Kompass Gesundheit 3/2015

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Kompass Gesundheit DAS MAGAZIN FÜR BADEN-WÜRTTEMBERG

Nr. 3 2015

AUTOIMMUNERKRANKUNGEN

Psoriasis, Morbus Crohn & Co. Gesundes

Kinzigtal

Warum Kummer krank macht Betriebliche Gesundheitsvorsorge Mit Taping gegen Schmerzen

4. Jahrgang

www.kompass-gesundheit-bw.de


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www.psoriasis360.de Hier finden Patienten und Angehörige zahlreiche Hintergrundinformationen rund um die Schuppenflechte. Erfahren Sie, was Sie selbst tun können und welche medizinischen Behandlungsoptionen derzeit zur Verfügung stehen.

Ein Service der Janssen-Cilag GmbH


editorial Liebe Leserin, lieber Leser, es ist eine unheimliche Vorstellung: der eigene Körper kämpft gegen sich selbst. Das Immunsystem „denkt“, dass körpereigene Strukturen etwas Fremdes sind und beginnt seine Abwehr gegen diese. Gleichzeitig versuchen andere Mechanismen im Körper diese Schädigungen zu beheben. Ohne Behandlung führen diese sogenannten Autoimmunerkrankungen zur vollständigen Zerstörung der Zellstrukturen unseres Körpers. Warum es zu solchen „Angriffen“ kommt, weiß man bis heute noch nicht genau; es gibt viele Theorien. Einiges spricht dafür, dass es Gene für eine Veranlagung zu Autoimmunerkrankungen gibt. Leider sind Autoimmunerkrankungen noch nicht heilbar und die Betroffenen müssen ihr ganzes Leben mit zum Teil starken Einschränkungen ihrer Lebensqualität leben. Doch die Medizin macht täglich Forschritte und führt in den meisten Fällen zu deutlichen Erleichterungen im Krankheitsverlauf. In dieser Ausgabe des „Kompass Gesundheit“ stellen wir Ihnen von den insgesamt etwa 60 Autoimmunerkrankungen drei vor: Psoriasis, auch bekannt als Schuppenflechte, sowie die beiden chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. In irgendeiner Form sind auch Stress und seelischer Kummer an diesen Krankheiten beteiligt, beides führt aber auch zu Problemen mit dem Herzen. Unser Herz reagiert sehr sensibel auf Emotionen – positive ebenso wie negative. Wenn wir uns freuen, schlägt unser Herz schneller; wenn wir Angst haben, beginnt es zu rasen; Stress lässt das Herz manchmal stolpern. Auch wenn diese Extrasystolen in der Regel harmlos sind, können sie einem schon einen ganz schönen Schrecken einjagen. Plötzliche Schicksalsschläge, aber auch langanhaltende psychische Belastungen können zu schweren, manchmal lebensbedrohlichen Herzerkrankungen führen. Lesen Sie ab Seite 28, warum seelischer Kummer das Herz krank machen kann. Wir stellen Ihnen auch ein interessantes Modell regionaler integrierter Gesundheitsversorgung vor: das von Helmut Hildebrandt etablierte „Gesundes Kinzigtal GmbH“ im Schwarzwald ist beispiellos in Deutschland. Ziel ist es, finanzielle Mittel einzusparen, die Zusammenarbeit zwischen Kliniken, niedergelassenen Ärzten, Apotheken und allen anderen Leistungserbringern zu verbessern und den Patienten auf diese Weise eine bessere und schnellere Behandlung zu ermöglichen.

Werner Waldmann ist Medizinjournalist und leitet die Redaktion von „Kompass Gesundheit“.

Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre Ihr

Werner Waldmann

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ZGH 0058/01 · 07/15 · Foto: Silke Weinsheimer

Rückhalt spüren. Entscheidende Hilfe bei lebensverändernden Diagnosen: dank der kostenlosen Ärztlichen ZweitMeinung eines erfahrenen Spezialisten. Mehr dazu unter aok-bw.de AOK – Die Gesundheitskasse Neckar-Fils

Impressum Kompass Gesundheit – Das Magazin für Baden-Württemberg Herausgeber: Dr. Magda Antonic Redaktionsleitung: Werner Waldmann (V.i.S.d.P.) Botschafter: Prof. Dr. med. Matthias Leschke, Dr. med. Suso Lederle Redaktions-Beirat: Prof. Dr. med. Aulitzky, Dipl. oec. troph. Andrea Barth, Dr. med. Wolfgang Bosch, Dr. med. Ernst Bühler, Dr. med. Hans-Joachim Dietrich, Dr. med. Rainer Graneis, Dr. med. Rudolf Handschuh, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas Heidenreich, Dieter Kress, Christof Mühlschlegel, Dr. med. Stefan Reinecke MBA, Dr. med. Nobert Smetak, Isolde Stadtelberger, Dr. med. Bernd Voggenreiter, Dr. med. Sieglind Zehnle Medizinisch-wissenschaftlicher Beirat: Dr. med. Alexander Baisch, Dr. med. Carl-Ludwig v. Ballestrem, Prof. Dr. med. Gerd Becker, Prof. Dr. med. Alexander Bosse, Prof. Dr. med. Claudio Denzlinger, Prof. Dr. med. Rainer Dierkesmann, Dipl.-Psych. Sabine Eller, Prof. Dr. med. Florian Gekeler, Dr. med. Wilhelm Gienger, Dr. med. Joachim Glockner, Dr. med. Christian Hayd, Prof. Dr. med. Bernhard Hellmich, Prof. Dr. med. Doris Henne-Bruns, Prof. Dr. med. Christian Herdeg, Prof. Dr. med. Monika Kellerer, Prof. Dr. med. Alfred Königsrainer, Dr. med. Klaus Kraft, Prof. Dr. med. Ulrich Liener,

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Prof. Dr. med. Alfred Lindner, Dr. med. Gerhard MüllerSchwefe, Dr. med. Jürgen Nothwang, Dr. med. Martin Runge, Dr. med. Wolfgang Sperber, Prof. Dr. med. Arnulf Stenzl, Prof. Dr. med. Thomas Strowitzki, Holger Woehrle Patientenrechte: Markus Grübel (MdB), Michael Hennrich (MdB) Redaktion: Dr. J. Roxanne Dossak, Andrew Leslie, Ursula Pieper, Marion Zerbst Art Direction: Dr. Magda Antonic Herstellung: Barbara Schüler Fotos: Cover: © 123rf/Benjamin Albiach Galan; S. 6: © ThinkstockPhotos/OSTILL; S. 8: © 123rf/Roberto Biasini; S. 12: © ThinkstockPhotos/Chad Baker; S. 16: © 123rf/Vera Stuchelova; S. 21: © Die Filderklinik gGmbH; S. 24: © 123rf/Nanette Grebe; S. 28: © 123rf/ artono9; S. 30: © Britt Moulien; S. 34: © pixabay.com; S. 39: © 123rf/nyul; S. 40: © 123rf/Shao-Chun Wang; Für die Autoren- und Ärzteporträts liegen die Rechte bei den abgebildeten Personen. Alle anderen Fotos: MEDITEXT Dr. Antonic Verlag: MEDITEXT Dr. Antonic Verlagsleitung: Dr. Magda Antonic Panoramastr. 6; D-73760 Ostfildern Tel.: 0711 7656494; Fax: 0711 7656590 dr.antonic@meditext-online.de; www.meditext-online.de Wichtiger Hinweis: Medizin als Wissenschaft ist ständig im Fluss. Soweit in dieser Zeitschrift eine Applikation oder Dosierung angegeben ist, darf der Leser zwar darauf ver-

trauen, dass Autoren, Redaktion und Verlag größte Mühe darauf verwandt haben, dass diese Angaben genau dem Wissensstand bei Drucklegung der Zeitschrift entsprachen. Dennoch sollte jeder Benutzer die Beipackzettel der verwendeten Medikamente selbst prüfen, um in eigener Verantwortung festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in dieser Zeitschrift abweicht. Leser außerhalb der Bundesrepublik Deutschland müssen sich nach den Vorschriften der für sie zuständigen Behörden richten. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) müssen nicht besonders kenntlich gemacht sein. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Das Magazin und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung ohne Einwilligung von MEDITEXT Dr. Antonic strafbar. Die Redaktion behält sich die Bearbeitung von Beiträgen vor. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Abbildungen wird keine Haftung übernommen. Mit Namen gezeichnete Artikel geben die Meinung des Verfassers wieder. Erfüllungsort und Gerichtsstand ist Esslingen. Ein Einzelheft ist zum Preis von 1,60 Euro (zzgl. Versandkosten) beim Verlag erhältlich. Copyright © 2015 by MEDITEXT Dr. Antonic, 73760 Ostfildern ISSN 2194-5438

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inhalt • Verhängnisvolle Fehlsteuerung des Immunsystems

Die Psoriasis

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• Biologicals

Eine Revolution in der Psoriasis-Therapie

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• Psoriasis-Arthritis

Wie häufig sind die Gelenke beteiligt?

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• Morbus Crohn und Colitis ulcerosa

Die Chamäleons unter den Darmkrankheiten

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• Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen ganzheitlich behandeln

Das Therapiekonzept der Filderklinik

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• Taping

Mehr Stabilität und weniger Schmerzen

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• Die digitale Welt der Mikroben

Tablet-Kompendium zum Thema Infektionsforschung

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• Herz und Psyche

Warum seelischer Kummer krank machen kann

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• Glückliches Kinzigtal

Warum man im Schwarzwald gesünder lebt und Gesundheit dort preiswerter ist

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• Wenn Arbeit krank macht

Betriebliche Gesundheitsvorsorge

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• Mundgeruch – ein Thema, über das man nicht gerne spricht

So finden Sie fachmännische Hilfe

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Rubriken Impressum 4 | Kolumne Dr. Lederle 23 | Aboformular 43 | Termine 43 |

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Verh채ngnisvolle Fehlsteuerung des Immunsystems

Die Psoriasis

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Juckreiz, schuppige rote Flecken auf der Haut, zerbröckelnde Fingernägel ... Als Psoriasis-Patient hat man es nicht leicht. Die auch als Schuppenflechte bezeichnete, schubweise verlaufende Krankheit befällt 2–4 % aller Bundesbürger und gehört damit zu den häufigsten chronischen Hauterkrankungen. Heilen lässt sie sich bisher noch nicht; doch dank des medizinischen Fortschritts gibt es immer bessere Behandlungsmöglichkeiten, die eine langfristige Kontrolle der Erkrankung ermöglichen. Wir sprachen mit Prof. Dr. med. Christian Termeer, der in seiner Hautarztpraxis in Stuttgart-Weilimdorf viele Psoriasis-Patienten betreut.

