von Kommentaren, die monieren, dass heutige Studierende dem Erbe der 68er nicht einmal in Ansätzen gerecht werden. Doch ist dieser Vorwurf gerechtfertigt – sitzen die Studierenden von heute wirklich lieber vor Netflix als auf der Straße für die gute Sache zu kämpfen? Keineswegs! Denn nach Jahren der Apathie und des ignoranten Egalismus, erleben wir als Reaktion auf die aktuelle politische Schieflage eine Renaissance der Protestbewegungen. Weltweit entbrannte studentischer Protest: In den USA wurde an zahlreichen Unis gegen Trump mobilisiert, in Großbritannien rebellierten Studierende gegen den Brexit und in Deutschland wird sich der Af D von studentischer Seite entschlossen entgegengestellt. Gleichzeitig müssen sich die protestierenden Studierenden jedoch anhören, ihr Protest sei demokratiefeindlich, versuche er doch, bestimmte Stimmen aus dem Diskurs auszuschließen. Wo bleibt diese geballte Protestkraft, wenn es nicht um Weltpolitik, sondern um eine Nummer kleiner gehen soll? Denn an den Unis scheint sich derzeit eher Protestfaulheit einzuschleichen. Sicher, es gibt sinnvolle Vorstöße in der Hochschulpolitik. Im Mai kam es nach zähen Tarifverhandlungen für eine bessere Bezahlung studentischer Beschäftigter in Berlin zu lautstarkem Protest. Trotzdem kamen nur ein Dutzend Studierende zusammen, obwohl dieses Thema alle studentischen Beschäftigten betrifft und alle von einer Verbesserung profitieren würden. Auch die Zulassungsbeschränkungen, die es in manchen Studiengängen noch für die Seminare gibt, verursachen jedes Semester Unmut. Die FU ist von den Aktionen meist wenig beeindruckt. Zwanzig von 34.000 sind nun einmal kein Druckmittel. Häufig sind es also nur versprengte Grüppchen, die gerechtere Universitätsstrukturen fordern, während die Masse schweigt. So verläuft der Protest im Sande. Gerade hier in Berlin, damals der Motor der Proteste, hier an der FU, wo Rudi Dutschke und Benno Ohnesorg studierten, sollte das Erbe der 68er-Bewegung eine Art Auftrag sein. Doch anstatt diese Bemühungen zu unterstützen und mitzugestalten, kritisieren andere Studierende und die Uni viel lieber Art und Weise des Protestes.

Es gibt eine Typologie des Protests, die man an Unis beobachten kann. Doch vor allem an der FU verkehren sich die Gegensätze oft ins Groteske: Da sind zum einen die apathischen Vor-sichhin-Studierenden, die ohnehin nicht wirklich am Unileben teilnehmen wollen, Hauptsache durchkommen. Die hippen Protestler*innen, die mit einem Starbucks-Kaffee in der Hand ein bisschen mitlaufen, ein Selfie machen, noch schnell eine Online-Petition unterzeichnen und dann wieder in ihre Welt abtauchen. Die ewigen Protestler*innen, die in 68er-Nostalgie schwelgen, ihre Forderungen aber überziehen und in einem Rundumschlag die ganze Welt auf einmal retten wollen – und potenzielle Mithelfende vergraulen. Und dann sind da noch die wirklich Engagierten, die etwas verändern wollen, aber denen Univerantwortliche im Weg stehen oder denen der Rückhalt in der Studierendenschaft fehlt. Natürlich liegt mangelnder Protest nicht nur an den Menschen, sondern auch am zu starren Unisystem, das auf Erfolg und Karriere fixiert ist. Denn dass die Studierenden restlos zufrieden sind mit ihrer Uni-Umgebung, ist angesichts von Zulassungsbeschränkungen, langsamer Bürokratie und Anrechnungsproblemen im Prüfungsbüro unwahrscheinlich. Natürlich ist eine Universität in erster Linie eine Ausbildungsstätte. Doch bei universitärer Bildung sollte es nicht nur das Ziel sein, so viel Wissen wie möglich in die Köpfe zu schaufeln. Verantwortung und Engagement für die Gesellschaft sind mindestens genauso wichtig. Politisch zu handeln ist vor allem dann wichtig, wenn keine*r hinschaut, klatscht oder einem auf die Schulter klopft. Es ist dann wichtig, wenn es auch im Unialltag gelebt wird. Auch an unseren Unis gibt es Missstände, gegen die angegangen werden muss. Und dafür lohnt es sich, trotz aller Kritik, auf die Barrikaden zu gehen. Also worauf wartet ihr noch? Eine offizielle Einladung gibt es nicht.

Alexandra Brzozowski ist meist eher nicht auf Krawall gebürstet. Für eine gute Sache geht sie trotzdem auf die Straße.


Politik

»Die Meinungsforschung hat nicht versagt!« Fake News, Fake Polls? Nach den Erfolgen von Rechtspopulisten im letzten Jahr erntet auch die Meinungsforschung teils heftige Kritik. Im Interview erklärt Professor Dieter Ohr, Experte für Wähler*innenverhalten, was die Vorhersage dieser Phänomene so schwierig macht – und warum er trotzdem Optimist bleibt. Text: Marius Mestermann Foto: Lucian Bumeder FURIOS: Im letzten Jahr sind nach dem Brexit-Votum und der US-Wahl kritische Stimmen gegenüber der Wahlforschung laut geworden – viele sprachen von Versagen. War das berechtigt? Dieter Ohr: Bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl haben die Meinungsforschungsinstitute überhaupt nicht versagt. Die waren eigentlich relativ nahe dran am nationalen Gesamtergebnis, wenn man wirklich nur die politische Präferenzverteilung für das ganze Land betrachtet. Nur in den Bundesstaaten sah es dann etwas anders aus. Aber es war ja nicht nur die US-Wahl. Auch der Ausgang des Brexit-Votums wurde falsch vorhergesagt. Woran lag das? Eine solide Sprichprobe für Prognosen ist immer schwerer zu bekommen. Bei Phänomenen wie der Brexit-Bewegung oder der Af D rechnen einige Befragte die Meinungsforschungsinstitute zum Establishment hinzu. Viele nehmen deshalb an den Umfragen gar nicht erst teil. Außerdem kann man sich nicht darauf verlassen, dass alle Teilnehmer*innen aufrichtig antworten. Das macht es extrem schwer, etwas vorherzusagen. Was auch nicht angemessen berücksichtigt wird: Bei normalen Stichprobengrößen muss immer ein gewisser Fehlerbereich einbezogen werden. Vor allem bei Mehrheitswahlen sind Stichproben wegen der knappen Ergebnisse dann oft überfordert. Hat die Öffentlichkeit dazugelernt, sich nicht mehr vollends auf die Ergebnisse aktueller Umfragen zu verlassen? Ja, den kann man beispielsweise daran ablesen, dass anders über die Projektionen berichtet wird. Mittlerweile ist es Standard, Fehlerbereiche mit anzugeben. Aus meiner Sicht ist die Kritik an der Wahlforschung ungerecht, weil damit ein Präzisionsanspruch erhoben wird, der überhaupt nicht einzulösen ist. Im Moment kann Ihnen beispielsweise kein Meinungsforschungsinstitut, das sich selbst als seriös betrachtet, sagen, welche Chancen die Af D genau hat. Über Trends sprechen können wir aber trotzdem. Was haben Sie als Fachmann in den letzten Jahren beobachtet?

Der »Megatrend« ist auf jeden Fall eine steigende Volatilität der Wähler. Das bedeutet, dass die Menschen deutlich wechselhafter wählen. Mal gehen sie gar nicht wählen, an der nächsten Wahl nehmen sie dann wieder teil. Zudem entscheiden sich viele Wähler*innen wesentlich kürzer vor der Wahl für eine Partei. Andererseits wäre es auch übertrieben zu sagen, dass die meisten Menschen gar keine feste politische Bindung mehr hätten. Ein anderes länderübergreifendes Phänomen der westlichen Gesellschaften ist der Rechtspopulismus. Rechtspopulismus ist ein gutes Stichwort, in den USA ist jetzt einer Präsident. Berichte der Presse fertigt er als »Fake News« ab und stellt die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft infrage. Wie schätzen Sie das ein? Ich glaube nicht, dass es in Deutschland eine vergleichbare Wissenschaftsfeindlichkeit gibt. Aber selbst in den USA kann ich mir nicht vorstellen, dass wirklich die Mittel gekürzt werden. In Verbindung mit der Kritik an Wissenschaft wird auch oft der Begriff der »postfaktischen Gesellschaft« genannt. Den halte ich für Unfug. Was spricht denn dafür, dass wir uns heute in einer postfaktischen Epoche befinden im Gegensatz zu den Menschen vor hundert Jahren? Aus meiner Sicht nur sehr wenig. Warum das? Heute haben die Menschen im Mittel eine viel höhere Bildung und einen besseren Zugang zu Informationen aller Art. Auch die Qualität, die Vielfalt der Medienberichterstattung ist deutlich höher. Wenn man heute Unsinn verkündet, ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass dem jemand mit Belegen widerspricht. Sie wirken deutlich ruhiger als manch ein Leitartikel, der das »postfaktische Zeitalter« als Anfang vom Ende der Demokratie beschwört. Ich möchte problematische Entwicklungen nicht schönreden, aber man muss das relativieren: Die Grundlagen der Demokratie sind heute viel stabiler, als sie es jemals waren. Marius Mestermann kann sich eine Welt ohne Meinungsforschung nicht vorstellen. Woher sollen wir denn sonst wissen, wie schnell der Schulz-Zug gerade fährt?

