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Schwere Entscheidung, schwerer Weg
Von Elisabeth Taugner
Wer eine weite Reise plant, sollte sich darauf gut vorbereiten oder ein wichtiges Ziel haben. Manchmal macht man Reisen gezwungenermaßen, aus politischen, materiellen oder familiären Gründen. Die größte, schwerste Reise meines Lebens war eine Reise, von der wir wussten, dass es kein Zurück mehr geben wird. Eine Reise in ein anderes Leben, aber auch der Entschluss, alles bisher Aufgebaute zurückzulassen und Freunde zu enttäuschen. Es war aber auch die Hoffnung, ein neues, ruhigeres, freieres Leben zu führen. Warum fassten wir, wie viele andere, diesen Entschluss? Es waren schwerwiegende, Elisabeth Taugner gewichtige Gründe, die vielleicht später viele nicht nachvollziehen können. Vor allem, dass in diesem „unserem“ Lande nach dem Zweiten Weltkrieg eine grundlegende Veränderung stattgefunden hatte. Deutschland hatte den Krieg verloren. Da wurden wir Deutschen in Rumänien kollektiv als Mitschuldige abgestempelt und zu Freiwild im Lande. Der stalinistische Kommunismus war Rumänien aufgezwungen worden. Die Regierung enteignete unser Hab und Gut. Dazu kam der geschürte Hass gegen die Deutschen. Überall war man im Wege. Es folgten die Deportation zum Wiederaufbau in die Sowjetunion, die Verbannung in die Donau-Tiefebene (B -Steppe). Deutsche Jugendliche durften in den ersten Nachkriegsjahren nicht studieren, selbst den Militärdienst mussten die meisten als Soldaten zweiter Klasse in Arbeitseinheiten, in Bleiminen oder Kohlegruben, bei der Bahn oder auf Großbaustellen leisten.
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Als Mitte der l950er Jahre etwas Ruhe einkehrte, die enteigneten Häuser rückerstattet wurden, haben sich trotzdem die Wut und der Neid auf und gegen die Deutschen gehalten, die sich durch Fleiß, Sparsamkeit und gutes Wirtschaften materiell wieder ein wenig erholten.
Dann kamen di -Regimes. Nun hieß es: „Eingliederung in das große rumänische Volk“. Immer mehr deutsche Schulen wurden geschlossen, deutsche Kulturveranstaltungen verboten oder politisch und rumänisch unterwandert, religiöse Veranstaltungen wurden desgleichen auf immer engeren Raum zurückgedrängt. Man wurde bespitzelt, ob man in die Kirche
geht. Taufen, kirchliche Eheschließungen wurden immer häufiger versteckt vollzogen.
Mein Arbeitskollege Hans sagte mir öfter im geheimen: „Wir sind wie ein alter Baum, dem ein Ast nach dem anderen abgehauen wird, dann die Wurzeln, bis er ganz verdorrt“. Dies waren die allgemeinen Ursachen. Wir wollten lieber den ganzen, gesunden Baum verpflanzen, als dass unsere Gemeinschaft langsam, aber sicher stirbt.
Etwa 1970 wurde bei Lunga an der serbischen Grenze ein sogenannter „kleiner Grenzübergang“ eröffnet. Wir waren nur etwa vier Kilometer von Nakodorf (Nakovo) in Serbien entfernt. Eine größere Zahl Bewohner der Gemeinde beantragten und erhielten Pässe für den „kleinen Grenzverkehr“; sie durften zwölfmal im Jahr bis nach Kikinda, einer neun Kilometer von der Grenze gelegenen Kleinstadt fahren. Mal mit dem Fahrrad, mal mit dem Bus oder auch zu Fuß ging es vor allem zum Einkauf, weil die Mangelwirtschaft in Rumänien allmählich unerträglich wurde.
