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Halluzination in der Strommitte

Von Lothar Rujiska-Hafer

Schon seit dem 16. Lebensjahr habe ich gewusst: In diesem Land will ich nicht alt werden, ich muss weg. Aber Rumänien konnte man fast nur auf Fluchtwegen und unter Lebensgefahr verlassen. Ich habe schon mit Siegbert Milotta in Neumoldowa (Moldowa Nou reinsten Horror erlebt. Damals waren wir keine 20 Jahre alt, ich hatte eben den Führerschein gemacht. Wir sind mit dem Motorrad meines Vaters nach Neumoldowa gefahren, um uns die Grenzgegend anzuschauen. Wir wollten gar nicht flüchten, wir wollten nur sehen, wie die Grenze aussieht und ob man sie überhaupt erspähen Lothar Rujiska-Hafer kann. Aber es gab so viele Hindernisse schon lange vorher, man kam gar nicht in die Nähe. Jahre später sollte ich am eigenen Leib erfahren, dass auch ein Fluchthelfer keinen bis an die Grenzlinie brachte, er zeigte einem nur den Weg, die Richtung, im besten Fall begleitete er den Flüchtenden über die ersten Absperrungen hinweg. Diese sogenannten Fluchthelfer halfen nicht. Sie haben gelogen und kassiert. Wenn es zu brenzlig wurde, hatten sie die Hosen gestrichen voll, dann sind sie abgehauen. Vor unserer Flucht wussten wir das nicht, wir waren dankbar, wenn einer gesagt hat, er könne helfen; wir haben es einfach geglaubt.

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Also: Siegbert und ich haben einen Plan geschmiedet, um uns die Grenze anzuschauen. Mehr nach dem Vorbild der Kriminalfilme haben wir uns eine Geschichte ausgedacht. Die haben wir auswendig gelernt und immer wieder aufgesagt. Wir wussten, dass wir in die Situation kommen werden, unseren Ausflug in Grenznähe erklären zu müssen. Beim ersten Mal sind wir mit dem Motorrad nach Neumoldowa gefahren. Dort ist die Grenze sehr nahe, aber wir sind aufgefallen; drei Grenzsoldaten wollten uns aufhalten. Dann sind wir aufs Motorrad gesprungen und in aller Hetze weggefahren. Die haben uns verfolgt, aber ich bin mit dem Motorrad über den Berg gefahren, über Stock und Stein, wo kein Weg mehr war. Zum Glück war mein russisches Motorrad stark wie ein Traktor. Ich bin über Felsen gesprungen, mit Siegbert hinten drauf. Sie haben uns - Gott sei Dank - nicht eingeholt.

Ein anderes Mal sind wir mit dem Zug nach Turnu Severin gefahren. Wir haben uns auf eine Anhöhe gesetzt und die Grenze beobachtet. Dann sind wir hinter einer Baracke verschwunden, angeblich um auszutreten, dort war die Grenze sehr nahe. Wir haben den ersten Grenzzaun mit den daran als Lärmquelle angebrachten Konservendosen sehen können. Ein Soldat hat uns gleich etwas zugerufen und wollte, dass wir näherkommen. Wir sind davongelaufen, in Richtung Stadt, sie haben uns nicht mehr eingeholt. Auf dem Rückweg nach Hause sind wir in Orschowa ausgestiegen, um am Bahnhof ein Bier zu trinken. Wir saßen vor unserem Bier, da kam eine Militärstreife und hat die Ausweise verlangt. Uns beide haben sie gleich mitgenommen und uns bis ans andere Ende der Stadt in die Kaserne getrieben, die Hände auf dem Rücken gefesselt, wie Schwerverbrecher, mitten durch die Einkaufszeile. Das sollte wahrscheinlich für andere abschreckend wirken. Dabei hatten wir offensichtlich nichts getan. Es wäre mörderisch gewesen, in Orschowa flüchten zu wollen, das hatten wir gar nicht vor. Kein Mensch hätte das gekonnt. Aber uns wurde genau das unterstellt. Wir mussten unsere Anwesenheit in dieser Stadt erklären, dazu sollte unser auswendig gelerntes „Märchen“ helfen. Unterwegs hatte ich Siegbert geflüstert: „Unser Märchen muss stehen“.