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Politik

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Chios: Ein Monat Außengrenze Mit Flucht ist die Hoffnung verbunden, an einen Ort zu kommen, der besser und sicherer ist. Auf der griechischen Insel Chios entfaltet sich jedoch eine neue Realität aus Gewalt, Hass, Angst und Überforderung. Ein Erlebnisbericht. Text: Lucie Hortmann und Marius Mestermann Illustration: Manon Scharstein

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ürkisfarbenes Wasser umschmeichelt die Küsten von Chios. Die Insel in der Ägäis, die dem türkischen Festland viel näher ist als dem griechischen, ist ein Idyll. Viele Europäer*innen kommen hierher, um ihre Alltagssorgen zu vergessen. Sie zahlen hunderte Euro für Flüge, Unterkunft und schöne Abende bei griechischem Wein mit Meerblick. Bezahlen lässt es sich auf Chios problemlos in Euro, denn die Insel gehört zum EU-Mitgliedsstaat Griechenland. Was klingt wie eine Kleinigkeit, ist eines von vielen Symbolen europäischer Zugehörigkeit. Denn wenige Kilometer weiter östlich, an den Häfen der türkischen Küste, beginnt eine andere Welt. Neu ist diese Unterscheidung nicht - die Rivalität zwischen Griechenland und der Türkei ist Jahrhunderte alt. Doch die Seegrenze ist auch die inzwischen berüchtigte EUAußengrenze. Ein Schlauchboot legt an. Menschen retten sich an Land. Einige tragen Schwimmwesten. Wenn sie Glück haben, gibt es Helfer*innen, die sie an den Händen nehmen und aus dem Boot ziehen. Für die meisten dieser Menschen ist es ein Ankommen, das mit Hoffnung, vielleicht Erleichterung, aber auch Angst verbunden ist. Zukunftsangst. Nicht nur von Europa aus kommt man nach Chios. Auch aus Syrien oder dem Irak, über das Transitland Türkei. Auch diese Menschen, die vor Tod und Zerstörung geflohen sind, haben oft viel Geld gezahlt. Aber nicht an Airlines, HotelBooking-Webseiten und Taxifahrer. Sondern an Schleuser, die versprachen, sie auf europäischen Boden zu bringen. Sie leben in provisorischen Unterkünften wie dem Camp Vial. Dort halten sich zurzeit etwa 1200 Geflüchtete auf. Vial wird vom griechischen Militär geleitet, Zutritt hat nur das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR. Anders sieht es in Camp Suda aus, das 900 Bewohner*innen zählt. Ich war dort, um zu helfen, und erlebte das Versagen der europäischen Migrationspolitik.

warmes Wasser gibt es nicht. Dadurch ändert sich aber nichts an den miserablen sanitären Bedingungen. Zehn Toiletten gibt es für 900 Bewohner*innen des Camps. Etwa die Hälfte funktioniert in aller Regel nicht. Doch die größte Katastrophe ist der gravierende Mangel an Sicherheit. Und er trifft ausgerechnet jene, die in der Hoffnung gen Europa aufgebrochen sind, um der Gewalt und Unsicherheit in ihren Heimatländern zu entkommen. Denn über die sogenannte östliche Mittelmeerroute kommen vor allem Geflüchtete aus dem Nahen Osten. Ein Mann, den ich während meiner Zeit in Camp Suda recht gut kennenlernte, verbrachte einmal eine ganze Nacht an der Seite des einzigen Wachmanns in seiner Nähe. Er fürchtete eine Messerattacke. Das Beispiel zeigt, wie heillos überfordert die griechischen Sicherheitskräfte mit der Aufgabe sind, in den Camps für Ordnung zu sorgen. Die Polizei ist weder ausreichend ausgestattet, noch verfügen die meisten Beamt*innen über die nötige Ausbildung. Immer wieder kommt es zu regelrechten Ausschreitungen zwischen verschiedenen Gruppen im Camp, oft enden diese für einige Beteiligte im Krankenhaus. Gründe für die Auseinandersetzungen gibt es viele. Mal sind es Konflikte zwischen Nationalitäten, oft aber auch der Frust über die schlechten Lebensbedingungen im Camp oder über die Langwierigkeit der Asylverfahren. Nur selten gelingt es der Polizei, die wahren Täter*innen zu ermitteln. Geflüchtete berichten mir, dass die Beamt*innen dazu tendieren, Menschen einer bestimmten Nationalität für die Vorfälle verantwortlich zu machen. Das kann ernste Konsequenzen haben, etwa lange Haftstrafen und Nachteile für die Asylbewerbung unabhängig davon, ob die Personen wirklich für den Konflikt verantwortlich waren. Einmal zündete sich ein Geflüchteter an, weil sein Asylantrag zum zweiten Mal abgelehnt wurde. Beim Versuch eines

Die Formalitäten sind schnell erzählt: Ich heiße Lucie, studiere im sechsten Semester an der FU und habe in den letzten Semesterferien einen Monat im Rahmen eines Freiwilligendienstes über das »Center for Excellence in Surgical Education Research and Training« (CESERT) auf Chios verbracht. Die Lebensbedingungen im Camp sind, nett ausgedrückt, unterdurchschnittlich. Wohncontainer sind die Ausnahme, nicht klimatisierte Zelte der Standard. Warum so viele Europäer*innen nach Chios kommen? Weil es da im Sommer schön sonnig und warm ist. Aber lebt mal mit 900 anderen Menschen in solchen Zelten. Genau. Im Winter geht es noch. Dicke Kleidung und Decken helfen,

Die Zustände in den Camps auf Chios sind kaum zu ertragen.


– Anzeige –

Polizisten, ihm das Feuerzeug zu entreißen, gingen beide in Flammen auf. Die Umstehenden, darunter viele Kinder, mussten das schreckliche Ereignis mit ansehen. Wenige Tage später erlag der Geflüchtete seinen Verletzungen. Ich sah von der Situation lediglich ein Video, doch auch das war grausam und kaum auszuhalten. Auch andere Camp-Bewohner*innen tun sich schreckliche Dinge an, weil sie hoffen, mit schweren Verletzungen schneller nach Athen zu gelangen, wo ihre Asylanträge dort schneller bearbeitet werden. Auf Chios traf ich viele Menschen, die aufgrund ihres extrem hohen Gewaltpotentials eigentlich sofort psychologische Betreuung bräuchten. Doch die bleibt aus. Stattdessen behalf sich ein Bewohner damit, seinem Zimmergenossen nachts die Schnürsenkel zusammenzubinden, damit dieser nicht unbemerkt aufstehen konnte. Während ich in Camp Suda bin, versucht der Mann, jemanden mit einem Messer umzubringen. Wenn er in der Nähe war, flüsterten die Kinder voller Angst seinen Namen. Camp Suda ist in der Vergangenheit aber nicht nur Schauplatz interner Konflikte gewesen. Faschistische Aktivist*innen zerstörten ein großes Zelt für dutzende Menschen und warfen Steine. Auch Camp-Bewohner*innen wurden verletzt. Viele Griech*innen fühlen sich von den anderen EU-Ländern alleingelassen. Athen fordert mehr Unterstützung, die es jedoch nie bekommt. Einem Staat wie Griechenland mit hohen Arbeitslosenquoten und starken finanziellen Problemen lastet eine Aufgabe wie die Integration tausender Geflüchteter besonders schwer auf den Schultern. Für die über 2000 Geflüchteten auf Chios gibt es zwei (!) Sachbearbeiter. Was schlimm klingt, wird von der Situation in der Türkei, die nur wenige Kilometer entfernt liegt, noch unterboten. Ein Geflüchteter erzählt mir, dass dort dem Sterben von Haustieren mancherorts mehr Bedeutung zugemessen wird als dem von Geflüchteten. Die türkische Küstenwache fahre absichtlich nahe an die Boote, um Wellen zu erzeugen und die Migrant*innen dazu zu zwingen, sich auf ihre Schiffe zu retten. Ein anderer Freiwilliger berichtet mir, wie er beobachtete, dass mit Gummischrot auf die Boote geschossen wurde, um sie zum Kentern zu bringen. Gummischrot zur Umsetzung des EUTürkei-Deals, so stellt man sich Migrationspolitik sicher nicht vor. Und auch nicht das ehemalige Idyll in der Ägäis. Auf Chios werden noch immer Freiwillige gebraucht. Wer noch mehr Infos möchte, kann Lucie Hortmann schreiben: luhort@ zedat.fu-berlin.de

ASISI PANORAMA BERLIN Friedrichstraße 205 Checkpoint Charlie 10117 Berlin service@die-mauer.de T 0341.35 55 34-0 Dienstag ist Studententag: Zahle nur 5 Euro bei Vorlage des Studentenausweises asisi.de | die-mauer.de


Campus

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Viel Gejodel um nichts? Obwohl die Studierenden-App Jodel bereits Universitätsstädte im In- und Ausland im Sturm erobert hat, wird an Berliner Hochschulen scheinbar nur selten gejodelt. Passt die App nicht in das Berliner Studierendenleben? Unser Autor hat sie sich einmal genauer angeschaut. Text: Adrian Sanchez Illustration: Lea Scheidt

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enn Studierende das Smartphone zur Hand nehmen, liegt es nicht mehr nur an Whatsapp, Facebook & Co. Wer während der gähnend langweiligen Vorlesung lieber aufmerksam die Bildschirme der Kommiliton*innen studiert, entdeckt dort immer wieder Apps, die rein zum Zeitvertreib gedacht scheinen. Ob in München, Freiburg oder Bonn: In vielen Universitätsstädten ist die App Jodel ganz vorne mit dabei. Bald will das Unternehmen nun sogar über den großen Teich in die USA expandieren. Doch an Berliner Unis scheint der Hype auch nach zwei Jahren fleißigen Jodelns noch nicht richtig angekommen zu sein. In der App können Nutzer*innen anonyme Posts – sogenannte Jodel – verfassen, die im Umkreis von zehn Kilometern lesbar sind. Andere haben dann die Möglichkeit, die Kurznachrichten oder Bilder zu kommentieren und zu bewerten. Besonders gelungene, geistreiche oder kreative Mitteilungen werden von der Community mit Upvotes belohnt. Für jede Interaktion werden »Karma-Punkte« verteilt. Je beliebter ein Jodel und je aktiver ein*e Nutzer*in insgesamt auf der Plattform ist, desto mehr Karma erhält diese*r dafür. Bekommt ein Beitrag jedoch mehr als fünf Downvotes, wird dieser automatisch gelöscht – so kann jede*r mitbestimmen, worüber in der Studierenden-App gesprochen wird. Wenn Hausarbeiten sprechen könnten. Andere Hausarbeiten: Guten Tag. Ich bin ein wissenschaftlich höchst anspruchsvolles Artefakt. Meine Hausarbeit: Moooooin i bims 1 Plagiat

