6 minute read
Schwimmen: mehr als nur nicht untergehen
„Guck mal, wie toll ich schon schwimm… blubb, blubb, blubb!“ Viele Eltern dürften das kennen: Kinder überschätzen ihre Schwimmfähigkeiten – der absolute Horror. Nach Unfällen ist Ertrinken in Deutschland bei jungen Menschen bis 20 eine der häufigsten Todesursachen.
Advertisement
Text: Martin Grolms
Zwischen 400 und 700 Menschen ertrinken jedes Jahr in Deutschland, je nach Wetter, 2019 waren darunter 50 Kinder und Jugendliche. Je besser das Wetter ist, umso mehr Menschen tummeln sich am Wasser und desto mehr Unglücke passieren. Tendenziell sinkt die Zahl der Ertrinkenden in Deutschland kontinuierlich und ist im internationalen Vergleich sehr niedrig. 2021 sind so wenig Leute ertrunken wie noch nie: 299, die Opfer der Hochwasserkatastrophe nicht mitgezählt.
„Das lag vor allem an Corona und dem schlechten Wetter“, erklärt Jürgen Karl, Bezirksleiter Aachen der Deutschen LebensRettungs-Gesellschaft (DLRG). „Die Badebereiche der Seen und die öffentlichen Bäder waren geschlossen.“ Jürgen, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter kümmern sich vor allem um den Echtzer See, den Blausteinsee und natürlich den Rursee. Zu den Aufgaben der DLRG am Rursee gehört der Wasserrettungsdienst auf einer Seefläche von etwa zehn Kilometern Länge. An den Wochenenden und Feiertagen zwischen April und Oktober sind im Wechsel sechs Teams mit einer Stärke von je 20 Personen im Einsatz – alles ehrenamtlich. Die DLRG hat am Rursee vier Rettungsboote, die von der Station Woffelsbach aus koordiniert werden, und eine Außenstation am Badestrand Eschauel. Dort wird während der Badesaison die zum Schwimmen freigegebene Seefläche von den Rettungsschwimmerinnen und Rettungsschwimmern beaufsichtigt. 3.000 aktive Mitglieder zählt die Lebens-RettungsGesellschaft in der StädteRegion Aachen.
Hauptproblem ist mangelnde Aufsicht
Die Zahlen vor Corona seien repräsentativer, meint Jürgen Karl: 2019 sind deutschlandweit 417 Menschen ertrunken, 2018 waren es 504. Die meisten tödlichen Unglücke ereignen sich in Seen und Teichen. Das größte Risiko zu ertrinken besteht in Flüssen, die aufgrund von turbulenten Strömungen und Schiffen selbst mit Schwimmerfahrung extrem gefährlich sind. Und nur verhältnismäßig wenige solcher Gewässer werden von Rettungsschwimmerinnen und Rettungsschwimmern bewacht – und wenn, dann auch nur eingeschränkt. In Schwimmbädern und im Meer ist die Zahl der Unglücksfälle zwar leicht gestiegen, doch sind sie immer noch vergleichsweise sicher. Während in den Bädern meistens hauptberufliches Personal für Sicherheit sorgt, sind es an den deutschen Küsten tausende Freiwillige der DLRG. Mit Seepferdchen noch kein sicherer Schwimmer
Kinder sind vergleichsweise wenige unter den Opfern. 2021 ertranken laut Angaben der DLRG 17 Jungen und Mädchen zwischen null und zehn Jahren; unter den Elf- bis 20-Jährigen gab es 30 Todesfälle. „Für die ganz Kleinen ist der Teich im Garten sehr gefährlich“, gibt Jürgen Karl zu bedenken. „Das haben die meisten kaum auf dem Schirm.“ Das Hauptproblem sei mangelnde Aufsicht der Eltern. „Viele glauben, dass ihr Kind schwimmen kann, sobald es ein Seepferdchen-Abzeichen hat“, so der DLRGVerantwortliche. „Mit einem Seepferdchen ist ein Kind aber noch lange kein sicherer Schwimmer. Auf dem See oder an der Küste gibt es nach 25 Metern keinen Beckenrand zum Festhalten. Dort gibt es Wellen, Fische oder Wasserpflanzen, die sogar manche Erwachsene in Panik versetzen.“
Obwohl eigentlich jedes Kind bis zum Ende der Grundschule in der Lage sein sollte, ordentlich zu schwimmen, können das immer weniger Kinder. Nur 59 Prozent der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren können sich
sicher über Wasser halten; 2010 waren es noch 64 Prozent. Das bereitet den Rettungsschwimmern große Sorge, denn das könnte langfristig mehr Kinder und Jugendliche unter den Opfern bedeuten. Um das zu ändern, braucht es aber in der ganzen Republik mehr Schwimmbäder und mehr ausgebildetes Personal an den Schulen, wie die DLRG warnt. Fast 25 Prozent aller Grundschulen in Deutschland können keinen Schwimmunterricht mehr anbieten, weil ihnen kein Bad zur Verfügung steht. Zudem müssten wir den massiven Rückstand aufzuholen, der während der Corona-Pandemie entstanden ist.