Als die ersten herausgefunden hatten, dass man diese „kleine Freiheit“ dazu nutzen konnte, in die „große Freiheit“ (den Westen) zu gelangen, nahm man immer mehr Bürgern die Pässe weg – besonders den Deutschen. Mir nahm man einmal für kurze Zeit den Pass weg, weil ich Komloscher Nonnen ein Paket mit kleinen Gebetbüchern und Zetteln mit verschiedenen christlichen Texten von den Kikindaer Schwestern mitgebracht hatte. Ich wurde nicht an der Grenze erwischt, sondern vom Fahrer des Komloscher Altenheims (einem Arbeitskollegen der aus dem Kloster vertriebenen Nonnen) den Parteibonzen verraten.
Durch gutes Zureden unseres Bürgermeisters bekam ich nach etwa einem halben Jahr meinen Pass zurück. Meiner Tochter wurde der Pass entzogen, weil sie serbisches Geld bei sich hatte. Durch die Intervention meiner Vorgesetzten bekam sie ihn nach etwa zwölf Monaten wieder. Diese Pässe waren uns deshalb so wichtig, weil man in Jugoslawien vieles kaufen konnte, was man zum Leben brauchte, das es in Rumänien nicht mehr gab. Es kostete zwar einiges, aber was tut man nicht alles, um etwas Besseres zum Essen zu haben.
Allmählich reifte in uns der Entschluss, zu flüchten. Ich sagte zu meiner Tochter Liesy: „Wenn du den Pass noch einmal bekommst, dann wählen auch wir den Weg in die Freiheit“.
Schlaflose Nächte
Im Dezember 1984 war Liesy mit einer Freundin, der Tochter des Bürgermeisters, zu Besuch in Deutschland und fand dort den Mann fürs Leben, kam aber vorerst ihrem Vater keine Schwierigkeiten zu bereiten. Am 8. Januar 1985 starb meine Mutter. Damit hatte ich keine Verpflichtungen mehr zu Hause, und wir planten,
im Juni 1985 zu verschwinden. Der Entschluss war schnell gefasst, aber was dann kam, war die Hölle für mich. Depressionen, Magenschmerzen, schlaflose Nächte. Ich war bis auf 48 Kilogramm abgemagert. Immer wieder machte ich mir Mut, zumal schon ein Großteil meiner Freunde und Bekannten ausgewandert waren. Sie hatten viel Geld dafür bezahlt, Devisen, die wir nicht hatten, weil wir auch keine Verwandten hatten, die für uns soviel gezahlt hätten. Um irgendwie die sechs Monate des Wartens zu überbrücken, arbeitete ich wie eine Irre, tags im Dienst, abends im Garten oder im Haus, um „Überflüssiges“ zu verbrennen oder zu beseitigen.
Im Dienst, im Bürgermeisteramt, half ich noch einigen mir nahestehenden Menschen. Am 6. Juni l985, es war Fronleichnam, machten Liesy und ich uns bei großer Hitze auf den Weg, der viel mühsamer werden sollte, als wir vermuteten. Die Fahrräder ließen wir bei Bekannten an der Grenze mit der Begründung, dass wir, da ich krank war, mit dem Bus von Nakodorf nach Kikinda fahren würden. In Kikinda ging ich in die Kirche, wartete und betete. Liesy verkaufte noch einige Sachen auf dem Markt. Ihr Freund und späterer Ehemann kam pünktlich mit dem Auto. Ich legte mich auf die hinteren Sitze, damit mich keine Landsleute im deutschen Auto sehen. Es ging nach Belgrad. Einmal musste er tanken, die Reise verlief reibungslos. Der Weg schien mir aber unendlich lang.
In Belgrad fragten wir uns zur deutschen Botschaft durch. Aber trotz des deutschen Autos schien jeder zu wissen, dass wir keine Bundesbürger sind. Endlich angekommen, lasen wir auf dem Haus nebenan: „Ambasada Republicii Socialiste România“ (Botschaft der Sozialistischen Republik Rumänien). Davor standen zwei Posten in rumänischer Militäruniform. Wie wir an ihnen vorübergekommen sind, wissen wir nicht mehr. Es war bekannt von anderen, dass von diesen schon oft Menschen hineingezerrt und nach Rumänien zurückgeschleppt wurden. Am Eingang der deutschen Botschaft angekommen, wurden wir beide ohnmächtig. Es war 12 Uhr, und die Botschaft hatte bis 14 Uhr geschlossen. Man riet uns, zum Bahnhof zu gehen, Fotos zu machen und zurückkommen.
