Offensichtlich Verborgen

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Offensichtlich Verborgen

Monika Krücken (Hg.)

160524_Cover_Cover 23.05.16 16:18 Seite 1

SCRIPTORIUM CAROLINUM Band 3

Monika Krücken (Hg.)

Offensichtlich Verborgen Die Aachener Pfalz im Fokus der Forschung

Geymüller


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Offensichtlich Verborgen Die Aachener Pfalz im Fokus der Forschung

Herausgeberin Monika Krücken

im Auftrag der Stadt Aachen

Mit Beiträgen von Josef Hegger Judith Ley Isabel Maier Harald Müller Christian Raabe Sebastian Ristow Sergej Rempel Andreas Schaub Marc Wietheger


Bildnachweis A. Herrman: 2, 6 | A. Schaub Umschlagseite 1+4 Alle nicht gekennzeichneten Abbildungen stammen von den jeweiligen Autoren. Trotz sorgfältiger Recherche konnten leider nicht alle Rechteinhaber ausfindig gemacht werden. Eventuelle Ansprüche werden vom Verlag im Rahmen üblicher Vereinbahrungen abgegolten.

Das Projekt wurde gefördert durch

Impressum 1. Auflage, Mai 2016 © 2016 Geymüller | Verlag für Architektur, Aachen – Brüssel – Berlin ISBN 978-3-943164-16-9 Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar unter http://dnb.ddb.de. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Freigrenzen des Urheberrechtes ist ohne die Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat: Dr. Anke Kappler Gestaltung und Satz: [synthese] – Björn Schötten Druck und Bindung: GRASPO CZ, a. s., Zlín (CZ) Printed in Czech Republic


Vorwort Marcel Philipp

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Ein Forschungsprojekt entsteht Monika Krücken

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Die Aachener Pfalz Von fränkischen Anfängen zum Symbolort des Römisch-Deutschen Reichs Harald Müller

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Forschungsgeschichte des Aachener Rathauses Judith Ley

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Die Aufarbeitung der archäologischen Quellen im Bereich der inneren Pfalz von der Spätantike bis zum Ende des Frühmittelalters Sebastian Ristow

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Übersicht über die Grabungen seit Beginn des Projektes Andreas Schaub

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Inhalte, Zielsetzung und Methoden der Bauforschung Christian Raabe

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Architekturaufmaß und Baudokumentation am Rathaus und im Aachener Pfalzbezirk Marc Wietheger

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Die Pfalzenforschungsdatenbank Marc Wietheger

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Geschichte wird entblättert Judith Ley Marc Wietheger

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Praktische Denkmalpflege am Rathaus Konservierung und Restaurierung der Karlsfresken im Jahre 2012 Isabel Maier

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Praktische Denkmalpflege am Rathaus Glasbetonfenster des Aachener Rathauses Sergej Rempel Josef Hegger

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Resümee Ein Projekt erreicht mehr als sein Ziel Monika Krücken

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Anhang Zeittafel Pufferzone Welterbe Glossar Literatur Danksagung

184 184 188 192 196 200

INHALT


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VORWORT

Dom und Rathaus sind die Wahrzeichen Aachens schlechthin, in der Mitte der Stadt gelegene Orientierungspunkte, hervorstechende Bauwerke inmitten der Stadtlandschaft, Denkmäler voller Symbolik und Gesamtkunstwerke. Dieses unverwechselbare Architekturensemble ist aber viel mehr, es trägt symbolische Bedeutung, stehen diese Monumente doch für den europäischen Gedanken, für den auch der als Erbauer beider Bauwerke angesehene Kaiser Karl der Große bis heute in Anspruch genommen wird. Wird, was der Regelfall ist, der Internationale Karlspreis im Krönungssaal des Aachener Rathauses vergeben, fehlt im Urkundentext dann auch nicht der dezente Hinweis, dass es sich bei dieser Lokalität um die ehemalige Kaiserpfalz handelt. Als Herrscherresidenzen, königliche Machtzentren und Regierungsstätten wurden Pfalzen seit langem bereits erforscht. Auch über die Aachener Pfalz liegen vielfältige Studien und Forschungsergebnisse vor, die Fachhistorikern, aber auch interessierten Laien ein Bild über Funktion und Gestaltung dieses Ortes monarchischer Herrschaftsausübung vermitteln. Doch gerade in den letzten Jahren haben interdisziplinäre Projekte neue Erkenntnisse gebracht, die manches bisher als unumstößlich Angesehenes infrage stellten und tradierte Vorstellungen um neue Aspekte ergänzten. Hinzu kommt, dass der Aachener Dom als Sakralbau bislang besser erforscht wurde als das Aachener Rathaus. Doch dank der Aktivitäten des erst im Jahr 2002 gegründeten Rathausvereins Aachen sowie der im Jahr 2009 gegründeten Stiftung Rathaus Aachen wurde bei Fachleuten und breiterer Öffentlichkeit ein neues Interesse an dem auf die Königshalle Karls des Großen zurückgehenden Gebäude geweckt. Archäologische Untersuchungen und bauhistorische Forschungen konnten mit vielfältiger Förderung und unter Einsatz modernster Methoden Ergebnisse liefern, die manchmal zu einem Perspektivenwechsel herausfordern. Davon kann sich jeder Interessierte in diesem Band, der die Ergebnisse des Forschens und Suchens der letzten Jahre zusammenträgt, überzeugen. Dabei ist das hier Zusammengetragene kein Abschluss-, sondern ein Zwischenbericht. Viele Fragen bleiben offen, ihre Beantwortung muss weiterer Erforschung vorbehalten sein. Es bleibt also spannend, den Aachener Pfalzbezirk immer wieder neu zu untersuchen und unsere Kenntnis über die Historie der Aachener Pfalz zu erweitern. Allen, die an der hier vorgelegten Dokumentation der Erträge neuester Forschungen zur Aachener Pfalz mitarbeiteten, gilt mein Dank und meine Anerkennung. Den hoffentlich zahlreichen Lesern dieser Publikation wünsche ich besten Erkenntnisgewinn, der Motivation geben kann, das Interesse an der Pfalzenforschung nicht zu verlieren.

Marcel Philipp Oberbürgermeister


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1 Luftbild Pfalz mit Stadtkontext. Foto: A. Schaub.


EIN FORSCHUNGSPROJEKT ENTSTEHT

Anlass der Forschung Wer Entscheidungen in der Denkmalpflege trifft, der sollte wissen, was er tut. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um einen einzigartigen Gebäudekomplex handelt wie die Aachener Pfalzanlage. Hier manifestierte sich zur Zeit Karls des Großen die religiöse und politische Macht in einem Ensemble aus Bauwerken und umschlossenen Plätzen. In dieser räumlichen Konzentration, Proportion und Repräsentanz ist ihre Einmaligkeit auch heute noch spürbar. Innerhalb der Pfalzanlage lag der Forschungsschwerpunkt des hier vorgestellten Projektes auf dem Rathaus, welches Teile der karolingischen Palastaula (aula regia) in sich birgt, aber auch viele spätere Umbauten und Bauphasen abbildet. Denkmalpflegerische Entscheidungen werden tagtäglich bei Sanierungen getroffen: Ist die beabsichtigte Änderung denkmalverträglich? Welche Materialwahl ist die Richtige? Wie kann langfristig die Substanz von Bauwerken gesichert werden? Falsche Entscheidungen sind hier selten reversibel und bedeuten unter Umständen Substanzverlust und falsche Investitionen. Grundlage bei diesen Entscheidungen ist das Wissen, welches über das Denkmal zusammengetragen werden kann. Eine Vielzahl von Fragen will beantwortet werden: Wie ist das Bauwerk zu datieren? Welche Bauphasen lassen sich differenzieren? Gibt es Aussagen zu Nutzung und Bestimmung des Bau- und Bodendenkmals, gibt es Hinweise auf eine größere Ordnung, können Analogien abgeleitet werden? Nur mit den Antworten hierauf können die richtigen Entscheidungen getroffen werden. In aller Regel möchten wir mehr über die Bauwerke erfahren, die es zu pflegen gilt, als Zeit und Geld erlauben. Eine Zeitreise zu machen ist wohl der Traum eines Jeden, der sich für Geschichte interessiert. Im übertragenen Sinn ist dies bei der Umsetzung des Investitionsprogramms „nationale UNESCO Welterbestätten“ durchaus gelungen. Der folgende Bericht handelt von den Forschungsergebnissen der verschiedenen Disziplinen und deren Methoden sowie von vielen anschaulichen Beispielen. Sie führen uns in die Geschichte der Aachener Pfalz und lassen vergangene Zeiten aufleben.

Monika Krücken


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Projektaufruf des Bundes In den Jahren 2009 und 2010 konnten mit dem Konjunkturförderprogramm „nationale UNESCO- Welterbestätten“ des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau- und Reaktorsicherheit Maßnahmen beantragt werden, die der Erhaltung, Sanierung oder Weiterentwicklung nationaler UNESCO-Kultur- und Naturerbestätten dienen und modellhaften Charakter für die städtebauliche Entwicklung der Welterbekommunen besitzen. Die Programmausrichtung ist also umfassend formuliert und geht weit über eine Förderung der Welterbestätten selbst hinaus. Aufgrund der Anforderungen und Auswirkungen der Stätten auf ihr Umfeld scheint dieser Ansatz nicht nur gerechtfertigt und willkommen, sondern er birgt eine große Chance für die Kommunen selbst in ihrem Selbstverständnis und ihrer Ausrichtung auf das Welterbe. Im Jahr 2009 erhielt die Stadt Aachen eine Förderung in Höhe von 3,4 Mio. Euro. Auch der zweite Aufruf im Jahr 2010 wurde mit einer der Antragstellung entsprechenden Fördersumme in Höhe von 2 Mio. Euro bewilligt. Hier stand die Rathaussanierung mit der Pfalzenforschung im Mittelpunkt.