Auf welche Ursachen ist die Krankheit zurückzuführen? Prof. Termeer: Bei der Psoriasis handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung: Das heißt, das Immunsystem, das den Körper ja eigentlich vor Krankheitserregern und anderen gefährlichen Fremdstoffen schützen soll, richtet sich „versehentlich“ gegen körpereigene Zellen. Bei der Psoriasis führt diese Fehlsteuerung der körpereigenen Abwehr dazu, dass die Haut zu schnell wächst. Unsere Haut regeneriert sich immer von unten, aus der sogenannten Basalzellschicht – das sind die einzigen Hautzellen im menschlichen Körper, die sich teilen können. Von dort wandern die Zellen nach oben. Normalerweise dauert diese Wanderung einer Hautzelle von der Basalzellschicht bis zur Oberhaut rund 28 Tage, beim Psoriasis-Patienten nur etwa eine Woche: Seine Haut wächst also viermal so schnell wie beim gesunden Menschen. Doch dafür ist der Zusammenhalt der Haut unzureichend, sodass sie sich gewissermaßen selbst wieder zerlegt. So entstehen die typischen entzündlich geröteten Hautareale, die von glänzenden, silbrig-weißen Schuppen bedeckt sind. (Deshalb wird die Psoriasis auch als „Schuppenflechte“ bezeichnet.) Bei vielen Psoriatikern sind auch die Finger- und Zehennägel von diesem Defekt betroffen: Dann bilden sich kleine Grübchen in den Nägeln, oder die Nagelplatte wird sogar völlig zerstört, sodass der

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Viele Menschen mit Psoriasis suchen Linderung am Toten Meer Eine Rehabilitation am Toten Meer hilft vielen Psoriatikern. Nach einigen Wochen an einem der salzigsten Seen der Erde ist die Schuppenflechte bei den meisten für Monate deutlich ruhiger – wenn sie nicht sogar erscheinungsfrei zurückkommen. Die Klima-Therapie ist für alle Altersgruppen geeignet und hat fast keine Nebenwirkungen. Sie macht häufig einen Krankenhausaufenthalt unnötig, führt nicht zu Wechselwirkungen mit anderen notwendigen Medikamenten und kann auch bei Begleiterkrankungen durchgeführt werden. Allerdings: man muss dafür ans Tote Meer reisen, es entstehen Kosten (wenn sie nicht von der Krankenkasse übernommen werden) und man muss Zeit aufwenden, weit entfernt von zu Hause und dem Arbeitsplatz. Der Langzeiteffekt einer 4-Wochen-Therapie beträgt 6 ½ – 8 Monate.

Nagel zerkrümelt. Auch diese Tüpfel- oder Krümelnägel sind ein typisches Psoriasis-Zeichen. An welchen Stellen treten die roten, schuppigen Flecken auf? Prof. Termeer: Am häufigsten tritt Schuppenflechte an Ellenbogen und Knien, oberhalb des Gesäßes und an der Kopfhaut auf. Aber es gibt auch schwer betroffene Patienten, die von oben bis unten mit Schuppenflechteherden bedeckt sind. Hinzu kommt ein Juckreiz oder am Gesäß auch Schmerzhaftigkeit der Haut und natürlich auch das quälende Gefühl der Peinlichkeit gegenüber den Mitmenschen: Viele Psoriasis-Patienten trauen sich gar nicht mehr in die Sauna oder ins Schwimmbad vor lauter Angst, schief angesehen zu werden. Gibt es Gründe oder Auslöser für diese Fehlsteuerung des Immunsystems? Prof. Termeer: Das ist noch nicht genau geklärt; man weiß lediglich, dass es sich häufig um eine erblich bedingte Erkrankung handelt; in der Familie eines Psoriasis-Patienten kommt die Schuppenflechte-Erkrankung auch bei Eltern, Großeltern oder Geschwistern vor. Vermutlich sind verschiedene Gendefekte für die Erkrankung verantwortlich. Psoriasis ist aber auch eine Wohlstandskrankheit: Übergewicht, Alkohol und Rauchen sind Triggerfaktoren, die man unbedingt meiden sollte, wenn man an einer Schuppenflechte leidet. Durch

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eine gesunde Lebensführung lässt sich die Ausprägung der Schuppenflechte sicherlich deutlich senken. Ich habe schon viele verzweifelte Patienten erlebt, bei denen die Psoriasis nach einer Heilfastenkur plötzlich fast weg war. Und wie bei den meisten Erkrankungen ist auch Stress ein Faktor, der die Psoriasis verschlimmern oder einen Schub auslösen kann. Haben Psoriatiker nicht auch ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen? Prof. Termeer: Ja, das stimmt. Viele an der schweren Form der Psoriasis erkrankte Patienten entwickeln ein sogenanntes metabolisches Syndrom: Übergewicht in Kombination mit zu hohem Blutdruck, erhöhtem Cholesterinspiegel, damit Arteriosklerose und/oder Blutzucker. Dadurch steigt das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall. Allerdings kennt man – ebenso wie bei der Depression, die ja ebenfalls mit einem erhöhten HerzKreislauf-Risiko einhergeht – die Zusammenhänge noch nicht genau: Haben Psoriatiker aufgrund der ständigen Entzündungsreaktion in ihrem Körper eine besondere Neigung zu ungünstigen Blutfettwerten, Bluthochdruck und Diabetes? Oder neigen manche Psoriasis-Patienten aufgrund der psychischen Probleme, die ihre Erkrankung mit sich bringt, eben einfach zu einer ungesunden Lebensweise, essen oder trinken zu viel und rutschen auf diese Weise in ein metabolisches Syndrom hinein? Das versuchen Wissenschaftler zurzeit im Rahmen großer Reihenuntersuchungen zu klären. Eine Studie aus den USA hat beispielsweise gezeigt, dass gerade junge Männer mit mittelschwerer bis schwerer Psoriasis eine statistisch um vier Jahre verminderte Lebenserwartung haben. Sie sterben natürlich nicht an ihrer Schuppenflechte, sondern z. B. an einer Herzkranzgefäßverkalkung, zu hohem Blutdruck, Diabetes usw. Deshalb werden Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Psoriasis eng von dem behandelnden Hausarzt betreut, um sicherzustellen, dass auch seine internistischen Begleiterkrankungen gut behandelt werden. Wie wird eine Schuppenflechte therapiert? Prof. Termeer: Das hängt vom Schweregrad ab. Dabei geht man nach der Zehn-Hand-Regel vor: Wenn 10 % der Körperoberfläche betroffen sind, sprechen wir schon von einer mittelschweren bis

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schweren Schuppenflechte. Das ist für den Patienten einfach darzustellen: Er braucht sich nur seine Handinnenfläche anzuschauen. Wenn er (ungefähr zusammengerechnet) zehn Handflächen voll Schuppenflechte an seinem Körper findet, dann ist die Erkrankung mittelschwer bis schwer. Oft wird das von den Betroffenen mit Verwunderung aufgenommen: Viele haben schon seit 10 oder 20 Jahren Schuppenflechte und waren sich des Schweregrads ihrer Erkrankung bisher gar nicht bewusst. Denn wenn bei einem Patienten Knie, Ellenbogen und Kopfhaut und dann vielleicht auch noch die Region oberhalb des Gesäßes (also eigentlich „nur“ die typischen Stellen) mit Schuppenflechte befallen sind, leidet er bereits an einer mittelschweren Erkrankung. Welche Bedeutung hat das für seine Therapie? Prof. Termeer: Bei Patienten mit leichter Schuppenflechte genügt meist eine äußerliche Behandlung. Hier gibt es in der Regel ein Kombinationspräparat aus Kortison plus Vitamin D in Salbenund Gelform, mit dem man bei einzelnen Psoriasisherden relativ schnell gute Erfolge erzielen kann. Alternativ können die Patienten auch zwei bis drei Wochen mit einer reinen Kortisonsalbe behandelt und dann, wenn die Schuppenflechte weitgehend abgeheilt ist, auf eine Erhaltungstherapie mit Vitamin D-Creme umgestellt werden. Sehr hilfreich kann zusätzlich eine Lichttherapie sein. Sie beruht auf der alten Erkenntnis, dass die Schuppenflechte im Sommer in der Regel leichter ausgeprägt und im Winter eher schlimmer ist. Bei der Bade-PUVA-Therapie, die manche Hautarztpraxen anbieten, wird der Patient in psoralenhaltigem Wasser gebadet und anschließend mit dem langwelligen UVA-Licht belichtet – daher die Abkürzung PUVA. Psoralen wirkt dabei wie ein Katalysator und macht die Haut sensibel für das gut verträgliche UVA-Licht. Die Therapie wirkt auch bei relativ schweren Fällen, ist allerdings mit einem gewissen Zeitaufwand für den Patienten verbunden: Er muss dazu mindestens dreimal pro Woche für eine Einwirkzeit und Belichtung von 20 bis 30 Minuten Dauer in die Hautarztpraxis kommen – und das mindestens 4–6 Wochen lang. Für Berufstätige häufig ein Problem. Diese äußerlichen Behandlungsformen reichen

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bei Patienten mit leichter Psoriasis, die unterhalb der zehn Handflächen-Regel liegen, normalerweise aus. Sonderformen, wie eine zusätzliche Entzündung der Gelenke, der Psoriasis-Arthritis, oder ein schwerer Nagelbefall brauchen schon innerliche Therapien in Tabletten- oder Spritzenform – in so einem Fall kommen wir mit Schmieren und Salben allein nicht weiter. Helfen diese äußerlichen Behandlungen auch gegen den Juckreiz? Prof. Termeer: Ja. Speziell für den Juckreiz gibt es neben den üblichen Pflegeprodukten zusätzlich noch Polidocanol-haltige Cremes, die man rezeptfrei in der Apotheke bekommen kann. Und wie sieht es mit Medikamenten zur Behandlung der Schuppenflechte aus? Prof. Termeer: Diese werden in erster Linie bei mittelschwerer bis schwerer Psoriasis eingesetzt. Ihre Wirkung zielt darauf ab, die Schuppenflechteneigung des Patienten dauerhaft zu unterdrücken und damit eine schubunabhängige Krankheitskontrolle zu erreichen. Man unterteilt sie in die konventionelle Systemtherapie (Medikamente in Tablettenform) und die sogenannten Biologika oder Biologicals. Zur konventionellen Systemtherapie gehören Fumarsäure, Ciclosporin A und Methotrexat, die allesamt gut wirken, das Krankheitsgeschehen aber oft nicht dauerhaft kontrollieren können oder mit der Zeit zu Nebenwirkungen führen, sodass man sie wieder absetzen muss. Das gilt allerdings auch für die relativ teuren Biologika, die in der Regel gespritzt werden: Auch sie können nach einer gewissen Zeit einen Wirkverlust aufweisen. In welcher Reihenfolge würden Sie diese Medikamente verabreichen? Prof. Termeer: Zuerst kommt bei mir bei einer reinen Schuppenflechte der Haut die Fumarsäure, weil sie relativ gut verträglich ist. Sie verursacht zwar auch Nebenwirkungen; diese vor allem zu Behandlungsbeginn: Blähungen, Durchfälle und Flushes (Hitzewallungen) kommen häufig vor, können sich aber im Laufe der Behandlung verlieren. Es dauert 10 bis 15 Wochen, bis eine Schuppenflechte unter dieser Therapie abklingt. Doch sobald das einmal erreicht ist, kann der Patient die Behandlung individuell an sein Krankheitsbild anpas-

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Die Behandlung bei leichter Erkrankung (weniger als 10 % der Körperoberfläche betroffen)

Salben

Licht

bei mittlerer bis schwerer Erkrankung (mehr als 10 % der Körperoberfläche betroffen)

Badetherapie

Medikamente (Fumarate, MTX, Ciclosporin)

bei Gelenk-Psoriasis

entzündungshemmende Schmerzmittel

Rheumamittel (MTX, Leflunomid)

Biologika Immunpräparate Die Psoriasis-Therapie hängt von der Schwere der Erkrankung ab. Sind weniger als 10 % des Körpers betroffen, kommen Salben und Lichttherapie zum Einsatz. In schweren Fällen müssen meistens Medikamente eingenomen werden.