Schwimmen und Selbstständigkeit lernen
Dass wir in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern so wenige Opfer zu verzeichnen haben, hat vor allem zwei Gründe: Die erstklassige Schwimmausbildung und die gute Arbeit der Deutschen Lebens-RettungsGesellschaft. Doch die einst hervorragende Schwimmausbildung ist ins Stocken geraten: wegen der Schließung von immer mehr Schwimmbädern in den vergangenen Jahren und dann kam auch noch Corona dazu. Eine ganze Generation von Kindern droht schlechte Schwimmerinnen und Schwimmer zu werden. Ein Verein aus Aachen hat sich mit großem Einsatz dagegengestemmt: „Wir haben alle Kräfte gebündelt und ein Sommerferienprogramm auf die Beine gestellt, trotz aller Widrigkeiten“, erinnert sich Christine Weber von Aix-la-Sports. Ziel war es, so vielen Kindern wie möglich das Schwimmen beizubringen. Das Ehepaar Rolf und Christine Weber hat den Verein 2014/2015 zusammen mit Freunden und Bekannten gegründet, als viele Flüchtende Deutschland erreichten, die nicht schwimmen konnten. „Die Idee war, allen, die wollen, eine Schwimmerausbildung zu ermöglichen“, sagt Christine. Einige der Geflüchteten hatten mit Fluchtfolgen zu kämpfen, sie hatten schlimmste Erinnerungen und Traumata von der Überfahrt über das Mittelmeer. Eine Psychotherapeutin hilft dem Team in den schwierigen Situationen. Für ihr beharrliches Engagement erhielt Aix-la-Sports bereits den 3. Preis des „Förderpreises für Integrationsarbeit im Sport“ und den Anerkennungspreis sowie den „Engagementpreis NRW 2016“. Sie waren für den „Deutschen Engagementpreis“ nominiert und bekamen mehrfach den „Stern des Sports in Bronze“.
„Wir nehmen alle“, erklärt Christine. „Geflüchtete, erwachsene Nichtschwimmer, Kinder mit ADHS, Trisomie, körperlich Beeinträchtigte.“ Sie ist eine Frau mit Herz und weiß, was sie will. Sie lässt sich nicht einschüchtern oder auf „unnötige“ Diskussionen mit Eltern ein, „sonst wäre das hier alles nicht zu schaffen“. Bei dem strammen Sommerferienprogramm fehlte die Zeit für Erklärungen. Andauernd änderten sich die Hygienevorschriften, die Maximalzahl der erlaubten Kinder usw. Kurz und knapp erklärt die Schwimmlehrerin den Eltern und Kindern, wie es zu laufen hat.
Im Sommerferienprogramm konnten sie jeden Tag sechs Stunden am Stück Schwimmtraining in der Aachener Elisabethhalle anbieten. 25 bis 30 ehrenamtliche Trainer halfen, viele von ihnen Geflüchtete, die vor wenigen Jahren genau hier schwimmen gelernt haben. So konnten sie über die gesamte Ferienzeit hinweg 1.200 Plätze in der Nichtschwimmerausbildung anbieten. Mehr als 230 Prüfungen für das Seepferdchen, Bronze-, Silber- und Goldabzeichen wurden bestanden. „2020 hatten wir im ganzen Jahr nur 25 erfolgreiche Seepferdchen hier“, berichtet Christine Weber. Beim Schwimmen, erklärt sie, gehe es nicht allein darum, nicht unterzugehen. Es geht um Selbstständigkeit, um Mut und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Deshalb will sie auch keine Eltern am Beckenrand sehen, auch wenn es mittlerweile wieder erlaubt ist. „Wir vermitteln den Kids und den Eltern, dass sie das alleine schaffen.“
sportinaachen.de/schwimmkurse-fuerkinder-und-erwachsene dlrg.de aix-la-sports.de
Die zehn Schwimmregeln der DLRG:
Gehe nur zum Baden, wenn du dich wohlfühlst. Kühle dich ab und dusche, bevor du ins Wasser gehst. Gehe als Nichtschwimmer nur bis zum Bauch ins Wasser. Überschätze dich und deine Kraft nicht. Bei Gewitter ist Baden lebensgefährlich. Verlasse das Wasser sofort und suche ein festes Gebäude auf. Aufblasbare Schwimmhilfen bieten dir keine Sicherheit im Wasser. Gehe niemals mit vollem oder ganz leerem Magen ins Wasser. Rufe nie um Hilfe, wenn du nicht wirklich in Gefahr bist, aber hilf anderen, wenn sie Hilfe brauchen. Bade nicht dort, wo Schiffe und Boote fahren. Halte das Wasser und seine Umgebung sauber, wirf Abfälle in den Mülleimer. Springe nur ins Wasser, wenn es frei und tief genug ist.