2 Weltrbestätten in Deutschland.

Das Teilprojekt lautet: „Rathaus und Pfalzenforschung Pfalz Aachen“. Mit diesem Titel wurde direkt der Zusammenhang zum dringend erforderlichen Substanzerhalt des Rathauses deutlich, der von den Erkenntnissen aus der Pfalzenforschung profitiert. Die anstehenden Sanierungsarbeiten des Rathauses betreffen die Fassadensanierung des Ark’schen Treppenhauses, die denkmalpflegerische Instandsetzung der benachbarten Gebäude „Postwagen“ und „Haus Eulenspiegel“, die Dachsanierung der undichten Schiefereindeckung sowie die Mauerwerkssanierung des Marienturmes, die Dachsanierung des Granusturms, die Sanierung der Fenster, des Figurenschmucks und der Fresken, Stuckaturen und Wandbespannungen, Holzvertäfelungen und Fußböden – ein fulminantes Programm! Ebenfalls wurde die Freiraumgestaltung unter Federführung der Abteilung Stadterneuerung weiter gefördert. Das Programm sah in beiden Jahren eine Förderung von zwei Drittel der Investitionssumme vor. Das fehlende Drittel war von den Kommunen zu erbringen. Als Konjunkturförderprogramm konzipiert, sollten die gewährten Gelder nicht nur in die richtigen Maßnahmen fließen, sondern auch zeitnah abgerufen werden, was in der Umsetzung durchaus zu „sportlichen“ Herausforderungen in der knappen Zeit weniger Wochen von Projektaufruf, Antragsentwurf, entsprechendem Ratsbeschluss und Beauftragung gemäß Tariftreue- und Vergabegesetz für alle Projektbeteiligten führte. Insgesamt sind für beide Projektaufrufe bundesweit 220 Mio. Euro an 47 Kommunen verausgabt worden.1 Die Pfalzenforschung dient als investitionsvorbereitende und konzeptionelle Maßnahme innerhalb des geförderten Projekts. Letztendlich ist sie viel mehr: Sie sorgt nicht nur für die richtigen denkmalpflegerischen Voraussetzungen und Maßnahmen an den Objekten, sondern sie erfüllt auf vielfache Weise den Wunsch von Bürgerinnen und Bürgern, mehr über die Geschichte des Ortes und seiner Denkmale zu erfahren. Dafür sprechen nicht nur das rege Interesse und die hohen Besucherzahlen an öffentlichen Veranstaltungen zu diesem Kontext, sondern auch die vielen persönlichen Gespräche, die es mit den verschiedenen Akteuren gegeben hat und die von einer fachlichen Auseinandersetzung mit der Materie geprägt waren. Nach wie vor rangiert hier die Frage nach den Wohnräumen Karls des Großen an erster Stelle. Es gehört zu den wichtigen Aufgaben der Städte, allen den Wert der jeweiligen Welterbestätten zu vermitteln und eine gemeinsame Identität zu stiften. Deshalb sollte der Anspruch an die Pfalzenforschung nicht nur einen wissenschaftlich korrekten Umgang erfüllen, sondern insbesondere auch Vorbildwirkung im Umgang und in der


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2 Vermittlung von Geschichte kann kinderleicht sein. Š Stadt Aachen / Foto: Willi LeistenLorent

4 Marc Wietheger erläutert den Forschungsstand im Granusturm.


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Darstellung des Welterbes für andere Welterbestätten ausüben. Auch im intensiven Austausch mit vergleichbaren Welterbestätten wird deutlich, dass die alltäglichen, sozialen und historischen Dimensionen auf ein großes Interesse innerhalb der Bevölkerung stoßen und innovativer Formate bedürfen. Dabei machten wir im Austausch mit den Ministerien, beauftragten Büros und den beteiligten Kommunen die Erfahrung, dass zwar ebenfalls konzeptionelle Ansätze und Planungen gefördert wurden; ein reines Forschungsprojekt wie in Aachen mit der Pfalzenforschung wurde andernorts jedoch nicht betrieben. An dieser Stelle gilt mein Dank dem Rat der Stadt Aachen, der hier mit seinem Votum die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Dokumentation als Grundlage weiterer Sanierungsarbeiten am Rathaus und seinem Umfeld erkannt und gefördert hat. Während der Aachener Dom (Marienkirche) als gut erforscht gelten darf und mit dem Oktogon ein deutlich sichtbares Zeugnis der Bedeutung der Aachener Pfalzanlage ausstellt, waren in der neueren Forschung die weiteren Elemente der Pfalz vielfach unbeschrieben und konnten zudem im Stadtraum nicht offensichtlich als solche wahrgenommen werden. Diese Ausgangssituation hat sich jedoch inzwischen gewandelt: Im Projektzeitraum sind etliche Publikationen als Aufsatz oder Buch erschienen, die aus dem Projekt heraus oder in Zusammenarbeit mit dem Projekt entstanden sind.2 Für das „Centre Charlemagne“ am Katschhof wurde ein neues Forschungsmodell der Pfalz konzipiert, dessen Inhalte ein Resultat dieser Arbeit sind. Ebenso gelingt es mit der Freiraumverbesserung und den Chronoskopen, Besuchern und Aachenern den besonderen räumlichen Kontext der Pfalz anschaulich nahe zu legen. Das Karlsjahr 2014 hat mit seiner Ausstellungstrias, Katalogen und Rahmenprogramm das Thema Karl der Große neu beleuchtet und fokussiert. Dabei konnte auch hier von den frisch erworbenen Erkenntnissen aus der Pfalzenforschung profitiert und zusammen mit den Grabungen der letzten Jahre ein aktuelles Bild zum Forschungsstand dargelegt werden. Als praktikabel, anschaulich und zukunftsfähig ist ein weiterer Ertrag aus der Pfalzenforschung zu beschreiben, welcher hier noch gesondert vorgestellt werden soll: Mit Hilfe der Archivsoftware MonArch3 können jegliche aus dem Projekt generierten Daten räumlich bezogen dargestellt und verwaltet werden. Ähnlich einer Präsenzbibliothek ist die Anschaulichkeit und Handhabung schlüssig, überzeugend und bildet vor allem eine Grundlage für zukünftige Forschungen, die wiederum den Fundus bereichern. Allen interessierten Anwendern soll hier die Möglichkeit eines Zugangs gegeben werden. Denn eines ist sicher: Auch wenn innerhalb der vierjährigen Arbeit ein enormer Zuwachs an Wissen über die Aachener Pfalz verzeichnet werden konnte, so haben sich infolgedessen viele neue Fragen gestellt, deren Beantwortung in der (hoffentlich nahen!) Zukunft liegt. Nach Abschluss des Projektes können einige Vorstellungen über die historischen und auch sozialen Dimensionen sowie Zusammenhänge der verschiedenen Zeitschichten konkretisiert werden.

Zwei Pole Der Aachener Dom wurde 1978 als erstes deutsches Denkmal in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Weltweit gehörte er zu den ersten Zwölf. Ausschlaggebend für die Eintragung war die karolingische Bauphase des Aachener Doms – die Marienkirche mit ihrem Zeugniswert als Meisterwerk menschlicher Schöpfungskraft, ihrer Einzigartigkeit, ihrer Vorbildwirkung für Sakralbauten, ihrer Konzeption als Idealtypus. Dies ist verbunden mit einer überragenden und zeichenhaften Funktion für die geistige und politische Erneuerung unter Karl dem Großen und die Einheit des Abendlandes sowie der Bedeutung als Krönungs5 Untertägige und aufgehende bauliche Strukturen zeugen von der komplexen und einzigartigen Anlage der Aachener Pfalz.


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ort römisch-deutscher Könige und bis heute als Pilgerstätte. Ein universeller Wert, bedeutend für die Menschheit in ihrer Einzigartigkeit, Authentizität und Integrität!4 Die Marienkirche ist Teil der karolingischen Pfalzanlage. Bildet sie mit ihrem Oktogon auf der Südseite der Anlage das geistliche Zentrum, so ist ihr auf der Nordseite der Pfalz die Regierungshalle (aula regia) als weltliches Zentrum entgegenzusetzen. Neben dem Oktogon des Aachener Doms existieren noch wesentliche aufgehende Fragmente der übrigen steinernen Pfalzgebäude. Es handelt sich hierbei um die ehemalige Regierungshalle (aula regia), in deren Ruine im 14. Jahrhundert das Rathaus der Stadt Aachen integriert wurde, sowie um Überreste des Vorhofes der Pfalzkapelle (Atrium) und eines Verbindungsganges (porticus). Dieser verband Marienkirche und Aula miteinander. Die Gebäude sind mit ihrer Kubatur bis heute fragmentarisch in ihren Nachfolgebauten erhalten geblieben, so dass sich die Ausdehnung der in karolingischer Zeit errichteten Steinbauten noch immer in der Struktur des Aachener Stadtzentrums deutlich widerspiegelt. Der Grundriss der Pfalzanlage wich von der aus römischer Zeit überlieferten Wege- und Parzellenstruktur im Winkel von 32 Grad ab. Durch die Drehung blieben dreieckige Restflächen, die sich bis heute in Form von trapezförmigen Parzellenzuschnitten, Höfen und Plätzen in Dreiecksform erhalten haben. Der Aachener Stadtgrundriss wurde so nachhaltig geprägt und ist heute als Pufferzone des Welterbes durch die Denkmalbereichssatzung Innenstadt geschützt. Die Forschungen zum Projekt beziehen sich zugleich auf das gotische Rathaus, welches im 14. Jahrhundert auf den Grundmauern der Regierungshalle errichtet wurde. Nachfolgende Bauphasen der Barockisierung, Regotisierung und der Umgang mit dem Gebäude und seiner Ausstattung im Wiederaufbau belegen seine Geschichte als bedeutender Ort städtischer Repräsentation. Bei dieser einmaligen Ausgangssituation boten sich zwei Schwerpunkte an: Als Pfalzenforschung aus der Perspektive der Bauforschung und aus archäologischer Perspektive wurden diese beantragt, in vollem Umfang bewilligt und konnten an die RWTH Aachen beauftragt werden.

Projekte und Akteure Mit dem Wissen, dass die Überreste der Aachener Pfalzanlage sowohl sichtbar übertägig als auch unter dem Bodenniveau untertägig vorhanden sind, wurden in der Konsequenz auch zwei verschiedene Disziplinen erforderlich: Zum einen eine detaillierte und wissenschaftlich exakte Baudokumentation und Analyse an den Überresten der karolingischen Pfalz, zum anderen eine Erforschung aus archäologischer Perspektive mit einer Aufarbeitung von Altgrabungen, Sichtung von Fundbeständen sowie Analysen, Datierungen und geophysikalische Prospektionen. Dabei erzielten die heutige Sicht und Methodik so manche Überraschung und lohnenswerte Ergebnisse. Die Aufgabe, die sich der Bauforschung hier stellte, war äußerst vielschichtig: Zunächst einmal wurden beide Großbauten, Dom und Rathaus, unter dem Mitwirken des Amtes für Denkmalpflege im Rheinland und der Dombauleitung in ein gemeinsames Bezugsmessnetz (3D-Polygonzug) integriert. Dieses bildete die Grundlage zur Verortung jeglicher Daten im Projekt und konnte aufgrund der Unabhängigkeit der jeweiligen Messnetze sowie der Abweichungen vom Kataster nicht vorausgesetzt werden. Im engen Schulterschluss mit den laufenden Sanierungsmaßnahmen am Rathaus wurden sämtliche Bereiche dokumentiert, je nach Erfordernis als steingerechte Dokumentation. An dieser Stelle ist die ausgezeichnete Kooperation mit dem Gebäudemanagement und den von ihm beauftragten Gewerken zu nennen. Die

6 Einrüstung des Granusturms am Aachener Rathauses während der Projektbearbeitung. Foto: R. Mehl.


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Sanierungsarbeiten Wand Dach Stadt Aachen Abteilung Denkmalpflege und Stadtarchäologie

A St ktu ad ell ta e G rc hä rab ol un og g ie en Aa de ch r en

Stadt Aachen Gebäudemanagement

Gerüst

Investitionsprogramm Nationale Welterbestätten Pfalzenforschung

Poli scher Au rag

Austa ungen

Domkapitel Stadt Aachen Vermessung

RWTH Bauforschung.