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sen: Das heißt, er nimmt je nach Krankheitsaktivität z. B. im Sommer ein bisschen weniger und im Winter ein bisschen mehr Fumarsäure. Viele meiner Patienten nehmen dieses Medikament schon über Jahre hinweg. Im langfristigen Verlauf sind keine großen Komplikationen oder Nebenwirkungen zu befürchten. Das Ciclosporin A wurde als Immunsuppressivum (also zur Unterdrückung der Aktivität des Immunsystems) nach Organtransplantationen entwickelt. Dieses Medikament ist vor allem bei stark juckenden Formen gut wirksam, kann aber nicht langfristig verabreicht werden, sondern allenfalls ein bis zwei Jahre: Dann sollte es wieder abgesetzt werden, bevor unerwünschte Nebeneffekte an Leber und Nieren oder andere Nebenwirkungen (beispielsweise Zahnfleischwucherungen) auftreten. Der Dritte im Bunde wäre das Methotrexat, das bei der Schuppenflechte in relativ niedrigen Dosen eingesetzt wird, langfristig aber ebenfalls die Leber schädigen kann. Bei allen drei Medikamenten sollte den Patienten ca. alle drei Monate Blut abgenommen werden zur Überwachung der Leber- und Nierenwerte. Als weitere sehr gute Therapieoption gibt es nun Antikörper, d. h. Substanzen, die gezielt in die Kommunikation zwischen den Immunzellen eingreifen: die Biologika. Grundsätzlich muss man bei der Schuppenflechte, da leider noch nicht heilbar, immer langfristig denken. Das ist genau wie mit einem Acker: Man kann nicht jedes Jahr Mais anbauen. Ebenso wird man auch bei einer Psoriasis die Therapie immer wieder wechseln müssen. Wir haben inzwischen eine so gute Auswahl an wirksamen Medikamenten, dass wir dies auch über Jahre hinweg sicherstellen können. Sollte man sich als Psoriasis-Patient an einen

Professor Dr. med. Christian Termeer Rennstraße 2 70499 Stuttgart-Weilimdorf Tel.: 0711 8873646 www.hautarzt-termeer.de

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Hautarzt wenden, der auf die Behandlung dieser Erkrankung spezialisiert ist? Prof. Termeer: Gerade bei den teureren Medikamenten kommt es in Deutschland häufig zu sogenannten Arzneimittelregressen. Das bedeutet, dass der Arzt die zulassungs- und leitliniengerechte Verordnung gegenüber den Krankenkassen im Detail rechtfertigen muss und schlimmstenfalls mit seinem persönlichen Einkommen für die Kosten der verordneten Medikamente haftet; das Verfahren lässt leider keine vorherige Abklärung mit der Krankenkasse zu, sonder kann nach bis zu drei Jahren nach Verordnung auf Antrag der Krankenkassen eröffnet werden. Ich glaube, dass es sinnvoll wäre, dieses Abschreckungsinstrument zu überdenken, da es in vielen Fällen nur frustrierte Ärzte und Patienten zurücklässt und sinnvolle Therapien verhindert. Momentan kann es deshalb für einen Psoriasis-Patienten sinnvoll sein, sich in einer auf Schuppenflechte spezialisierten Schwerpunktpraxis behandeln zu lassen – einfach deshalb, weil er dort mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch eine adäquate Therapie bekommt. Nicht zuletzt achtet ein auf Psoriasis spezialisierter Hautarzt natürlich auch eher darauf, beim Vorliegen von Risikofaktoren seine Patienten in Kooperation mit dem Hausarzt auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen screenen zu lassen. Weiter wird auch überprüft, ob bei der Schuppenflechte auch die Gelenke mit betroffen sind. Die Behandlung dieser Psoriasis-Arthritis wird dann in enger Zusammenarbeit mit einem Rheumatologen erfolgen. Wie findet man einen auf Psoriasis spezialisierten Hautarzt? Prof. Termeer: Dazu sind mittlerweile bundesweit Psoriasis-Netzwerke etabliert (www.psonet.de): Das bundesweit größte Netz ist das Psoriasis-Praxisnetz Süd-West, ein Zusammenschluss von über 200 niedergelassenen Dermatologen und Rheumatologen in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland sowie zwei Hautkliniken. Auf der Webseite www.psoriasisnetz.info sind Hautärzte gelistet, die sich besonders für das Thema Schuppenflechte einsetzen. Als Patient kann man hier postleitzahlenabhängig bestimmte Therapien suchen.

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SCHLUCKSTĂ–RUNGEN – GEFĂ„HRLICHE SITUATIONEN VERMEIDEN Neue diagnostische Methoden im Dysphagie-Zentrum des Klinikums Christophsbad SchluckstĂśrungen (Dysphagien) sind ein KlXÂżJHV XQG VFKZHUZLHJHQGHV 3UREOHP EHL 3DWLHQWHQ PLW QHXURORJLVFKHQ (UNUDQNXQJHQ 6R KDEHQ EHLVSLHOVZHLVH PHKU DOV 3UR]HQW GHU 6FKODJDQIDOOSDWLHQWHQ QDFK GHP (UHLJQLV 6FKOXFNVW|UXQJHQ 'LHVH VLQG EHVRQGHUV LQ GHU IU KHQ 3KDVH GHU (UNUDQNXQJ VHKU JHIlKUOLFK GD VLH GXUFK $VSLUDWLRQHQ /XQJHQHQW] QGXQJHQ YHUXUVDFKHQ N|QQHQ %HL VWDUN JHVFKZlFKWHQ 3DWLHQWHQ N|QQHQ GLHVH VRJDU ]XP 7RGH I KUHQ Solchen Komplikationen kann mit einer kombinierten radiologisch-logopädischen Diagnostik und Therapie begegnet werden. Voraussetzung fĂźr die gezielte Therapie und Prävention stellt die DSSDUDWLYH 'LDJQRVWLN PLWWHOV 9LGHRĂ€XRURVNRSLH GDU %HL GLHVHU spezialisierten Diagnostik wird der Schluckakt in digitaler Form videodokumentiert. Das am Klinikum Christophsbad seit langem etablierte Dysphagie- Zentrum verfĂźgt seit Anfang Juni 2015 Ăźber erweiterte und neueste diagnostische MĂśglichkeiten bei SchluckstĂśrungen:

Durch eine neuartige Software die nur an wenigen internationalen Zentren vorhanden ist, kĂśnnen jetzt erstmals die RĂśntgenXQWHUVXFKXQJ GHV 6FKOXFNDNWHV 9LGHRĂ€XRURVNRSLH VRZLH GLH endoskopische Untersuchung des Kehlkopfes gleichzeitig in =XVDPPHQVFKDX PLW GHQ ELOGJHEHQGHQ %HIXQGHQ DXV .HUQVSLQ und Computertomographie begutachtet werden. Diese synchrone Analyse begĂźnstigt das Erkennen von StĂśrungen und vereinfacht zugleich die interdisziplinäre Zusammenarbeit. Dadurch ergeben sich neue Einblicke in die Ursache der Erkrankungen und damit auch wichtige Informationen fĂźr die Therapie der SchluckstĂśrungen, die am Klinikum Christophsbad durch Zusammenarbeit der Abteilung Logopädie unter Leitung von Angelika Kartmann und Ursula Kling mit der Klinik fĂźr RadioORJLH XQG 1HXURUDGLRORJLH XQWHU /HLWXQJ YRQ 3URIHVVRU %HUQG Tomandl auf hĂśchstem Niveau erfolgt. Die AOK Neckar-Fils ermĂśglicht bereits seit 2013 ihren VersicherWHQ GLH DSSDUDWLYH 9LGHRĂ€XRURVNRSLH LP '\VSKDJLH =HQWUXP GHV Klinikums Christophsbad auch ambulant durchzufĂźhren. – Ein JUR‰HV 3OXV I U GLH %HWURIIHQHQ GHQQ GHU $XIZDQG I U GLHVH 'Lagnostik und die geeigneten Therapien stehen meist in keinem Verhältnis zu den Komplikationen, die SchluckstĂśrungen hervorrufen kĂśnnen. Die AOK bejaht damit eine aktive Prävention und auch ein Mehr an Lebensqualität fĂźr ihre Patienten. Durch logoSlGLVFKH 7KHUDSLH JHOLQJW HV KlXÂżJ GHQ %HWURIIHQHQ ZLHGHU GHQ Genuss von gewohnten Speisen zu ermĂśglichen und auf die zur 9RUEHXJXQJ GHU $VSLUDWLRQVSQHXPRQLH HLQJHI KUWH %UHLNRVW ]X verzichten. Dadurch wird den Patienten die Teilnahme am sozialen Leben oft erst wieder gefahrlos mĂśglich. Anmeldungen in der Dysphagie-Ambulanz am Klinikum Christophsbad unter der Telefon-Nr.: 07161 601-9389.

Faurndauer Str. 6-28 73035 GĂśppingen www.christophsbad.de


Biologicals

Eine Revolution in der Psoriasis-Therapie

Marion Zerbst

Neue Substanzen – sogenannte Biologicals – revolutionieren die Behandlung von Autoimmunerkrankungen und können heute auch Patienten mit schwerer Schuppenflechte schon ein relativ beschwerdefreies Leben ermöglichen. Die teuren Medikamente werden normalerweise erst dann eingesetzt, wenn andere Psoriasis-Mittel nicht (oder nicht mehr) wirken oder wenn der Patient diese aus irgendeinem Grund nicht verträgt.

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iologicals (auch Biologika genannt) sind biotechnologisch hergestellte Eiweiße, die große Ähnlichkeit mit körpereigenen Substanzen haben. Viele dieser neuen Substanzen greifen ins Immunsystem ein und werden daher mit großem Erfolg zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen – beispielsweise rheumatoider Arthritis, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Psoriasis – eingesetzt. Gerade bei der Schuppenflechte lassen sich damit so große Heilerfolge erzielen, dass die entzündeten

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Hautstellen oft völlig verschwinden und der Patient auf eine äußerliche Therapie mit Salben, Cremes und Bädern weitgehend verzichten kann. Im Gegensatz zu den meisten anderen Psoriasis-Medikamenten kann man Biologicals allerdings nicht in Tablettenform einnehmen, weil die Wirkstoffe im Magen zerstört werden würden; sie müssen subkutan (unter die Haut) gespritzt oder als intravenöse Injektion verabreicht werden. Das ist jedoch kein Problem, denn die Patienten werden

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darin geschult, sich ihre Medikamente selbst zu injizieren, sodass sie nicht wegen jeder Spritze zum Hautarzt gehen müssen.