Man hat uns sofort getrennt und einzeln befragt. Wir haben stur behauptet, wir hätten nach einem kleinen Ausflug ein Bier trinken wollen. Der Trick, dass der jeweils andere angeblich „die Wahrheit“ ausgesagt habe, hat bei uns nicht gegriffen, denn wir wollten wirklich nicht flüchten. Dann mussten wir uns ausziehen, dabei hat Siegbert Prügel bekommen, weil er einen Badeslip anhatte. Die Grenzer haben behauptet, er hätte flüchten wollen. Sie ließen uns nach einigen Stunden wieder laufen. Als ich aus dem Grenzerstützpunkt kam, sprach mich einer der Soldaten an: „Lothar, wie bist Du von da wieder losgekommen?“ Ich kannte ihn nicht, der war angeblich aus Slatina, ich weiß heute noch nicht, wer es war. Wir wurden zum Bahnhof eskortiert, wieder unter Bewachung mit aufgepflanztem Bajonett. Dabei hätten sie uns leicht überführen können: Unsere Fahrkarten, die sie zwar immer wieder genau angesehen hatten, haben zwar vom Datum her gestimmt, aber sie haben nicht zu unserem „Märchen“ gepasst. Wir hatten angegeben, meinen Onkel in Bosowitsch (Bozovici) besucht zu haben, das wäre jedoch eine ganz andere Richtung gewesen. Zum Glück waren die Grenzer nicht so schlau, nachzufragen, wie wir denn zu dem Onkel gekommen sind. Das war unser zweiter Erkundungsausflug. Beim dritten Mal war es ein richtiger Fluchtversuch, der mir mit Nori und Helmut gelungen ist; es war im Mai 1985.

In der Zwischenzeit ist viel passiert. Ich habe 1975 geheiratet und hatte schon einen Sohn, als meine Frau 1979 eine Besuchserlaubnis für Deutschland bekommen hat. Ich hätte es gerne gehabt, wenn sie geblieben wäre. Aber eine Mutter trennt sich nur schwer von ihrem Kind. Als meine Frau Gerti den Pass

bekommen hatte und das Visum für den Besuch bei der deutschen Botschaft abholen sollte, musste ich eben als Delegierter für Altsadowa am Kongress des Rates der Werktätigen deutscher Nationalität in Bukarest teilnehmen. igen. Wir haben ganz exklusiv in einem Parteihotel gewohnt, und ich hatte Gertis Pass dabei, was in diesem Land schon gefährlich war. Ich habe mir gedacht: Erledigst das Visum bei der Botschaft auch nebenbei, dann muss sie nicht extra nach Bukarest fahren. Erst hatte ich ein bisschen Angst, aber dann hab ich mir gedacht: Pfeif auf den Ceau schnell noch zur deutschen Botschaft.

Meine Vorstellung war, ich spaziere gemütlich in die Botschaft, hole das Visum ab und komm wieder heraus; bis die Sitzung richtig beginnt, bin ich wieder da. Dabei konnte ich gar nicht bis vor die Botschaft fahren, musste vorher aussteigen und zu Fuß weitergehen. Als ich die vielen Leute sah, die alle anstanden, dachte ich mir: Was gibt’s denn da gratis, dass so viele Leute da sind? Dabei standen die alle an, um verschiedene Formalitäten bei der deutschen Botschaft zu erledigen, wie ich auch. Für mich war das zeitlich ein Riesenproblem, aber ich habe überlegt: Jetzt bist du schon einmal da, jetzt bleibst du auch. Aber es dauerte. Endlich war ich dran, bin durch das große Tor in die Botschaft hineingegangen, habe das Visum bekommen und geschaut, dass ich ein Taxi erwische. Um elf Uhr war ich endlich auf dem Kongress. Die große Rede von Aufpasser hat mich nur bedeutungsvoll angeschaut, hat aber nichts gesagt. Nach einer Weile habe ich bemerkt, dass alle Teilnehmer etwas notierten. Da kam ich auf die Idee: Lothar, machst dich auch wichtig, gehst und kaufst dir Bleistift und Papier. Ich bin also entschlossen hinausmarschiert, hab mir einen Notizblock gekauft und bin wieder gemächlich in den Saal spaziert. Da hat der Sicherheitsmensch mich kontrolliert, hat aber zum Glück Gertis Pass nicht gefunden. Danach habe ich mich ganz still hingesetzt, brav applaudiert und alles mitgemacht, was vorgesehen war.

