7 minute read
Glückssträhne
Pfarrer Gheorghe Naghi:
Als Pfarrer Gheorghe Naghi im September 1989 die Flucht in den Westen angetreten hat, war er regelrecht mit Glück gesegnet. Ob es reiner Zufall war oder seine Gebete erhört worden sind, keiner kann es mit Gewissheit sagen. Die Glückssträhne, die ihm beschert war, hat jedenfalls ausgereicht, um wohlbehalten in Aachen anzukommen. Der Kommunismus mit all seinen negativen Facetten hatte Pfarrer Naghi schon immer missfallen. In der multikulturellen Stadt Temeswar im Südwesten Rumäniens, wo er am 16. Juni 1950 geboren wurde, hat er auch das wahre Gesicht dieser Ideologie kennengelernt. Gheorghe Naghi 1989 war der Entschluss in ihm gereift: Er wollte seine Heimat, das Banat, hinter sich lassen und in Freiheit leben. Am 7. September 1989 war es soweit, er ist über die Grenze nach Ungarn gegangen. Wenn er allerdings damals gewusst hätte, dass die kommunistische Diktatur drei Monate später hinweggefegt werde, hätte er die Strapazen nicht auf sich genommen.
Advertisement
Was sich im Dezember 1989 in seiner Geburtsstadt und in Rumänien ereignet hat, verfolgt er aus der Distanz in Deutschland. Doch heute weiß er eines: Wäre er in jenen Tagen in Temeswar gewesen, hätte er sich an den Demonstrationen -Diktatur beteiligt.
Schon als Theologiestudent hat Gheorghe Naghi erste Erfahrungen mit dem Unterdrückungsapparat gemacht. Mitarbeiter des Geheimdienstes Securitate haben ihn immer wieder belästigt. Von all den Schikanen, Überprüfungen und Durchsuchungen, die er ertragen musste, habe eine ihn besonders berührt. Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes hat bei einer Durchsuchung ein etwa 300 bis 400 Seiten starkes Manuskript über archäologische Ausgrabungen beschlagnahmt. Einen Grund dafür hat er ihm nicht genannt. Selbst der Bischof, dem Naghi diesen Vorfall in einem Brief geschildert hat, konnte ihm nicht helfen. Der Geheimdienst hat das Manuskript, das er lediglich in Verwahrung hatte, nicht mehr herausgerückt. Heute wäre Pfarrer Naghi froh, wenn er das Manuskript hätte, denn er schreibt ein Buch über seinen Eigentümer.
Seine ersten Konflikte mit dem Geheimdienst hatte Naghi schon als Schüler und Student. Einen ersten Fehler hat Naghi auf dem Gymnasium begangen, als
sein Geschichtslehrer das Thema zweiter Parteitag der rumänischen Kommunisten behandelte. Als der Lehrer ihn aufgefordert hatte, etwas zum Thema zu sagen, teilte Naghi ihm mit, er könne, wolle aber nichts dazu sagen. Nach der Aufregung des Lehrers bestellte der Vikar ihn eines Tages zum Bischofssitz, wo zwei Geheimdienstmitarbeiter ihn sprechen wollten. Weil er sie wissen ließ, er fühle nicht das Bedürfnis, mit ihnen zu sprechen, wurde er zum Verhör ins Polizeihauptgebäude eingeladen.