Infekte können gefährlich werden „Die Biologika, die wir in der Immuntherapie einsetzen (meist handelt es sich dabei um Antikörper), attackieren unterschiedliche Botenstoffe in der Entzündungskaskade“, erklärt Dr. Kamran Ghoreschi, der sich als Oberarzt an der Tübinger UniversitätsHautklinik auf die Behandlung von Psoriasis-Patienten spezialisiert hat. „Diese werden nicht über Leber oder Nieren verstoffwechselt und verursachen daher keine Nebenwirkungen, wie wir sie von oralen Tablettentherapien kennen. Aber da sie ins Immunsystem eingreifen, gehen sie natürlich auch mit gewissen Risiken einher.“ So können Infektionen mit Bakterien, Viren oder Pilzen unter einer Therapie mit Biologika besonders schwer, schlimmstenfalls sogar tödlich verlaufen. Da kann es dann auch schon mal zu einer Lungenentzündung oder Sepsis kommen. Daher müssen die Patienten sich bei Anzeichen einer Infektion – etwa einem Harnwegsinfekt, einer Erkältung oder Grippe – sofort an ihren Arzt wenden. Eventuell muss das Biologikum dann vorübergehend abgesetzt werden, bis die Infektion abgeklungen ist; oder der Patient muss (möglicherweise auch bei Infektionen, bei denen dies normalerweise nicht erforderlich wäre) ein Antibiotikum einnehmen, um den Infekt in Schach zu halten. Das Gleiche gilt bei Verletzungen oder geplanten Operationen: „In solchen Fällen muss der behandelnde Hausarzt oder Chirurg mit dem Hautarzt Rücksprache halten“, erklärt Dr. Ghoreschi. „Dann muss man eine Therapiepause einlegen, bis der Eingriff erfolgt bzw. die Wunde versorgt ist.“ Ferner sollte darauf geachtet werden, dass der Patient alle wichtigen Impfungen erhält, bevor man mit einer Biologika-Therapie beginnt. So lässt sich das erhöhte Infektionsrisiko gut in den Griff bekommen – allerdings erfordert das einen mündigen Patienten, der genau über seine Erkrankung informiert ist und eng mit seinem Hautarzt kooperiert. Wegen der hohen Therapiekosten, die durchaus über 20 000 Euro pro Jahr liegen können, greift der Hautarzt auf Biologicals normalerweise erst dann zurück, wenn alle anderen Medikamente nicht gewirkt haben, der Patient sie nicht verträgt oder

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Achtung Tuberkulose! Bei allen Patienten, für die eine Behandlung mit Antikörpern geplant ist, muss vorher überprüft werden, ob eine latente Tuberkulose vorliegt. Latente („verborgene“) Tuberkulose bedeutet, dass der Patient schon einmal mit einem an Tuberkulose erkrankten Menschen in Kontakt gekommen ist und sein Immunsystem sich mit diesem Krankheitserreger auseinandergesetzt hat, auch wenn er nicht an einer aktiven Tuberkulose leidet. Da wir heutzutage durch Fernreisen zunehmend auf der ganzen Welt unterwegs sind, andererseits aber auch viele Menschen aus anderen Regionen der Erde, in denen die Tuberkulose häufiger auftritt, nach Deutschland kommen, ist das gar nicht so unwahrscheinlich. Eine latente Tuberkulose kann durch Antikörper, die ja die Aktivität des Immunsystems unterdrücken, aktiviert werden. Deshalb muss vor Einleitung einer Biologika-Therapie grundsätzlich ein Bluttest erfolgen, der Aufschluss darüber gibt, ob bei dem betreffenden Patienten ein Kontakt zu einer Tuberkuloseinfektion vorgelegen hat. Falls ja, sind weiterführende diagnostische Maßnahmen (z. B. eine Röntgenuntersuchung der Lunge) erforderlich. Leidet der Patient tatsächlich an einer latenten Tuberkulose, so muss er neun Monate lang ein Antibiotikum einnehmen, um einer Aktivierung dieser Lungenerkrankung vorzubeugen. Parallel dazu kann er aber bereits vier Wochen später mit der Antikörper-Therapie beginnen.

Kontraindikationen (also Begleiterkrankungen, aufgrund deren die anderen Psoriasis-Mittel nicht gegeben werden dürfen) bestehen. Meist fallen in diese Kategorie Patienten mit schwerer Psoriasis oder solche, bei denen auch die Gelenke befallen sind oder schwere Nagelveränderungen vorliegen. „Das sind so ungefähr 10 bis 20 % aller Patienten“, erklärt Dr. Ghoreschi. Hält der Arzt sich nicht an diese Vorgaben, so kann die Krankenkasse sich weigern, die Kosten für die Biologika-Therapie zu erstatten. Denn diese Medikamente wurden von der europäischen Gesundheitsbehörde nur für die Zweitlinientherapie der Psoriasis zugelassen – also erst dann, wenn eine Behandlung mit anderen Mitteln nicht möglich ist. Es gibt nur ein einziges Biologikum, das bei Schuppenflechten-Patienten bereits als erstes Mittel gegeben werden darf: den erst seit kurzem auf dem Markt erhältlichen Antikörper Secukinumab (Cosentyx®).

Eine individuelle Therapieentscheidung Anhand welcher Kriterien entscheidet der Hautarzt,

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welches Arzneimittel als Erstes zum Einsatz kommt? Das ist eine sehr individuelle Entscheidung, die von verschiedenen Faktoren abhängt: Denn jedes Biologikum hat einen etwas anderen Wirkmechanismus und geht daher auch mit unterschiedlichen Risiken und Nebenwirkungen einher. Auf welchen Antikörper ein Patient am besten ansprechen wird, lässt sich nicht voraussagen. Unter anderem hängt die Therapieentscheidung davon ab, ob bei einem Patienten nur die Haut betroffen ist oder auch die Gelenke; denn bestimmte Biologika wirken besonders gut gegen Psoriasis-Arthritis. Es kommt aber auch darauf an, was für Nebenerkrankungen der Patient außer seiner Schuppenflechte noch hat und wie seine Leber- und Nierenwerte sind. Manchmal wirken sich auch ganz praktische Kriterien auf die Therapieentscheidung aus: zum Beispiel, ob ein Patient gesundheitsbewusst und zuverlässig genug ist, um regelmäßig zu den eventuell erforderlichen engmaschigen Blutuntersuchungen in seine Hautarztpraxis zu kommen. Oder wie oft ein Biologikum gespritzt werden muss: So braucht man beispielsweise den seit 2009 zur Behandlung der mittelschweren bis schweren PlaquePsoriasis zugelassenen Antikörper Ustekinumab (Stelara®) nur alle drei Monate zu injizieren – und das bei hervorragender Wirksamkeit: Schon nach wenigen Wochen gehen die Psoriasis-Symptome deutlich zurück. Und nicht zuletzt kann es bei Biologika (genau wie bei anderen Psoriasis-Mitteln) nach einer gewissen Zeit zu einem Wirkverlust kommen: „Es gibt Patienten, die ein bestimmtes Präparat ein paar Jahre lang nehmen und damit gute Therapieerfolge erzielen; aber irgendwann verliert es seine Wirksamkeit. Dann muss man auf eine andere Therapie umsteigen. Das gilt natürlich auch, wenn Nebenwirkungen auftreten.“

PD Dr. med. Kamran Ghoreschi Universitäts-Hautklinik Tübingen Liebermeisterstr. 25 72076 Tübingen Tel.: 07071 29-80816 www.hautklinik-tuebingen.de

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Zum Thema „Psoriasis – Schuppen ohne Ende“ findet mit unseren beiden Autoren (Prof. Termeer und PD Dr. Ghoreschi) eine Veranstaltung im Rahmen der Reihe „Gesundheit beginnt im Kopf“ statt. 28. Oktober 2015 20.00 Uhr TREFFPUNKT Rotebühlplatz Stuttgart Rotebühlplatz 28; 70173 Stuttgart

An vorderster Front der medizinischen Forschung: Teilnahme an Studien „Neben den bereits auf dem Markt erhältlichen Biologika gibt es noch weitere, deren Wirksamkeit zurzeit in klinischen Studien geprüft wird und die vermutlich in den nächsten ein bis zwei Jahren auf den Markt kommen werden“, so Ghoreschi. Gerade für Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Psoriasis bietet die Teilnahme an einer solchen Studie viele Vorteile: zum Beispiel, wenn die vorhandenen Mittel bei ihnen nicht wirken oder bereits ein Wirkverlust eingetreten ist. Im Rahmen einer Studie haben sie die Möglichkeit, mit einem völlig neuen, möglicherweise besser wirksamen Präparat behandelt zu werden. Ein weiterer Vorteil ist die engmaschigen Betreuung, in deren Genuss man als Teilnehmer einer solchen Studie kommt: Man wird sehr viel genauer überwacht und untersucht als bei der Behandlung mit einem bereits auf dem Markt erhältlichen Medikament. Natürlich muss man dann auch öfters zu Untersuchungs- oder Kontrollterminen in seiner Hautarztpraxis erscheinen; doch dieser Aufwand lohnt sich. Die Präparate werden dem Patienten vom Auftraggeber der Studie (der Pharmafirma, die das betreffende Medikament entwickelt) zur Verfügung gestellt; aus dieser Behandlung entstehen der Krankenkasse also keinerlei Kosten, und somit hat man als Patient die Möglichkeit, sofort an die Behandlung mit einem Biologikum zu kommen, ohne vorher erst alle vorgeschriebenen Erstlinientherapien durchgemacht zu haben. „Wir führen hier an der Uniklinik in Tübingen verschiedene klinische Studien durch und bieten Patienten, die die Eignungskriterien dafür erfüllen, gerne die Teilnahme an einer solchen Studie an.“

