ATLAS 14 - NEU / NEW

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Gemischte Gefühle text Martin Kaluza

Menschen reagieren auf manche Neuerungen enthusiastisch, auf andere wiederum sehr verhalten. Doch warum? Der US -amerikanische Soziologe Everett Rogers (1931–2004) beschäftigte sich mit dieser Frage ein Leben lang. Als in den 1930er Jahren eine neue Hybrid-Saat für Mais auf den Markt kam, waren nicht alle Farmer in Iowa überzeugt. Rogers’ Vater war einer von ihnen: Er war zwar aufgeschlossen für neue Ackergeräte, aber von biochemischen Neuerungen hielt er nichts. Im Dürrejahr 1936 änderte er seine Meinung, als er sah, dass seine Nachbarn, die die neue Maiszüchtung gesät hatten, weniger Ernteausfälle hatten als er selbst. 1962 beschrieb Sohn Everett, der während der Dürre erst fünf Jahre alt war, in der »Diffusionstheorie«, wie sich Innovationen durchsetzen. Er prägte den Ausdruck »Early Adopter« für Menschen, die Innovationen früh annehmen. Was Ackergeräte anging, war sein Vater ein Early Adopter – bei neuem Saatgut zählte er zu den spät Überzeugten. Die Top 7 der Neuerungen, die teils sehr skeptisch beäugt, teils euphorisch begrüßt wurden, geben einen Einblick in gesellschaftliche Stimmungszustände zu unterschiedlichen Zeiten.

Eisenbahn: Wahnsinn und Angst vor der Höllentechnik Europa verdankt seine Industrialisierung zu großen Teilen der Eisenbahn. Doch sie hatte keinen leichten Start. Bevor in Deutschland 1835 der erste Zug zwischen Nürnberg und Fürth rollte, hatte der Pfarrer der nahe gelegenen Gemeinde Schwabach gewarnt: »Die Eisenbahn kommt aus der Hölle, und jeder, der mit ihr fährt, kommt geradezu in die Hölle hinein.« Ärzte waren besorgt – wer mit so hoher Geschwindigkeit unterwegs sei, riskiere Gehirnkrankheiten und Lungenentzündungen. In England fuhren die ersten Züge schon zehn Jahre früher. Doch dort häuften sich in den 1860er Jahren Fälle, in denen sich zunächst unauffällige Passagiere an Bord plötzlich verrückt benahmen – zumindest solange die Räder der Waggons rollten. Beim Halt beruhigten sie sich zwischenzeitlich.

Den Erfolg der Bahn bremste das nicht: 1885 waren in England 30.000 Kilometer Strecke verlegt, in Deutschland sogar bereits 40.000.

Röntgenstrahlen: Begeisterung für den Durchblick Einfach so in einen Menschen hineinschauen, ohne ihn aufzuschneiden? Die Zufallsentdeckung, die Wilhelm Conrad Röntgen 1895 gemacht hatte, wurde begeistert aufgenommen. Bei Arbeiten in seinem Labor hatte der Physiker festgestellt, dass einige Strahlen aus seiner Kathodenstrahl-Anode Kristalle zum Leuchten brachten – selbst dann, wenn er die Röhre mit Karton abdeckte. Die »X-Strahlen«, wie er sie nannte, durchdrangen Holz, Wasser und auch den menschlichen Körper. Als Erstes durchleuchtete Röntgen die Hand seiner Frau. Die Erfindung half, Knochenbrüche und Skeletterkrankungen zu diagnostizieren. Bald konnte man sich auf Jahrmärkten zur Unterhaltung durchleuchten lassen. Schuhgeschäfte überprüften, ob die Füße ihrer Kunden gut in den Schuhen saßen. Röntgen erhielt für seine Erfindung, die er übrigens mit Absicht nie zum Patent anmeldete, 1901 den ersten Physiknobelpreis. Bald erhielt die Begeisterung jedoch einen Dämpfer: Es stellte sich heraus, dass seine X-Strahlen Krebs verursachen. Seit 1941 dürfen die Strahlen nur unter Sicherheitsvorkehrungen und von geschultem Personal eingesetzt werden – meist zu medizinischen Zwecken.

Anschnallpflicht: Unliebsame Erinnerung an die Gefahr Die Anschnallpflicht zählt zu den ungeliebten Neuerungen. Und das, obwohl der Nutzen des Sicherheitsgurts im Auto schon vor ihrer Einführung – in Österreich und Deutschland galt sie für die Vordersitze ab 1976 – unbestritten war. Im Vorjahr erlebte die Öffentlichkeit eine hitzige Debatte. Der Gurt schränke die Bewegungsfreiheit ein, mäkelten die Gegner. Wenn das Auto unter Wasser gerate oder brenne, sei man an den Sitz


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Impressum Imprint

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Neu im Netz New on the Web

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The seven-year switch

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The way forward for land transport

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Wo geht es hin im Landverkehr?

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Gute Antworten auf die Fragen der Krise

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Learned anything new today?

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Over the sea or through the air?

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Die Welt in Orange Orange Network

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Über das Meer oder durch die Luft?

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Den Reservetank füllen

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When does the new get old?

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Mixed feelings

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Was bleibt, was kommt?

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Gemischte Gefühle

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»Die Nachfrage nach EU-Gütern ist unersättlich«

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Comings and goings

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“The demand for EU goods is pretty insatiable”

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Die Zeitung von gestern – Wie lange ist das Neue neu?

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