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Beim Fluchtversuch die Beine verloren
Norbert Koch:
Verkehrsunfälle haben das halbe Leben von Norbert Koch beeinflusst und bestimmt. Vor 22 Jahren hat er bei einem Fluchtversuch mit dem Zug beide Beine verloren; kurz vor den Paralympischen Spielen 2008 in Peking hat ihn ein Auto angefahren. Während das erste Unglück sein weiteres Leben entscheidend prägen sollte, war der Unfall, den er mit dem Handbike im Landkreis Karlsruhe hatte, nicht so tragisch; er hat ihn wahrscheinlich um eine Medaille bei den Spielen in China gebracht.
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Koch, der am 4. Mai 1970 in Lenauheim, dem Geburtsort des großen österreichischen Dichters Nikolaus Lenau (1802-1850), das Licht der Welt erblickt hat, ist heute ein lebensfroher Mensch. Die Schicksalsschläge hat er weggesteckt. Er selbst sagt von sich, er sei ein positiv Denkender. „Das Leben geht weiter, man muss die Wege gehen, wie sie sich einem anbieten“, sagt er heute. Zum vielleicht vollkommenen Glück hat ihm nur eines gefehlt: ein Kind. Das hat er inzwischen: Seit Januar 2009 ist er stolzer Vater eines Töchterchens.
Koch beginnt nach dem Fachabitur im Städtchen Hatzfeld an der rumänischserbischen Grenze in der Keramikfabrik zu arbeiten und bekommt Ende der 1980er Jahre mit, wie immer mehr Landsleute die Flucht aus Rumänien antreten. Aus dem Betrieb, in dem er beschäftigt ist, gelingt dem einen oder anderen die Flucht in Güterzügen nach Jugoslawien. Auch Koch entschließt sich, diesen Weg einzuschlagen.
Am Abend des 15. November 1988 versteckt er sich im Gebüsch an der Eisenbahnlinie und versucht, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen. Der Zug ist zu schnell, Koch gerät unter die Räder und verliert beide Beine. Der Pförtner der Keramikfabrik hört seine Schreie und alarmiert den Rettungsdienst, der auch rasch zur Stelle ist. Koch weiß nicht, wie lange es gedauert hat. Er meint, es könnten fünf, aber auch zehn Minuten vergangen sein, bis der Rettungswagen zur Stelle war.
Die kurz darauf eingetroffenen Grenzer wollen den Schwerverletzten festnehmen und verhindern, dass er ins Krankenhaus kommt. Doch der Sanitäter setzt sich durch und nimmt ihn mit ins Krankenhaus, wo Ärzte ihm das Leben retten. Die Geheimpolizei Securitate lässt ihn wegen der schweren Verletzungen in Ruhe; die Haft bleibt ihm erspart. Nach sechs Wochen ist er zu Hause in Le nwürdiges Leben zu führen. Es fehlt die nötige Versorgung, ferner Prothesen und Rollstühle. Norbert Koch hat wieder Glück: Im Dezember 1989 stürzt das kommunistische Regime in Rumänien, im April 1990 kann er nach Deutschland umsiedeln und findet in Karlsruhe eine neue Heimat.
Nach der Umschulung zum Mikroelektroniker in Heidelberg bewirbt er sich bei Siemens in Karlsruhe, wo er noch heute arbeitet. 1992 beginnt er in Langensteinbach Basketball zu spielen. Mit der dortigen Mannschaft steigt er in die Zweite Rollstuhlbasketball-Bundesliga auf. 2005 orientiert er sich sportlich neu, er wird Handbikefahrer. Mit einem von ihm weiterentwickelten Dreirad mit Vorderradhandantrieb wird er 2007 in Bordeaux Vizeweltmeister. Inzwischen ist er mehrfacher deutscher Meister.
Seine berechtigten Medaillenträume vor den Paralympischen Spielen 2008 hat ein Unfall zwei Wochen vor der Abreise nach China zunichte gemacht: Während des Trainings mit dem Handbike hat ein Autofahrer ihm die Vorfahrt genommen und ihn angefahren. Prellungen und Sehnenverletzungen haben ihn erneut zu einer Trainingspause gezwungen; schon zuvor musste er aussetzen wegen einer Schulterverletzung.
Norbert Koch unterwegs mit seinem Dreirad
In Peking kommt er nicht auf Touren. Beim Straßenrennen über 48,4 Kilometer bremsen ihn heftige Schmerzen; er hält durch, kommt aber 20 Minuten nach dem Sieger ins Ziel. Aber schon die Teilnahme an den Paralympics war für Koch ein Traum: „Hätte mir das vor ein paar Jahren jemand prophezeit, hätte ich nur gesagt, du spinnst“.
Zum Handbiken sind gewaltige Oberarme nötig. Die braucht der Sportler, um mit dem Handbike über den Asphalt zu jagen. Handbiken ist Radfahren für Rollstuhlfahrer. Je nach Grad der Behinderung liegen oder knien die Fahrer im
Dreirad. Statt in die Pedale zu treten, treibt der Athlet das Gerät über eine Handkurbel voran.
Spitzenfahrer wie Norbert Koch erreichen Geschwindigkeiten von 50 Kilometern in der Stunde. Handbikefahrer brauchen nicht nur Kraft, sondern müssen auch gute Taktiker sein. Der Sportler muss den richtigen Augenblick finden, um aus dem Windschatten der Konkurrenz herauszufahren und zu attackieren. Koch liebt die Mischung aus Kraft und Finesse; er zieht deshalb die direkte Auseinandersetzung im Straßenrennen dem Zeitfahren vor.
In Peking haben mit Ernst van Dyk aus Südafrika und dem für die USA startenden Mexikaner Alejandro Albor zwei Legenden des Handbikesports Gold und Silber gewonnen. 2007, bei den Weltmeisterschaften, hatte sich Koch als Silbermedaillengewinner zwischen den beiden platziert. Das Handbike ist für Koch mehr als ein Sportgerät. Es hilft ihm, seinen Freiheitsdrang auszuleben. Manchmal macht er Ausflüge von mehr als 100 Kilometern.
Norbert Koch kann Handbiken als Spitzensport betreiben, weil sein Arbeitgeber ihn durch eine großzügige Arbeitszeitregelung unterstützt. Koch will noch viele Jahre handbiken. Nächstes großes Ziel: 2012 will der heute 40-Jährige in London bei den Paralympics antreten.