S

LVR RWTH Altgrabungen

DFG Projekt.

Arbeitskreis Pfalzenforschung

7 Akteure und Umfeld der Pfalzenforschung, Visualisierung: M. Krücken.

Bauforscher Historiker Architekten Archäologen Denkmalpfleger Bauingenieure Fotografen Vermessungsingenieure Geologen Geophysiker Restauratoren Kunsthistoriker Experten für Scherben, Textilbeton, Naturstein

Veröffentlichungen Vorträge Medien Ausstellungen im Karlsjahr Pfalzmodell Visualisierungen Chronoskope Messnetz der Pfalz Dokumentation des Rathauses Phasenplan MonArch

Abstimmung mit den geplanten Bauabläufen und die Nutzung der Einrüstung machte das groß angelegte Programm der Bauforschung erst möglich. Eine schlüssige Herangehensweise erforderte ebenso die Aufnahme von neuen archäologischen Grabungen im Pfalzkontext. Von zentraler Bedeutung erwies sich zudem die Dokumentation der historischen Ausstattung des Rathauses wie auch von Außenanlagen, etwa der neuen Rathaustreppe oder dem so genannten „Kräutergärtchen“ aus dem Kapitular Karls des Großen. Die Dokumentation fand mit Unterstützung verschiedener Methoden statt: Als digitale tachymetrisch-CAD-gestützte Online-Vermessung, teilweise mit Hilfe von 3D-Laserscanning und Photogrammmetrie, sowie als steingerechte Planzeichnung und Skizze, z. B. zur Kartierung der Bauphasen- und Materialien oder bei besonderen Details. Alle Ergebnisse fanden Eingang in die Datenbank MonArch als virtuelles Raumbuch. Das Planmaterial wurde so aufgearbeitet, dass eine Überblendung mit historischen Aufnahmen, Zeichnungen und Befundverortungen möglich war und ausgewertet werden konnte. Baufugen, verwendete Materialien, Schadensbilder und Besonderheiten der Baumateri-


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8 Rathaus Aachen, Marienturm Außen, kolorierte Punktwolke der 3D-Laserscans, M. Wietheger, 2013.

albearbeitung wurden kartiert, um anschließend das komplexe innere Raumgefüge analysieren zu können. Das gesamte Rathaus wurde neu und vor allem exakt mit den Methoden der Zeit erfasst. Die dadurch entstandenen Grundrisse, Ansichten und Schnitte überzeugen auch in einem großen Maßstab durch ihren Detailreichtum und ihre Präzision. Mit Hilfe von farblichen Bearbeitungen der entstandenen Arbeiten lassen sich besondere Bauphasen sichtbar machen und auch für den Laien verständlich ablesen. Die Ergebnisse dieser Beauftragung gehen weit über eine Dokumentation und Analyse hinaus – sie erzählen die Baugeschichte des Rathauses! Da erfolgreiche Arbeiten auch stets von den Menschen abhängig sind, die sie ausführen, können wir uns in diesem Projekt sehr glücklich schätzen, dass ausgewiesene Experten mitgewirkt haben. Mit Prof. Christian Raabe vom Lehr- und Forschungsgebiet Denkmalpflege und Bauforschung der RWTH Aachen und Marc Wietheger als Projektleiter war die komplexe Aufgabe der Pfalzenforschung aus der Perspektive der Bauforschung in besten Händen. Als absoluter Glücksfall erwies sich das zeitgleiche Forschungsprojekt „Aula Regia in Aachen, Karolingische Königshalle und spätmittelalterliches Rathaus – Bauforschung und Architekturgeschichte (DFG)“, welches Dr. Judith Ley mit einer Stelle zur Habilitation am Lehrstuhl von Prof. Raabe bearbeitet.5 Mit der hier stattgefundenen Kooperation konnte ein großer gegenseitiger Gewinn erzielt werden. Die Pfalzenforschung aus archäologischer Sicht führte Prof. Harald Müller vom Lehrstuhl für Mittlere Geschichte der RWTH Aachen durch und sorgte als Historiker mit Quellenstudien für die Einordnung der Ergebnisse. Die Projektleitung übernahm hier PD Dr. Sebastian Ristow, der als Archäologe mit diesem Projekt am Lehrstuhl betraut wurde und eine intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Altgrabungen führte. Gleichzeitig konnten viele aktuelle Grabungen im Pfalzbereich durch die Stadtarchäologie mit Andreas Schaub das Projekt entschieden weiter voran bringen. Alle Wissenschaftler waren bereits vor Projektbeginn einschlägig mit dem Thema vertraut.


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Bei der Pfalzenforschung aus archäologischer Sicht ging es nicht etwa darum, neue Grabungen aus einem Forschungsinteresse heraus durchzuführen und entsprechend archäologisch zu begleiten. Diese reinen „Lustgrabungen“ wären weder durch das Denkmalschutzgesetz NRW gedeckt noch entsprächen sie dem Grundsatz in der Archäologie, so wenig wie möglich im Bodendenkmal zu zerstören – denn bei jedem Eingriff geschieht genau dies: das Bodendenkmal wird (teilweise) unwiederbringlich zerstört. Wenn wir allein die Entwicklungen betrachten, die sich innerhalb der letzten Jahrzehnte im Bereich der geophysikalischen Prospektion und der Datierungsmethoden ergeben haben, so eröffnen sich hier mit Sicherheit weitere Perspektiven, welche in der Zukunft angewendet werden können und uns wiederum ein neues, präziseres Bild der Pfalzanlange in Aachen liefern werden. Die Aufgabe der vierjährigen Forschungsarbeit in der Archäologie gliederte sich in die Aufarbeitung der neueren Grabungen im unmittelbaren Pfalzbereich (Dom, Katschhof, Rathaus) unter Einbeziehung älterer Dokumentationen, insbesondere der großen Dom- und Pfalzgrabungen von 1910–1914 von Erich Schmidt. Die dort entstandenen Grabungstagebücher enthielten Angaben zum technischen Arbeitsablauf, zu einzelnen Befunden, zur Stratigrafie und zu Fundstücken, die einer neuen Sichtung und Bewertung zugeführt wurden. Mit dem Fokus auf die spätantik-frühmittelalterlichen Funde und Befunde wurden die Grabungen der Stadtarchäologie (20082010), die Grabung der Firma ACA im Quadrum (1990–1991) und die Rathausgrabung von Walter Sage (1965) ausgewertet. Alle Informationen zu Funden, deren Verbleib und der Datierbarkeit der Fundplätze wurden in einer Datenbank zusammengeführt, die wiederum in MonArch aufgenommen wurde und so den Daten-

9 Der Stadtarchäologe Andreas Schaub im Gespräck mit Prof. Dr. Christian Raabe. Foto: M.Wietheger.


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bestand aus archäologischer Perspektive bildet. Plakativ niedergeschlagen haben sich die Auswertungen im Phasenplan, der für die Kernpfalz eine zeitliche Einordnung der Bauphasen anschaulich abbildet und bereits vielfach publiziert wurde. Mit Hilfe von naturwissenschaftlichen Analysen (C14 bzw. AMS Untersuchungen zur Datierung archäologischer Funde) oder der Einzelbearbeitung bestimmter Fundgruppen wie Münzen, Knochen oder Inschriften konnte spezifisches Wissen zur Datierung und Herkunftsbestimmung eingeholt werden. Die Auswertung bestehender Georadarmessungen und die systematische Sichtung der Aachener Fundbestände im Rheinischen Landesmuseum Bonn sowie im Suermondt-Ludwig-Museum Aachen rundeten das Aufgabenprofil ab und ermöglichten die antiquarische Analyse der physischen Hinterlassenschaften. Zu diesen aussagestarken Ergebnissen aus der archäologischen Pfalzenforschung im Rahmen des Projektes kamen zeitgleich ebenso aufschlussreiche Ergebnisse aus den aktuellen Grabungen der Stadtarchäologie und Grabungsfirmen im Bereich von Pfalz und Vicus hinzu. Hervorgerufen durch verschiedene Maßnahmen zu erforderlichen Erneuerungen der Versorgungsleitungen, von Hausanschlüssen und auch durch die im gleichen Programm angesiedelte Umfeldverbesserung des Welterbes mit der neuen Gestaltung des Freiraumes fanden Grabungen statt, die archäologisch begleitet wurden. Als ein Beispiel von vielen möchte ich die Grabung auf der Südseite des Rathauses, die mit der Dokumentation eines spätrömischen Spitzgrabens die Umwehrung des Markthügels belegte, anführen. Die Ergebnisse dieser aktuellen Dokumentationen bereicherten das Projekt durch die Fülle neuer Informationen ungemein und trugen zum Gewinn der Forschungsarbeiten bei. Die verschiedenen Ansätze, Denkweisen und Methoden eines interdisziplinären Projektes führen in der Regel zum größten wissenschaftlichen Erfolg. Angesichts der Komplexität in dieser konkreten Situation ist Interdisziplinarität unerlässlich. So ist es nicht verwunderlich, als beteiligte Disziplinen im Projekt Historiker, Archäologen, Bauvermesser, Denkmalpfleger, Bauforscher und Bauhistoriker nennen zu können, die Hand in Hand arbeiten und jeweils die Ergebnisse der anderen für den eigenen Ansatz nutzen können. Die verschiedenen Disziplinen spiegeln sich ebenfalls im zeitgleich gegründeten Arbeitskreis Pfalzenforschung wider, deren Sprecherin Dr. Judith Ley ist. Durch den hier gegebenen Austausch von Bauforschern, Denkmalpflegern, Archäologen, Historikern und Architekten profitieren die verschiedenen aktuellen Arbeiten. Das Netzwerk hält einen engen Kontakt zur Forschungsgruppe der Pfalz Ingelheim und anderen Orten, an denen Untersuchungen zu karolingischen Bauten stattfinden; regelmäßige Symposien intensivieren die Kooperation. Abschließend möchte ich hervorheben, dass das Investitionsprogramm Nationale UNESCO Welterbestätten durch die vierjährige, enge Zusammenarbeit und den fachlichen Austausch viele Institutionen mit den beteiligten Akteuren zusammengebracht und eine Verbundenheit geschaffen hat, deren Potential auch in der Zukunft liegt.

Anmerkungen 1 http://www.welterbeprogramm.de/cln_032/nn_6133 48/INUW/DE/Programm/ programm__node.html?__nn n=true (Stand 18.11.2014). 2 siehe Bibliographie auf S.192. 3 http://www.monarch.unipassau.de/ (Stand 18.11.2014).