Das Besondere an Jodel im Vergleich zu anderen sozialen Plattformen: Alle Nutzer*innen sind anonym. Freund*innen oder Follower*innen gibt es nicht. Für die angezeigten Beiträge zählt nur, wer in der Nähe ist. Und genau das macht für viele den Reiz aus. Man kommuniziert mit einer unbekannten Crowd, die sich ungefähr am selben Ort auf hält. Anders als auf Facebook oder Instagram gibt es bei Jodel keine Profile – so geht es ausschließlich um den Inhalt und nicht um die Beliebtheit der Verfasser*innen, die Zahl der Follower*innen oder die Anzahl der bereits verfassten Beiträge. Mit Humor, schrägen Anekdoten oder interessanten Gedanken kann man mit jedem Jodel aufs Neue punkten. Die Gründer der App wollen so ein Zeichen gegen den übertriebenen Personenkult in klassischen sozialen Netzwerken setzen und Selbstdarsteller*innen den Nährboden nehmen. Dies gelingt jedoch nur bedingt, da auch diese Plattform die Möglichkeit bietet, Selfies hochzuladen

»Hör auf, mich als deine Putzfrau zu bezeichnen. Ich bin dein Mitbewohner!« Meine Putzfrau, immer

und so nach Upvotes zu fischen. Auf diese Weise gelang es schon einigen Berliner*innen einen eigenen Hashtag oder sogar Channel zu gründen, in dem sie regelmäßig über den persönlichen Lifestyle jodeln. Die Präsentation des eigenen Lebens fällt bei Jodel also noch leichter - und das ohne lästige Anmeldung. Wer in der Jodel-Community allzu viel Gesellschaftskritik und tiefgründige Diskussionen erwartet, wird enttäuscht. Denn das Teilen der Gedanken und Erlebnisse aus dem Studierendenleben bringt meist wenig Substanzielles, dafür aber viel Belangloses und vor allem Unterhaltsames hervor. Das Spiel mit Klischees ist besonders beliebt, um möglichst viel Zustimmung und damit viele Karma-Punkte einzuheimsen. Beliebte Themen neben klassischem Campus-Tratsch: Das Party-, Liebes- oder WGLeben. Damit unterscheidet sich Jodel wenig von ähnlichen Angeboten mit seichtem Studierendenhumor. Oft finden sich allerdings auch Witze an der Grenze zum Sexismus. Überhaupt hält man es auf Jodel mit Political Correctness nicht sonderlich streng. Dennoch gelingt es den Betreibern trotz der Anonymität außergewöhnlich gut, Hasskommentare, Beleidigungen oder pornografische Inhalte aus dem Newsfeed fernzuhalten. Dass es sich bei Jodel um eine eher wohlwollende Community handelt, verdeutlicht auch der Hashtag #jhj –»Jodler helfen Jodlern«- unter dem Nutzer*innen nach Empfehlungen für eine gute Bar oder eine spannende Serie fragen können. Die Anonymität führt außerdem, anders als bei anderen sozialen Plattformen, zu einer ungewöhnlichen Vertrautheit und Empathie zwischen den Nutzer*innen. So trauen sich viele von ihnen, teilweise intime Details aus ihrem Leben preiszugeben, die sie ihren Kommiliton*innen im realen Leben natürlich niemals anvertrauen würden.

»Was war deine Inspiration für die schriftliche Arbeit?« – »Der Abgabetermin.«


Campus Jodel-Lexikon für Einsteiger Durch die Jodel-Community geistern eigene Begriffe und fiktive Charaktere mit Kultstatus:

Karma-Farmer*in Bezeichnung für exzessive Jodel-Nutzer*innen, die mit ihren Jodeln vor allem auf die Anerkennung der Community abzielen. Vom DUDEN-Verlag zum Teil des Jugendwortschatzes 2017 erklärt.

Justus – der Schnösel-Student Sohn superreicher Eltern, der wahlweise Jura oder BWL studiert. Er ist reich, eitel und dekadent. Zur Uni fährt er mit dem Porsche, aus Geldscheinen bastelt er Papierflieger.

Manni – der Bus- und Bahnfahrer Bezeichnung für Mitarbeiter öffentlicher Verkehrsmittel. Er ist auf der Strecke auf Bestzeitjagd und outet sich oft selbst als KarmaFarmer.

Lisa – die Backpackerin Von Papa finanzierte Australien-Backpackerin. Sie hält ihre Reise für besonders individuell, Deutsch sprechen ist für sie nach ein paar Monaten in Down Under ganz ungewohnt, Filme erträgt sie nur noch in englischer Originalfassung.

Johannes / Sebastian – die Ersties: Verkörpern die strebsamen und naiven Studienanfänger. Typischer Spruch: »Zusätzlich zu meiner Mitschrift nehme ich die Vorlesung lieber noch als Audiodatei auf. Nachher habe ich noch vergessen, etwas aufzuschreiben.«

Gadse Weist auf Cat-Content hin. Wird aus nicht nachvollziehbaren Gründen statt Katze verwendet. Variationen für andere Tiernamen: »Bellgadse« für Hund oder »Hoppelgadse« für Kaninchen.

Das Prinzip der Anonymität kommt gut an: Kurz nach der Gründung des Berliner Start-ups verzeichnete Jodel im Jahr 2015 bereits eine Million Nutzer*innen. Auch wenn das Unternehmen keine aktuellen Zahlen zur Nutzung bekannt gibt, dürfte die Zahl der Jodelnden weiter angestiegen sein. Mittlerweile ist die App weltweit verfügbar. Außerhalb des deutschsprachigen Raums kommen die aktivsten Nutzer*Innen aus den skandinavischen Ländern und Saudi-Arabien. In Deutschland ist Jodel besonders in Universitätsstädten wie Göttingen, Passau und Mannheim verbreitet. Auch Frankfurt, Freiburg und Darmstadt gelten als Jodel-Hochburgen. Ohne genaue Zahlen nennen zu wollen, versichert das Unternehmen, dass auch Berlin zu den aktivsten deutschen Jodel-Städten zählt. Doch hört man sich auf dem FU-Campus und unter anderen Studierenden um, so wissen nur die wenigsten von der App. Irgendwie scheint Jodel insgesamt in Berlin noch nicht so richtig zu zünden. Aber woran könnte das liegen? Wird die anonyme App dem Selbstdarstellungsdrang der Hauptstadt-Studierenden nicht gerecht? Die Betreiber haben eine andere Erklärung: »Möglicherweise hat man aufgrund der großen Fläche Berlins und der großen Verteilung der Universitäten und Hochschulen den Eindruck, dass insgesamt weniger passiert.« Und tatsächlich könnte das zum Teil erklären, dass Jodel in kleineren, studentisch

geprägten Städten besser funktioniert. Denn die App ist auf eine relativ homogene und lokal konzentrierte Nutzer*innengruppe angewiesen: Der Witz über den Kellner in der Kneipe ist nur dann interessant, wenn alle Nutzer*innen die Kneipe kennen. In Berlin-Kreuzberg interessiert sich aber niemand dafür, was Menschen in Schöneberg über den neuen Falafel-Mann jodeln. Jodel vermittelt den beruhigenden Eindruck, dass die Menschen um einen herum ziemlich ähnlich ticken, die gleichen Probleme und den gleichen Humor teilen. Und auf dem weitläufigen Campus in der eher unpersönlichen Großstadt kann die App so tatsächlich das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer lokalen Community stärken. Somit ist Jodel vielleicht sogar mehr als eine reine Zeitvertreib-App und hätte in Berlin das Potenzial, Studierenden einen sozialen Anker in der lokalen Community zu setzen.

Adrian Sanchez ist bei seiner Recherche selbst zum stolzen Karma-Farmer geworden. Karma-Level: 4966

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Zwischen äußerem Verfall und innerem Werden In der »Ruine der Künste« setzt Wolf Kahlen der Vergänglichkeit die Kunst entgegen. Ein Blick hinter die Kulissen des Museum in der Hittorfstraße. Text: Anna-Sophia Färber Foto: Marius Mestermann

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as Gartentor quietscht leise beim Hereintreten. Die Bäume rauschen im Wind und Äste verwachsen wie selbstverständlich mit dem verfallenen Gebäude, welches groß und geheimnisvoll in dem verwildert wirkenden Garten steht. An der »Ruine der Künste«, die in der Hittorfstraße 5 ganz in der Nähe der Rost- und Silberlaube steht, gehen täglich zahlreiche Studierende vorbei, ohne sie richtig wahrzunehmen. Dabei ist sie durchaus sehenswert: Die Mauer ist durchsetzt mit Löchern und Rissen; aus dem obersten Stockwerk ragen einige Zweige aus dem Mauerwerk heraus. Das verfallene Gebäude wurde 1982 von Wolf Kahlen entdeckt und zum Museum umgebaut. 1940 in Aachen geboren, studierte er Kunst, Kunstgeschichte und Philosophie in Helsinki und New York, aber auch Amerikanistik an der Freien Universität, weshalb er sich heute noch gut auf dem Campus auskennt.

wie Ugo Dossi und Wim Wenders haben dort mitgewirkt. Zurzeit stellt Kahlen selbst seine Werke in der Ruine aus.

Seit der Eröffnung 1985 gibt es in dem kleinen Museum Kunst zu bestaunen. Und auch das Gebäude selbst ist ein Kunstwerk, das seine eigene Vergänglichkeit thematisiert. Kahlen renovierte das Haus drei Jahre lang, fast alle Arbeiten führte er dabei selbst aus. Dabei beschloss er, getreu seinen Grundsätzen, das Haus äußerlich so verfallen zu lassen, wie er es vorfand, und nur im Inneren zu modernisieren. Auf diese Weise repräsentiert die »Ruine der Künste«, was für Kahlen eine persönliche und künstlerische Maxime ist: Durch die Begegnung von zwei Wirklichkeiten, äußerem Verfall und innerem Werden, entsteht eine dritte Wirklichkeit, nämlich das Kunstwerk. »Der Kontext ist entscheidend! Alles ist auf etwas bezogen«, betont er. Seit über dreißig Jahren lädt er Künstler*innen von überall her ein, dort auszustellen. Seit einigen Jahren hilft auch sein Sohn, Timo Kahlen, selbst Künstler, tatkräftig mit. Rund 150 Ausstellungen gab es in der Ruine seit der Eröffnung, Künstler

Es ist leicht, sich in diesem Allerlei von Kunst und Verfall zu verirren – was genau fordert die Aufmerksamkeit? Worauf die Konzentration lenken? Die Besonderheit des Ortes kann auch überfordern. Trotzdem macht die »Ruine der Künste« bewusst, dass Vergänglichkeit nichts ist, das wir einfach so beiseite schieben können. Sie ist uns näher, als wir vielleicht wahrhaben wollen, aber deshalb nicht weniger faszinierend.