Am nächsten Tag war Heimreise, in der Gruppe natürlich. Einer aus Reschitza hat zu mir gesagt: „Gestern ist einer zu uns gekommen, der hat dich immer wieder gesucht, wo warst du denn so lange?“ Ich habe ihm erzählt, ich hätte für mein Auto Bestandteile kaufen wollen, eine Kupplung und noch einiges, ich hätte mich in Bukarest verlaufen und den Autoladen nicht gefunden. Im Zug hat mich der Leiter der Delegation zu sich in sein Abteil bestellt, um mich zur Rede zu stellen: „So, jetzt sind wir allein, jetzt sag mal, warum warst du nicht bei der Sitzung dabei, wo warst du?“

Ich hab wieder meine Geschichte von den Autoteilen ausgepackt. „Nein, nein“, sagte der, „was hast du in der deutschen Botschaft gesucht?“ Also hat der Delegationsleiter am nächsten Tag schon gewusst, wo ich meine Zeit verbracht

hatte. Woher die das gewusst haben? Keine Ahnung. Aber vor der Botschaft hing an jedem Baum eine Kamera, und unsere Delegation war wahrscheinlich die ganze Zeit unter Beobachtung. Vielleicht ist mir auch jemand nachgegangen, was weiß ich. Hauptsache, sie haben Gerti keine Schwierigkeiten gemacht, sie durfte nach Deutschland fahren; sie kam leider zurück.

Drei Jahre Fluchtvorbereitung

Unsere Fluchtvorbereitungen haben fast drei Jahre gedauert. Und ich habe mir alles gut überlegt, inzwischen hatte ich Familie und zwei Söhne. Ich wusste, mir bleibt nur ein Versuch, eine zweite Chance hätte ich nicht gehabt. Eines Tages kam Nori (Norbert) Krall mit einem Zigeuner, der uns helfen sollte. Dieser war in Balta S eines Führerscheins war, er sollte danach mein Auto aus der Kleinen Walachei (Oltenia) ins Banat zurückfahren. Der Wagen sollte bei meinem Bruder Paul in ova) nicht gesehen wird, als Fluchtauto wäre er beschlagnahmt worden. tten wir eine Zuteilung vom Imkerverein, um unsere Bienen in Akazienwäldern weiden zu lassen. Ich war als Bienenzüchter schon Jahre vorher immer wieder dort gewesen. Es war eine Anhöhe, von der aus man die Donau sehen konnte, doch war es nur schwer einzuschätzen, wie weit es bis dorthin ist. Die Grenzsoldaten sind mit ihrer Kutsche immer bei uns vorbeigefahren, die haben uns Imker schon gekannt. Natürlich gab es auch andere Grenzorte im Banat, die sich für eine Flucht anboten, aber die waren viel besser bewacht. In der Kleinen Walachei gab es fast keine Grenzgänger. Uns war es egal, wo wir in Jugoslawien an Land gingen, Hauptsache, man ist drüben. Ich habe schon Jahre vorher darauf hingearbeitet. In Temeswar hatte ich eine Plane gekauft, einen Traktorreifen als Boot präpariert und an der Temesch und am Dreiwässersee bei Wolfsberg (G ezählt, wie stark wir den Reifen für unser Gewicht aufpumpen müssen. Es waren etwa dreihundert Pumpstöße. Aufgepumpt wurde er aber erst kurz vor der Flucht.