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Psoriasis-Arthritis

Wie häufig sind die Gelenke beteiligt? Prof. Dr. med. Bernhard Hellmich

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ie Psoriasis-Arthritis gilt als launische Erkrankung, die oft nicht einfach zu diagnostizieren ist. Meistens geht dieser Gelenkentzündung eine Schuppenflechtenerkrankung voraus. Zwischen den ersten Hauterscheinungen und dem Befall der Gelenke können gut zehn Jahre liegen. Etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland leiden an Schuppenflechte; 10 bis 15 % davon entwickeln später auch eine entzündliche Gelenkerkrankung. Die Psoriasis-Arthritis kann aber auch ohne begleitende Hautsymptome auftreten. Dann ist die Krankheit noch etwas schwieriger zu erkennen. Oder möglicherweise ist die Schuppenflechte der Haut bei diesem Patienten noch gar nicht entdeckt, weil sie sich am Nabel oder im Gehörgang verbirgt. Das ist dann auch der Grund, weshalb der Rheumatologe nicht unbedingt sofort hinzugezogen wird. Wichtig ist es, die Psoriasis-Arthritis von anderen chronisch-entzündlichen Gelenkerkrankungen abzugrenzen. Im Gegensatz zu vielen anderen Rheumaerkrankungen lassen sich keine Rheumafaktoren im Blut nachweisen, gerade zu Beginn können auch die Blutsenkung und das C-reaktive Protein – beides Marker für eine Entzündung – ganz normal ausfallen. Röntgenbilder der Gelenke und die Gelenksonografie helfen weiter. Die Symptome der Psoriasis-Arthritis sind dieselben wie bei einer rheumatoiden Arthritis, allerdings unterscheiden sie sich im Verteilungsmuster. Häufig sind einzelne Finger oder Zehen betroffen, manchmal auch alle Gelenke und Sehnen eines Fingers oder Zehs. Typisch ist die wurstförmige Verdickung der Finger oder Zehen („Wurstfinger“, „Wurstzeh“). Bei der rheumatoiden Arthritis sind die Gelenke typischerweise symmetrisch befallen, bei der Psoriasis-Arthritis fallen eher asymmetrische Schwellungen auf. Die Gelenke sind sehr unterschiedlich druckempfindlich. Die PsoriasisArthritis schmerzt auch in Ruhe, eine Arthrose (Gelenkverschleiß) macht sich hingegen vor allem bei Belastung bemerkbar. Ein weiterer Typ der Psoriasis-Arthritis betrifft die

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Wirbelsäule. Die Symptome ähneln dem Morbus Bechterew: Charakteristisch sind anhaltende Rückenschmerzen in Ruhe. Die Patienten können sich im Bett kaum bewegen. Ganz wichtig ist es, diese Erkrankung so früh wie möglich zu erkennen, um die Gelenke zu retten. Gelingt es, die Entzündung zu bremsen, so lassen sich strukturelle Veränderungen an den Gelenken vermeiden. Heilbar ist diese Erkrankung nicht, weshalb man auch nicht auf eine Therapiefreiheit hoffen kann. Das Therapieziel besteht darin, eine Remission, also eine weitgehende Entzündungs- und damit Schmerzfreiheit zu erreichen. Ohne ständige Einnahme von Medikamenten geht dies aber nicht. Die Behandlung richtet sich nach der Schwere der Krankheit. Wir beginnen mit entzündungshemmenden Schmerzmitteln, gehen dann aber zu wirksameren Substanzen über. Immerhin verfügen wir heute über eine große Auswahl an sehr wirksamen Medikamenten. Der Rheumatologe muss seine Therapie unbedingt mit den behandelnden Dermatologen abstimmen, denn oft werden beide Erkrankungen mit ein und demselben Medikament behandelt.

Prof. Dr. med. Bernhard Hellmich Klinik für Innere Medizin, Rheumatologie, Kreiskliniken Esslingen, Klinik Plochingen Am Aussichtsturm 5 73207 Plochingen Tel.: 07153 60462400

John Updike, Schriftsteller mit Psoriasis-Schicksal schreibt in seiner Erzählung „Aus dem Tagebuch eines Aussätzigen“: „Der Verlauf der Krankheit ist wie folgt: Flecken, Placken und Lawinen überschüssiger Haut, die von der Derma dank eines unbedeutenden aber beharrlichen Fehlers in ihrem metabolischen Code produziert werden, dehnen sich aus und wandern langsam über den Körper wie Flechten auf einem Grabstein. Ich bin silbern, schuppig. Lachen abgeblätterter Schuppen bilden sich, wo immer ich mich zur Ruhe lege. Jeden Morgen sauge ich im Bett Staub. Meine Qual ist hauttief: keine Schmerzen, nicht mal ein Jucken. Wir Aussätzigen leben lange und sind ironischerweise in anderer Hinsicht gesund.“ Und über seinen Hautarzt meint er: „Seine eigene Haut trägt die staubig rosigen Reste von Sommersonnenbräune. Sein Kopf ist makellos kahl und traumhaft glatt. Ich frage mich, welche Perversität ihn in die Dermatologie getrieben hat.“

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Morbus Crohn und Colitis ulcerosa: die Chamäleons unter den Darmkrankheiten Werner Waldmann Immer wieder Bauchschmerzen, blutige Durchfälle, Vernarbungen und Verengungen der Darmwand … Menschen mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen haben es nicht leicht. Bis heute kennt man die genauen Ursachen von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa nicht. Dennoch gibt es inzwischen schon sehr gute Therapieansätze. Wir unterhielten uns mit dem Gastroenterologen Professor Dr. Tilo Andus vom Klinikum Stuttgart.

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eide Krankheiten sind selten; Schätzungen zufolge leiden nur rund 200 000 Menschen in Deutschland an Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Aber bei schweren Verläufen können diese Erkrankungen dem Patienten das Leben zur Hölle machen.

Morbus Crohn: der ganze Darm ist betroffen Beim Morbus Crohn kommt es zu einer chronischen Entzündung sämtlicher Wandschichten sowohl des Dünndarms als auch des Dickdarms. Besonders häufig ist die letzte Dünndarmschlinge (also der Übergang vom Dünndarm zum Dickdarm) betroffen. Oft beginnt die Krankheit langsam und schleichend mit Bauchschmerzen, breiigen bis flüssigen, manchmal blutigen, oft schmerzhaften Durchfällen (bis zu über 15-mal am Tag!) und Fieber. Meist verläuft sie in Schüben: Phasen erhöhter Krankheitsaktivität wechseln mit Zeiten ab, in denen die Patienten kaum Beschwerden haben.

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Im weiteren Krankheitsverlauf können sich durch den chronischen Entzündungsprozess schmerzhafte Einrisse in der Darmschleimhaut (Fissuren), Geschwüre, Abszesse oder Fisteln bilden. (Fisteln sind krankhafte Verbindungen, z. B. zwischen einzelnen Darmabschnitten, zwischen Darmabschnitten und der Haut oder zwischen Darmabschnitten und der Harnblase oder Scheide). Mit der Zeit verdicken sich die befallenen Darmabschnitte und vernarben, sodass Engstellen entstehen, die die Passage des Darminhalts behindern und zum gefährlichen Darmverschluss führen können.

Colitis ulcerosa: chronische Schleimhautentzündung des Dickdarms Anders als beim Morbus Crohn entzündet sich bei der Colitis ulcerosa nur die Schleimhaut des Dickdarms; tiefere Darmwandschichten und der Dickdarm selbst sind in der Regel nicht betroffen. Die Symptome sind jedoch ähnlich wie beim Morbus Crohn: Bauchschmerzen und schmerzhafte Durchfälle. Typisch sind viele Darmentleerungen mit nur

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kleinen Stuhlmengen, häufig mit Blut, Schleim oder Eiter vermischt. Auch die Colitis ulcerosa tritt schubweise auf, wobei es allerdings auch Krankheitsformen gibt, bei denen die Patienten ständig Beschwerden haben. Oft kommt es zunächst nur zu einer blutigen, geschwürigen Entzündung des Mastdarms, also der untersten 15 Zentimeter des Dickdarms (Proktitis). Es gibt aber auch schwere Verläufe, bei denen gleich beim ersten Krankheitsschub der ganze Dickdarm betroffen ist. Ähnlich wie beim Morbus Crohn verändert sich auch bei der Colitis ulcerosa durch die ständigen Entzündungen die Darmschleimhaut: Es entstehen Vernarbungen und Darmverengungen, manchmal kann es infolge der Durchfälle auch zu einem Dickdarmdurchbruch (Perforation) kommen.

Wenn das Immunsystem durcheinandergerät … Normalerweise treten chronisch-entzündliche Darmerkrankungen erstmals im Alter zwischen 20 und 40 Jahren auf; aber auch Kinder oder ältere Patienten können daran erkranken. Überhaupt sind die Erscheinungsformen sehr unterschiedlich: „Wir wissen momentan noch nicht genau, warum der eine Patient die Krankheit früher entwickelt und der andere erst später. Seit einigen Jahren wird vermutet – und es gibt immer mehr Hinweise darauf –, dass sich hinter Morbus Crohn und Colitis ulcerosa eine Reihe verschiedener Krankheitsbilder verbirgt“, meint Professor Andus. Auch die Ursachen und Krankheitsprozesse, die hinter diesen Darmerkrankungen stecken, sind noch nicht genau bekannt. „Früher hielt man sie für Autoimmunerkrankungen, also eine Überreaktion des Immunsystems“, erklärt Andus. „Heute vermutet man, dass es sich bei der Hauptmanifestationsform eher um eine Immunschwäche handelt.“ Bei unserer körpereigenen Abwehr unterscheidet man zwischen der natürlichen und der spezifischen Immunität: Die natürliche Immunität richtet sich gegen sämtliche Schadstoffe oder Krankheitserreger, mit denen der Körper in Kontakt kommt, und tötet diese mithilfe bestimmter Immunzellen (z. B. Killerzellen und Fresszellen) ab. Die spezifische Immunität dagegen ist die Fähigkeit unseres Organismus, Antikörper gegen ganz bestimmte Krankheitserreger zu entwickeln.

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„Wir glauben, dass viele Patienten mit chronischentzündlichen Darmkrankheiten einen Defekt in ihrer natürlichen Immunität haben, der insbesondere die Darmbakterien (Darmflora) betrifft. Wir haben im Dickdarm ja zehnmal mehr Bakterien als eigene Körperzellen. Diese Darmflora hält unser Darm mithilfe seiner Schleimhaut und Schleimschicht und bestimmter Abwehrstoffe auf Distanz. Bei manchen Patienten mit Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ist diese natürliche Abwehrkraft gestört, d. h. die Bakterien wandern in die Darmwand ein, was sie nicht sollen. Diese Bakterien müssen dann von der spezifischen Immunität aufgehalten werden, sonst würden wir ja an Blutvergiftung sterben. Es ist dann die überschießende Immunreaktion, die die Darmwände schädigt. Auf diesem Prinzip beruhen momentan auch noch alle unsere Therapien: Man versucht die Überreaktion des Immunsystems herunterzuregulieren. Das funktioniert auch; aber wahrscheinlich wäre es besser, man würde stattdessen den Abwehrdefekt behandeln. Nur können wir das zurzeit leider noch nicht.“

Ein komplexes Krankheitsbild Vermutlich werden die beiden Erkrankungen durch eine Vielzahl verschiedener Faktoren verursacht. Gerade das macht die Sache so kompliziert: „Bei chronisch-entzündlichen Darmkrankheiten können verschiedene Elemente des Immunsystems gestört sein; daran wird zurzeit noch geforscht. Es könnte auch sein, dass ein Krankheitserreger – also eine Infektion – bei der Entstehung der ein oder anderen Form von Morbus Crohn und Colitis ulcerosa eine Rolle spielt.“ Außerdem kennt man mittlerweile verschiedene Gene, die bei Morbus Crohn- und Colitis ulcerosa-Patienten gehäuft vorkommen. Genauso komplex wie das Krankheitsbild ist auch die Diagnostik: „Da die beiden Erkrankungen am Anfang nicht immer leicht zu erkennen sind, können zwischen Symptombeginn und Diagnose bei der Colitis ulcerosa durchaus ein paar Monate, bei Morbus Crohn sogar ein bis zwei Jahre vergehen.“ Gerade leichtere Verläufe sind oft schwer zu diagnostizieren. Die Diagnostik besteht aus verschiedenen Bausteinen: z. B. dem Gespräch mit dem Patienten, in dem der Arzt den bisherigen Krankheitsverlauf und die Symptome erfragt, einer kör-

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perlichen Untersuchung, aber auch Ultraschall, Endoskopie, der Erhebung bestimmter Laborwerte und der Entnahme und Untersuchung von Gewebeproben.