4 Mainzer 2012, S. 9. 5 http://denkmal.arch.rwthaachen.de/forschung/160, (Stand 18.11.2014).


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Nordsee

Angelsachsen

Sachsen

Aachen

Bรถhmen

Slawen

Alamannien

Bretagne

Bayern

Neustrien Burgund

Aquitanien

Awaren

Lombardei Byzantinisches Reich

Roncesvalles

Rom Emirat von Cรณrdoba

Benevent

Mittelmeer

10 Ausdehnung des Karolingerreiches zu Beginn (orange) und Ende (hellorange) der Herrschaft Karls des Groร en.Zeichnung: Bjรถrn Schรถtten, Christopher Scholer.


DIE AACHENER PFALZ Von fränkischen Anfängen zum Symbolort des Römisch-Deutschen Reichs

Wie kein zweiter Ort steht Aachen für die Geschichte Deutschlands im Mittelalter. Als faktische Hauptresidenz des Fränkischen Großreichs unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen um 800, später als Krönungsort der Römisch-Deutschen Könige und als Verehrungsstätte des als Idealherrscher verklärten und zur Heiligkeit erhobenen Karl erscheinen Politik, Religion und Reichssymbolik hier an einer Stelle gebündelt – ganz unabhängig von der Frage, ob der symbolträchtige Ort der Herrscherweihe auch das politische Zentrum des Reiches war. In den letzten Jahren sind durch interdisziplinäre Bemühungen erhebliche Fortschritte in der Erforschung dieses Zentral- und Erinnerungsortes des Mittelalters und seiner materiellen Überreste erzielt worden. Eine knappe Bündelung der Ergebnisse insbesondere aus archäologischer und bauhistorischer Perspektive, wie sie in diesem Band unternommen wird, kann einer kurzen historischen Erörterung, die in Geschichte, Funktion und Bedeutung des Aachener Herrschersitzes einführt, nicht entbehren. Diese setzt bei der karolingischen Pfalz an, die Karl der Große ins Werk setzen ließ, deren Erscheinungsbild bis heute prägend geblieben ist und der das Hauptaugenmerk der Aachener Pfalzenforschung seit jeher und ganz besonders in den letzten Jahren galt. Ein sehr summarischer Blick auf die sich anschließenden Jahrhunderte mit den gut bekannten Phänomenen der Krönungstradition und der Karlsverehrung rundet das Bild der karolingischen Wurzeln und karlischen Prägung Aachens ab.1

Erste Nachrichten „Tunc Pippinus […] celebravit natalem Domini in Aquis villa et pascha similiter – Damals feierte Pippin Weihnachten und auch Ostern im Königshof Aquis.“2 Mit diesen Worten tritt Aachen in das Licht der schriftlichen Überlieferung. Die so genannten Fränkischen Reichsannalen, die aus der Perspektive des Königshofes aufzeichneten, was Bemerkenswertes geschah, vermelden rückblickend für das Jahr 765/766 die Überwinterung des Frankenkönigs Pippin des Jüngeren auf einem Landgut mit dem recht unspezifischen Namen Aquis, was so viel heißt wie „bei den Wässern“. Aus der dürren Notiz, die in gattungstypischer Weise nur die Hauptereignisse jenes Jahres vermerkt, ist immerhin herauszulesen, dass der Herrscher sicherlich samt Gefolge, das in seiner Größe nicht zu bestimmen ist, beide hohen Kirchenfeste in Aachen verbrachte. Zumindest am 25. Dezember 765 und am 6. April, dem Ostersonntag des darauf folgenden Jahres, weilte Pippin der Jüngere also in Aachen, doch

Harald Müller


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darf man als sicher annehmen, dass er sich auch während des Intervalls zwischen den Feiertagen von rund dreieinhalb Monaten nicht wesentlich aus Aachen wegbewegte. Die Witterungs- und Verkehrsverhältnisse der damaligen Zeit ließen es geraten erscheinen, den gesamten Winter an einem Ort zu verbringen und nur aus zwingenden Gründen aufzubrechen. Und so heißt es dann auch in einer späteren Überarbeitung der Reichsannalen zu diesem ersten Aachen-Aufenthalt um den Jahreswechsel 765/766 in noch deutlicherer Formulierung: „Er hielt Winterlager in Aachen, wo er auch Weihnachten und Ostern feierte.“3 Die Nachricht entspricht der damals üblichen Regierungspraxis des fränkischen Königs, der in den Jahren zuvor die Winter entweder in der Pfalz Quierzy (760/61, 761/62, 764/65), ca. zehn Kilometer südöstlich von Noyon im heutigen Nordfrankreich, in Gentilly (762/63) vor den Toren von Paris oder mitten in den Ardennen, in der Pfalz Longlier (763/64), verbracht hatte – nun also in Aachen.4 Die konkreten Motive zur Wahl solcher Winterquartiere liegen meist im Dunkeln, doch ist davon auszugehen, dass für solch längerfristige Aufenthalte nur Orte in Frage kamen, an denen der Herrscher und sein Hof über mehrere Wochen zuverlässig mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs versorgt werden konnten.5 Der Königsaufenthalt in Aachen zur Jahreswende 765/766 stellt deshalb wohl nur in seiner schriftlichen Bezeugung ein Novum dar, denn auch diese Überwinterung dürfte kaum improvisiert oder gar in Unkenntnis der lokalen Verhältnisse unternommen worden sein. Am Ort dürfte folglich die nötige Infrastruktur zur Beherbergung und Versorgung des Hofes vorhanden gewesen sein: ein Königshof und eine bescheidene Siedlung mit erschlossenem, nutzbarem Hinterland – ein königlicher Güterkomplex, auf den der Namenszusatz villa ebenso hindeuten kann wie auf einen Königshof als deren Mittelpunkt und Verwaltungszentrum.6 Auch eine Kirche, in der die beiden hohen Feste angemessen begangen werden konnten, dürfte dazugehört haben. Möglicherweise nutzten die Franken dazu auch Bauten aus römischer Zeit auf und um den Markthügel. Mit der Überwinterung Pippins erscheint Aachen erstmals auf der Landkarte des Frühmittelalters. Es wurde nun nachweislich zu einer der Stationen, die der König auf seinen Reisen wiederholt ansteuerte. Und er war ständig im Sattel. So ritt Pippin der Jüngere beispielsweise nach der Überwinterung in Quierzy 764/765 zu einer Versammlung seiner bedeutenden Gefolgsleute in Attigny weiter. Die nächste Notiz bezeugt ihn zu Weihnachten in Aachen, von wo aus der König 766 nach Westen zog, in Orléans wiederum einen Hoftag abhielt sowie eine Burg in Südwestfrankreich wieder aufbauen ließ und sie mit treuen Franken besetzte. Die spärlichen Nachrichten, über die wir verfügen, präsentieren das typische Bild frühmittelalterlicher Herrschaftsausübung: Der König und sein Hof zogen von Ort zu Ort, sich bald hierhin, bald dorthin wendend, um Beratungen abzuhalten, Krieg zu führen oder Krisen zu entschärfen. Die ambulante Herrschaftspraxis, das Regieren aus dem Sattel, verhinderte über lange Zeit die Ausbildung fester Residenzen oder gar die Entstehung von Zentralorten ganzer Reiche. Anders als in den germanischen Reichen im Mittelmeerraum, wo sich zentrale Residenzorte etwa bei den Ost- und Westgoten mit Ravenna und Toledo oder bei den Langobarden mit Pavia herausbildeten, verhinderten möglicherweise die häufigen Teilungen eine solche Entwicklung bei den Franken. Nachantike „Hauptstädte“ nördlich der Alpen sind eine westeuropäische Entwicklung, die im 12. Jahrhundert mit Westminster/London und Paris begann. Auf seinem Zug von Ort zu Ort nahm der König alles mit, was er für die Ausübung seines Amtes benötigte. In der modernen deutschsprachigen Forschung hat sich für diese Praxis die Bezeichnung „Reisekönigtum“ durchgesetzt. Die unstete Herrschaftsform war der Tribut an eine Gesellschaft mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln der Nahrungskonservierung, mit schwach ausgebildeter verkehrs- und kommunikationstechnischer Infrastruktur und ohne einen das Reich in der Fläche erfassen-


Die Aachener Pfalz 21

den Behördenapparat. Diese aus unserer Sicht mangelhaften Strukturen galt es auszugleichen durch konkrete persönliche Präsenz. Sich den Untertanen als König in vollem Ornat zu zeigen, vor Ort ansprechbar zu sein für lokale und regionale Anliegen, von Angesicht zu Angesicht als Feldherr, Richter oder Streitschlichter zu handeln, festigte die königliche Autorität und die unmittelbaren persönlichen Bindungen zwischen dem Herrscher und den adeligen Gefolgsleuten, die das Gemeinwesen trugen.7

Wozu Pfalzen? Die Frankenkönige aus dem Geschlecht der Merowinger hatten Städte wie Reims, Soissons oder Metz zu ihren bevorzugten Aufenthaltsorten gemacht. Neben diese Siedlungen, die im Umfang gegenüber ihren spätantiken Vorgängern meist deutlich geschrumpft waren, traten schon bald Pfalzen auf dem Land. Sie wurden von den Karolingern seit dem frühen 8. Jahrhundert fast ausschließlich als Quartier genutzt. Hierbei handelte es sich um Gehöfte, die zumeist inmitten eines landwirtschaftlich geprägten königlichen Güterkomplexes lagen und damit die Gewähr für die Unterbringung und Verpflegung des reisenden Hofes boten. Im Begriff „Pfalz“ ist die lateinische Wurzel palatium noch erkennbar, die historisch auf die antiken Kaiserpaläste Roms auf dem Palatin oberhalb des Forum Romanum verweist. Die mittelalterlichen Pfalzen waren freilich nur selten Paläste im eigentlichen Sinne. Das Spektrum ihrer Ausstattung reicht von höchst eindrucksvollen Großbauten wie in Aachen oder Ingelheim bis hinab zum Gehöft auf dem Lande, dessen geringe Größe und spartanische Ausstattung nicht selten einen Teil des herrscherlichen Gefolges zur Übernachtung in Zelten zwang.8 In dieser einfachen Ausstattung verweist die Pfalz auf ihren ursprünglichen Zweck, denn der Herrscher wurde von den zur Pfalz gehörenden landwirtschaftlichen Gütern verpflegt. Die hier erwirtschafteten Erträge wurden entweder direkt für die Versorgung eingesetzt, falls der Hof in der Nähe war, oder sie flossen in Form von Abgaben den Ressourcen des Königs zu. Dies ist auch für Aachen anzunehmen, das sich 765 – wie gesehen – als Aquis villa in die sicher bezeugten Aufenthaltsorte der karolingischen Könige einreihte. Diese Überwinterung in Aachen bleibt der einzige Hinweis auf die Anwesenheit an Wurm und Pau des am 24. September 768 verstorbenen Pippin d. J. Die Tatsache, dass auch Pippins Sohn Karl im Jahr 768 in Aachen das Weihnachtsfest verbrachte,9 lässt jedoch schon für diese frühe Zeit eine gut funktionierende Domäne rund um den Aachener Königshof vermuten. Über Ausdehnung, Bauwerke und Bewohner der Königspfalz um die Mitte des 8. Jahrhunderts ist kaum etwas bekannt.10 Die Überreste und Nachfolger des gewaltigen Neubaus, den Karl der Große am Ende des Jahrhunderts veranlasste, bestimmen dagegen bis heute das Stadtbild. Im Vergleich mit anderen erhaltenen Pfalzen der Karolingerzeit ist leicht zu erkennen, dass es sich bei dem Aachener Bauwerk nicht um eine gelegentlich genutzte Durchgangsstation des Herrschers handelte, sondern um eine Anlage höchst repräsentativen Zuschnitts. Der Beginn der Arbeiten am Ausbzw. Neubau fällt nach den jüngsten archäologischen Erkenntnissen interessanterweise zusammen mit einer Veränderung in der Herrschaftspraxis des Frankenkönigs Karl.