Der Autoreifen war in einem Bienenkasten versteckt, zwei von uns saßen im Auto, der dritte lag hinten auf dem Boden, so sind wir zum Dorf hinaus gefahren. In Vânju Mare war der erste Schlagbaum, wir sind gut durchgekommen, die Bienenkästen hat keiner kontrolliert. Wir hatten schon am Tag unserer Ankunft einen Termin mit dem Fluchthelfer vereinbart, der angeblich einen sicheren Weg kannte, um an die Donau zu gelangen. Der Fluchthelfer ist mit uns in Richtung Vânju Mare gefahren, aber nicht durch den Ort, sondern über Feldwege mit Ziel Donauschleife. Angeblich sollte es dort am einfachsten sein, durchzukommen. Der Fluchthelfer hat uns aussteigen lassen und uns die Richtung zur

Donau gezeigt. Das Wasser konnten wir zwar glänzen sehen, aber man konnte nicht einschätzen, wie weit es noch war. Der Fluchthelfer ist weggefahren, er hat nachher behauptet, er sei verfolgt worden, denn das Auto stand kaputt am Wegesrand in Herkulesbad (B war. Mein Bruder Paul hat es in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von dort abgeholt, immer mit der Angst im Rücken, erwischt zu werden.

Etwa um 22 Uhr sind wir zu dritt losmarschiert - Norbert Krall, Helmut Flekatsch und ich -, um Mitternacht waren wir an der Donau. Wenn man fünf Kilometer je Stunde Fußweg rechnet, waren es etwa 20 Kilometer bis zum Wasser. Wir hatten den Traktorreifen, Reservekleidung, ein bisschen Essen; ich hatte ein paar Dinar und 300 Mark dabei. Hätten sie uns geschnappt, hätte ich das Geld weggeworfen, zumindest hätte ich es versucht. In der Nähe der Donau sind wir auf einen Stacheldrahtzaun gestoßen. Wir haben die Pfosten abgesucht, um einen lockeren Draht zu finden. Hätten wir den berührt, so hätte es geklingelt, der Abstand der Drähte betrug etwa 50 Zentimeter. Wir haben den Zaun abgesucht und endlich eine Mulde gefunden, durch die wir gekrochen sind. Es kam ein geackerter Grenzstreifen, dann noch einmal ein Stacheldrahtzaun. An der Donau war ein Wäldchen auf einer Landzunge. Von einem vorbeifahrenden Dampfer drang laute Musik zu uns. Wir haben unsere Kleider mit Steinen beschwert und versenkt, den Reifen aufgepumpt, und los ging es. Es war stürmisch, trotzdem sind wir erst einmal gut vorangekommen mit unserem „Boot“. Als wir die Fahrrinne der Schiffe erreicht hatten, drehten wir uns im Kreis und sind nicht vorangekommen. Wir mussten aussteigen und schwimmen. Den Reifen haben wir mit Stricken an unsere Körper befestigt. Wir sind verzweifelt gegen die Strömung angeschwommen, hatten aber den Eindruck, dass wir uns im Kreis drehen. Wir haben uns vergebens zu orientieren versucht. Die Lichter am Ufer glitzerten wie Irrlichter. Nori hat die Augen groß aufgerissen, um besser sehen zu können und mir entsetzt zugerufen: „Die Rumänen lassen uns nicht weg“. Ich hatte einen Riesendurst. Ständig habe ich Wasser getrunken, das hat nach Öl gestunken, ich glaube, das war das Abwasser des Schiffes von vorher. Den schlechten Geschmack hatte ich den ganzen Tag danach im Mund. Die Strömung hat uns mitgerissen. Vor lauter Konzentration und Anstrengung hatte ich eine Halluzination. Ich habe auf einmal ein Boot mit Leuten gesehen. Das kam nicht von der Angst, diese Phase war vorbei. Eher war es die Erschöpfung und die Konzentration auf die Lichter am Ufer. Einer von uns hat nach rechts, der andere nach links geschaut, wir haben die Lichter in der Ferne, am rumänischen Ufer in der Donauschleife, gesehen, wir wollten abschätzen, wie weit wir schon weg waren. Alles vergebens. Wir kämpften weiter gegen die Strömung an.

Nachdem wir über längere Zeit geschwommen waren, um nicht so weit abgetrieben zu werden, landeten wir auf einer Sandbank, bis zum Hals im Wasser.