Verschiedene Behandlungsansätze Und was tut man, wenn man weiß, dass man an Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa leidet? Muss man sich dann auf eine lebenslange schwere Erkrankung einstellen? Nicht unbedingt, meint Professor Andus: „In einer großen Studie mit 25-jähriger Beobachtungsdauer erlitten 10 % der Patienten nur einen einzigen Krankheitsschub und bekamen innerhalb der nächsten 25 Jahre keinen weiteren Schub.“ Außerdem gibt es ja auch leichte Verläufe. Und inzwischen wurden verschiedene Therapieansätze entwickelt, die bei den meisten Patienten gut wirken. „Bei der Colitis versucht man die Entzündung auf möglichst nebenwirkungsarme Weise zu hemmen“, erklärt Professor Andus. Das erste Standardmedikament, das dabei in der Regel zum Einsatz kommt, ist 5-Aminosalicylsäure (Mesalazin): „Es wird entweder oral in Tablettenform eingenommen oder auch rektal als Zäpfchen oder Einlauf angewendet, wobei man heute davon ausgeht, dass eine lokale Therapie wegen der geringeren Nebenwirkungen und der stärkeren Wirksamkeit vorzuziehen ist. Das geht aber nur, solange lediglich der Enddarm oder der linksseitige Dickdarm von der Colitis befallen ist.“ Falls 5-Aminosalicylsäure nicht hilft oder der Patient dieses Medikament nicht verträgt, werden als nächster Behandlungsschritt Kortisonpräparate eingesetzt. „Der Vorteil der 5-Aminosalicylsäure ist, dass sie nur sehr wenige Nebenwirkungen hat. Ganz anders das Kortison: Hier gibt es alle möglichen unerwünschten Nebeneffekte, angefangen von Immunschwäche über Bluthochdruck, Ge-

Prof. Dr. med. Tilo Andus ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin, Gastroenterologie, Hepatologie und internistische Onkologie am Krankenhaus Bad Cannstatt Prießnitzweg 24 70374 Stuttgart Tel.: 0711 278-62401 Fax: 0711 278-60360 E-Mail: tandus@klinikum-stuttgart.de

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wichtszunahme mit Büffelnacken und Rundgesicht bis hin zu Diabetes, Osteoporose und grauem oder grünem Star.“ Daher versucht man solche Präparate immer nur für möglichst kurze Zeit einzusetzen. Eine weitere Behandlungsmöglichkeit sind Antikörper und Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken (sogenannte Immunsuppressiva wie beispielsweise Azathioprin und Methotrexat). Diese Immunsuppressiva haben allerdings den Nachteil, dass sie nicht nur die unerwünschte überschießende Immunreaktion dämpfen, sondern auch die körpereigene Abwehr ganz allgemein schwächen, sodass man anfälliger für Infekte wird. Außerdem können Azathioprin und Methotrexat zu Blutbildveränderungen und einem Anstieg der Leberwerte führen oder Bauchspeicheldrüsenentzündungen hervorrufen. Antikörper wiederum führen zu einem häufigeren Auftreten von teilweise schweren Infektionskrankheiten (beispielsweise Tuberkulose), erhöhen das Krebsrisiko und haben teilweise auch noch andere schwerwiegende Nebeneffekte. Bei Morbus Crohn ist die relativ nebenwirkungsarme 5-Aminosalicylsäure leider weniger wirksam; hier hat man eher mit der Gabe von Kortisonpräparaten, Antikörpern oder Immunsuppressiva Erfolg.

Bei schweren Verläufen werden heute häufig Antikörper (Infliximab, Adalomumab, Golimumab) gegen den Tumornekrosefaktor-alpha eingesetzt. Diese hemmen die Entzündung, indem sie zum einen den Tumornekrosefaktoralpha hemmen und außerdem Immunzellen zerstören, wodurch die Immunüberreaktion abgeschwächt wird. Ein ganz neuer Ansatz ist der Einsatz eines Antikörpers (Vedolzumab), der die Immunzellen daran hindert, in die Darmwand einzuwandern, wodurch ebenfalls die Entzündungsreaktion im Darm abgeschwächt wird.

Wann muss operiert werden? Trotz guter Medikamente kommt man in manchen Fällen um eine Operation nicht herum. Da bei der Colitis ulcerosa nur der Dickdarm betroffen ist (den man im Gegensatz zum Dünndarm fürs Überleben nicht braucht, weil er nicht an der

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So sieht der Arzt den Darm bei der Darmspiegelung Abb. links: gesunder Darm Abb. Mitte: Morbus Crohn Abb. rechts: Darm mit Stenose (Verengung)

Aufnahme von Nährstoffen beteiligt ist, sondern nur der Eindickung des Stuhls dient), kann man diese Krankheit durch eine operative Entfernung des Dickdarms heilen. Freilich ist das ein schwerwiegender Eingriff, und die dauerhafte Krankheitsfreiheit muss der Patient sich damit erkaufen, dass er nach der Dickdarmentfernung mehrmals täglich dünnen Stuhlgang hat. Deshalb wird man sich nur in bestimmten Fällen zu so einer Operation entschließen – z. B. wenn bei einem Patienten sämtliche Medikamente nicht wirken oder er sie nicht verträgt, aber auch, wenn bereits der Verdacht auf eine Krebserkrankung besteht: „Durch die chronische Entzündung erhöht sich das Darmkrebsrisiko, vor allem bei Patienten mit ständiger Krankheitsaktivität und bei Patienten, die an einer Pankolitis leiden, bei denen also der gesamte Dickdarm betroffen ist. Hinzu kommt, dass die Darmkrebserkrankungen bei Colitis ulcerosa vom Typ her anders sind. Beim ,normalen‘ Darmkrebs entstehen zunächst Darmpolypen, eine Krebsvorstufe, die man in der Vorsorge-Koloskopie problemlos erkennen und entfernen kann – damit ist der Patient geheilt. Die Krebsvorstufen bei einer Colitis ulcerosa sind dagegen nur schwer zu erkennen. Deshalb empfehlen wir Patienten mit Pankolitis ab dem achten Krankheitsjahr jährlich bis alle zwei Jahre eine Darmspiegelung, bei der 20 bis 30 Gewebeproben entnommen werden.“ Diese vielen Koloskopien – die wegen der schlechten Erkennbarkeit der Tumoren in der vernarbten Darmschleimhaut leider auch keine hundertprozentige Sicherheit bieten – kann der Patient umgehen, wenn er sich den Dickdarm entfernen lässt. Manchmal müssen Patienten mit Colitis ulcerosa aber auch wegen eines Darmverschlusses oder einer Darmblutung operiert werden. Beim Morbus Crohn dagegen ist man mit Operationen eher vorsichtig: Diese Krankheit kann man

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im Gegensatz zur Colitis ulcerosa operativ nicht heilen und versucht daher möglichst wenig vom Darm wegzuschneiden. „Ohne Dickdarm kann man durchaus leben; aber wenn größere Teile des Dünndarms fehlen, wird die Resorption von Nährstoffen gestört, und dann bekommt der Patient ein Kurzdarmsyndrom: Das heißt, dass der Darm nicht mehr ausreicht, um den Patienten zu ernähren. Solche Patienten brauchen jeden Tag Infusionen, um überhaupt am Leben gehalten zu werden.“ Dennoch ist auch bei Morbus Crohn bei Engstellen und Fisteln ein operativer Eingriff notwendig; und wenn es nun einmal sein muss, sollte man damit auch nicht allzu lange warten: „Bei einer Engstelle sollte man lieber frühzeitig operieren (dann ist es nur ein kleiner Eingriff) und die Operation nicht hinauszögern, bis es zum Darmverschluss kommt.“

Wodurch werden Schübe ausgelöst? Was kann der Patient selbst tun, um den Verlauf einer chronisch-entzündlichen Darmkrankheit positiv zu beeinflussen? Auch hier gibt es Möglichkeiten, wenn sie auch relativ begrenzt sind: „Es gibt viele Patienten, die bestimmte Lebensmittel nicht vertragen. Solche Nahrungsmittel sollte man dann nach Möglichkeit meiden.“ Dies ist jedoch individuell verschieden, und jeder Patient muss für sich allein herausfinden, was ihm bekommt und was nicht. Allgemeingültige Ernährungsempfehlungen für Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa gibt es nicht; allerdings weiß man, dass Rauchen sich bei Patienten mit Morbus Crohn ungünstig auswirkt. Auch Infektionen können Krankheitsschübe auslösen, und aller Wahrscheinlichkeit nach gilt dies auch für Stress. Die Patienten können sich also etwas Gutes tun, indem sie jeden unnötigen Stress vermeiden bzw. lernen, mit Stressbelastungen besser umzugehen. Aber letzten Endes gilt das wahrscheinlich für fast alle Erkrankungen.