Karls Sesshaftwerdung in Aachen In den ersten Jahren der Herrschaft Karls des Großen spielte Aachen noch eine bescheidene Rolle. Karl, der vom Vater den westlichen und nördlichen Teil des Reiches geerbt hatte, suchte Aachen – die villa quae dicitur Aquis – gleich in seinem


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ersten Winter als König 768 auf und stellte dort die beiden ersten erhaltenen Urkunden seiner Herrschaft aus. Durch deren Datierung in Aquis palatio publico wird erstmals explizit ein Pfalzgebäude erwähnt.11 Den Gepflogenheiten des Reisekönigtums entsprechend, verließ der Herrscher den Ort der Überwinterung schon bald, um sich anderen Geschäften zu widmen. Besuche in Aachen sind in den nächsten zwei Jahrzehnten spärlich belegt, doch bringt der Winteraufenthalt 788/89 am Ort gleich mehrere wichtige Herrschererlasse hervor, darunter mit der Admonitio generalis („Umfassende Ermahnung“) eine vielfach abgeschriebene und im gesamten Reich Karls des Großen verbreitete Programmschrift kirchlich-kultureller Erneuerung. Der nächste Winteraufenthalt sechs Jahre später markiert dann einen deutlichen Einschnitt, denn in den zwei Jahrzehnten, die Karl bis zu seinem Tod 814 verbleiben sollten, verbrachte der spätere Kaiser 17 Winter in Aachen. Die Überwinterung an diesem Ort unter Einschluss der beiden höchsten christlichen Kirchenfeste wurde zur Norm, von der es fortan nur sporadisch Abweichungen gab.12 Nicht nur die Häufigkeit der Aachen-Aufenthalte Karls wurde in den zeitgenössischen Quellen vermerkt, sondern auch deren außergewöhnliche Dauer. Die Moselländischen Annalen (Annales Mosellani) berichten vom Aufenthalt des Königs zur Jahreswende 794/795 in Aachen, der bis in den Juli ausgedehnt wurde. Mit fast identischem Wortlaut schildert dieselbe Quelle die Situation des Folgejahres, in dem Karl bis zum Juni 796 in Aachen blieb; beide Male werden Dauer und Ungestörtheit (quietus) betont. An einer Stelle setzt der Text erklärend hinzu: absque ullo proelio – ohne jeden Kampf.13 Das Fehlen kriegerischer Aktivität, die üblicherweise zwischen Frühling und Wintereinbruch das Leben der karolingischen Herrscher bestimmte, war das eigentlich Bemerkenswerte. Eine ruhige militärische Lage gestattete Karl zwei deutlich ausgedehnte Überwinterungen in Aachen, nach denen er jeweils gegen die Sachsen Krieg führte. Auch im Winter 796 kehrte er zum Weihnachtsfest zurück und ist sogar noch Ende Oktober 797 in Aachen nachweisbar, um nach einem erneuten Sachsenfeldzug schließlich Weihnachten in Herstal nahe Lüttich zu verbringen. Mit dieser dichten Folge der Winteraufenthalte von 794 bis 797 erlangte die Herrscherpräsenz in Aachen eine neue Qualität. Sie sticht von den vorherigen sporadischen Visiten des Hofes deutlich ab und erhält vor allem durch die Tatsache, dass Karl in späteren Jahren durchgehend in Aachen anwesend war, rückblickend den Charakter einer über mehrere Jahre gestreckten „Sesshaftwerdung“ des Herrschers. Aachen zählte nicht erst seit 794 zu der kleinen Gruppe immer wieder aufgesuchter so genannter Winterpfalzen, die dem Hof vermutlich aufgrund ihrer Lage und Ausstattung für die langen Aufenthalte zum Jahreswechsel geeignet schienen. Die Pfalzen sind ausschließlich im Kernland des karolingischen Reiches zwischen Rhein und Seine zu verorten.14 Karl hielt sich im Winter bevorzugt in diesem Bereich auf, Überwinterungen außerhalb besaßen meist demonstrativen Charakter. Sie zeigten den Herrscher als Souverän in neu eroberten Gebieten wie 780/781 in Pavia und 784/785 in Sachsen oder wie 791/792 und nicht zuletzt 800/801 in Rom.15 Für die reguläre Überwinterung bevorzugte der Herrscher dagegen durchaus die Region zwischen Rhein und Maas, wie die häufigen Aufenthalte in den Königshöfen Nimwegen, Düren und vor allem Herstal bei Lüttich zeigen. Die in der Mitte der 790er Jahre beginnende Konzentration auf Aachen fällt demnach nicht völlig aus dem Handlungsmuster des Hofes. Vielmehr erhält dadurch die Ortswahl, für die wir aufgrund der einzig überlieferten Begründung Einhards, Karl habe das warme Wasser der Quellen sehr geschätzt und deshalb in Aachen eine Pfalz errichtet, nur die persönliche Entscheidung des Königs verantwortlich machen können, einen rationalen Rahmen. Karl veränderte die geläufige Praxis des Reisekönigtums zu einer weitgehend ortsfesten Herrschaftsausübung. Darin ist das Selbstbewusstsein eines erfolgreichen Königs zu erkennen, der damals auf dem Kontinent


Die Aachener Pfalz 23

weder ernsthafte Gegner zu fürchten hatte, noch in überschaubarer Entfernung verlockende Ziele auszumachen vermochte. Mit den häufigeren und längeren Phasen der Anwesenheit Karls ging eine Intensivierung königlichen Handelns in Aachen einher. Gleichzeitig richtete die zeitgenössische Geschichtsschreibung dadurch ihr Augenmerk, das dem Herrscher und seinem Hof galt, stärker auf Aachen. Nicht mehr nur beiläufig werden der Ort und seine Bauwerke erwähnt. So berichten die im südfranzösischen Kloster Moissac entstandenen Jahrbücher rückblickend über das Jahr 796: „Denn dort hatte er [Karl] dauerhaft Aufenthalt genommen und dann eine Kirche von bewundernswerter Größe ins Werk gesetzt, deren Türen und Gitter er aus Bronze herstellen ließ. Und er gestaltete diese Kirche in dem übrigen Zierrat mit größter Sorgfalt und Ehrerbietung, so wie er es vermochte und es sich geziemte. Er ließ dort auch eine Pfalz bauen, die er Lateran nannte, und befahl, dass seine Schätze gesammelt und aus den einzelnen Königreichen nach Aachen gebracht würden. Er vollbrachte an demselben Ort viele und großartige Dinge.“16 Die Nachricht ist im Detail schwierig einzuordnen, doch besteht kein Zweifel daran, dass die Erwähnung der Sesshaftwerdung Karls in Aachen, seiner forcierten Bautätigkeit dort und seines Handelns als Herrscher am Ort und zunehmend beständig von Aachen aus die Lage zutreffend charakterisieren. Die im Ausbau befindliche Pfalz wurde immer wichtiger.17 Noch befand sich das Karolingerreich aber in einer Expansionsphase, insbesondere in Richtung Südosten, wo Karl die Awaren niederringen ließ und 798 durch die Errichtung einer eigenständigen Kirchenprovinz in Salzburg die endgültige Eingliederung Bayerns in den fränkischen Reichsverband erreichte. Weiter nördlich war Karl 789 über die Elbe hinweg gegen das slawische Volk der Wilzen gezogen und hatte dabei vermutlich deren Hauptsitz Brandenburg erobert, 795 und in den ersten Jahren nach 800 operierte er an der unteren Elbe. Immer wieder flammten die Auseinandersetzungen mit den Sachsen auf und provozierten zwischen 793 und 797 regelmäßig den Einmarsch fränkischer Kontingente.18

11 Herrscheraufenthalte (in Tagen) in Aachen 765 bis 911.

In dieser Zeit führte der Reiseweg den Herrscher immer öfter nach Aachen.19 Fast durchgehend verbrachte Karl die Winter in dieser Pfalz. Seine Abwesenheit zu Weihnachten brauchte triftige Gründe, etwa den Feldzug gegen die Sachsen 797, die römische Kaiserkrönung im Jahr 800 oder den Empfang Papst Leos III. im Jahre 805 in der Pfalz Quierzy. Die längeren Pausen des Hofes während der kalten, für militärische


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100 m

Straße (durch Befund gesichert)

Töpferöfen

Straße (ergänzt)

spätrömischer Kastellgraben gesichert/ergänzt

Mauer (gesichert/ergänzt)

mutmaßlicher Verlauf der spätrömischen Kastellmauer

Kanal (gesichert/ergänzt)

spätrömischer Kastellturm (Markt 46)

Aquädukt (vermutet)

neu entdecktes Badegebäude ("Marktthermen")

Wasserbecken

53 Schematisch ergänzter Stadtplan des römischen Aachen im 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr. Zeichnung: A. Schaub.


ÜBERSICHT ÜBER DIE GRABUNGEN SEIT BEGINN DES PROJEKTES

Vorbemerkung Im engeren Pfalzbereich, zwischen Markt und Dom, wurden seit 2011 mehrere archäologische Aktivitäten notwendig (Abb.54). Ausgelöst waren sie jeweils durch Baumaßnahmen im Rahmen der so genannten Ausbaukoordinierung, welche Straßen-, Leitungs- und Kanalbau seitens des städtischen Versorgungsunternehmens, der Stadtwerke Aachen AG (STAWAG) und des Fachbereichs für Stadtentwicklung und Verkehrsanlagen (Straßenbau) betreffen. Neben der Notwendigkeit, altersbedingte Sanierungen an Kanälen durchzuführen, gab es unmittelbare und mittelbare Zusammenhänge mit der Freiraumgestaltung des Welterbes Aachener Dom. Die wichtigsten archäologischen Projekte konzentrierten sich auf Katschhof, Rathaus, Krämerstraße sowie auf den Bereich zwischen Katschhof und Klosterplatz und den Hof.1 Sie standen unter der Federführung der Stadtarchäologie. Unterstützung erfolgte durch die archäologischen Fachfirmen SK Archeo Consult (Katschhof) und Goldschmidt Archäologie und Denkmalpflege (Katschhof, Rathaus, Bereich KatschhofKlosterplatz und Hof) sowie durch Tanja KohlbergerSchaub (Dom, Rathaus und Standesamt). Darüber hinaus endeten im Jahr 2011 vorläufig die im Jahre 2007 begonnenen Domgrabungen, die im Zuge von Sanierungsarbeiten (Feuchtigkeitsproblematik, Heizungs-/Lüftungseinbau, Bodenerneuerung) im Sechzehneck und in der Vorhalle nötig waren. Auch dort lag die Projektleitung bei der Stadtarchäologie, während Tanja Kohlberger-Schaub die örtliche Grabungsleitung innehatte. In vorliegenden Beitrag werden die wichtigsten Erkenntnisse der jeweiligen Maßnahmen summarisch dargestellt. Eine abschließende

Andreas Schaub


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54 Lage der im Text erwähnten Grabungsbereiche (schwarz umrandete Flächen mit Angabe der Aktivitätsnummern). Punktraster: Flächen der Maßnahme Katschhof-Markt (NW 2011/0066); schraffierte Flächen: oberflächennahe Untersuchungen im Rahmen der Straßenerneuerung. Zeichnung: A. Schaub.