Dann wussten wir, dass wir aus der Fahrrinne heraus waren. Wir haben uns ein wenig ausgeruht, dann ging es weiter. Das serbische Ufer haben wir aber noch nicht erkennen können. Doch plötzlich war da ein Ast, an dem haben wir gezogen und uns festgehalten. Unser „Boot“ haben wir versenkt und sind die letzten Meter ans Ufer geschwommen. Wir waren etwa viereinhalb Stunden im Wasser gewesen. Als wir ankamen, war es taghell, wahrscheinlich 5 Uhr. Die Donau hatte uns abgetrieben, ich schätze 20 oder gar 30 Kilometer weit. Denn wir waren am rumänischen Ufer mit dem Auto donauaufwärts an die 15 bis 20 Kilometer gefahren, jetzt waren wir am rechten, dem serbischen Ufer wieder gegenüber von meinen Bienenstöcken. Ich habe sie vom serbischen Ufer aus sehen können. Die Donauschleife mitgerechnet, waren es bestimmt 20 Kilometer südöstlich. Grenzer haben wir keinen gesehen. Es ging nur eine Straße parallel zur Donau in Richtung Negotin.

60 Kilometer in drei Tagen marschiert

Wir waren also auf festem Boden, sind über die Straße gelaufen, geradewegs in den Wald hinein. Wir wollten unsere trockenen Kleider anziehen. Doch obwohl sie mehrfach in Plastiktüten verpackt waren, waren sie nass. Bis Mittag haben wir im Schatten von Heuschobern die Kleider getrocknet und uns ausgeruht; dann sind wir losmarschiert, landeinwärts, entlang der bulgarischen Grenze. Etwa anderthalb Tage sind wir erst parallel zur Straße gegangen, um nicht gefasst zu werden. Als wir unsere zwei Konserven und das wenig Brot gegessen hatten, mussten wir uns mit Wasser zufriedengeben. Am zweiten Tag waren wir schon kaputt, der Weg war so schwierig geworden, wir mussten Schluchten überwinden und auf der Straße weitergehen. Am Ende war uns alles egal, wir wollten auch ein Auto anhalten, aber es hat uns keiner mitgenommen. Nach dreieinhalb Tagen sind wir tatsächlich in Negotin angekommen; wir hatten 60 Kilometer zurückgelegt. Mit den Dinar, die ich dabei hatte, habe ich eine Stange Salami und Brot gekauft. Dann waren wir endlich satt, das war unser erstes Essen seit drei Tagen. Nori war ungeduldig geworden. Obwohl wir ihn zurückhalten wollten, hat er einen Mann mit deutschem Autokennzeichen angesprochen. Der war Gastarbeiter in Deutschland und hat versprochen, uns zu helfen. Er hat seine Frau zur Bank geschickt, die hat für uns 100 Mark gewechselt. Der Herr hat uns auch Buskarten gekauft, und wir sind in den Bus nach Belgrad gestiegen. Wir haben uns weit voneinander entfernt hingesetzt und immer gehofft, dass wir nicht erwischt werden. Wir wollten unbedingt zur deutschen Botschaft. Wir wären bei einer Kontrolle schon aufgefallen, zwar hatten wir vorgesorgt, hatten Rasierzeug dabei und sahen ganz ordentlich aus. Aber von der Kleidung her hätte man uns erkannt. Wir haben uns unterwegs gewaschen – eigentlich waren wir auf der Flucht sauberer als danach im Gefängnis, wo wir uns nicht