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Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen ganzheitlich behandeln

Das Therapiekonzept der Filderklinik Bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa macht der Darm den Patienten das Leben schwer: Aufgrund noch nicht genau erforschter immunologischer Prozesse entzündet sich die Darmschleimhaut, blutet oder bildet Geschwüre, und die Patienten leiden immer wieder unter quälenden Durchfällen. Die Behandlung dieser chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen ist ein besonderer Schwerpunkt der anthroposophisch ausgerichteten Filderklinik. Hier werden die Patienten ganzheitlich behandelt – gerade bei diesen Krankheiten, die die Psyche stark belasten, ein sehr wichtiger Aspekt. Wir sprachen mit Dr. Harald Merckens, der als Internist und Gastroenterologe die Abteilung für Innere Medizin leitet, und dem Leiter der Chirurgie, Dr. Bernd Voggenreiter. Wichtige Erkenntnisse zur Psyche der Patienten und zum Erfolg von Kunst- und Musiktherapie steuerte der Chef der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie Boris Krause bei. Gibt es einen Zusammenhang zwischen chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen und der Psyche – etwa in dem Sinn, dass psychische Belastungen die fehlgeleitete Reaktion des Immunsystems auslösen? Dr. Voggenreiter: So allgemein kann man das nicht sagen. Aber die Erfahrung zeigt schon, dass ein Schub häufig durch ein psychosoziales Ereignis ausgelöst wird. Psychische Belastungen sind zwar nicht die Ursache für diese Erkrankungen, können aber ein Trigger (Auslöser) sein. Boris Krause: Das Besondere an unserer Therapie ist, dass sie auch solche Faktoren mit einbezieht. Wir behandeln unsere Patienten nach dem integrativen Konzept. Das bedeutet, dass wir die medikamentöse wie auch die operative Therapie chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen abdecken und unsere Patienten außerdem psychosomatisch betreuen. Denn die anthroposophische Medizin sieht den Menschen als Wesen, das sowohl einen leiblichen Aspekt als auch eine seelische Befindlichkeit hat. Leib, Seele und Geist gehören zusammen – daraus entwickeln wir unsere Therapie. Deshalb arbeiten die Ärzte an unserer Klinik auch sehr eng interdisziplinär zusammen. Welche medikamentösen Therapien bieten Sie an? Dr. Merckens: Wir setzen genau die gleichen Arzneimittel ein, mit denen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa auch in der Schulmedizin behandelt wer-

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den: Steroide, Immunsuppressiva und Antikörper – wobei diese Medikamente sich in letzter Zeit sehr verbessert haben: Sie sind viel wirksamer als noch vor fünf oder zehn Jahren. Trotzdem reichen sie häufig nicht aus. Zusätzlich setzen wir auch noch andere Medikamente ein, z. B. Weihrauch-, Myrrhe- oder Kohlepräparate, wodurch wir zum Teil konventionelle Medikamente einsparen können. Auch pflegerische Maßnahmen haben bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen einen wichtigen Stellenwert. Dabei arbeiten wir mit verschiedenen Wickeln und Auflagen. Bei Morbus Crohn (bei dem die Patienten oft unter Bauchkrämpfen leiden) wirkt ein Oxalis-Bauchwickel beruhigend und entspannend. Bei Colitis ulcerosa wenden wir häufig Schafgarben-Leberwickel an, um die Verdauungskraft zu stärken und die Entgiftungsleistung der Leber zu erhöhen. Wann ist bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eine Operation angezeigt? Dr. Voggenreiter: In manchen Fällen profitieren die Patienten sehr von einer OP – nicht nur bei Colitis ulcerosa, sondern auch bei Morbus Crohn. Eine unserer Patientinnen, die jetzt 70 Jahre alt ist, hat sich wegen ihrer Durchfälle 30 Jahre lang nicht mehr vor die Tür getraut. Nach der Operation, bei der wir entzündete Teile des Dickdarms und Dünndarms entfernten, ging es ihr viel besser, und sie konnte wieder ein normales soziales Leben führen. Aber man muss die Entscheidung zur OP sehr indi-

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viduell treffen – jeder Patient ist anders. Und man muss die Indikation richtig stellen: Operieren um jeden Preis ist der falsche Weg. Bei Colitis ulcerosa wird ja manchmal der ganze Dickdarm entfernt. Dr. Voggenreiter: Das ist eine sehr aufwendige Operation; aber danach ist der Patient geheilt. Wenn man sich für einen solchen Eingriff entscheidet, sollte man ihn so frühzeitig wie möglich durchführen – umso besser sind die Ergebnisse. Was kann der Psychotherapeut für Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen tun? Boris Krause: Wir sehen die Patienten normalerweise zum ersten Mal, wenn sie sich in einem akuten Schub befinden und wir sie konsiliarisch auf der gastroenterologischen Abteilung betreuen. Doch dann geht es ihnen meistens so schlecht, dass man gar nicht psychotherapeutisch mit ihnen arbeiten kann. Bei akutem Schub und starker Entzündungsaktivität steht eher die körperbezogene Behandlung im Vordergrund. In den Pausen zwi-

schen den Schüben dagegen können Therapien, die die Eigenaktivität der Patienten ansprechen – beispielsweise Kunstund Psychotherapie –, besonders wirksam sein. Was für psychische Probleme kommen bei Patienten mit chronischentzündlichen Darmerkrankungen vor? Boris Krause: Oft leiden sie unter Angststörungen oder Depressionen. Manche haben auch Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen oder Partnerschaftsprobleme. Und wie läuft eine psychotherapeutische und kunsttherapeutische Betreuung solcher Patienten bei Ihnen ab? Dr. Merckens: Auch das ist individuell verschieden.

Es gibt Situationen, da vergessen uns unsere Patienten. Das ist unser höchstes Ziel.

Patientencompliance bedeutet für uns seit mehr als 25 Jahren, dem Menschen ein Höchstmaß an beschwerdefreiem Leben zurückzugeben. Ob national oder international – ob im direkten Kontakt mit dem Patienten oder als zuverlässiger Partner für Krankenhäuser, Kliniken und Ärzte.

Zwischen den Krankheitsschüben können Therapien, die die Eigenaktivität der Patienten ansprechen – z. B. Kunst- und Psychotherapie –, besonders wirksam sein.

Homecare Pneumologie Neonatologie Anästhesie Intensivbeatmung Schlafdiagnostik S E RV I C E Patientenbetreuung

Heinen + Löwenstein Arzbacher Straße 80 D-56130 Bad Ems Telefon: 0 26 03/96 00-0 Fax: 0 26 03/96 00-50 Internet: hul.de


Wenn wir als Internisten den Eindruck haben, dass die Krankheit eines Patienten stark mit psychischen Belastungen einhergeht, schicken wir ihn nach der Schubbehandlung in die psychosomatische Abteilung. Und woran erkennen Sie das? Dr. Merckens: Das merkt man z. B. an der Symptomatik und daran, wie gut die körperlichen Beschwerden auf die medikamentöse Therapie ansprechen. Außerdem sprechen wir bei unseren Visiten natürlich auch mit den Patienten. Wir achten nicht nur auf die Durchfälle, die Entzündungswerte im Blut und die Untersuchungsergebnisse von Ultraschall und Endoskopie, sondern fragen auch nach den psychosozialen Zusammenhängen: Wie ist die Situation zu Hause? Kann der Patient aktiv mit seiner Krankheit umgehen, oder fühlt er sich ihr hilflos ausgeliefert? Nach solchen Kriterien entscheiden wir, ob eine zusätzliche psychosomatische Behandlung sinnvoll ist. Manche Patienten haben „Knoten“ in ihrer Biografie, die noch nicht aufgelöst wurden, beispielsweise eine zu enge Elternbindung. Auch eine psychotherapeutische Bearbeitung

Dr. Harald Merckens Leitender Arzt der Abteilung Innere Medizin und Gastroenterologie Facharzt für Innere Medizin Gastroenterologie Anthroposophische Medizin (GAÄD) E-Mail: h.merckens@filderklinik.de

Dr. Bernd Voggenreiter Medizinischer Geschäftsführer, Leitender Arzt der Abteilung Chirurgie Facharzt für Allgemeine Chirurgie Schwerpunkt Viszeralchirurgie E-Mail: chirurgie@filderklinik.de

Boris Krause Leitender Arzt der Abteilung Erwachsenen Psychosomatik und Psychotherapie Facharzt für Psychosomatische Medizin Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie E-Mail: psychosomatik@filderklinik.de

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solcher Probleme kann sich sehr positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken. Wie gehen Sie dabei vor? Boris Krause: Wir bieten Einzel- und Gruppentherapien an, in denen sich die Muster zeigen, nach denen unsere Patienten mit anderen Menschen in Beziehung treten. Dann kann der Psychotherapeut steuernd eingreifen. Colitis-Patienten haben z. B. häufig Abgrenzungsschwierigkeiten: Sie sind sehr mitfühlend, engagieren sich emotional stark für andere Menschen und nehmen deren Probleme als ihre eigenen an. Wenn wir so etwas beobachten, greifen wir ein und sagen: „Versuch’ doch mal anders mit diesem Mitpatienten umzugehen.“ Wenn die Patienten lernen, sich ihren Mitmenschen gegenüber anders zu verhalten, ihnen Grenzen zu setzen und auch mal Nein zu sagen (was gerade Colitis-Patienten sehr schwerfällt), klingt ihre Erkrankung natürlich nicht gleich ab, kann sich langfristig aber doch bessern. Eine Patientin, die ich konsiliarisch auf der inneren Abteilung betreute, konnte überhaupt kein Urteil und keine Entscheidung fällen – und das, obwohl sie Richterin war. Selbst banale Entscheidungen (z. B. welches Krankenzimmer sie beziehen und ob sie Mineralwasser oder Orangensaft trinken wollte) waren für sie ein großes Problem. Diese Frau hatte 20 blutige Durchfälle pro Tag und war fix und fertig. Als wir dann anfingen, über ihre Biografie zu sprechen (ihre Mutter litt an einer Psychose, was sie sehr belastet hat) und sie sich von der Mutter etwas distanzierte, nahmen ihre blutigen Durchfälle ab. Diese biografische Arbeit ist für viele Patienten sehr hilfreich. Wir motivieren unsere Patienten auch dazu, ihre Krankheit nicht nur negativ zu sehen. Gemeinsam mit ihnen gehen wir der Frage nach: Wohin hat mich mein Morbus Crohn oder meine Colitis ulcerosa im Leben geführt? Welchen Weg hat diese Erkrankung mir gewiesen, den ich ohne sie vielleicht nicht eingeschlagen hätte? Manchmal kann aus einer Krankheit auch etwas Positives erwachsen. Dr. Merckens: Wir schauen den Patienten aber nicht nur in seiner Psychodynamik und seiner persönlichen Situation an, sondern behandeln ihn auch kunsttherapeutisch und mit Heileurythmie. Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen ist ja neben der Grenzbildung auch die rhythmische Funktion des Darms im Sinne der Peristaltik geschwächt. Wir haben die Erfahrung gemacht: Wenn solche Patienten es schaffen, bei einer künstlerischen Tätigkeit wie Malen oder Plastizieren (dem Formen von Figuren aus Ton) in einen träumerischen, meditativen Zustand zu gelangen und in ein rhythmisches Geschehen einzutauchen, beruhigt sich der Darm. Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen liegt eine zu große Wachheit der Bauch-Organe vor: Sie reagieren zu stark, sind überaktiv. Manche unserer Patienten sagen sogar: „Ich fühle nicht mit dem

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Herzen, sondern mit dem Darm. Dieses Organ reagiert bei mir immer sofort.“ Wir haben Colitis-Patienten, die am Tag 20 Mal unter blutigen Durchfällen leiden. Wenn die beim Plastizieren sind, wundern sie sich darüber, dass sie plötzlich gar nicht mehr zur Toilette gehen müssen. Auch Musiktherapie und Heileurythmie spielen in unserem Behandlungskonzept eine wichtige Rolle. Bei der Heileurythmie handelt es sich um eine rhythmische Bewegungstherapie, die bei Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen einen sehr hohen Stellenwert hat. All diese Therapien, die die Patienten hier bei uns kennenlernen, können sie zu Hause weiter fortführen. Damit geben wir ihnen ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie selbst etwas für ihre Gesundung tun können. Patienten zur Eigenaktivität anzuregen, ist gerade bei einer chronischen Erkrankung sehr wichtig.