Auch im Inneren macht sich die Vereinigung von Verfall und Werden bemerkbar, von der Kahlen so gerne spricht: An zwei Orten im Haus kann man durch eine Glasscheibe nach draußen schauen, wo alte Balkone und Säulen noch von der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erzählen. Kahlen selbst ist Buddhist, sieht der eigenen Vergänglichkeit mit einer beneidenswerten Gelassenheit entgegen. »Ich glaube an Reinkarnation«, antwortet er auf die Frage, was für ihn nach dem Tod komme. Ob er sich wünsche, dass sein Sohn die Ruine weiterführt, wenn er selbst mal nicht mehr ist? »Natürlich. Aber wenn das nicht passiert, dann ist das so und das würde dann auch zum Kontext des Lebens gehören.«

Anna-Sophia Färber findet auch, dass man Vergänglichkeit nicht fürchten sollte. Im Gegenteil, manchmal ist sie auch sehr nützlich... bei schlechten Klausurergebnissen zum Beispiel.


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Morgens Friedhof, mittags Uni Berlin ist die Stadt der unzähligen Möglichkeiten, vor allem, wenn es darum geht, einen Nebenjob zu finden. Unser Autor machte sich auf die Suche - und fand ein Jobinserat für eine Beschäftigung der düsteren Art. Text: Paul Lütge Illustration: Manon Scharstein

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ch habe kein Geld. Ich muss eine Hausarbeit schreiben und habe keine Lust. Die Lösung für dieses doch sehr häufige studentische Problem: Job suchen. Oder zumindest im Internet durch Jobbörsen blättern. Denn Jobs für Studierende gibt es in Berlin wie Sand am Meer. Bierausschank in der SzeneBar, Kaffee und Kuchen für die Generation 60+, intellektueller Kraftsport als studentische Hilfskraft - Beschäftigung findet sich eigentlich immer. Ich mache das zwar nicht zum ersten Mal, aber heute fällt mir eine Annonce ins Auge, von der ich zuvor noch nicht gehört habe. Das Bestattungsunternehmen Eschke sucht nach Studierenden, die als Sargträger*innen aushelfen wollen. Das Angebot wirkt auf den ersten Blick bizarr. Aber Studieren bedeutet Weiterfragen - so lautet eine beliebte Definition verschiedener Dekan*innen bei selten hilfreichen Einführungstagen. Bei genauerem Hinsehen scheint diese etwas spezielle Dienstleistung gar nicht mal so unattraktiv. Angenehme Arbeitszeiten: nur während der Woche, meistens

vormittags. Das Wochenende bleibt also wortwörtlich fürs Leben frei. Gutes Geld: Trauernde scheinen extrem trinkgeldfreudig zu sein, zumindest laut Erfahrungsberichten. Und auf jeden Fall spannende Geschichten, um ewig gleichen Party-Smalltalk aufzubrechen. Also alles, was für einen Studijob von Bedeutung ist. Naja, außer Networking, aber es sterben ja auch wichtige Leute, also wer weiß. Schließlich gewinnt der Student in mir gegen meinen inneren Spießer. Also greife ich zum Telefon. Nach anfänglicher Euphorie kommen jedoch die Zweifel. In meinem bisherigen Leben habe ich eher keine Bodybuilder Karriere verfolgt. Bin ich wohl der geeignete Kandidat für das Tragen schwerer Särge? Janina Eschke, die Geschäftsführerin des Bestattungsunternehmens, beruhigt mich. Zwar sollte man als Sargträger*in über eine gewisse körperliche Belastungsfähigkeit verfügen. Stark wie Hulk muss man anscheinend aber nicht sein. »Die Särge werden nicht auf den Schultern, sondern mittels Seitengriffen getragen. Auch kleine Leute sind deshalb für den Job geeignet«, erklärt sie mir. Wichtiger als Körpergröße und Kraft sei es, ein Gespür für das richtige Verhalten bei Beerdigungen zu haben. »Ruhiges und seriöses Auftreten ist uns sehr wichtig. Auch auf das Äußerliche ist deshalb unbedingt zu achten!«, erläutert Eschke. Wer also stilvolle Gesichtstattoos hat und gerne in unangebrachter Weise bei seinem Job im Mittelpunkt steht, sollte sich wohl doch eher als Berghain-Türsteher versuchen. Weil man sich als Sargträger viel mit dem Tod befasst, sollte man zudem emotional belastbar sein. Wer Woche für Woche die Trauer der Angehörigen erlebt, muss aufpassen, angesichts des standardisierten Beerdigungs-Ablaufs nicht dem Zynismus zu verfallen. Wenn das dann auch noch mit der unweigerlichen studentischen Orientierungskrise zusammenfällt, stellt diese Arbeit eine ganz eigene Herausforderung dar. So hält sich dann auch die Waage: Neugier und Geld auf der einen Seite, düstere Stimmung und Unsicherheit auf der anderen. Schlussendlich halte ich mich an ein uraltes studentisches Prinzip: Der Tod lässt sich zwar nicht aufschieben, alles andere aber schon. Im erweiterten Vorbereitungsprozess der Hausarbeit schreibe ich also eine eher halbherzige Bewerbung und überlasse die Entscheidung dem Schicksal. Eine gute Geschichte ist es immerhin jetzt schon.

Auch kleine Menschen sind als nebenberufliche Sargträger*innen geeignet.

Paul Lütge hat sich letztendlich doch gegen eine Beschäftigung als Sargträger entschieden. Sein Grund: Die Arbeit schien ein wahrer Knochenjob zu sein.

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Wo bin ich hier gelandet? Alkohol und Anarchie

Frankfurt (Oder) lieber doch nicht?

Es gibt viele Gründe, aus denen OSI-Studierende nachts nicht schlafen können. Einer der angenehmeren sind die Partys am Roten Café. Von seiner ersten musste sich unser Autor erst einmal erholen.

FU-Studierende verlassen nicht häufig Berlin, gibt es hier doch eigentlich alles, was das Herz begehrt. Unsere Autorin musst schmerzlich erfahren: Außerhalb der Großstadt lauert die Tristesse.

Text: Paul Lütge Wenn die U3 an einem späten Freitagabend aus allen Nähten platzt, weiß man bereits, dass etwas Außergewöhnliches im Gange ist: Die legendäre »Rotes-Café«-Party findet wieder statt! Es ist tiefster Dezember. Alles spricht dafür, die Wohnung nicht zu verlassen. Doch heute Abend wird gefeiert: Einmal im Semester raffen sich die Fans des besetzten OSINachbargebäudes auf, legen »Das Kapital« zur Seite und strömen ins abgelegene Südwestberlin - und ich bin mittendrin. Das Rote Café versteht sich als politisches Projekt und Freiraum von gesellschaftlichen Zwängen. Events, die dort stattfinden, sollen entsprechend etwas anderes sein als nur Saufgemenge für Partylöwen. Bewusstes und vorbehaltloses Feiern ist hier erwünscht. Also eine Wohlfühlparty in einer besseren Welt? So weit, so gut. Doch dort angekommen stellt sich die Realität etwas anders dar. Das rote Häuschen ist viel zu klein für alle Partygäste. Also stehen die meisten Menschen draußen und wärmen sich an stilechten Feuerstellen auf, um nicht den winterlichen Kältetod sterben zu müssen. In der stickigen Höhle - die höchste Evolutionsstufe des Roten Cafés - sorgen unterdessen verschiedene DJ*anes für einen wüsten Techno-Mix, der bei manchen trotzdem gut anzukommen scheint. Höchstwahrscheinlich bei denen, die den Cocktail-Vorrat geleert haben. Denn ab elf Uhr abends gibt es an der Bar nur noch Bier. Immerhin aber das beste der Welt: Sterni. Es wird getanzt, erzählt und leidenschaftlich rumgestanden. Betrunkene schreien rum, andere sind genervt. Ein deutliches »Fick dich!« erhalte ich, nachdem ich mich bei einem rumtorkelnden Zeitgenossen nach dessen Wohlbefinden erkunde. Die Ideologie-Türsteher*innen der schönen heilen Welt müssen ziemlich enttäuscht sein. Denn die »Rotes-Café«Party ist – trotz Legendenstatus – eigentlich eine ziemlich normale Party. Besser als anderswo ist die böse Welt hier nicht.

Text: Hanna Sellheim Illustration: Jette Pfeiffer Ich steige am Hauptbahnhof Frankfurt (Oder) aus. Das »Haupt« hätte man sich sparen können, lässt sich dieser gottverlassene Ort doch ohnehin bloß durch diesen einen, tristen Bahnhof betreten. Und, wenigstens das, wieder verlassen. In der Straßenbahn, die seit DDR-Zeiten dieselbe ist, tuckere ich vorbei an Plattenbauten, die seit DDR-Zeiten dieselben sind. Die Jogginghose scheint hier in Frankfurt zu einer Art informellem Dresscode zu gehören. Eine Männergruppe neben mir führt dazu schon um 11 Uhr morgens als passendes Accessoire einen Kasten »Frankfurter Pilsener« mit sich – Geruch und Etikett nach zu urteilen ein besonders erlesenes Gebräu. Der Grund meiner Reise in die östlichste Stadt vor der Grenze: Eine Freundin wohnt hier. Wir laufen über eine trostlose Brücke nach Polen. Hier kann man billige Zigaretten und noch billigeren Schnaps kaufen. Aber auch das hilft nicht gegen das Gefühl der Leere, das einem beim Anblick der Oder überkommt, auf der wohl alljährlich gräuliche Eisschollen schippern. Ich versuche auf dem Rückweg mit letzter Mühe, dem eisigen Wind zu trotzen, der direkt aus Nowosibirsk zu wehen scheint. Den Abend verbringen wir in genau der Bar, in der sich jene Menschen sammeln, die übers Wochenende nicht nach Berlin geflohen sind. Dafür hat man sich hier bemüht, Kreuzberger Schrammeligkeit zu imitieren. So wurden kurzerhand ein paar verlauste Sofas zusammengekarrt und IKEA-Teelichte auf die Tische geklatscht. Fast könnte man sich der Illusion hingeben. Doch dann wird man gewahr, dass im Fernseher an der Wand Pool-Billard läuft und die Karte geziert wird von Fotos der Getränke. Ich lasse eine Träne in meinen Moscow Mule tropfen und träume mich zurück in die Großstadt.