waschen durften. Die Fahrt nach Belgrad ging durch eine wunderschöne Landschaft, um 18 Uhr waren wir in Belgrad. Partisan Belgrad hat gerade Fußball gespielt, und die ganze Stadt war voll von besoffenen, grölenden Fans. Wir haben eine Telefonzelle gesucht und die deutsche Botschaft angerufen. Ich habe bairisch gesprochen und gesagt, wir seien aus Landshut, uns hätten sie alle Papiere geklaut und wir hätten jetzt Angst, weil da so viel Polizei ist. Der Mann aus der Botschaft hat gemeint, wir sollten doch hinkommen, sie seien doch genau um die Ecke. Wir waren aber so desorientiert in der Dunkelheit, dass wir Angst hatten, loszugehen. Dann habe ich dem Herrn erklärt, wir trauten uns nicht weg von unserem Gepäck, er möge bitte kommen und uns abholen. Er antwortete, er komme vorbei mit einem Wagen neueren Baujahrs, mit diplomatischem Kennzeichen. Tatsächlich kam dann ein weißer Golf, der Fahrer hat die Tür geöffnet, und wir waren im Nu eingestiegen. Dann fragte der junge Mann uns, wo denn das Gepäck sei. Wir haben ihm unsere Fluchtgeschichte erzählt. Er hat uns zur Botschaft gebracht, geklingelt und über die Sprechanlage verhandelt. Er kam zurück mit dem Bescheid: „Das alte Schwein lässt uns nicht mehr hinein“. Inzwischen war es nämlich 22 Uhr geworden. Dann wollte der junge Mann uns ins Astoria-Hotel bringen. Die haben uns aber nicht genommen, wegen unserer Papiere. Nori hatte seine Papiere verloren. Sein Ausweis und die Aufnahme-Nummer für Deutschland waren in einer Jacke, diese hatte die Donau mitgerissen. Wir haben also den jungen Mann gebeten, uns aus Belgrad hinaus in einen Wald zu fahren. Wir sind in den Wald, es hat wieder zu regnen begonnen; es hatte während unserer Flucht immer wieder geregnet. Wir konnten in dieser Nacht nicht schlafen.

Als es Tag wurde, haben wir plötzlich um uns herum lauter Wachtürme gesehen. Hatte der junge Mann uns doch tatsächlich neben einer Kaserne ausgeladen. Dann sind wir einfach auf der Autobahn dahin marschiert; wir wussten nicht einmal, dass wir das nicht dürfen. So mancher Autofahrer hat gehupt und geflucht. Wir mussten in der Früh wieder zur Botschaft. Helmut hat dann einem Autofahrer gewunken, der ist tatsächlich stehengeblieben und hat uns mitgenommen bis zum Hauptbahnhof Belgrad. Wir haben deutsch gesprochen, der Autofahrer hat uns verstanden. In der Botschaft haben wir dann Laufzettel bekommen, haben die Formalitäten erledigt und wurden freundlich beraten. Man hat uns gesagt, dass wir wegen illegalen Grenzübertritts ins Gefängnis müssen. Darauf waren wir vorbereitet. Dann haben wir uns noch Belgrad angeschaut, im Gasthaus gut gegessen, Bier getrunken und unsere geschundenen Füße auf die Stühle gelegt. Einen Tag davor hätten wir uns das nicht getraut. Gegen Abend sind wir zur Polizei, die uns nicht beachten wollte, weil ein Fußballspiel im Fernsehen übertragen wurde. Uns war es aber wichtig, da der Tag noch gezählt werden sollte. Bevor ich zur Polizei gegangen bin, habe ich mein restliches Geld und meine Papiere hinter der Baracke eines Verladebahnhofs vergraben.

Wir sind ins Polizeigebäude hineinspaziert, Nori ist zu dem einen Polizisten hingegangen und hat ihm etwas gesagt, erst auf Deutsch dann auf Rumänisch. Der hat geflucht und geschrien... „Rumunski...“ Nori kam heraus und sagte: „...die wollen uns nicht“.