Einen ganz großen Fehler habe er 1981 oder 1982 begangen. Naghi hat seinen Wagen trotz eines Sonntagsfahrverbots gefahren. In jenen Jahren war der Treibstoff in Rumänien rationiert. An einem Sonntag durften lediglich die Wagen mit Paarzahl auf den Nummernschildern verkehren, am darauffolgenden die mit Unpaarzahl. Weil Naghi als Pfarrer aber auf den Wagen angewiesen war, hat er sich über diese Regelung hinweggesetzt und wurde prompt von der Polizei gestoppt. Was folgte, war eine Reihe von Schikanen. 1989 ist das Fass schließlich übergelaufen. Pfarrer Naghi hat sich für die Flucht entschieden, und zwar über Ungarn, weil er des Ungarischen mächtig ist. Als Ziel hatte er Deutschland im Visier, weil er als gebürtiger Temeswarer auch Deutsch gelernt hat. Naghi hat sich für die Flucht am Tag entschieden, er wollte keinesfalls nachts wie blind umhertappen. Etwa 150 Meter von der Marosch entfernt, die bei Tschanad die Grenze zu Ungarn bildet, hat er bemerkt, wie sich ein Grenzsoldat mit einem Hund ins Gras gelegt hat. Naghi konnte ihn umgehen und den angeschwollenen Fluss erreichen. Sein Glück: Das Wasser war warm. Mit großer Mühe hat er das ungarische Ufer erreicht, wobei der Beutel mit den Kleidern und den wichtigsten Dokumenten ihn auch noch ziemlich behinderte. Erst nach zwei Stunden konnte er sich aufraffen und den Deich erklimmen, um den Weg halbwegs erholt fortzusetzen. Naghi wollte sich jetzt nicht mehr verstecken, denn er wusste, dass Ungarn 1989 längst keine Flüchtlinge mehr an Rumänien ausliefert. Deshalb ist er auf dem Dammkamm geblieben, wo er bald einem Mopedfahrer begegnetet, der einige Male wendete und an ihm vorbeifuhr, um schließlich zu fragen, ob er lesen könne. Darauf hat Naghi ihm auf Ungarisch geantwortet, er sei ein Esel, weil er ihm auf diese Art begegne. Er hätte ihn doch wohl eher fragen können, wie es ihm gehe, ob er durstig sei oder vielleicht auch hungrig, er hätte ihn höflicherweise auch zu einem Kaffee einladen können.
Verhör bei den Russen
Nach dieser Moralpredigt bittet der Uniformierte ihn tatsächlich zu sich nach Hause, wo ihn kurz darauf vier Russen abholen. In der russischen Kaserne angekommen, wollen die Militärangehörigen wissen, wo er die Grenze passiert habe, obwohl sie ihm vorher schon mitgeteilt haben, sie hätten ihn beim Grenzübertritt
beobachtet. Gleichzeitig teilen sie ihm mit, am Vortag hätten rumänische Grenzer eine Frau mit zwei Kindern erschossen.
Von Ungarisch Tschanad (Magyar Csanád) ist er zum Geheimdienstsitz nach Segedin gebracht worden. Er sei höflich behandelt worden, dabei habe es allerdings einen Anwerbungsversuch gegeben. Naghi teilt den Geheimdienstlern lediglich mit, bevor er sich für eine Mitarbeit für den Geheimdienst entscheide, müsse er seine beiden Kinder fragen, ob sie damit einverstanden seien. Damit ist das Thema vom Tisch. Naghi kann Quartier beziehen in einem Hotel in Segedin.
Ein Freund, der am Plattensee (Balaton) zu Hause ist, bringt Naghi zweimal an die österreichische Grenze. Beide Versuche, in der Nähe von Hegyeshalom nach Österreich zu gelangen, scheitern. Naghi ist seit einem Monat in Ungarn, als er den dritten Versuch wagt. Vom Bahnhof in Budapest fährt er mit dem Zug nach Kapuvár. Er steigt bewusst dort aus, denn bei einer Fahrt bis Hegyeshalom würde er bestimmt auffallen. Zusammen mit ihm hat mehr als ein Dutzend Pendler den Zug verlassen. Naghi hat den Eindruck, dass im Zug mehr Geheimdienstmitarbeiter als normale Reisende gesessen hatten. In Kapuvár fallen ihm gleich zwei Männer auf, die am Rande eines Parks mit einem russischen Wagen des Typs Lada unterwegs sind. Durch den Park erreicht Naghi unwegsames Gelände und stößt auf einen Bach, von dem er weiß, dass er nach Österreich fließt. Von einem Acker aus erkennt er um eine gewisse Zeit eine sehr hell leuchtende Lampe auf dem Gelände eines Grenzerstützpunktes. Sie dient ihm ab sofort als Orientierungspunkt. Über Felder, durch Wald und viele Maisfelder muss er sich zur Grenze durchschlagen.