Auswertung ist bislang noch für keine der Untersuchungen erfolgt, weshalb die hier dargestellten Ergebnisse vorläufigen Charakter haben.

Markt-Katschhof-Krämerstraße-Standesamt Die Maßnahme umfasste die Neuanlage einer Fernwärmeleitung am Katschhof, parallel zum Rathaus bis zur Krämerstraße (Abb. 55, AB 2 und 31), eines Abwasserkanals auf dem Markt, quer zur Jakobstraße (Abb. 55, AB 4, 21 und 42), kleinräumige Sanierungsarbeiten im Keller des Standesamtes (Abb. 55, AB 23), die Erneuerungen einer Rampe an der Südostecke des Katschhofs (Abb. 55, AB 39), sowie Sondierungen östlich der Domsingschule auf dem Katschhof (Abb. 55, AB 50, 100 und 101). Dabei wurden bedeutende Reste aus nahezu allen für Aachen wichtigen prähistorischen und historischen Epochen

angetroffen. Obwohl an dieser Stelle die früh- und hochmittelalterliche Pfalz im Zentrum des Interesses steht, seien ein paar Eckdaten zu den älteren Perioden angeführt. Jungsteinzeitliche Funde in Form von Feuersteinartefakten wurden sowohl auf dem Katschhof als auch auf dem Markt in nennenswerter Anzahl geborgen. Die anschließende Bronzezeit konnte nur in Form weniger Keramikscherben belegt werden.2 Allerdings wurden keine ortsfesten Befunde, etwa Spuren von Behausungen oder Arbeitsstätten, nachgewiesen. Das liegt sicher zum Teil an den kleinräumigen Grabungsflächen, aber auch an der Vielzahl der nachfolgenden Bodeneingriffe, vornehmlich seit der Römerzeit. An der Westseite des Marktes hingegen, wo ein neuer Kanalabschnitt durch weitgehend ungestörte Schichtenfolgen angelegt wurde, ließen sich vorrömische Bau- bzw. Siedlungsspuren belegen (Abb. 56)3. Es handelt sich um eine Grube sowie um ein durch einschlägige Erdverfärbung kenntliches 55 Lage und Nummerierung der archäologischen Arbeitsbereiche (AB) der Maßnahme KatschhofMarkt (NW 2011/0066).


Grabungsübersicht 67

Fundamentgräbchen eines Holzgebäudes (Abb. 57). Beide Strukturen lagen eng beieinander, weshalb eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit nahe liegt. Sie wurden von ältesten römischen Schichten und Bauresten überlagert bzw. abgeschnitten. Aus dem Gräbchen wurden keine Fundstücke geborgen. Aus der Grube stammen jedoch wenige Keramikscherben, die zumindest metallzeitlich, mutmaßlich sogar eisenzeitlich zu datieren sind. Für eine zeitliche Nähe zur frühesten römischen Phase spricht erstens der Umstand, dass sich zwischen der Verfüllung bzw. Aufgabe der älteren Strukturen und der frühesten römischen Schicht keinerlei natürliche Bodenbildung (Humus oder Schwemmschichten) nachweisen ließ. Und zweitens ist bemerkenswert, dass das vorrömische Wandgräbchen exakt dieselbe Ausrichtung aufweist wie das älteste römerzeitliche Gebäude. Um hier weitere Klarheit zu erzielen, müssen naturwissenschaftliche Analysen an Keramikscherben und geborgenen Bodenproben weiterhelfen. Auch wenn bei auf diese Weise erzielten Datierungen keine jahrgenauen Angaben herauskommen, so könnte

zumindest geklärt werden, ob man sich in der Bronzezeit oder etwa der jüngeren Eisenzeit bewegt. Derartige Erkenntnisse sind aber bisher noch nicht erhoben worden. Wie unten noch zu zeigen sein wird, konnte die Indizienlage für eine metallzeitliche Siedlung auf dem Markthügel durch die Untersuchungen am Marienturm des Rathauses weiter verdichtet werden.

Markt Für die römische Zeit wurde eine Fülle von Erkenntnissen erbracht, die hier ebenfalls nur angeschnitten werden können. Erstmals konnte römische Feinkeramik gefunden werden, die sicher in die letzten Jahrzehnte vor Christi Geburt datiert werden kann. Es handelt sich um eine kleine, aber eindeutig bestimmbare Scherbe eines so genannten „ACO-Bechers“ (Abb. 58)4. Diese dünnwandigen Trinkgefäße tragen bisweilen Namenssignaturen der Töpfer, unter denen der Produzent Aco namengebend für die Keramikgat-

/31

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Markt

57 Vorrömische (1 und 2) und frührömische (3 bis 5) Befunde auf dem Markt (Maßnahme Katschhof-Markt, NW 2011/0066, AB 21). Kanalschacht

1

Fundort ACO-Becher

4

2 5

10

m

3

vorrömische Befunde frührömische Befunde befundfreie Zone (Straße/Weg?)

56 Vor- und frührömische Befunde auf dem Markt (Maßnahme Katschhof-Markt, NW 2011/0066, AB 4, 21, 41).


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106 Granusturm auĂ&#x;en, Messbildfotografie vom GerĂźst aus. Foto: M. Wietheger, 2011.


INHALTE, ZIELSETZUNG UND METHODEN DER BAUFORSCHUNG

Die Aachener Pfalzanlage ist bedeutend und so wundert es nicht, dass die Zeugnisse der Herrschaft Karls des Großen seit nunmehr über 100 Jahren bedeutende Persönlichkeiten und andere zu immer neuen Forschungen anregten. In diesem Sinne steht die hier dokumentierte aktuelle Forschungsarbeit in bester Tradition und birgt aber zugleich auch die Besonderheit, dass die beteiligten Historiker, Archäologen und Bauforscher ihre jeweils unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden in ein gemeinsames Projekt einbringen konnten. Im Folgenden soll kurz erläutert werden, was in einem solchen Zusammenhang die Kompetenz und die Aufgabe der Bauforschung ist. Die Beschreibung der Disziplin, so wie wir sie heute noch verstehen, geht wesentlich auf eine Veröffentlichung des Architekten und Archäologen Armin von Gerkan (1884–1969) zurück, der den Begriff in den 1920er Jahren eingeführt hat und die Bauforschung aus dem Kontext der Archäologie herauslöst, womit dieser Text als eine Art Gründungsstatement eines neuen Forschungszweiges gelesen werden kann. Der Autor stellt darin fest, dass die Bauforschung mit ihrem ständig sich erweiternden Methodenspektrum und zunehmend auch ganz eigenen Aufgabenfeldern nicht mehr nur als Hilfswissenschaft der Archäologie anzusehen, sondern als eine selbstständige wissenschaftliche Disziplin zu definieren sei.1 In diesem Zusammenhang verweist er zum Beispiel auf die wachsende Zahl der Denkmäler, die etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen staatlicher Denkmalbehörden systematisch und in der Regel topographischen Ordnungen folgend inventarisiert, dokumentiert und kunsthistorisch bearbeitet wurden. Die genaue Untersuchung und damit auch die wissenschaftliche Befragung der materiellen Sub-

Christian Raabe


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stanz oder gar der konstruktiven Gefüge dieser Monumente galten aber noch als Ausnahme. Von Gerkan identifizierte damit die Historische Bauforschung als eine neue unabhängige Disziplin, die sich aus der tradierten so genannten Klassischen oder auch Archäologischen Bauforschung heraus entwickelt hat.2 Die zunehmende Bedeutung der Bauforschung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist aber nicht allein den neuen Aufgaben zu verdanken, sondern muss auch vor dem Hintergrund der fortschreitenden Diversifizierung und Verfeinerung der zugehörigen naturwissenschaftlichen Untersuchungsverfahren gesehen werden. Nach 1945 entsteht im Kontext der Neubauwirtschaft zudem als ein dritter Zweig noch die Technische Bauforschung, die sich vor allem mit den zeitgenössisch üblichen Baumethoden und -materialien beschäftigt. Das hier versammelte Baustoffwissen und die diagnostischen Kompetenzen unterstützen die bauhistorischen Forschungszweige ebenso wie die Restaurierungspraxis im Umfeld der Denkmalpflege. Die Ausbildung zum Bauforscher sollte idealerweise, so Arnim von Gerkan seinerzeit, als eine zusätzliche Ausbildung auf ein Architekturstudium folgen und dieser Werdegang kann wohl im Bereich der Historischen Bauforschung als Regelfall bezeichnet werden. Er hält die Architekturausbildung als Grundlage für besonders geeignet, nicht weil ihn die historischen Wissenfundamente des Architekturstudiums besonders beeindrucken, die nennt er spärlich, sondern, weil die Architekten ihr Wissen um konstruktive Verhältnisse und „handwerkliche Gepflogenheiten“ ebenso einbringen, wie eine „Vertrautheit mit Material und Konstruktion“. Was sind also nun die Ziele und Methoden der Historischen Bauforschung? Es geht vor allem darum, die Entwicklungsstufen eines Gebäudes auf der Grundlage von Informationen sowie Befunden zu ordnen und als Bauoder Ausstattungsphasen zu erkennen und darzustellen. Das Bauwerk selbst ist dabei die wichtigste Quelle und damit auch der zentrale Gegenstand jeder Spurensuche.3 Methodisch sind drei Arbeitsbereiche zu unterscheiden:4 a) Am Anfang steht immer die Literatur- und Archivrecherche und damit die Suche nach textlichen, zeichnerischen und photographischen Zeugnissen des zu bearbeitenden Gebäudes. Alle Beschreibungen und Darstellungen – und hier sind nicht allein historische Dokumente gemeint, sondern auch solche jüngeren Datums – bedürfen einer Interpretation, einer kritischen Einordnung, denn die Erfahrung lehrt, dass in Text und Bild nicht immer das beschrieben wird, was wirklich war – mitunter noch nicht einmal das, was