Wir hätten weitergehen können. Aber das Problem war, wir hätten die Anstrengungen eines weiteren Grenzübertritts nach Österreich nicht mehr geschafft. Übermüdet, wie wir waren, hätten wir wenigstens eine Nacht schlafen müssen, aber wo? Helmut wollte sich überhaupt nicht bei der Polizei stellen, der hatte schon einmal so eine Gefangennahme und Gefängnis in Ungarn hinter sich. Er wollte weiter. Aber wir haben ihn überredet, dass wir uns endlich einmal ausruhen müssten, unter einem Dach, im Trockenen. Plötzlich hat sich einer von den Polizisten doch erhoben, hat uns erst alles weggenommen, Gürtel und Papiere. Ich hatte nur noch den Hosenriemen und den rumänischen Ausweis, alles andere war vergraben. Dann hat er uns in einen Keller gesperrt. Der Raum war etwa drei mal vier Meter groß, darin waren schon zwei Mann. Kaum waren wir da, haben wir schon geschlafen. In der Früh sind wir aufgewacht, da waren 50 Leute in dem Zimmer. Alle waren in der Nacht gefasst worden. Man hat sich kaum gesehen, es war stockdunkel. Am Morgen hat ein „Schnellgericht“ alle der Reihe nach abgeurteilt, wegen illegalen Grenzübertritts. Danach haben sie uns mit einer „Luxuslimousine“ ohne Fenster nach Padinska Skela gefahren. Es hat sich herausgestellt, dass das so eine Art „Pensionat“ unter den Gefängnissen war. Alle Schwerverbrecher, die entlassen werden sollten, haben sich ein paar Monate davor dort erholen dürfen. Wir haben dort auch fast alle wieder getroffen von der Nacht davor im Keller. Unsere Kleider mussten wir abgeben, und dafür gab es blaue Arbeitsoveralls. Wir aus Rumänien mussten für Sauberkeit sorgen, Toiletten putzen, Betten machen, Fußboden putzen. Immer wurde gerufen: Rumuni, los. Am Tag mussten wir ausrücken zur Feldarbeit: Mais hacken. Ich habe mir gedacht: „Na, Lothar, auf der Kimpa (unserem Feld zu Hause) wolltest du keinen Mais hacken, jetzt hast du es“. Das ging ein paar Tage so, auf einmal kamen sie und haben Freiwillige gesucht für eine andere Arbeit. Ich habe mir gedacht, ich bleib beim Maishacken, das kenne ich schon, wer weiß, was die sonst noch für Arbeit haben. Nori und Helmut haben sich gemeldet. Abends kamen sie fix und fertig zurück. Sie hatten entlang der Save Disteln ausreißen müssen, zwei Meter hohe Disteln, ohne Handschuhe, mit bloßen Händen. Die sahen so abgekämpft und zerkratzt aus, dass es zum Erbarmen war. Dann

mussten sie jeden Tag Disteln ausreißen. Weil sie aber nicht vorangekommen sind mit der schweren Arbeit, mussten zuletzt alle ausrücken. Ich habe dann die letzten zwei Tage auch noch Disteln ausreißen dürfen. Das Essen war wenigstens gut. Zeitweilig haben wir durch den Zaun hinüber gespäht ins UNO-Lager, das war nebenan, wir haben uns schon gefreut, einmal dort hineinzukommen.

Nach 20 Tagen waren wir frei, das heißt wir kamen ins UNO-Lager. Man schob uns in einen Raum, der mit einer schweren Eisentür verschlossen war. Am Fenster waren keine Gitter, aber Eisenbetonstäbe. Die Luft war zum Ersticken. Wir waren wieder eingesperrt, keiner hat mit uns geredet, wir wussten nicht, warum wir dort waren. Durch einen Schlitz an der Tür bekamen wir Essen. Keiner hat uns beachtet. Dreieinhalb lange Tage waren wir dort. Ich bin fast durchgedreht. Nori und Helmut mussten mich festhalten, ich war verzweifelt. In dem Zimmer waren auch Inder und Afghanen, die waren ständig im Bett. Nach fast vier Tagen habe ich voller Wut an die Tür gepoltert, bis einer aufgemacht hat. Er hat auf Rumänisch gefragt: „Was willst du?“ Ich habe gesagt: „Pass mal auf, ich habe nichts verbrochen, ich bin hier isoliert. Ich habe das Recht, dass du mich einmal am Tag in den Hof führst an die frische Luft.“ Der hat nur gesagt: „So?“ Und die Tür ist wieder zugeflogen.