Wer unserem Autor nicht traut, kann sich auch selbst ein Bild machen. Die nächste Party findet schon am 15. Juli im Roten Café statt.

In Frankfurt (Oder) kommt schnell Sehnsucht nach Berlin auf


Ewige Ehemalige: Die feministische Vorreiterin

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Journalistin, Publizistin und Dozentin - Gitti Henschels Lebenslauf könnte wahrscheinlich Bände füllen. Sie erzählt FURIOS, was die erste Frauenquote Deutschlands mit nackten Brüsten zu tun hat und appelliert an die jungen Leute, demonstrieren zu gehen. Text: Hannah Lichtenthäler Foto: Bernd Borgmann

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ur radikalen Feministin wurde Gitti Hentschel während der Gründungsphase der taz. Sie und ihre Mitbegründer*innen wollten mit dieser Zeitung eine Plattform für alternative, in den anderen Medien unterdrückte Inhalte und die linke Szene bieten und die herkömmlichen Nachrichten »vor allem nochmal gegen den Strich bürsten«. Die erste taz erschien am 17. April 1979 - ein Datum, das Hentschel nie vergessen wird. »Wir haben unsere erste Zeitung damals sehr stolz in Kneipen selbst verkauft«, erinnert sie sich. Doch so radikal progressiv die Absichten bei der taz-Gründung auch waren – sie war zunächst trotzdem eine ziemliche Männerdomäne. Zusammen mit anderen Frauen von der taz führte Hentschel deshalb die Frauenseite ein, denn es brauchte einen eigenen Raum und mehr Zeit, Themen aus feministischer Perspektive zu beleuchten. In der Küche ihrer Kreuzberger Wohnung erzählt Hentschel bei Kaffee und Kuchen von ihren bisherigen Stationen im Leben und was sie den jüngeren Generationen mit auf den Weg geben würde. Sie besucht als Mädchen eine Nonnenschule im Ruhrpott. Nach dem Abitur studiert sie zunächst zwei Semester in Münster. »Nach 1968 waren einige Fachbereiche der Uni schon irgendwie links, aber Münster selbst war ein spießiges Kaff«, erzählt sie. Deshalb geht sie 1970 nach Berlin. An der FU absolviert sie darauf hin ihr Studium in Publizistik mit Germanistik und Soziologie im Nebenfach. Ob es zu der Zeit an der FU einen Raum für feministischen Aktivismus gab? Das habe Hentschel so nicht erlebt, denn auch die Universität sei ein Raum der Macker gewesen, in dem Frauen versuchten, Positionen für sich zu entwickeln. Nach ihrer Zeit an der FU studiert sie an der Alice-SalomonHochschule noch Sozialpädagogik, wo sie bis heute Seminare gibt. In den 1980er Jahren kehrt sie noch einmal an die FU zurück und lehrt am OSI, vor allem zu Frauen und Medien. Dieses und weitere Themen wie sexualisierte Gewalt, feministische Netzpolitik und Friedens- und Sicherheitspolitik sind für Hentschel zentral. Sie spiegeln sich in ihrer Arbeit an der Hochschule, als Journalistin und später als Leiterin des Gunda-Werner-Instituts in der Heinrich-Böll-Stiftung wieder. Hier in ihrer Wohnung wurde Geschichte geschrieben: Zusammen mit anderen Frauen der taz plante Hentschel den Frauenstreik. Damals wurden oft feministische Texte als unwichtig abgetan – zum Beispiel zum Thema sexueller Missbrauch. »Wir sind auf die Barrikaden gegangen, denn wir wollten uns nicht mehr alles gefallen lassen.« Ihre Forderung lautete, 52 Prozent aller Stellen weiblich zu besetzen. Die Durchsetzung dieser Frauenquote war revolutionär – nicht zuletzt wegen der entblößenden Durchführung: Es war Deutschlands erste Frauenquote.

Birgitta Hentschel ist bei allen nur als Gitti Hentschel bekannt.

»Uns Frauen wurde in den Sitzungen Prüderie vorgeworfen«, erklärt Hentschel. In Diskussionen seien Feministinnen häufig als Spaßbremsen und lustfeindlich bezeichnet worden – das sei auch heute noch manchmal so. Deshalb entschlossen sich die taz-Frauen, beim Stichwort »Prüderie« allesamt ihre Pullover auszuziehen. Tatsächlich trat dieser Moment ein, so dass sie oben ohne in der Runde saßen. »Die Männer waren in Schockstarre«, lacht Hentschel. Einer von ihnen ging dann aus dem Raum und kam in einem Mantel zurück, den er vor allen öffnete – darunter war er nackt. »Alle fingen an zu lachen – dieser Moment hatte etwas sehr Befreiendes und Versöhnendes.« Für Hentschel steht fest: »Wir haben unheimlich viel erreicht.« Gerade die feministische Bewegung der 70er und 80er bis in die 90er habe viele Rechte erkämpft und nun sei die Aufgabe, diese Rechte zu erhalten und auszuweiten. Aber wofür sollten wir heute auf die Straße gehen? In ihren Augen ist feministische Netzpolitik eines der wichtigsten Themen heute. Speziell Migrant*innen seien im Netz Zielscheibe von Diffamierung und Diskriminierung. Auch hält sie reproduktive Rechte nach wie vor für wichtig. Noch immer haben Frauen nicht überall die Freiheit, über den eigenen Körper entscheiden zu können und ohne Repressionen abzutreiben. Doch der Feminismus ist lange nicht alles, das ihr am Herzen liegt: Hentschel wendet sich gegen jede Form von Interventionspolitik, Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien, gegen Trump und die Militarisierung der Gesellschaft. »Wir müssten jetzt eigentlich wieder ununterbrochen auf die Straße gehen«, lacht sie.

Hannah Lichtenthäler braucht Feminismus; sie hat sich z.B. fürs Gendern bei FURIOS eingesetzt.

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Auf den Spuren der geraubten Werke Vor über 80 Jahren wurde die Kunstsammlung des jüdischen Verlegers Rudolf Mosse von den Nazis versteigert. Nun suchen Erbende, Museen und die FU mit einem gemeinsamen Projekt nach den Werken. Eine Detektivgeschichte. Text und Foto: Rebecca Stegmann

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m zweiten Stock der Alten Nationalgalerie starrt Susanna zu einer Kuppel hoch. Seit der Künstler Reinhold Begas ihren ängstlichen Blick 1870 in Marmor haute, hat sie so einiges gesehen. Vermutlich haben ihre Augen auch des Öfteren die Rudolf Mosses getroffen. Schließlich war Susanna Teil seiner Sammlung im Mosse-Palais, zusammen mit etwa 4.000 anderen Werken. Mosse war im ganzen Deutschen Kaiserreich bekannt als Verleger. Er war Herausgeber zahlreicher Publikationen und wurde so zum Multimillionär. Mit seiner Frau Emilie baute der jüdische Geschäftsmann ein Waisenhaus auf, gründete eine Pensionskasse für seine Angestellten und förderte unbekannte Künstler*innen. 1920 starb er, seine Sammlung erbte die Adoptivtochter Felicia. 1932 flüchtete sie vor dem Nationalsozialismus. Die Mosse-Sammlung wurde von den Nazis beschlagnahmt und versteigert, die Gemälde, Statuen und Möbelstücke sind heute vermutlich in aller Welt zerstreut. Seit 2016 ist Susanna wieder offiziell im Besitz der Mosse-Erb*innen und steht als Leihgabe in der Alten Nationalgalerie. Verantwortlich für diesen Erfolg ist das »Mosse Art Restitution Project« (MARP), das direkt von den in Amerika lebenden Mosse-Erben betrieben wird. Auch einige weitere Werke konnte das Projekt bereits seinen rechtmäßigen Besitzer*innen zuführen. Im März 2017 gründeten die Mosse-Erb*innen zusammen mit der FU und mehreren Museen die »Mosse Art Research Initiative« (MARI); ihr gemeinsames Ziel ist es, herauszufinden, in wessen Händen sich die restlichen Werke heute befinden. Seit der Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung sind die staatlichen Museen aller 44 Vertragsstaaten dazu verpflichtet, geraubte Kunst zurückzugeben. Manchmal kaufen sie die Werke dann von den Erb*innenen zurück. Die finanziellen Verluste für die Museen sind groß, entsprechend zurückhaltend sind diese bei der Untersuchung ihrer Kunstwerke. Bei MARI schlüpft die FU deshalb als Projektträger in die Rolle eines neutralen Vermittlers. Diese Kooperation ist weltweit die erste ihrer Art. Sie erspart sowohl den Erbenden als auch den Museen viel Arbeit, indem sie doppelte Recherchen vermeidet.

In einem Raum in der Holzlaube widmen sich 20 Masterstudierende der Suche nach Anhaltspunkten zum Verbleib der Kunstwerke. »Das Projekt ist ein Prototyp und somit ein Zukunftsmodell«, sagt Meike Hoffmann, Koordinatorin des Projekts an der FU und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut. In einem abgedunkelten Raum steht sie vor einer an die Wand projizierten Liste mit Daten zu Werken aus der MosseSammlung. Je ein Gemälde suchen sich die Studierenden aus dieser Liste aus. Eduard von Gebhardts »Bildnis eines bartlosen, alten Mannes« steht zur Auswahl und auch Carlo Brancaccios »Hafen von Neapel«. Das größte Problem bei der Suche nach den Bildern: Niemand weiß, wie die Gemälde aussehen. Die wichtigste Quelle für die Recherchearbeit, der Auktionskatalog der Versteigerung im Jahr 1934, enthält nur wenige Fotos. Deshalb ist der erste Schritt der langwierigen Detektivarbeit die Suche nach einer historischen Fotografie. »Bei unbekannten Künstlern ist das manchmal gar nicht so leicht«, erklärt Hoffmann. Sie und ihr Team schalten »Vermisstenanzeigen« in Datenbanken für Raubkunst, die Museen mit ihrer Sammlung abgleichen sollen. Auch alte Zeitungsartikel und Familienfotos dienen als Informationsquellen. Im Anschluss beginnt die akribische Suche nach dem*der heutigen Besitzer*in. Häufig müssen dafür zahlreiche Verkäufe nachvollzogen werden. MARI könnte zu einem großen Erfolg bei der Suche nach Raubkunst werden und weltweit als Modell dafür dienen, wie geraubte Kunst trotz Interessenkonflikten ihren rechtmäßigen Besitzer*innen zurückgegeben werden kann. Der Sprecher der Erb*innen, Roger Strauch, sagte bei seinem Besuch in Berlin zur offiziellen Vorstellung von MARI, es gehe bei dem Projekt um nichts geringeres als »die Wahrheit«.