Plötzlich fährt Naghi die Angst in die Glieder, als er einen Keiler aufgeschreckt hat. Dessen Flucht wiederum erschreckt Grenzer in unmittelbarer Nähe. Der Keiler hat ihm Glück gebracht, Naghi ist den Soldaten nicht in die Arme gelaufen. Er umgeht sie und bittet Gott, ihn in die Freiheit zu geleiten. Naghi gelangt in ein Maisfeld, dessen Reihen in Kreuzform angelegt sind, um Flüchtlinge in die Irre zu führen. Doch er hat wieder Glück: Der Wind weht ihm vom Grenzkontrollpunkt entgegen. Die harten Maiskolben machen ihm zwar zu schaffen, sie schlagen ununterbrochen gegen seinen Körper. Doch Naghi weiß, dass der österreichische Grenzschutz zwischen 5 und 7 Uhr nicht auf Streife ist. Diese Zeit nutzt er, um die Grenze zu passieren. Er durchwatet einen Sumpf, weiß aber noch immer nicht, ob er schon in Österreich ist. Er ist inzwischen durstig und muss wohl an die 40 Kilometer zu Fuß zurückgelegt haben. In Weingärten bedient und stärkt er sich mit Trauben. Dann endlich steht er vor einem Mast, der deutsch beschriftet ist.
Und dann ist das Glück erneut an seiner Seite. Er erreicht das erste österreichische Dorf, die Kirchenuhr schlägt fünf, da bemerkt er einen Mann, der sich am Motor eines Lada zu schaffen macht. Naghi spricht ihn an, er will wissen,
ob sie sich auf Deutsch oder Ungarisch verständigen sollen. Der Autofahrer ist Ungar. Naghi fragt ihn in seiner Muttersprache, ob er ihn für 100 Dollar und sein ganzes ungarisches Geld nach Salzburg fährt. Der Mann tut es.
In Salzburg erfährt Naghi, dass der bundesdeutsche Grenzschutz allein in der vergangenen Nacht 41 Grenzgänger gestellt und zurückgeschickt hat, weil er Nachtsichtgeräte einsetzt. Naghi möchte nicht erwischt und den österreichischen Behörden ausgeliefert werden. Das Glück ist weiter mit ihm. Als er durch eine Salzburger Straße schlendert, hält plötzlich ein Mercedes mit Nürnberger Kennzeichen neben ihm. Der Fahrer steigt aus, nimmt eine Tüte aus dem Kofferraum und geht in einen Laden. Naghi hat eine Eingebung: Er legt sich in den Kofferraum. Nach einer Viertelstunde steigt der Fahrer ein und fährt los. Beim ersten Stopp nach der Grenze steigt Naghi aus, läuft aber nicht weg, sondern setzt sich neben den Wagen, um nicht aufzufallen. Er ist in Deutschland.
Er ruft einen Bekannten in Aachen an, den er eigentlich nach dem Übertritt der rumänischen Grenze in Mako hätte treffen sollen. Der Freund fragt, an welcher Straßenkreuzung er sich befindet und holt ihn ab. Drei Jahre bleibt er in Aachen, dann wandert er in die USA aus.
Gheorghe Naghi arbeitet nach dem Theologiestudium als Diakon und Pfarrer in seiner Geburtsstadt Temeswar. In Aachen ist er als Zeitarbeiter bei der Aachener Volkszeitung tätig. Heute lebt er mit seinem Sohn Cristian in San José in Kalifornien. In den USA war er Pfarrer in Hayward, wo unter seiner Regie eine Kirche gebaut und 1998 geweiht wurde. Ferner war er Beamter und Fahrer.