Nach etwa zehn Minuten kam derselbe wieder und rief: „Rimini, Afra“ (Rumänen raus). Wir sind aus dem Loch herausgekommen. Ich habe alles dort gelassen, meine Zahnbürste, meine Seife, einfach alles. Dann hatte ich gar nichts mehr. Wir wurden in ein Zimmer gebracht, dort waren Stockbetten und etwa 50 Leute. Am nächsten Tag durften wir zur deutschen Botschaft. Mit einer Art „Passierschein“ konnten wir auch Bus fahren. Die Botschaft hatte inzwischen für uns die Einreisenummern besorgt. Wir mussten nur noch sagen, wohin wir wollen. Ich wurde gefragt, ob ich Verwandte in Deutschland habe. Natürlich habe ich die Verwandten von Gerti in Landshut angegeben. Dann hat der Botschaftsangestellte über Computer deren Telefonnummer gesucht, was für mich schon wie ein kleines Wunder ausgesehen hat, und ich durfte mit dem Cousin sprechen. Danach hat der Botschaftsangestellte zu den Verwandten gesagt, sie könnten mir das Geld für die Ausreise schicken. Am Tag darauf haben wir schon Pässe bekommen. Nori musste noch in Belgrad bleiben, da er keine Papiere hatte. Für Deutschland waren alle Formalitäten erledigt, er hatte eine Aufnahme-Nummer, aber aus Rumänien sollte noch eine Bestätigung kommen. Das hat sich erfahrungsgemäß ewig hingezogen. Helmut und ich hätten dann ein Zimmer im Astoria-Hotel haben können, um den Tag darauf auszureisen. Auf den Komfort eines Hotelzimmers haben wir aber verzichtet und sind schon am Abend weg, von Belgrad hatten wir genug. Wir sind mit dem Istanbul-Express gefahren. In Freilassing wurden wir noch einmal kontrolliert, das war aber nicht

Entlassungsschein aus dem jugoslawischen Gefängnis, ausgestellt auf den Namen Rudolf Lothar Rujiska

schlimm, immer die gleichen Fragen. In Nürnberg standen wir etwas dumm herum, wussten nicht, wohin wir uns wenden sollen. Da hat sich ein Herr erbarmt, hat uns angesprochen und gefragt, ob er uns helfen könne. Das war natürlich genau der Richtige, der war von der Bahnhofsmission. Wahrscheinlich hat er bei meinem Anblick gewusst, was los ist. Ich bin gewatschelt, wie eine Ente, an meinen Schuhen hatte sich die Sohle vorne gelöst, bei jedem Schritt musste ich die Füße hoch heben und dann schnell nach rückwärts ziehen. Ich kann mir vorstellen, dass ich aufgefallen bin. Der Herr hat uns erklärt, wie wir ins Durchgangslager kommen. In Nürnberg habe ich dann mit Landshut telefoniert, und Siegbert hat uns besucht. Von Landshut aus habe ich Edwin angerufen, der ist nach Belgrad gefahren und hat Nori einfach nach Deutschland gebracht. Das Verfahren hätte sich sonst ewig hingezogen, die rumänischen Behörden haben sich ewig Zeit gelassen mit der Feststellung der Identität von Flüchtlingen. Als ich dann in Landshut war, bin ich durch die Stadt gelaufen und habe immer gedacht: „Mei, wie kann das so sauber sein“. Und jetzt geh´ ich durch die Straßen und denke mir: „Mei, wie kann diese Stadt so dreckig sein“ . Inzwischen hat sich nämlich ganz schön was geändert.

Wenn ich gewusst hätte, dass es einmal eine Grenzöffnung gibt, hätte ich die paar Jahre vielleicht auch noch abwarten können. Aber ich bereue nicht, die

Strapazen der Flucht auf mich genommen zu haben. Um aus dem Gefängnis in die Freiheit zu kommen, soll man keine Mühe scheuen. Ich würde es jederzeit wieder tun. Trotz allem.

Lothar Rujiska-Hafer, geboren am 4. August 1953, war vor der Flucht selbstständiger Fassbinder in seinem Heimatort Altsadowa im Banat. Heute ist er in Landshut zu Hause und arbeitet als Betriebshausmeister. Norbert Krall ist ebenfalls 1953 geboren. Helmut Flekatsch, Jahrgang1959, ist 2008 gestorben.

Die Fluchtgeschichte ist der Monographie „Altsadowa“ mit Marianne Wolfs freundlicher Genehmigung entnommen.

Zwei Seiten aus dem Pass, den die deutsche Botschaft in Belgrad Lothar Rujiska ausgestellt hat.

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