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Vorwort
Bereits vor 170 Jahren formulierte Micurà de Rü (Nikolaus Bacher) als einer der großen Pioniere der ladinischen Sprache ein Desideratum, und das vorliegende Werk kann ohne weiteres als die Realisierung dieses Wunsches bezeichnet werden: in der Vorrede zu seinem 1833 verfassten Versuch einer Deütsch-Ladinischen Sprachlehre schrieb der aus Sankt Kassian stammende Priester und Ladinist: «Bisher war man der vollen Meinung, diese Sprache lasse sich durchaus nicht schreiben. Diesem Vorurtheil zu begegnen erscheint hier zum ersten Mahle eine nach allen Regeln anderer Sprachlehren systematische, möglichst vollständige Grammatik in Deütsch-Ladinischer Sprache.» Der Versuch Bachers, eine gemeinsame ladinische Schriftsprache zu schaffen, blieb damals erfolglos – das Manuskript wurde erst vor wenigen Jahren in Ladinia XIX (1995) veröffentlicht – und es dauerte über ein Jahrhundert, bis die Idee von den Ladinern endlich aufgegriffen wurde. «Wenn heute unter den meisten ladinischen Kulturträgern die Einsicht gereift ist, dass das Ladinische (zumindest für bestimmte Bereiche) eine normierte Schriftsprache für alle Täler braucht (...)» so der Herausgeber der Grammatik von Micurà de Rü, Lois Craffonara, «dann ist man dort angelangt, wo Bacher schon vor über 160 Jahren war» (vgl. Ladinia XVIII, 1994, S. 199-200). Die Veröffentlichung einer Grammatik des Standardladinischen ist mit Sicherheit das schönste Geschenk, das die Ladiner heute ihrem großen Vorfahren machen können.
Die Gramatica dl ladin standard(GLS) – ebenso wie das Dizionar dl ladin standard (DLS), das demnächst herauskommen soll, ist das Kind eines neuen Bewusstseins, das innerhalb der Institutionen der ladinischen Kultur in einem langen Diskussionsprozess entstanden ist. Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ein Stück anstrengenden Weges begangen, wobei wir nicht wenige Hindernisse überwinden mussten, uns aber auch viel Genugtun zuteil geworden ist. Der erste und heikelste Schritt war die Wahl eines Modelles für das Standardladinische. Es standen im Wesentlichen zwei Alternativen zur Auswahl: eines der bestehenden Idiome zum Standard zu erheben, oder aber eine Kompromisssprache zu erarbeiten, die die gemeinsamen Merkmale aller Talschaftsidiome des Dolomitenladinischen zusammenfasst. Micurà de Rüs Grammatik hatte sich auf das Badiot-Mareo gestützt, das er für den repräsentativsten und vitalsten Dialekt hielt. Die heutigen Verantwortlichen der ladinischen Kulturinstitutionen haben hingegen, wohl auch unter Berücksichtigung der derzeitigen geo- und psycholinguistischen Verhältnisse, für eine gemeinschaftliche Lösung optiert, für eine Koine, eine gesamtladinische Ausgleichssprache, in der sich jeder Sprecher des Ladinischen wiedererkennen kann, ohne auf seine Identität verzichten zu müssen. Letztlich hätte keines der bestehenden Schriftidiome eine Chance gehabt, in den anderen Tälern als Standardsprache akzeptiert zu werden.
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Ausgehend von einer solchen Vision, baten die ladinischen Kulturinstitutionen den Zürcher Professor Heinrich Schmid, die Prinzipien und die Methode für die Ausarbeitung einer Standard-Schriftsprache für ganz Ladinien zu erarbeiten. Schmids Wegleitung zum Aufbau einer gemeinsamen Schriftsprache der Dolomitenladiner (1994) hat den Weg geebnet für das Projekt SPELL (Servisc de planificazion y elaborazion dl lingaz ladin). Das Projekt konnte 1994 beginnen, mit dem Auftrag, die Infrastruktur und die Werkzeuge für die Erreichung des Vorgenommenen bereitzustellen. Die Gramatica dl ladin standard präsentiert die Normen und Regeln, mit deren Hilfe man im dolomitenladinischen Sprachraum Ladinisch in einheitlicher Weise schreiben und verwenden kann.
Wenn es uns heute möglich ist, der ladinischen Öffentlichkeit dieses Büchlein zu übergeben, so schulden wir zuallererst den Vertretern jener Organisationen Dank, die die Notwendigkeit eines Modernisierungsschubes für das Ladinische erkannt haben und die Ausarbeitung des Standardladinischen fördern, das für sie eine “wesentliche Priorität der ladinischen Sprachpolitik” darstellt: die Union Generela di Ladins dlesDolomites, die beiden ladinischen Kulturinstitute “majon di fascegn” und “Micurà de Rü”, sowie das Istitut Pedagogich Ladin. Neben diesen kulturellen Institutionen gebührt Dank und Anerkennung jenen Institutionen der öffentlichen Hand, die das Projekt finanziell gefördert haben, auf lokaler Ebene wie auf der europäischen. Das größte Verdienst obliegt freilich dem Team der wissenschaftlichen Mitarbeiter des SPELL; ohne die Mühen, das Engagement und die Flexibilität der jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wäre es nicht möglich gewesen, dieses Ziel zu erreichen. Ein herzliches Dankeschön gebührt schliesslich dem wissenschaftlichen Beirat des Projekts, der dem Team mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat, nicht zuletzt für seine Sympathie für die ladinische Sprache und für die Mühen der wissenschaftlichen Mitarbeiter. Besonders hervorheben möchten wir Professor Otto Gsell, der uns bei der Supervision der Arbeiten an der GLS geholfen hat, er legt die Vorzüge und ebenso die Grenzen der vorliegenden Gramatica dl ladin standard in der nachfolgenden Introduzion dar.
Mit der Herausgabe dieser Grammatik haben wir ein wesentliches Ziel auf dem Weg der Modernisierung des Ladinischen erreicht; trotzdem bleibt zu betonen, dass es sich nur um einen ersten Schritt bei diesem langen work in progress handelt. Wie jede Sprache wird auch das ladin standard zusammenwachsen und reifen müssen, gemeinsam mit den Sprachbenützern, den Ladinern selbst. Das Team des SPELL hofft, mit diesem Werk einen Beitrag zum Prozess der sprachlichen Vereinheitlichung geleistet zu haben, und bedankt sich im voraus bei allen, die sich die Mühe machen werden, das Buch zu lesen und uns Kritik oder Verbesserungsvorschläge zukommen lassen.
Badia - Luxembourg, jugn 2001 Erwin Valentini