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Architekturgeschichte? Baukultur!, Dr. Marion Sauter

In kaum einer anderen Disziplin liefert der Blick zurück relevante Grundlagen für die Zukunft, ist die Geschichte Teil des Berufsalltags: In der Architektur ist die Auseinandersetzung mit dem Baubestand jedoch unvermeidlich. Die Herausforderungen reichen von der Bestandssicherung über notwendige Modernisierungen bis hin zu präzis gesetzten Eingriffen, von neuen Nachbarschaften bis hin zu Antipoden. Gefordert ist das sensible Weiterbauen, das Schaffen von qualitätvollen Lebensräumen – schlicht: die Fortführung der Baukultur.

Annäherung Mein Auftrag an der Hochschule Luzern lautet: Architekturgeschichte. Die Architekturgeschichte hat sich im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin etabliert. Die Grundlage bilden herausragende Denkmäler, definiert wurde eine Folge von Stilepochen mit einer respektvollen Distanz zum gegenwärtigen Bauschaffen. Bis heute fordern neue Erkenntnisse aus der Bauforschung immer wieder kleinere Korrekturen oder Ergänzungen. Das historische Gerüst scheint jedoch im Wesentlichen fixiert zu sein. Dieses Gerüst lässt sich zweifellos vermitteln, doch was sollen die Studierenden mit dieser klassischen «Best-of-Folge» anfangen? Ganz pragmatisch: Was ist mit den weniger bedeutsamen Bauwerken – etwa denjenigen, denen sie im Alltag in der Innerschweiz begegnen? Was ist mit der jüngeren Vergangenheit? Inwieweit ist der Kontext bedeutsam? Es gibt aber auch eine theoretische Ebene: Wie wird so ein Gerüst geformt? Was gewinnt man mit historischen Wissenschaften im heutigen schnelllebigen Internetzeitalter? Welche qualifizierten Dokumentations- und Recherchetechniken gehören zum unverzichtbaren Handwerkszeug einer Hochschulabsolventin oder eines Hochschulabsolventen aus dem Fachbereich Architektur? Die Lehre muss nicht nur ein Ziel formulieren, sondern auch den Weg dahin ebnen.

Situation Im 19. Jahrhundert prägte der akademische Blick auf die Vergangenheit zugleich auch das zeitgenössische Bauschaffen, den Historismus. Die präzise zeichnerische Dokumentation von Denkmälern und ausgedehnte Studienreisen waren ein relevanter Teil der Ausbildung. Dies hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert. Die Avantgarde brach mit den historischen Formulierungen. Zeitgleich wurden jedoch auch die wichtigsten Denkmäler unter Schutz gestellt

325 und somit ihr identitätsstiftender Wert gewürdigt. Rund um die Wahrzeichen der Vergangenheit etablierte sich ein lukrativer (Massen-)Tourismus, ebenso um die Wahrzeichen der Moderne und der Gegenwart, was vermuten lässt, dass Architekturgeschichte durchaus Zukunft hat. Geschützt sind in der Schweiz inzwischen aber auch ganze Ortsbilder mit einzelnen Bauwerken weitab der klassischen Leiter. Es sind gewachsene Lebensräume, deren Qualität erkannt wurde, deren Fortbestand und Erhalt jedoch oftmals eine grosse Herausforderung darstellt, da sich die Anforderungen und Bedürfnisse in den letzten Jahrhunderten beziehungsweise Jahrzehnten gravierend verändert haben und sich diese Entwicklung auch weiter fortsetzen wird. Hier ist eine Sensibilität erforderlich, die nur der besitzt, der die Architekturgeschichte und ihre vielfältigen Nachbardisziplinen, etwa die Siedlungs- oder die Stadtbaugeschichte kennt. Jemand, der in der Lage ist, aus der Vergangenheit visionäre Strategien für die Zukunft abzuleiten und so die Baukultur einer Region qualitätvoll fortführen kann.

Lehre Eine einführende Architekturgeschichte wird am Institut für Architektur der Hochschule Luzern im Bachelor Basic-Studium, in der Schiene «Gestalten und Kulturverständnis» im Rahmen einer Vorlesungsreihe über zwei Semester hinweg behandelt. Wir thematisieren die Epochen von der Romanik bis heute – entsprechend den Stilphasen, denen eine junge Architektin beziehungsweise ein junger Architekt in der Schweiz heute begegnet. Wir versuchen, uns über Stilphänomene hinweg der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation der jeweiligen Bauzeit anzunähern und regionale Besonderheiten zu spezifizieren. Um historische Konstruktionen adäquat würdigen zu können, eruieren wir die Möglichkeiten der Baumeister und Handwerker vergangener Zeiten oder überlegen, wie die Baumaterialien überhaupt an einen Bauplatz transportiert worden sind. Die Vorlesungsreihe ist eine Synthese aus Architekturgeschichte und Baukultur, ein Versuch, das grosse Ganze in kleine Puzzlesteine zu teilen, die den Studierenden neu zusammengesetzt auch andernorts eine Annäherung an historische Bauwerke oder Siedlungsstrukturen ermöglichen.

Praxis Die Auseinandersetzung mit historischen Bauwerken sensibilisiert die Wahrnehmung der Studierenden. Je mehr man erkennt, desto umfassender wird das Verständnis für Konstruktion und Detail, für Formensprache und Materialisierung. Um die Beschreibung historischer

Bauwerke zu präzisieren führen wir das entsprechende Fachvokabular ein. Hier kommt eine Luzerner Besonderheit ins Spiel: Das neu erworbene Wissen wird entsprechend des Schwerpunkthemas des ersten Moduls, dem Zeichnen, visuell abgefragt: Das Fachvokabular muss an der Modulendprüfung skizziert werden. Dies gilt auch für zwei ausgewählte, epochale Denkmäler. Die Auseinandersetzung mit der Baukultur beschränkt sich somit nicht auf das Auswendiglernen von Baudaten. Gefordert ist vielmehr eine intensive Auseinandersetzung mit dem gesamten Denkmal, mit Raum und Wirkung – darzustellen mit den Mitteln der Architektur, in Grundriss, Schnitt und Ansicht oder Perspektive. Das Schwerpunktthema des zweiten Moduls ist die Fotografie. Entsprechend verändert sich die architektonische Entdeckungsreise der Studierenden. Gefordert ist nun, Bauwerke mit der Kamera zu dokumentieren, die Totale wie auch Details einzufangen. Die historische Wissenschaft fordert ergänzend Textübungen und Literaturrecherchen ein und versucht so die Schreibkompetenz der Studierenden zu stärken. Die Auseinandersetzung mit Text, Zeichnung und Fotografie, die Baudokumentation, schafft und trainiert Grundlagen, die im späteren Berufsleben der Studierenden unabdingbar sind. Die aus den Übungen resultierenden Bau-dokumentationen der Studierenden fliessen unmittelbar in das Onlinelexikon zur Schweizer Architektur von 1920 bis heute, die «architekturbibliothek.ch» der Hochschule Luzern ein. Einschränkungen fordert einzig und allein das enge Zeitfenster. Ziel der Vorlesungsreihe ist es daher auch, Interesse oder gar Begeisterung zu wecken, zur selbständigen Vertiefung und zu Studienreisen anzuregen und die Architekturgeschichte beziehungsweise die Baukultur zu einer lebenslänglichen Begleiterin unserer Studierenden zu machen.

Dr. Marion Sauter

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