wirklich ist. Vielmehr sind sie von einer bestimmten Darstellungsabsicht geleitet, die es zu analysieren gilt. Interessant sind dabei natürlich auch jene Zeugnisse, die frühere Baugeschehen verwaltungstechnisch dokumentieren: Gewerke- und Materiallisten, Abrechnungen, Genehmigungen oder gar Akten voll mit Finanzierungsproblemen und Streitigkeiten. Wichtig ist neben dem Studium dieser primären Quellen auch die Aufarbeitung vorangegangener Untersuchungen, die mitunter aus einem Forschungsinteresse heraus oder aber im Vorfeld früherer Baumaßnahmen entstanden sind. b) Jedes Bauwerk birgt zahlreiche Hinweise auf seine Entstehung und Entwicklung, es ist in diesem Sinne ein „gebauter Urkundenbestand“5. Um seine Geschichte rekonstruieren zu können, bedient man sich für die Erschließung des Gebäudes zweier unterschiedlicher Notationen der genauen Beobachtung. Eine ausführliche Baubeschreibung benennt das städtebauliche und gegebenenfalls topographische Umfeld, identifiziert die Bauteile, die räumlichen und konstruktiven Strukturen sowie die Eigenarten der verwendeten Materialien nebst aller Bearbeitungsspuren. In einem Raumbuch werden systematisch die Zustände und Details aller Flächen festgehalten, wie auch die mobile sowie die immobile Ausstattung. Eine begriffliche Erschließung der Bausubstanz hilft bei der Gliederung der Beobachtungen und trägt dazu bei, objektspezifische Fragestellungen zu entwickeln oder zu präzisieren. Das zweite Verfahren der Baubeobachtung ist die exakte bildliche und zeichnerische Dokumentation des Objektes. Die wichtigste Grundlage ist hier eine maßstabsgerechte Bauaufnahme des gegenwärtigen Zustandes, wobei Mess- und Darstellungsverfahren dem Objekt und auch den Forschungsfragen angemessen sein müssen. Da in unserem Fall eine außerordentliche Detaillierung gewünscht war und auch im Dienste diverser Vergleiche und Analysen ganz unterschiedliche Fokussierungen notwendig wurden, kamen hier unterschiedliche Verfahren zur Anwendung. Zeichnungen, die auf der Grundlage tachymetrischer Vermessungen entstanden, wurden mit entzerrten Messbildern kombiniert und auch ein so genannter 3D-Scanner kam zum Einsatz. Viele Details und Profile wie auch die steingerechte Dokumentation der Fassaden des Granus- und Marienturmes sowie zahlreiche Oberflächen der Innenräume wurden händisch direkt vor Ort aufgenommen und später dann als Material- und Verbundkartierung in den Rechner übertragen. Alle erarbeiteten analogen ebenso wie die digitalen Bild- oder Planmaterialien


Inhalte, Zielsetzung und Methoden der Bauforschung 97

sind nun selbst zu Quellen für die zukünftige Forschung avanciert und dementsprechend angemessen zu archivieren und zu publizieren. c) Über die beschriebenen Beobachtungen hinaus können Materialuntersuchungen helfen, chronologische Zuordnungen oder materiell-konstruktive Gefüge zu belegen. Diese Form der Befunderhebung ist in der Regel mit Substanzverlusten verbunden und will deshalb sorgfältig erwogen sein. Zu unterscheiden sind einerseits Klärungen von Schichtenfolgen, etwa übereinander gelagerter Farbfassungen von Wand- und Deckenoberflächen, die uns eine relative Chronologie liefern und andererseits materialbezogene Analysen, die mitunter wahrscheinliche absolute Datierungen ermöglichen. Ein paar Beispiele:6 Die Zusammensetzung eines Mörtels kann vermittels eines Vergleiches mit Referenzsubstanzen recht genau auf die Epoche hinweisen, in der dieser Mörtel entstanden ist und im Bereich der Pfalzanlage ist es deshalb möglich, den karolingischen, den barocken und die Mörtel der jüngeren Geschichte deutlich zu unterscheiden. Im Kontext der Bauforschung hat sich die eigens für den Vergleich von historischen Putzen entwickelte so genannte halbquantitative Analyse bewährt, die sich auf die Untersuchung wesentlicher Komponenten wie Bindemittel, Zuschlag und die löslichen Bestandteile konzentriert. Die Zuordnung von Farbfassungen geschieht vermittels chemischer und mikroskopischer Untersuchungen.7 Holzbauteile sind mithilfe der Dendrochronologie zu datieren, einer Methode der Vermessung und Abglei-

Anmerkungen 1 2 3 4

5 6

7

8 9

von Gerkan 1924, S. 132 Gruben 2000, S. 252 Schirmer / Hersey 1994, S. 323 Eckert / Reimers / Kleinmanns 2000, S. 86 ff. Cramer 1987. Eine kleine Übersicht der verschiedenen naturwissenschaftlichen Methoden findet sich bei Grossmann 1993. Zur Untersuchung von Mörteln und Farbpigmenten siehe Jägers 1987. Rump 2011. Eckert / Reimers / Kleinmanns 2000, S. 126 ff.

chung von Jahresringen, die Rückschlüsse auf das Fälldatum zulassen. Die ersten mitteleuropäischen Jahresring-Chronologien entstanden in den späten 1930er Jahren und sie erhalten ihre jeweils spezifische Ausprägung in Abhängigkeit von der Holzart, dem lokalen Klima sowie dem Standort der verwendeten Hölzer.8 Petrographische Untersuchungen schließlich erlauben gesteinskundliche Zuordnungen und verweisen unter Umständen auf Lagerstätten und damit auch auf historische Abbaumethoden und Transportwege. Die in historischen Bauten verwendeten Materialien Stein, Holz, Mörtel und Farben verraten uns also im Rahmen von naturwissenschaftlichen Untersuchungen ihre Eigenarten, mitunter Ihre Herkunft und liefern uns manchmal sogar verlässliche Datierungen. Aus der Zusammenschau aller Ergebnisse ergibt sich schließlich die Auswertung der Befunde. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in Zusammenhang gebracht und das Ziel ist es nun, den Entwicklungsprozess des untersuchten Bauwerkes möglichst vom Ursprung bis zum gegenwärtigen Zustand begründet und nachvollziehbar dokumentieren zu können. Es geht dabei um das Erkennen der spezifischen baulichen Merkmale von Funktion, Form, Material und Konstruktion sowie um die zeitliche Einordnung und Abfolge der identifizierten Bau- oder auch Zerstörungsphasen.9 Ein Ergebnisbericht fasst die Erkenntnisse schließlich zusammen, bettet sie in den Kontext des Fachwissens ein und sollte sich zudem um eine Vermittlung der Erkenntnisse der Historischen Bauforschung bemühen.


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107 Granusturm, Ostseite, Untersuchung und DetailaufmaĂ&#x; der Fensterlaibungen auĂ&#x;en. Foto: M. Wietheger, 2011.


ARCHITEKTURAUFMASZ UND BAUDOKUMENTATION AM RATHAUS UND IM AACHENER PFALZBEZIRK

Koordination und Kooperation Ein historisches Bauwerk wie das Rathaus in Aachen auf lange Zeit zu erhalten und im Falle einer notwendigen Sanierung oder Instandsetzungsmaßnahme denkmalgerecht und gleichzeitig ökonomisch zu (be-) handeln, setzt die genaue Kenntnis des baulichen Bestandes voraus. Dazu gehören das Wissen über die verwendeten historischen Konstruktionstechniken und Baumaterialien ebenso wie das Bewusstsein für die wechselhafte Geschichte, frühere Bauzustände und architektonisch-entwerferischer Konzeptionen. Das wesentliche Medium zum Transport von gebäuderelevanten Informationen ist dabei die architektonische Bestandsplanzeichnung. Sie ist universeller einsetzbar als Bauprotokolle, Befundberichte oder auch die Fotografie. Egal ob analog oder digital, der Plan veranschaulicht architektonische Entwurfs- und Konstruktionskonzeptionen von Entwerfern und Technikern ebenso, wie er Bauforschern und Archäologen ein anschauliches Werkzeug an die Hand gibt, ihre Beobachtungen, Bauphasen, Schadensbilder, Materialien und mehr zu dokumentieren. Ausgehend von der Basisinformation – der objektiven Darstellung des aktuellen Baubestandes – können weitergehende Informationsebenen überlagert werden, die durch den Einsatz von Symbolen, Farbcodes und Legenden strukturiert und lesbar gemacht werden können. Der exakte detaillierte Plansatz, der im Idealfall aus Grundrissen,Vertikalschnitten, Ansichten und eventuell auch Detailzeichnungen besteht, macht es möglich, die verschiedenen Inhalte direkt an den betreffenden räumlichen Stellen und Bauteilen zu verorten. Vor Beginn der Forschungsarbeiten an Rathaus und Pfalzbezirk wurde der vorhandene Rathaus-Plansatz,

Marc Wietheger


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bestehend aus den Grundrissen der fünf Haupt- und zwei Zwischengeschosse sowie den Ansichten der Südund Nordfassade samt Freitreppe, auf seine Verwendbarkeit hin gesichtet und geprüft. Dabei zeigte sich, dass die einige Jahre zuvor durch die Messbildstelle Dresden angefertigten photogrammetrischen Aufnahmen der Ansichten zum Teil steingerecht ausgewertet worden waren und somit weiterverwendet werden konnten. Dies traf vor allem auf die Nordfassade zu, da im Vorfeld ihrer Instandsetzung genaue Schadenskartierungen angefertigt worden waren. Im Fall der Südfassade wurden neben der vollständigen Gesamtgeometrie bislang nur die Werksteine der Galerien, Gesimse, Fenster und Eckquader steingerecht ausgewertet sowie die Ausbauelemete von Fenstern, Türen, Dachgauben und Türmen detailliert dargestellt. Für die flächigen Wandpartien mit ihrem heterogenen Bruchsteinmauerwerk, die als Basis der weiteren Kartierungen dienen sollten, stand eine Aufnahme samt Auswertung noch aus. Auch die Außenwandansichten von Granusturm und Marienturm waren noch nicht steingenau zeichnerisch dokumentiert und sollten nun im Rahmen des Projektes ergänzt werden. Demgegenüber wurde nach Durchsicht des restlichen vorhandenen Plansatzes festgestellt, dass nicht nur aussagekräftige Vertikalschnitte fehlten, sondern die Grundrisszeichnungen nicht den Erfordernissen der Bauforschung hinsichtlich eines hohen Detaillierungsgrades und geometrischer Genauigkeit entsprachen. Zudem fehlte ein grundlegendes globales Messnetz, um die Geschosse auch untereinander lagerichtig in Bezug setzen zu können. Somit wurde zunächst eine Konzeption für ein Neuaufmaß der einzelnen Geschosse in Grundrissen und Schnitten erarbeitet. Maßgebend war die gleichzeitige Verwertbarkeit für Bauforschung und Baubetrieb, um eine nachhaltige Nutzung der exakten Bestandszeichnungen zu gewährleisten. Dafür wurden im Vorfeld der bauforscherischen Untersuchung an Rathaus und Pfalzanlage durch das Lehrgebiet Denkmalpflege der RWTH-Aachen die anstehenden Maßnahmen mit allen projektbeteiligten Fachdisziplinen der Abteilung Denkmalpflege und Stadtarchäologie sowie dem städtischen Gebäudemanagement koordiniert. Ein Schwerpunkt lag hierbei auf der zeitlichen und organisatorischen Abstimmung der Arbeitsphasen der Bauforschung mit den projektierten Instandsetzungs- und Sanierungsmaßnahmen am baulichen Bestand des Rathauses. Neben der Festlegung von prioritären Arbeiten wurde die gemeinsame Nutzung von Ressourcen (Gerüststellungen, Plan-