Rebecca Stegmann verstörte andere Museumsbesucher*innen, als sie Susanna eine halbe Stunde lang tief in die Augen schaute.


Kultur

«In der jüngeren Generation nimmt kaum noch jemand ein Buch in die Hand« Seit 17 Jahren gibt es das Internationale Literaturfestival in Berlin. Sein Gründer studierte auch an der FU. Ulrich Schreiber erzählt, warum er die Vielfalt Berlins liebt und wie er mit seinem Festival Jugendlichen Literatur nahe bringen möchte. Text: Corinna Cerruti Foto: Ali Ghandtschi

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usgerechnet in Erlangen fand Ulrich Schreiber seine Inspiration. 1998 schlenderte er dort über das Poetenfest und genoss die Atmosphäre inmitten von Literat*innen und Besucher*innen. Er beschloss, etwas ähnliches in Berlin zu schaffen. 2001 gründete er das Internationale Literaturfestival. Es sollte nicht lang dauern, bis sich dieses als Pflichttermin unter Literaturliebhaber*innen etablierte. Seitdem kommen Autor*innen aus aller Welt einmal im Jahr zusammen, um ihre Geschichten zu präsentieren, Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam literarische Vielfalt zu zelebrieren. Schreiber, der aus Solingen stammt, schlug zuerst einen Weg ein, der mit Literatur wenig am Hut hat: Er wurde Bauingenieur. Doch schon bald hatte er Lust, etwas anderes auszuprobieren. Er begann, an der FU Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaften und Russisch zu studieren. Nach seinem Erlangener Aha-Moment dauerte es zwei Jahre, bis Schreiber genug Fördermittel gesammelt hatte, um die erste Veranstaltung zu organisieren. Zu seiner Freude verlief diese mit 600 Besucher*innen sehr erfolgreich. Als sich im zweiten Jahr die Besucherzahl mehr als verdoppelte, wurde klar, dass die Veranstaltung nicht mehr wegzudenken war. Nun jährt sie sich schon zum 17. Mal in Berlin. Schreiber hält die Stadt für den perfekten Standort: »Die Offenheit und die breitgefächerte Kultur Berlins ermöglicht Menschen aus Afrika, Asien oder Lateinamerika, sich hier wohlzufühlen.« Auch diese Internationalität will das Fest in seinen Lesungen, Vorträgen und Workshops widerspiegeln. Als Leiter gehört es zu Schreibers Aufgaben, Autor*innen aller Kontinente auszuwählen und für sein Festival zu gewinnen. Um diese Vielfalt zu garantieren, reist er auch mal quer über den Globus, erkundet andere Festivals und trifft Schriftsteller*innen aus Australien, Pakistan oder den USA.

Das Wichtigste sei es, sowohl gute Prosa-Autor*innen als auch Lyriker*innen einzuladen. »Ich lade besonders gerne Menschen ein, die neugierig auf literarisches Neuland und andere Autor*innen sind«, erklärt er. Wenn solche Gäste auf ein waches und interessiertes Publikum treffen, in einem Workshop diskutieren oder bei einer Lesung gespannt zuhören, entstehe eine ganz besondere Atmosphäre. Diese zu erleben und manchmal auch mitzugestalten, bereitet Schreiber die meiste Freude. Neben dem interkulturellen Austausch legt er außerdem viel Wert auf ein starkes Kinder- und Jugendprogramm. In der modernen Welt werde das Leben der Menschen insbesondere durch das Internet und die sozialen Medien bestimmt. »In der jüngeren Generation nimmt kaum noch jemand ein Buch in die Hand«, empört sich Schreiber. Umso wichtiger sei es heute, Kinder und Jugendliche für Literatur zu begeistern. Debattierwettbewerbe, Theaterinszenierungen von literarischen Werken, Kreativworkshops, Seminare zum Thema Sexualität und Ausstellungen sollen während des Festivals die Smartphone-verliebte Jugend wieder für Literatur begeistern. Kinder und Jugendliche können außerdem eigene Werke präsentieren und mit den professionellen Autor*innen in direkten Kontakt treten. Berliner Schulen werden ebenfalls dazu ermutigt, eigene Veranstaltungen zu organisieren. So könnte sich Schreiber ein Publikum für die nächsten 17 Jahre Literaturfestival sichern.

Corinna Cerruti möchte öfter wieder ein gutes Buch zur Hand nehmen. Wäre da nicht dieser strikte Unialltag...

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Kultur

Körper in Bewegung »Viscous Bodies« lautet der Arbeitstitel, unter dem die dänische Choreographin Mette Ingvartsen zusammen mit Masterstudierenden der Tanzwissenschaften dieses Semester ein Stück entwickelt. Dabei soll sich alles um Körper, Objekte und Sexualität drehen. Text: Lukas Burger Foto: Danny Willems

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ette Ingvartsen weiß noch nicht, ob sie diesmal mit nackten Körpern arbeiten möchte. Schließlich befindet sich die Performance, die die Dänin zusammen mit 18 Studierenden des Masterstudiengangs Tanzwissenschaften entwickelt, noch in einem sehr frühen Stadium. »Wenn ich mit Freiwilligen arbeite, ist von Anfang an klar, dass alle bereit sind, sich auszuziehen«, erläutert die Dozentin. »Bei Studierenden ist das anders. Da muss vorher genau besprochen werden, inwiefern sich alle einbringen möchten.« Unter dem Arbeitstitel »Viscous Bodies« versucht Ingvartsen gemeinsam mit den Teilnehmer*innen ihres Projekts, die Grenze zwischen Objekten und menschlichen Körpern zu verwischen und die Flüchtigkeit dieser Kategorien zu verhandeln. Anzeige

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Mette Ingvartsen hat selbst Tanz und Choreografie studiert. Zuerst in Amsterdam, dann in Brüssel, wo sie im Jahr 2004 an der Schule für Performance-Kunst ihren Abschluss machte. Schon davor brachte sie ihre erste Performance »Manual Focus« auf die Bühne. Mittlerweile hat sie über ein Dutzend Kunstaktionen und Tanzaufführungen inszeniert. Im Sommer fängt sie an der Volksbühne Berlin an, als festes Mitglied im Team des neuen Intendanten Chris Dercon. Seit Beginn des Sommersemesters übernimmt sie die Valeska-Gert-Gastprofessur an der FU – eine Kooperation mit der Akademie der Künste und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst. In dieser Professur werden Wissenschaft und künstlerische Praxis vereint. Ingvartsen gefällt diese Mischung. In ihrer eigenen Arbeit interessiert sie seit jeher die Sexualität und ihre Bedeutung für unser zwischenmenschliches Miteinander. Während ihrer Performance »To Come« imitierte sie mit anderen Künstler*innen Sexstellungen, alle trugen Ganzkörperanzüge, sodass niemand einem Geschlecht zugeordnet werden konnte. Aktuell recherchiert Ingvartsen zum Einfluss von Pornographie auf die Medien. So würden sich Nachrichten- oder Unterhaltungsformate an Pornos orientieren, erzählt sie. Sie vergleicht dabei zum Beispiel die Struktur von Kriegsberichterstattung mit erzählerischen Dramaturgie von Pornos. Ob dieses Thema für die Arbeit mit ihren Studierenden zu delikat ist, will sie nicht sagen. »Ich möchte in meinem Seminar nicht in einem strengen Rahmen arbeiten, in dem ich die Lehrerin und die anderen die Lernenden sind.« Das sei wichtig, um vertrauensvoll zusammenarbeiten zu können. Noch bis zum 30. Juni laufen die Proben für »Viscous Bodies«, dann soll aufgeführt werden. Von festen Stoffen wie Plastik bis zu porösen wie Styropor oder Schaum prüfen Ingvartsen und ihre Studierenden solange Materialien auf ihre Tauglichkeit für das Projekt. Eines steht bereits fest: Das Event soll drei Stunden dauern und damit die Grenzen zwischen Performance und Kunstausstellung verschwimmen lassen. Die Länge ist dabei auch als künstlerisches Mittel gedacht: »Unsere aktuelle Welt und vor allem unsere Mediennutzung ist auf Effizienz ausgerichtet. Deswegen halte ich es für wichtig, sich mit ›Dauer‹ als künstlerischem Werkzeug zu beschäftigen.« Lukas Burger verbindet mit dem Tanzen vor allem die Narbe, die ihm, im Gegensatz zu seiner Tanzpartnerin, vom Abschlussball geblieben ist.


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Es geht uns ja Die geklaute Rubrik auch im Grunde nichts an.* Kultur

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Wir sind großartig. Aber andere machen auch schöne Sachen. An dieser Stelle pflücken wir die besten Rubriken im Blätterwald und füllen sie mit unseren Inhalten. Folge X: “Torten der Wahrheit” aus der ZEIT. Text: Corinna Cerruti und Karolin Tockhorn Grafiken: Vic Schulte

Wie sich die Fahrt in der U3 um 10 Uhr anfühlt

geruchsintensiv kuschlig/intim komfortabel

Welchen Inhalt die Campustüte haben sollte

Süßigkeiten Kondome Alkohol Mate Eine Sonderausgabe der FURIOS

Wann man zwei Hundertschaften und eine Hundestaffel wirklich braucht

Geiselnahme Terror Mord und Totschlag Besetzung eines Hörsaals

Welchen Inhalt die Campustüte tatsächlich hat

Werbezettel mit Pröbchen Lutschbonbons mit sexistischen Sprüchen Glitzer-iPhone-Hüllen "Frauen"- und "Männer"-Magazine

*aus: »Professor Bernhardi« von Arthur Schnitzler Regie: Thomas Ostermeier Übrigens: Studenten zahlen bei unseren Vorstellungen nur 9,- Euro.