Die beiden Stunden bis zur Wiedereröffnung der Botschaft waren wie ein Alptraum. Pünktlich kamen wir auf einem anderen Weg zurück, um den Rumänen nicht wieder zu begegnen. Wir wurden sehr höflich befragt, unsere Daten wurden aufgenommen, um Pässe für uns auszustellen. Als wir mit einem Papier mit dem Vermerk „Ches is clear“ zur UNO-Botschaft geschickt wurden, waren wir erleichtert. Dort gab es aber Schwierigkeiten, weil wir keine Einreise hatten. Auch wollte man uns erst am nächsten Tag eine Unterkunft geben. Nach vielem Hin und Her in Deutsch, Englisch und Französisch wurden wir in ein Hotel einquartiert. Es hieß „Avala“ und war gegenüber dem Hauptbahnhof. Die erste Nacht verbrachten wir in einem Zimmer mit einer hochschwangeren Rumänin. Sie war mit ihrem Mann und einer Gruppe schwarz über die Grenze gekommen.
Die anderen aus der Gruppe waren wegen illegalen Grenzübertritts zu Gefängnis verurteilt worden. Am zweiten Tag bekamen wir ein Zimmer mit einer Temeswarer Rumänin, die auf dem Weg zu ihrem Mann nach Amerika war und auf einige Papiere wartete. Sie hatte keine Einreise nach Amerika, aber einiges Geld vom Ehemann, und so haben wir wenigstens einiges von Belgrad gesehen. Ich habe viel geweint und hatte immer Angst um meine Tochter, wenn sie allein mit dieser Frau unterwegs war.
Die Tage vergingen zwischen Hoffen und Bangen, Angst und Verzweiflung, fast täglich waren wir bei der UN-Botschaft oder an der Donau. Wir bekamen einen Ausweis für Straßenbahn und dreimal täglich Essen im Hotelrestaurant. Ich konnte noch immer nichts essen, bin weiter abgemagert. Zuletzt hatten wir kaum noch Geld, um uns Wasser zu kaufen.
Securitate holt Sportler ab
Im Hotel waren weitere Rumänen und ein Banater Schwabe aus Alexanderhausen mgebung. Alle waren schwarz über die grüne Grenze oder über die Donau geflüchtet. Von ihnen erfuhren wir verschiedene Verhaltensregeln, da einige schon ein Jahr und länger dort ausharrten und auf Einreisen nach Kanada oder Australien warteten. Ein Temeswarer, Sohn besserer Eltern, bekam regelmäßig Geld von zu Hause. Andere gingen zu den Bauern arbeiten, um sich etwas zu verdienen. In diesem Hotel war ein rumänischer Sportler (Ringer oder Boxer), den holte die rumänische Securitate aus dem Hotel und brachte ihn zurück nach Rumänien.
Nach etwa drei Wochen bekamen wir unsere Papiere – einen Pass für Staatenlose – und konnten uns die Fahrkarte für Nürnberg kaufen. Vor der Abreise aus Belgrad hatte sich das Wetter verschlechtert. Ein kalter Regen durchnässte uns auf dem Weg zum Bahnhof bis auf die Haut. Im Zug war es auch kalt. Sowohl Mitreisende als auch Zugbegleiter erkannten uns sofort als Flüchtlinge und sagten: „Iz Rumunju“, aus Rumänien. Die Kontrolleure erlaubten sich schlechte Witze, weil sie sahen, dass wir vor Angst zitterten. Unsere Füße und Sandalen trockneten erst in Deutschland. In Slowenien und einem Teil von Österreich hatte es sogar geschneit. Am nächsten Tag erreichten wir München. Die Sonne schien wieder, und wir fanden recht schnell den Zug nach Nürnberg. Weil es im Abteil sehr warm war, trockneten unsere Kleider endlich.
