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ALTE LEIPZIGER

„Man muss den Kunden dort abholen, wo er ist“

Die Corona-Krise hat es gezeigt. Der Kunde kann auch digital abgeholt werden. Die Mischung aus persönlicher Beratung und digitalen Selfservices gewinnt, meint Dr. Rolf Wiswesser, Vorstand Maklervertrieb Allianz VersicherungsAG, auf die Frage, wie der Vertrieb der Zukunft aussehen wird. Außerdem erklärte der 56-Jährige im finanzwelt-Interview, wie das richtige Kundenerlebnis aussieht und wie man intelligent alle Kanäle vernetzt.

finanzwelt: Herr Dr. Wiswesser, das Jahr 2020 stand bislang ganz im Zeichen von COVID-19. Welche Auswirkungen hat Corona Ihrer Meinung nach auf das Kundenverhalten und die Nutzung verschiedener Vertriebswege in der Versicherungsbranche? Dr. Rolf Wiswesser» Die Auswirkungen sind je nach Sparte unterschiedlich. In der Sachversicherung sah man die Effekte ganz deutlich. Die Kfz-Zulassungen sind ja merklich zurückgegangen. Das hatte einen unmittelbaren Effekt auf die Neugeschäftsentwicklung. Dann gab es auch Kunden, die ihre Fahrzeuge in der Zeit nicht gebraucht und deshalb eine Stilllegung vorgenommen haben. In der Presse wurde auch viel über das Thema Betriebsschließungsversicherung diskutiert. Letztendlich geht es hierbei hauptsächlich um Bedingungen und Definitionen. Beim Lebensversicherungsgeschäft gab es auch deutliche Rückgänge, weil Kunden in dieser Phase für Fragen zur Altersvorsorge wenig Zeit und Nerven hatten. Wir haben aber auch Bereiche gehabt, wo deutliche Impulse da waren: beispielsweise in der Krankenversicherung und der Zusatzversicherung. Und was man generell festhalten kann, ist, dass die Digitalisierung in dieser Phase sowohl von Vermittlern als auch von Kunden deutlich intensiver genutzt worden ist. Das hatte natürlich insbesondere für digitale Absatzkanäle Vorteile.

finanzwelt: Bleibt das ein Trend, sprich, wird aufgrund von Corona die Digitalisierung in der Versicherungsbranche auch mittel- und langfristig stärker wachsen? Dr. Wiswesser» Ja! Corona wird die Digitalisierung sicherlich auch langfristig beschleunigen. Die Digitalisierung gibt es schon seit langem. Aber Verhaltensänderungen brauchen immer eine Initialzündung, die jetzt Corona geliefert hat. Nun sehen die Beteiligten plötzlich, dass sie einen anderen Weg des Datenaustauschs und der Kommunikation finden müssen. Das hat natürlich dann deutliche Effekte gehabt. Zum Beispiel haben sich in unserem Maklerportal die Nutzungszahlen verdoppelt. Die Vermittler waren bereit, Web conferencing und Tools einzusetzen. Und wenn man das einmal gelernt hat, dann bleibt das auch. Die Kunden reagieren da übrigens ähnlich.

finanzwelt: Ist es nicht so, dass der Kunde von der Akzeptanz her nie das Problem war, sondern vielmehr, dass der Makler gedacht hat, dass der Kunde das Problem wäre? Dr. Wiswesser» Die Makler haben sicherlich unterschätzt, in welchem Umfang sich Kunden für solche Selfservices interessieren. Wir sehen aber auch hier einen deutlichen Impuls wegen Corona. Unsere krankenversicherten Kunden haben coronabedingt und natürlich auch, weil andere Kanäle schwieriger zu bedienen waren, zu einer Verneunfachung der digitalen Anfragen für unseren Service ‚Doc on Call‘ geführt. Für die Allianz Gesundheits-App stiegen die Anmeldungen im März gegenüber Februar um 25 %.

finanzwelt: Müssen sich Makler Gedanken machen über die Akzeptanz von Selfservices bzw. die neuen technischen Möglichkeiten, oder können sie davon sogar profitieren? Dr. Wiswesser» Ich bin davon überzeugt, dass der Gewinner allein die Mischung aus persönlicher Beratung und digitalen Selfservices ist. Ein rein digitaler Vertrieb hat immer den Nachteil, dass er bestimmte Beratungsbereiche des Kunden nicht abdeckt. Auch ist es für einen rein digitalen Vertrieb schwierig, Kunden auf seine Plattform zu bringen. Das Beste holt man aus intelligenteren, digitalen und persönlichen Interaktionen. Man muss den Kunden dort abholen, wo er ist. Manche Services will der Kunde schnell und sofort haben, da sind digitale Kanäle der bessere Weg. Aber manchmal ergibt es mehr Sinn, den Kunden persönlich zu besuchen oder ihn in einer Videokonferenz persönlich zu beraten. Die ideale Kombination ist das intelligente Vernetzen dieser Kanäle, das schafft das richtige Kundenerlebnis. Das verstehen die Makler und Vermittler bestens.