Karten: 030 890023, www.schaubuehne.de


Wissenschaft

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Die Weltkarte hat uns die ganze Zeit belogen Weltkarten prägen, wie wir über die Welt denken. Doch die altbekannte Karte hat uns ein falsches Weltbild vermittelt – auf ihr sind die Flächen der Länder stark verzerrt dargestellt. Wie sieht die korrekte Weltkarte aus? Text: Camares Amonat Illustration: Freya Siewert Weltkarte: Bildung trifft Entwicklung gGmbH

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as ist größer, Grönland oder Afrika? Schaut man auf Google Maps oder die Weltkarte, die in den meisten Klassenzimmern hängt, erscheinen sie in etwa gleich groß. Mit 2.116.000 Quadratkilometern Fläche ist Grönland wirklich riesig, etwa sechsmal so groß wie Deutschland. Dennoch: Afrika ist in Wahrheit 14-mal größer als Grönland. Weltkarten sind für uns von klein an präsent, sie hängen bei uns in der Schule, im Wohnzimmer der Großeltern oder im eigenen Kinderzimmer. Aber die altbekannte Weltkarte erzählt uns nur einen Teil der Wahrheit. Sie zeigt die MercatorProjektion, die 1569 von dem flämischen Kartographen Gerhard Mercator veröffentlicht wurde. Diese Projektion stellt den Winkel zwischen zwei Linien auf dem Globus korrekt dar, ist also winkeltreu, und deswegen besonders zur Navigation auf See geeignet. Sie hat sich weltweit etabliert. Doch sie verzerrt die eigentlichen Größenverhältnisse der Länder. In letzter Zeit geriet sie dafür immer häufiger in Kritik. Grund dafür war unter anderem eine interaktive Webseite namens thetruesize. com, auf der man die Flächen der einzelnen Länder auf einer Karte übereinanderschieben kann. So zeigt sich die wahre Größe der Länder, die durch die Mercator-Projektion verzerrt dargestellt werden. Als Alternative wurde 1974 die Gall-Peters-Projektion durch den deutschen Historiker Arno Peters veröffentlicht und gewann jüngst wieder an Bekanntheit. Der Historiker sah die Mercator-Projektion als zu eurozentrisch an und hatte das Ziel, die wahren Größenverhältnisse der Länder darzustellen. Das kleine Europa steht auf seiner Karte nicht im Mittelpunkt, sondern das riesige Afrika. Sie wird von Akteur*innen, die sich mit Nord-Süd-Beziehungen beschäftigen, gelobt. Jedoch gibt es auch zur Gall-Peters-Projektion kritische Stimmen. Expert*innen der Deutschen Gesellschaft für Kartographie haben herausgefunden, dass die Karte Abweichungen von bis zu 12 Prozent zu den tatsächlichen Flächen aufweist. Eine weitere von vielen Varianten, den Globus auf Papier zu übertragen ist die Winkel-Tripel-Projektion, die von der US-amerikanischen National Geographic Society eingesetzt wird. Sie ist ein Kompromiss-Produkt, bei dem alle Werte ein bisschen verschoben sind.

An den Rändern ist sie rund und weist starke Verzerrungen in den Polarregionen auf. Obwohl sie damit nützlich für die Veranschaulichung von Ortsangaben ist, bietet auch sie keine realistische Darstellung des Planeten. Doch welche Weltkarte bildet dann die Realität ab? Gar keine. Arno Netzbandt, Lehrbeauftragter an der FU für Anthropogeographie, macht deutlich: »Es wäre nicht möglich, eine Karte zu erstellen, die gleichzeitig flächen-, längen-, winkel- und lagegetreu ist. Die Erde ist bekanntlich keine Scheibe, sondern in etwa eine Kugel.« Die dreidimensionale Kugeloberfläche der Erde kann nicht in einer exakt wirklichkeitsgetreuen und objektiven Abbildung in die zweidimensionale Ebene einer Karte übertragen werden. Der Mathematiker Leonhard Euler lieferte dazu bereits im Jahr 1777 den mathematischen Beweis. Der Versuch wird damit verglichen, die Schale einer Orange flach auszubreiten und wird daher auch ›orange peel problem‹ genannt. Auf jeder Abbildung ist etwas verzerrt: Bei der Mercator-Projektion sind es die Flächen der Länder, bei Gall-Peters die Formen, bei Winkel-Tripel von allem ein bisschen. Jede Karte ist für manche Zwecke nützlich und für andere unbrauchbar; wirklich objektiv ist keine. Die Deutsche Gesellschaft für Kartographie schlägt daher vor, eine funktionsgerechte Projektion zu wählen, die dann je nach Bedarf realitätsgetreue Flächen, Strecken oder Winkel besitzt. Netzbandt erklärt außerdem, dass die falschen Abbildungen ein Problem bei der Repräsentation auf einer symbolischen Ebene hervorriefen. Der Globale Süden wird in seiner Größe und damit indirekt in seiner Bedeutung reduziert, während die Länder der nördlichen Hemisphäre überdimensional groß dargestellt sind und somit ein eurozentrisches Weltbild unterstützt wird. Aus diesem Grund wechselten staatliche Schulen in Boston im März 2017 als erste in den USA von der Mercator- zur GallPeters-Projektion. Ein Verantwortlicher der Schulen erklärte, dass 86 Prozent der Schüler*innen People of Color seien und ihre Herkunftsländer auf den gewöhnlichen Karten klein und unwichtig dargestellt seien. Ein anderer Weg, etwas gegen die Überhöhung des globalen Nordens zu tun, wäre laut Netzbandt beispielsweise, die Karten so aufzuhängen, dass der Süden oben liegt. Im Universum gibt es schließlich kein oben und unten. Und für Schulen gibt es einen anderen ebenso simplen wie genialen Lösungsansatz: Statt einer Karte an der Wand sollte einfach ein Globus in jedem Klassenzimmer stehen. Camares Amonat würde jetzt gerne eine Afrika-Rundreise machen, um zu sehen, wie riesig dieser Kontinent wirklich ist.


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Es gibt keine simple Erklärung Seit Columbine häufen sich Amokläufe an Schulen und Universitäten in den USA. Die Soziologin Anne Nassauer forscht an der FU, wie es zu dieser extremen Form von Gewalt kommen kann. Dabei arbeitet sie auch mit Smartphone-Videos. Text: Vic Schulte Illustration: Lucie Hort

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ue Klebold entschließt sich nach 17 Jahren, ihre Geschichte zu erzählen. Sie beginnt im April 1999 an der Columbine High School in Colorado: »Mein Sohn Dylan und sein Freund Eric haben zwölf Schüler*innen und einen Lehrer getötet, mehr als 20 weitere Menschen verletzt und sich danach das Leben genommen.« Klebold ist die Mutter einer der beiden Columbine-Schützen. Im November 2016 hält sie auf der medizinischen Technologiekonferenz TEDMED in Kalifornien einen Vortrag über ihre Suche nach Gründen und Warnsignalen für den Amoklauf ihres Sohnes. Klebold erzählt, ihr werde oft vorgeworfen, dass sie die gewaltsame Tat ihres Sohnes hätte kommen sehen müssen. Doch sie betont, dass es keine einfachen Antworten gebe.

Die empirische Sozialforschung versucht, Antworten zu finden. Anne Nassauer, Soziologieprofessorin des John-F.-KennedyInstituts, analysiert Amokläufe. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist Gewalt, wozu auch Schulamokläufe zählen, da sie eine drastische Form physischer Gewalt darstellen. In einem aktuellen Projekt vergleicht sie den Einfluss verschiedener Faktoren und untersucht, ob spezifische Kombinationen solcher Faktoren zu Amokläufen führen können. Sie greift hierbei auch auf die Ergebnisse des Projekts »Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt« (TARGET) zurück, das bis Mitte 2016 lief. Das Programm wurde in einem Forschungsverbund aus FU, den Universitäten Bielefeld, Gießen, Darmstadt und Konstanz und der Deutschen Hochschule der Polizei Münster durchgeführt und analysierte vorwiegend deutsche Fälle. Im internationalen Vergleich gebe es in Deutschland wenige Amokläufe, erklärt Nassauer. In den USA hingegen seien sogenannte School Shootings und auch Amokläufe an Universitäten unverhältnismäßig häufig. Die Forschung zeige hierfür eine Vielzahl an Gründen: Neben einem höheren Anteil an sozialer Ausgrenzung und Bullying sei die Gesundheitsversorgung für Menschen mit psychischen Problemen schlecht. Ihnen würden häufig direkt Psychopharmaka wie Prozac verschrieben, anstatt sie intensiver zu behandeln. Diese Medikamente können Suizidgedanken bei Betroffenen in jungem Alter nachweislich steigern. Hinzu kommt der einfache Zugang zu Schusswaffen und eine Art der Medienberichterstattung, die Amokläufer*innen eine große Bühne bietet. Durch eine sensationsgierige Darstellung können die Täter*innen zu Vorbildern für Nachahmer*innen

werden. Auch spezifische Männlichkeitskonzepte und kulturelle Vorstellungen von Gewalt als effektive und »männliche« Problemlösungsstrategie können eine Rolle spielen. Sue Klebold legt in ihrem TED-Talk einen deutlichen Fokus auf den Einfluss psychischer Probleme. Sie fordert eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung für psychisch kranke Menschen im Allgemeinen. Nassauer hält Klebolds Ansatz grundsätzlich für sinnvoll und sieht in dem TEDBeitrag das Potenzial, durch Stimmen betroffener Eltern eine öffentliche Debatte voranzutreiben. »Viele der Amokläufer in den USA waren psychisch krank – psychopatisch, psychotisch oder depressiv – und erhielten keine angemessene Hilfe. Manche Täter oder deren Freundinnen und Freunde suchten vor einem Amoklauf tatsächlich Hilfe – doch ohne Erfolg«, erklärt Nassauer. Sie warnt jedoch vor der Stigmatisierung psychisch kranker Menschen und betont, dass kein einzelner Faktor als ausschlaggebend identifiziert werden könne. Die Kombination sei entscheidend. Psychische Gesundheit ließe sich nur schwer analysieren, weil sie als Faktor in der Forschung nicht klar zu konzeptualisieren sei. Dazu reichen spekulative Einschätzungen von Angehörigen oder Psycholog*innen im Nachhinein nicht aus, sondern eine zuverlässige Datenlage aus verschiedenen Quellen sei notwendig. Erfolgversprechend sei hingegen die Analyse von Videoaufzeichnungen der Gewalttaten. »Smartphone-Videos, Überwachungskameras und Aufnahmen von Drohnen haben das Forschungsfeld über Gewaltentstehung revolutioniert«, sagt Nassauer. Die Forschung könne so inzwischen aus einer breiten Datenquelle schöpfen. Sie erklärt, dass die Forscher*innen durch diesen exponentiellen Anstieg visueller Daten in der Lage seien zu analysieren, wie Amokläufe tatsächlich ablaufen, wie Täter konkret vorgehen und in welchen Situationen sie aufgeben oder überwältigt werden können.