material, etc.) abgestimmt. Die gemeinsame Vorplanung führte dazu, dass schon während der Durchführung der Vermessung immer wieder erste Teilergebnisse für Bau- und Planungszwecke bereitgestellt werden konnten, sodass sich die anfängliche Skepsis gegenüber dem erwarteten Aufwand der Neuaufnahme schnell legte. So wurden z. B. für die – als eine der ersten Arbeiten anstehende – Sanierung der Fassaden des Ark’schen Treppenhauses photogrammetrische Aufnahmen erstellt, auf deren Basis die städtische Projektleitung und der ausführende Steinmetzbetrieb die notwenigen Maßnahmen planen und exakt kalkulieren konnten (Abb. 108 bis 110). Zu diesem Zeitpunkt war das grundlegende Vermessungsnetz des Rathauses noch nicht in diesem Gebäudeabschnitt ausgebaut, sodass die Fassadenaufnahmen zu einem späteren Zeitpunkt in den Gesamtbezug überführt werden mussten. Das Pfalzmessnetz Der Aufbau dieses Vermessungsnetzes war von Beginn an als unverzichtbare Grundlage sämtlicher Vermessungs- und Bauforschungsmaßnahmen an Rathaus und Pfalzbezirk im Arbeitsprogramm verankert. Schon die ersten Sichtungen historischer Aufmaße hatten deutlich gemacht, dass es nur bei wenigen Planzeichnungen aus den Archiven direkt möglich war, sie einer bestimmten Stelle des Gebäudes geometrisch korrekt zuzuweisen. Meist waren die Aufmaße mit den einfachen Mittel von Lot, Schnurflucht und Maßband lokal an Ort und Stelle erfolgt, eine Anbindung an ein globales Netz wie das städtische Kataster aber gar nicht oder nur unzureichend erfolgt. Anhand von dreidimensionalen Festpunkten inner- und außerhalb des Gebäudes sollte nun mit dem neuen Messnetz jedes neue Teilaufmaß in einen Gesamtbezug gebracht und die Verortung, Verknüpfung und der direkte Vergleich aller erarbeiteten Untersuchungsbefunde und Dokumentationsergebnisse ermöglicht werden. In einem ersten Arbeitsschritt wurde das in den Jahren 2007 bis 2009 vom Lehrgebiet Denkmalpflege und dem Lehrstuhl für Baugeschichte der RWTHAachen errichtete Teilmessnetz im Granusturm aufgearbeitet und gesichert, um die im Gebäude vorhandenen Koordinatenbezugspunkte auf ihre Lagestabilität zu prüfen und in ein CAD-Messmodell einzupflegen. Die Festpunkte konnten mit Messmarken oder Messingbolzen in vorhandenen Gerüstlöchern zerstörungsfrei im Innen- und Außenbereich fixiert werden. Sie bilden die belastbaren Anknüpfungspunkte für den Überschlag des Netzes auf das innere Raumgefüge und das nähere bauliche Umfeld des Rathauses (Abb. 111). 108 (rechte Seite) Rathaus Aachen, Ark’sches Treppenhaus, Messbildplan Südfassade, M. Wietheger 2011 (Konturzeichnung Messbildstelle Dresden, 2007).



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211 Dreiklang – Blick von Sßdosten auf Dom, St. Foillan und Rathaus. Foto: A. Herrmann.


RESÜMEE Ein Projekt erreicht mehr als sein Ziel

Es bereitet Freude, auf eine abgeschlossene Arbeit blicken zu können. Gleichwohl steht am Ende immer auch ein Rückblick. Die Ausgangslage zur Pfalzenforschung war unbefriedigend: Während der Aachener Dom als gut erforscht gelten darf, fiel das Rathaus ungeachtet des Wissens um seine bauliche Kontinuität seit der Errichtung der karolingischen Königshalle in seiner Dokumentation und Erforschung weit zurück. Die letzte planerische Dokumentation des Gebäudes stammte überwiegend aus den 1960er Jahren. Ebenfalls älteren Datums waren die Rekonstruktionsmodelle der Pfalz von Leo Hugot, Felix Kreusch, Albert Huyskens und Joseph Buchkremer. Funde, Befunde und vielerlei Notizen von Altgrabungen lagen unaufgearbeitet in Magazinen. Dass im Kern Aachens auch heute noch die karolingische Pfalzanlage nachvollziehbar vorhanden ist, schien zumindest der Allgemeinheit nicht mehr bewusst zu sein. Es bestand also ein Bedarf, der sich schon seit Jahren bemerkbar machte und ein Wissen erforderte, welches sich auf mehreren voneinander abhängigen Ebenen abbilden lässt. Zunächst einmal gilt es, die „bloße“ Dokumentation als Grundlagenarbeit zu würdigen. Sie ist sowohl in der Archäologie als auch in der Bauforschung das Fundament für alle weiteren Arbeiten, insbesondere die Interpretation und wissenschaftliche Diskussion, die praktischen Sanierungsarbeiten und die Öffentlichkeitsarbeit, die Aachens Geschichte vermittelt. Mit dem erstmals ausgearbeiteten und angewandten einheitlichen Bezugsmessnetz wurde die Dokumentation des Aachener Rathauses und von Teilen der Pfalzanlage in bisher unerreichter Qualität durchgeführt und archiviert. Die hier auszugsweise dargestellten Arbeitsergebnisse sprechen für sich. Diese Grundlage konnte für die direkten Sanierungsarbeiten verwendet werden. Aber ebenso flossen umgekehrt Beobachtungen durch die Sanierungsarbeiten mit den beauftragten Gewerken wieder direkt in den Dokumentationsprozess ein. Ein davon abhängiger Schritt wiederum ist die Interpretationsebene. Anschaulich und beispielhaft wird hier anhand eines Wandfeldes des Rathauses ein zeitlich rückwärtsgerichtetes „Entblättern“ der Geschichte dargestellt. Veränderungen am Gebäude in den verschiedenen Epochen geben anschaulich Auskunft über seine Entwicklung und Nutzung. Beispielhaft für die Archäologie möchte ich die Interpretation von Nordbasilika und Reliquienloculus im Inneren der Marienkirche sowie die spätrömische Umwehrung der Königshalle nennen. Das Forschungsprojekt hat alte Forschungsansätze bestätigt und teils auch widerlegt.Viele neue Thesen und Hypothesen konnten hinzugewonnen, disku-

Monika Krücken


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tiert und belegt werden. Mit der Öffentlichkeitsarbeit, die während der vergangenen vier Jahre gleichzeitig durchgeführt wurde, konnte dem Thema Rathaus und Pfalz eine neue Bedeutung in Aachen und in der Fachöffentlichkeit eingeräumt werden, die auf ein großes Feedback stieß. Dies ging glücklicherweise einher mit vielen Synergien, wie dem Karlsjahr und auch anderen Forschungsvorhaben, die wiederum auf die laufenden Ergebnisse des Projektes zurückgreifen konnten. Dieses Selbstverständnis von Zusammenarbeit – innerhalb der Verwaltung, aber auch mit und zwischen den verschiedenen externen Akteuren – ist bemerkenswert und war mit großem Engagement verbunden. An dieser Stelle gilt mein Dank allen Beteiligten mit ihrer positiven und professionellen Einstellung. Zufriedenheit im Rückblick bekommt aber erst dann ihren Reiz, wenn der Blick nach vorne folgt, insbesondere dann, wenn er mit Vorfreude verbunden ist. Spannend in dieser Hinsicht bleibt die weitere Forschung, womit eine weitere Ebene dieses Projektes angesprochen werden soll: Mit der Software MonArch können die Dokumentationen der Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und mit dem Gedanken einer Wissensplattform kontinuierlich weiter aufgebaut werden. Damit soll zum einen ein öffentlicher Zugriff und zum anderen eine Nachhaltigkeit des Projektes, z. B. durch die Initiierung weiterer Forschungen, erwirkt werden. Die interdisziplinäre Diskussion ist dabei eine Facette, die hier ausdrücklich genannt und in der Zukunft aufrechterhalten werden soll. Geeignete Forschungsthemen stehen vielfach an: Hier sind z. B. die Topographie und ihre Modellierung im Bereich des Vicus zu nennen und weiterzuverfolgen; die Interpretation von Gebäuden mit ihrer Kubatur und Verortung hängt selbstverständlich auch vom Wissen um das zeitgemäße Bodenniveau ab. Nahezu unerforscht ist der Vicus selbst. Wie konnte mit den Möglichkeiten dieser Zeit der gesamte Tross eines Wanderkönigtums ernährt werden? Wie wurden neben den wirtschaftlichen die logistischen Abläufe innerhalb des Umfeldes der Aachener Pfalz strukturiert und organisiert? Hierzu gibt es eine interessante These,1 welche ein lockeres Netz von Gehöften mit Wirtschaftskraft in unmittelbarer Nähe der Pfalz sieht. Dieser Gedanke sollte weiterverfolgt werden. Schlüssig stellt sich daraufhin die nächste Frage: Wie entstand aus den anfänglichen Strukturen um die Kernpfalz der dokumentierte mittelalterliche Stadtgrundriss, der heute noch weitgehend erhalten ist? Wie sind neben den typischen Unregelmäßigkeiten die besonderen städtebaulichen Situationen, wie etwa die Krümmung der Schmiedstraße, zu erklären? Ebenfalls kann in diesem Kontext – aber auch für vorangegangene und folgende Epochen – der mittlerweile besser entwickelte „Georadar“ verstärkt eingesetzt werden. Offensichtlich sind die noch vorhandenen Strukturen und die sichtbare Substanz der Pfalz, verborgen hingegen viele untertägige Reste und auch viele Informationen im Gebäudebestand, die erst nach eingehender Beschäftigung abzulesen sind. Durch die vier vergangenen Jahre der Pfalzenforschung wurden beiderlei Aufschlüsse belegt, die offensichtlichen und die verborgenen. Sie bringen uns die Geschichte Aachens wieder etwas näher und sind damit ein großer Gewinn.

Anmerkungen 1

Schaub in Archäologie in Deutschland 1/2014, S. 25.


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212 Besuchergruppe im Marienturm des Rathauses. Foto: A. Herrmann.


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