finanzwelt: Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf die Zusammenarbeit zwischen Versicherern und Maklern, gerade in Hinsicht auf Beratung und Verkauf oder Datenauswertung? Dr. Wiswesser» Ein einfaches Beispiel: Der Kunde steht an der Zulassungsstelle und braucht spontan eine Versicherungsbestätigung. Wird er sich dann wieder ins Auto setzen, irgendwo hinfahren, um sich die Doppelkarte von irgendjemandem zu holen? Nein! Er wird das digital machen. Diese Selfservices finden Sie heute auch auf der Homepage eines Vermittlers. Dort kann ich mich einloggen und mir die Unterlagen herunterladen. Ein zweites Beispiel: Wenn ich mit dem Auto einen Un

fall oder eine Panne habe und ad hoc eine Lösung brauche. Ich will jetzt nicht warten, bis in zwei Tagen jemand von der Allianz auftaucht und eine Schadensbegutachtung macht. Das muss möglichst schnell und spontan gehen. Hier ist der Berater gefordert, in seiner Dienstleistung eine digitale Unfallbesichtigung mit anzubieten. Es ist nicht seine Aufgabe, das selbst zu machen. Aber er muss sich mit einem Partner zusammentun, der in der Lage ist, die entsprechende Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.

finanzwelt: Aber die Infrastruktur muss umgekehrt auch immer wieder den Berater informiert halten, oder? Dr. Wiswesser» Sehr richtig. Es wäre sehr unglücklich, wenn der Kunde den Unfallservice nutzt, und der Berater auch nach drei Tagen nicht weiß, dass da was war. Insofern glaube ich, dass an solchen Schnittstellen das intelligente Vernetzen von digitaler und persönlicher Beratung essenziell ist.

finanzwelt: Kommen Effekte durch schnellere und schlanke Prozesse oder der Einsatz von KI nur dem Versicherer zugute, oder wer profitiert noch davon? Dr. Wiswesser» Am Ende wird das immer dem Kunden zugutekommen, denn der Wettbewerb wird dafür sorgen, dass die Ersparnisse, die entstehen, in die Prämienkalkulation einfließen und der Kunde von dem niedrigeren Preis profitiert. Der zentrale Nutzen ist immer, ein besseres Produkt zu schaffen und dem Kunden bessere Prozesse zur Verfügung zu stellen. Je mehr Kundendaten wir haben, desto besser sind wir in der Lage, das Risiko zu tarifieren. Das führt stets zu der Diskussion, ob da nicht die Solidargemeinschaft möglicherweise untergraben wird, also derjenige, der ein ‚schlechteres‘ Risiko hat, mehr zahlen muss und dann vielleicht keinen Versicherungsschutz mehr bekommt.

finanzwelt: Bekenne mich schuldig. Als „das Ende der Solidargemeinschaft“ wird so etwas von Journalisten gerne genannt ... Dr. Wiswesser» Das ist eben falsch. Wir müssen uns klarmachen, was eigentlich ‚Versicherung‘ heißt. Versicherung heißt, dass das Kollektiv sich das objektive Risiko teilt. Zu wenig oder unvollständige Information heißt nur, dass innerhalb eines Kollektivs quersubventioniert wird. Das ist eigentlich nie das Modell der Versicherung gewesen. Das Modell der Versicherung heißt zu wissen, wie hoch das Risiko ist, und dann wird der Zufall versichert. Denn der Zufall lässt sich eben nicht kontrollieren. Wenn ich aber ein Kollektiv darauf aufbaue, dass lauter Häuser vor dem Deich gebaut werden, dann werden diejenigen, die hinter dem Deich leben, irgendwann nicht mehr bereit sein, für diejenigen mitzuzahlen, die vor dem Deich gebaut haben. Das zerstört dann das Versichertenkollektiv. Mir ist es wichtig, dass wir dieses Verständnis auch in die Vermittlerschaft tragen: Dass mehr Information und damit bessere Risikoabsicherung eigentlich fair ist, weil es das Kollektiv schützt und damit überhaupt die Grundvoraussetzung dafür ist, dass wir funktionierende Versichertenkollektive aufbauen können. (lvs)

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