Vic Schulte ist froh, dass sie in diesem Text sogenannte »Killerspiele« nicht erwähnen musste.


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»Ein Computer ist kein lyrisches Ich« Burkhard Meyer-Sickendiek erforscht Rhythmen in Gedichten mithilfe einer Software. Im Interview erklärt er, wieso Computer dem Menschen beim Dichten trotzdem nicht überlegen sind. Interview und Foto: Felix Lorber FURIOS: Herr Meyer-Sickendiek, Ihr Projekt «Rhythmicalizer« sorgt derzeit für großes Aufsehen in Literaturwissenschaft und Informatik. Was hat es damit auf sich? Burkhard Meyer-Sickendieck: Uns geht es bei dem Projekt um drei Dinge: Erstens wollen wir eine Verslehre nachvollziehen, die aus den USA kommt: Die free verse prosody. Diese Theorie versucht, den Rhythmus moderner und postmoderner Lyrik zu beschreiben. Die germanistische Literaturwissenschaft geht immer noch davon aus, dass diese Gedichte kein beschreibbares Metrum haben. Wir untersuchen dafür einen großen Korpus an Gedichten, die von den Autor*innen selbst eingesprochen wurden. Um rhythmische Muster in den Gedichten bestimmen zu können, benutzen wir Techniken der Informatik: Wir bringen also einer Software bei, diese Muster zu erkennen. Sie wollen auch die Einflüsse von Hip-Hop oder SlamPoetry auf die moderne Prosodie untersuchen. Welche gibt es da? Wir vermuten in der Slam-Poetry oder im Hip-Hop bestimmte Muster, die wir ähnlich analysieren können wie klassische metrische Muster. Das wichtigste Muster ist hier die Synkope. Diese Technik hat ihre Wurzeln unter anderem in der Jazz-Musik und ist bereits in frühen Gedichten aus den 1920er-Jahren erkennbar. Nur ist sie dort natürlich längst nicht so schnell gesprochen. In Slam-Poetry und Rap wird diese Grundfigur beschleunigt, aber als Prinzip beibehalten. Daher wollen wir in unserem Projekt mehrere hundert Gedichte untersuchen und schauen, wo wir Synkopen finden. Unsere Software soll dann auch in der Lage sein, Gemeinsamkeiten in unterschiedlichen Sprachen zu finden.

Stolz wie Oskar: Meyer- Sickendiek präsentiert seine Gedicht-Software

Ihr Computer studiert mit der Software praktisch Literatur, später soll er eigenständig handeln können. Hand aufs Herz - werden in der Zukunft Computer die besseren Gedichte verfassen? Es geht zunächst einmal nur darum, mit Hilfe des Computers Gedichte schneller aufnehmen und analysieren zu können. Was er dann erfasst und wie er das einordnet, muss aber immer noch einmal von Menschen überprüft werden. Von daher würde ich mir da noch keine futuristischen Utopien ausmalen. Sollen schließlich neue Gedichte geschaffen werden, darf man nicht die Bedeutung dessen unterschätzen, was man traditionellerweise als »lyrisches Ich« bezeichnet. Dieses setzt sich aus geistiger und sinnlicher Wahrnehmung, aber auch aus Erinnerung oder Vorahnung zusammen. Das kann der Apparat nicht bieten Menschen aber schon. Einen Hip-Hop-begeisterten Professor interviewen? Davon hat Felix Lorber schon immer geträumt!

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Der empörte Student

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Die sogenannte Bildungsreise nach Berlin gehört fast in jeder Schule zum Pflichtprogramm. Ganz zum Leid unseres Autors, der nichts mehr hasst, als pubertierende Plagegeister auf Tour. Eine Wutschrift. Text: Theo Wilde Illustration: Freya Siewert Liebe Leitung der Klasse 10b der Erika-Burstedt Schule in Detmold, aus Gründen der Sorge um meine geistige Gesundheit möchte ich Sie bitten, Bildungsreisen mit Schüler*innen in Zukunft statt nach Berlin lieber nach München oder Stuttgart zu machen. Ich musste nämlich feststellen, dass ich mit meinen Strategien zur Umgehung nerviger Tourist*innengruppen bei Schüler*innengruppen auf Granit beiße. Sie sind um einiges unberechenbarer als die restlichen Berlin-Reisenden. Da sie die Bundeshauptstadt vor allem unter der Woche malträtieren, muss man sich an sämtlichen Werktagen vor ihnen in Acht nehmen. Am schlimmsten ist es dann, wenn Sie Ihren Schützlingen Freilauf gewähren und sie sich euphorisch in alle Richtungen verstreuen. So verschlägt es die verkaterten Horden aus der Provinz bisweilen sogar in das abgelegene Dahlem, wo sich sonst Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Aber nicht nur das macht sie zu den unangefochtenen Spitzenreiter*innen im Ranking der nervigsten Tourist*innen. Sie und Ihre pubertierenden Mitreisenden scheinen auch ausschließlich aus Gegenden zu kommen, in denen die Postkutsche immer noch das Verkehrsmittel der Wahl darstellt. Nur so kann ich mir erklären, warum sie nicht in der Lage sind, mehr als eine Tür zu benutzen, wenn sie im Pulk eine S-Bahn betreten möchten. Auf diese Weise dazu verdammt, in der Bahn zu bleiben, wird man von den schulpflichtigen Horden zertrampelt, die im Handumdrehen jeden S-Bahn-Waggon in eine Mischung aus Ameisenhügel und Schützengraben verwandeln. Während der Fahrt im überfüllten Waggon stehen Ihre Schutzbefohlenen am liebsten auf den Füßen unbedarfter Mitreisender. Das Konzept, sich während der Fahrt festzuhalten, scheint zudem nicht überall in Deutschland verinnerlicht

worden zu sein. Auf jedes Bremsen und Ruckeln der Bahn folgt nämlich eine praktische Veranschaulichung der Massenträgheit - sehr zum Leidwesen der restlichen Passagiere, die unter den Körpern der Jugendlichen begraben werden. Akustisch begleitet wird diese öffentliche Demonstration rücksichtslosen Vandalismus von stimmbrüchigem Geschrei und lautem Gelächter. Nichts trübt die Vorfreude der pubertierenden Blagen auf den Besuch bei Dunkin’ Donuts und dem Ampelmännchen-Shop am Nachmittag, gefolgt von so einem richtig typisch Berliner Abend in der alten Kulturbrauerei. Sie liefern damit Verfechter*innen von Kürzungen im Bildungssektor Schützenhilfe. Denn solange noch genug Geld zur Verfügung steht, um es ganzen Jahrgängen zu ermöglichen, in Berlin Sodom und Gomorrha vom Zaun zu brechen, kann es deutschen Bildungseinrichtungen so schlecht nicht gehen. Längst werden an den Pforten Berlins Schilder in den Boden gerammt: Refugees welcome, Oberstufen nicht! Selbst ihr müsst zugeben, dass es nur fair wäre, uns künftig in Ruhe zu lassen. Hochachtungsvoll, ein leidender Bewohner Berlins

FURIOS 18 IMPRESSUM Herausgegeben von: Freundeskreis Furios e.V. Chefredaktion: Hannah Lichtenthäler, Hanna Sellheim (V.i.S.d.P., Freie Universität Berlin, JK 28/106, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin) Ressortleitung Politik: Lucian Bumeder, Marius Mestermann Ressortleitung Campus: Paul Lütge, Theo Wilde Ressortleitung Kultur: Corinna Cerruti, Karolin Tockhorn Ressortleitung Wissenschaft: Corinna Segelken, Rebecca Stegmann Layout: Adrian Sanchez, Victoria Schulte, Hanna Sellheim Chefin vom Dienst: Corinna Schlun Redaktionelle Mitarbeit an dieser Ausgabe: Camares Amonat, Alexandra Brzozowski, Lucian Bumeder, Lukas Burger, Corinna Cerruti, Anna-Sophia Färber, Lucie Hortmann, Hannah Lichtenthäler, Felix Lorber, Paul Lütge, Marius Mestermann, Adrian Sanchez, Victoria Schulte, Corinna Segelken, Hanna Sellheim, Rebecca Stegmann, Karolin Tockhorn, Theo Wilde

Illustrationen: Eugènia López Duran, Julia Fabricius, Jannis Fahrenkamp, Lucie Hort, Jette Pfeiffer, Manon Scharstein, Lea Scheidt, Freya Siewert Fotografien: Lucian Bumeder, Hannah Lichtenthäler, Marius Mestermann, Rebecca Stegmann Titelgestaltung: Hannah Lichtenthäler, Victoria Schulte, Corinna Segelken, Hanna Sellheim Lektorat: Alexandra Brzozowski und Jonas Horstkemper ISSN: 2191-6047 www.furios-campus.de redaktion@furios-campus.de Jede*r Autor*in ist im Sinne des Pressegesetzes für den Inhalt ihres*seines Artikels selbst verantwortlich. Die in den Artikeln vertretenen Meinungen spiegeln nicht zwangsläufig die Ansicht der Redaktion wider. Gemäß dem Urheberrecht liegen die Rechte an den einzelnen Werken bei den jeweiligen Autor*innen.


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FÜR DIE OPTIK IM HEFT SORGTEN:

Eugènia López Duran hat vor kurzem gelernt, wie ein Smartphone funktioniert. Sie ist halt überfordert.

Manon Scharstein hat für FURIOS schon die absurdesten Sachen gegoogelt.

Jannis Fahrenkamp hat sich gerade 25 kg Comictrash aus den 80ern gekauft und amüsiert sich damit prächtig.

Lea Scheidt »I like to beat the brush.« – Bob Ross

Julia Fabricius hat nun gegen ihre Angst vor der perfekte Zeichnung gewonnen: Sie malt einfach, was ihr gefällt und am liebsten mit Aquarell.

Lucie Hort – Augen zu und durch.

Da Jette Pfeiffer in einer Chaos-WG in HH St.Pauli wohnt, liebt sie lange Spaziergänge an der frischen Luft und Kaffee.

Freya Siewert hat einen Karrieresprung gemacht; von Zeichnungen für das GoldfischCafé zur FURIOS.



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