In Nürnberg angekommen, gingen wir zur Bahnhofsmission, wie uns das Personal der deutschen Botschaft in Belgrad geraten hatte. Dort begegneten wir den letzten unfreundlichen Menschen auf dieser schweren Reise. Es war ein älterer Herr, der immerzu telefonierte, um einen Friseurtermin für seine Frau auszumachen. Dann war noch ein jüngerer da, der aß knusprige Semmeln mit Butter und Salami und trank Kaffee dazu. Wir hatten ihnen gesagt, dass wir anderthalb Tage
nichts gegessen haben. Einmal fragte er uns, ob wir auch Semmeln wollen. Wir sagten nein, weil wir kein Geld hatten. Darauf antwortete er: „Es hätte ja nichts gekostet“. Damit war das Gespräch beendet. Als der Alte austelefoniert hatte und uns erklärte, wie wir ins Auffanglager kämen, bequemte sich der jüngere wenigstens, uns bis zur Straßenbahn zu begleiten und zu erklären, wo wir aussteigen sollten. Im Durchgangslager angekommen, bekamen wir trotz Dienstschlusses noch Essenbons und ein gutes Zimmer.
Wir waren wie erlöst. Endlich fühlten wir uns in Sicherheit. Am kommenden Tag gab man uns Wäsche, Kleider und Schuhe. Zwei Tage wurden wir in verschiedenen Büros befragt und belehrt, ärztlich untersucht, bekamen einen Flüchtlingsausweis und konnten nach Augsburg fahren, wo Schwägerin Karolin uns erwartete. Weil dort kein Platz im Übergangswohnheim war, wohnten wir zwei Wochen bei Karolin. Täglich mussten wir zu Ämtern: Arbeitsamt, Ausgleichsamt, Wohnungsamt, Flüchtlingsamt, Standesamt, Meldeamt, BfA oder LVA. Alle Papiere, die ein Mensch in seinem Leben erwirbt, mussten erneut ausgestellt werden.
Tochter Liesy bekam ziemlich schnell Arbeit. So beanspruchten wir keine Sozialhilfe oder andere staatlichen Mittel. Später bekam ich Arbeitslosengeld, und das drei Jahre lang, da ich schon älter als 55 Jahre war. Inzwischen wurde ich zum Gesundheitsamt gerufen. Bei den Untersuchungen in Nürnberg hatte man entdeckt, dass ich an Lungentuberkulose erkrankt war. Nach sechsmonatiger ärztlicher Behandlung, Zeit, in der ich Krankengeld bezog, war ich wieder gesund. Arbeit fand ich in meinem Alter keine mehr. Vom 58. bis zum 60. Lebensjahr bekam ich Arbeitslosenhilfe, mit 60 Erwerbslosenrente und ab 65 Altersrente.
Im Übergangswohnheim bewohnte ich anfangs mit Liesy ein Zimmer, später ein kleines allein. Man musste sich das Heizmaterial selbst besorgen. Die Miete war recht günstig. Im Dezember 1986 zog ich als Mieterin in eine kleine Wohnung in Lechhausen.
Um Rumänien besuchen zu können, mussten wir die rumänische Staatsbürgerschaft aufgeben. Wir waren persönlich in Bonn vorstellig, hatten wieder Angst vor den rumänischen Dienststellen in der Botschaft. Wir mussten wieder viele Papiere ausfüllen. Nach fast zwei Jahren erhielten wir die Absage. Die aber lautete: „Entzug der Staatsbürgerschaft der Sozialistischen Republik Rumänien wegen illegalem Verlassen des Landes“. Wir hatten aber für die „Absage“ 860 Mark bezahlt. Warum? So war es im kommunistischen Rumänien, und so ist es in vielem heute noch, denn bekanntlich verliert der Fuchs nur seine Haare.
Augsburg, im Januar 2010