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Denken in Sequenzen – Ein Gespräch mit Filmemacher und Architekt Marc Schwarz

Architektur zu verfilmen ist eine Herausforderung: Wie lässt sich dreidimensionaler Raum im zweidimensionalen Bild einfangen? Wie kann die Dramaturgie von Raumfolgen dargestellt werden? Lassen sich theoretische Konzepte veranschaulichen? Wie sind sinnliche Anmutungen, wie Lichtstimmungen oder haptische Qualitäten eines Raumes wiederzugeben? Räume filmisch zu fassen bleibt immer eine Annäherung an und eine Rekonstruktion von Realität. Am Ende haben die Gebäude zwei Baumeister: den Architekten und den Filmemacher. Architekturfilme bilden ein Nischengenre. Interessanterweise gibt es viele gelungene Beispiele aus der Schweiz. Das hängt einerseits damit zusammen, dass der Dokumentarfilm generell eine Stärke des einheimischen Filmschaffens ist und es andererseits eine hohe Dichte an interessanten Architekturbüros gibt, über die es zu berichten lohnt. Dabei sind unterschiedliche Haltungen denkbar: Ein Film kann sich um eine neutrale ausgewogene Perspektive bemühen oder eindimensional Position ergreifen. Er kann von einem spontanen Gestus getragen oder wie Architekturfotografie stark komponiert sein. Er kann sich auf historisches Material abstützen oder dem Fiktionalen annähern, etwa mit nachgespielten oder gezeichneten Szenen. Betrachtet man die inhaltliche Ausrichtung von Architekturfilmen, lassen sich drei Untergruppen ausmachen: Entweder sie greifen ein städtebauliches Thema auf, stellen ein einzelnes Gebäude ins Zentrum oder sie porträtieren Architektinnen und Architekten. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen.

Urbane Impressionen und Konzepte Eines der ersten filmischen Städteporträts ist Berlin – die Synphonie der Großstadt (D, 1927). Der deutsche Regisseur Walter Ruttmann, ursprünglich Maler und Grafiker, drehte als erster abstrakte Filme. Dies merkt man seinem Berlin-Porträt an. Viele Einstellungen sind reduziert auf horizontale oder vertikale Linien, wie Stromleitungen oder Eisenbahnschienen. Auch Fassaden von Gebäuden wurden so eingefangen, dass ihre lineare Struktur betont wird. Dabei durchmass Ruttmann die Stadt in ihren Dimensionen: Von der Vogelperspektive hinunter auf die Strasse, durch den Gulli in die Kanalisation. Die Stadt ist ein Schlund aus Stein, in den am Morgen viele Menschen aus den Vorbezirken gespült werden. Natur findet in seinen Filmen kaum Platz. Ruttmann betonte zudem den industriellen Charakter der

217 Metropole mit Zwischenschnitten von Fabrikhallen und dampfenden Maschinen und setzte die neusten technischen Errungenschaften in Szene. Angefangen bei der Eisenbahn über Aufzüge für Autos bis zur Schreibmaschine. Diese kühle, harte Atmosphäre ist Ausdruck der «Neuen Sachlichkeit». Und im Gegeneinander von starrer Statik – die Bauten in Stein und Eisen – und heftiger Dynamik – die vorbeiflirrenden Züge und Strassenbahnen – fand Ruttman seine ästhetische Formel: Beides ist Ausdruck der urbanen Moderne. Neben Berlin werden in den 1920er-Jahren eine ganze Reihe von weiteren Metropolen in Stadt-Sinfonien vorgestellt. Darunter Paris, Chicago, Tokyo, Moskau oder São Paulo. Mit dem zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg verstummt der Architekturfilm für lange Zeit. Erst die Entwicklung von leichteren Kamera- und Tongeräten in den 1960er-Jahren löst eine neue Bewegung im Dokumentarfilm aus. Diese neuen Geräte macht sich das sogenannte «Direct Cinema» in den USA zu Nutze, das sich für gesellschaftspolitische Themen interessiert. Mit einem ethnologischen Auge soll der filmische Gegenstand beobachtet werden.1 Das heisst die vorgefundene Realität gibt die Inhalte vor, der Filmemacher greift gestalterisch möglichst wenig ein.

Chandigarh und Brasilia Beeinflusst von dieser Bewegung ist Une ville à Chandigarh (CH, 1966). Mit diesem filmischen Essay brachte der Westschweizer Alain Tanner kurz vor der 1968er-Revolte wieder ein städtebauliches Thema auf die Leinwand. Ohne Drehbuch filmte er sechs Wochen lang in Chandigarh. Zurück in der Westschweiz wusste er nicht so recht, wie er das Material anordnen soll. Da half ihm sein Freund John Berger. Die beiden interessierte vor allem die Umbruchsituation in Indien, denn Chandigarh war damals ein Testgelände für neuartige Gesellschaftsformen. Mit dem Bau dieser Stadt wurde ein Grossteil der Bevölkerung mit einem Schlag von einer archaischen Lebensweise ins 20. Jahrhundert katapultiert. Eindrücklich zeigt dieser Film, wie die futuristische Stadt praktisch von Hand gebaut wird. Es stehen also vor allem die Menschen im Zentrum und die Frage, ob die Architektur ihnen zu einem besseren Leben verhilft. Kaleidoskopartig schneidet der Film viele Themen an: er wechselt zwischen städtebaulichen Konzepten und täglichen Verrichtungen der Menschen, gesellschaftlichen Ungleichheiten und Analphabetimus, Handwerksarbeit und der Rolle der Frau. Kein Thema wird besonders hervorgehoben, keines entwickelt sich zwingend aus dem vorherigen. Die Themen werden immer nur ein Stück weit

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