Boris Krause: In der Psychosomatik bekommt jeder Patient viermal pro Woche eine Kunsttherapierichtung in Einzelbehandlung und dreimal pro Woche eine zweite Richtung in der Gruppe. Aber auch auf den anderen Stationen bieten wir unseren Patienten Kunsttherapie und Heileurythmie an. Auch dieser rhythmisierende Einfluss – ein Tages- und Wochenprogramm zu haben, statt einfach nur im Bett zu liegen und Medikamente zu schlucken – wirkt sich sehr positiv auf den Gesundheitszustand unserer Patienten aus. Das ist ein Kernprinzip der integrativen Medizin: dass wir auch in Richtung Salutogenese arbeiten, die Menschen also dazu befähigen, mit ihrer chronischen Erkrankung und ihren Beschwerden umzugehen. Dabei sind Kunst- und Gesprächstherapien eine große Hilfe.

Gesundheit beginnt im Kopf: Vorbeugen ist besser als heilen Die Kolumne von Dr. Suso Lederle

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s schmerzt hier, es schwindelt dort. Ist das jetzt ernst? Diese Frage stellt sich immer mal wieder und jeder wird dann bei sich denken: „Wenn ich so weitermache wie bisher, dann kann mir am Ende keiner mehr helfen.“ Angst und Furcht kommen ins Spiel, doch dann geht der alte Trott wieder weiter: Heute gut gelebt, was soll schon morgen sein? Der Schlag trifft hoffentlich einen anderen. Doch was helfen Ermahnungen, gesünder zu leben, gegen eingefahrene Gewohnheiten? Was sagt uns folgendes: Der Gesundheitszustand eines jeden wird beeinflusst zu 62 % durch den Lebensstil, zu 28 % durch Vererbung und zu 10 % durch die kurative (heilende) Medizin. Herzinfarkt, Schlaganfall oder Diabetes wären teilweise vermeidbar, würde die Forderung Prävention vor Kuration wirksamer umgesetzt. Das jetzt im Bundestag verabschiedete Präventionsgesetz wird die Gesundheitsförderung stärken. Doch die guten Vorsätze zum gesunden Lebensstil muss jeder erst einmal selbst in Taten umsetzen. Und dabei gilt, wer gesund alt werden will, muss jung mit gesundem Lebensstil anfangen. Gesundheitserziehung sollte schon bei Kindern beginnen – in Kindergärten und Schulen. Gesunde Ernährung, das richtige Maß für Bewegung oder Entspannung – eigentlich wissen die meisten, was gut für sie ist. Doch das Gewohnte zu ändern, ist nicht einfach. Aller Anfang ist schwer, aber nicht unmöglich. Gesundheit beginnt im Kopf, die gesunde Lebensweise liegt in den Beinen. Warten Sie nicht, bis Sie krank werden, Vorsorge ist besser.

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Man muss auch wissen, der Mensch ist, was er isst. Jedes Pfund geht durch den Mund. Arbeiten Sie deshalb an Ihrem gewichtigen Problem: Ein Apfel ist besser als ein Schokoriegel; Vollkorn besser als Weißbrot; Wasser besser als Limonade! Doch gegen ungesunde Essgewohnheiten hilft nicht ein moralisierender Kochlöffel. Es gibt auch keine Pille „Gesundheit“, und „jeder hat eine andere Art, gesund zu sein“, meinte schon Immanuel Kant. Es gibt aber alle zwei Jahre einen von den Kassen bezahlten Gesundheits-Check. Lassen Sie sich von Ihren Ärzten deshalb regelmäßig untersuchen, Brust und Prostata tasten, ab 55 Jahren den Darm spiegeln, und schützen Sie sich vor Infektionskrankheiten durch Impfungen. Alle sprechen von Prävention, aber zu wenige praktizieren sie. Das sollte sich ändern. Was im Leben wirklich wichtig ist – dafür müssen Sie sich einfach mehr Zeit nehmen.

Dr. med. Suso Lederle Charlottenstraße 4 70182 Stuttgart Tel.: 0711 241774 E-Mail: suso-lederle@t-online.de

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Mehr Stabilität und weniger Schmerzen durch Taping Die bunten Klebestreifen, mit denen man heutzutage immer mehr Menschen herumlaufen sieht, lindern Schmerzen, stützen instabile Gelenke und können sogar Fehlhaltungen korrigieren. Dr. Roxanne Dossak

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apes sind etwa 5 cm breite, verschiedenfarbige, selbstklebende Stützverbände, die auf die Haut aufgebracht werden und dort für ein paar Tage verbleiben. Sie sehen aus wie Pflaster, sind aber sehr viel fester und stabiler. Es gibt sie in zwei verschiedenen Varianten: starr oder elastisch. Die starren Tapes dienen in erster Linie zur Stabilisation von Gelenken – z. B., wenn man mit dem Fuß umgeknickt ist oder sich einen Bänderriss zugezogen hat.

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„Dadurch kann man früher mit dem Training für ein sportliches Ereignis beginnen und die Belastung für die angeschlagenen Bänder reduzieren“, sagt Dipl. Sportwissenschaftler Alfred Bauser von der AOK Stuttgart-Böblingen. Diese Tapes waren schon für so manchen Profisportler die letzte Rettung aus der Not: „Wenn jemand vier Wochen vor dem Wettkampf durch einen Bänderriss lahmgelegt wird, kann er mithilfe von Taping in Kombination mit Kühlung und guter Physiotherapie häufig doch noch an dem Event teilnehmen.“ Außerdem kann man durch Taping bei Problemen mit der Achillessehne oder beim Tennisellbogen die Zugbelastung reduzieren. Die starren Tapes kommen im Leistungssport schon seit vielen Jahren zum Einsatz. In den letzten Jahren wird in physiotherapeutischen Praxen aber auch immer häufiger mit elastischen Tapeverbänden – sogenannten kinesiologischen oder KinesioTapes – gearbeitet. Auch diese Klebeverbände dienen dazu, Gelenken und anderen instabilen oder verletzten Strukturen (z. B. bei einem verstauchten Knöchel oder bei Arthrose) Halt zu bieten. Außerdem lindern sie Schmerzen, etwa bei Muskelverspannungen oder Bandscheibenproblemen: Dank ihrer stützenden, stabilisierenden Funktion verhindern die Tapes schmerzhafte Bewegungen, sodass man schneller wieder körperlich aktiv werden kann, was eine rasche Genesung fördert.

Gute Ergänzung zur Physiotherapie Nicht immer reicht Taping allein aus, um Beschwerden zu lindern; doch in Kombination mit manueller Therapie und Wärmeoder Kältebehandlung können die Tapes sehr positive Wirkungen erzielen. Eindeutige wissenschaftliche Erklärungen gibt es dafür bisher nicht; man geht jedoch davon aus, dass die Klebebänder Rezeptoren in und unter der Haut stimulieren. Das

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sind Nervenendigungen, die Reize (z. B. Schmerzen, Bewegungen, Berührungen, Wärme- oder Kälteempfindungen) wahrnehmen, welche dann über das Rückenmark ans Gehirn weitergeleitet werden. Außerdem sollen die Tapes sich positiv auf die Muskelspannung auswirken, die Blut- und Lymphzirkulation anregen und Wasseransammlungen im Gewebe – beispielsweise nach Verstauchungen oder bei chronischen Gelenkproblemen – schneller zum Abschwellen bringen. Mit entsprechend starker Zugwirkung angebracht, können Tapes sogar Fehlhaltungen korrigieren und erfüllen dabei gleichzeitig eine erzieherische Funktion: „Sie verbessern das Körperbewusstsein des Patienten – immer wenn er wieder in seine gewohnte falsche Körperhaltung verfällt, merkt er das sofort daran, dass das Tape spannt, und kann seine Position korrigieren“, sagt Alfred Bauser.

Eigentherapie bringt nicht viel Freilich sollte man nicht alles glauben, was in der Regenbogenpresse und auf dubiosen Internetseiten so alles verbreitet wird. Da wird mittlerweile sogar schon „Emotional Taping“ gegen Stress, Ängste und Lebenskrisen angeboten; und natürlich findet man überall Schritt-für-Schritt-Anleitungen zum Selbstkleben der Tapeverbände. Das ist Unsinn: „Ein Tape sollte stets vom Sportmediziner oder Physiotherapeuten angelegt werden“, betont Alfred Bauser. Unter Anleitung des Therapeuten kann der Patient dann eventuell auch lernen, sich selbst zu tapen. Ohne Absprache mit dem Arzt oder Physiotherapeuten macht das Taping jedoch wenig Sinn. Die Kosten für diese Behandlung werden von den gesetzlichen Krankenkassen bisher nicht erstattet; da die Tapes nicht teuer sind, lohnt sich ein Therapieversuch aber auf jeden Fall.

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Warum sterben Menschen immer noch an Dickdarmkrebs? Prof. Dr. Bodo Klump, Paracelsus-Krankenhaus Ruit, fordert mehr Anstrengungen in Vorsorge, Früherkennung und Therapie der Krebserkrankungen des Dickdarms, denn: Dickdarmkrebs muss nicht sein!

Dickdarmkrebs ist häufig – und ernst … Man muss nicht an Dickdarmkrebs erkranken und man muss nicht an Dickdarmkrebs sterben – umso trauriger, dass die bösartigen Erkrankungen des Dickdarms dennoch die zweithäufigste krebsbedingte Todesursache überhaupt darstellen. Etwa 70 000 Menschen erkranken in Deutschland Jahr für Jahr, jeder 17. ist betroffen – und beinahe jeder zweite Betroffene verstirbt an seiner Erkrankung. Was sind die Gründe? Ohne Zweifel trägt unser „westlicher Lebensstil“ auch zur Entstehung von Dickdarmkrebs bei. Wenig Bewegung, Übergewicht, der Genuss von rotem Fleisch, zu wenig Ballaststoffe auf dem Speiseplan, Alkohol und Nikotin – all das sind Faktoren, die auch für unseren Dickdarm „Gift“ sind. Allerdings, auch der gesündeste Lebensstil stellt keinen garantierten Schutz dar: erbliche Anlagen oder schicksalhaft auftretende Fehler im „Betriebssystem“ unserer Dickdarmschleimhaut können ohne unser Mitwirken zur Entstehung von Krebs führen, leider.

Prof. Dr. Bodo Klump Chefarzt Klinik für Innere Medizin, Gastroenterologie und Tumormedizin Paracelsus-Krankenhaus Hedelfinger Str. 166 73760 Ostfildern-Ruit Tel.: 0711 4488-11400 www.kk-es.de

Was kann man tun? Warum sterben Menschen noch an Dickdarmkrebs? Diese Frage muss man tatsächlich stellen, denn Dickdarmkrebs ist vermeidbar, was sich für die wenigsten Krebserkrankungen so sagen lässt. Grund hierfür ist, dass jeder Dickdarmkrebs aus gutartigen Wucherungen, den „Polypen“ entsteht, die sich im Rahmen einer Dickdarmspiegelung entdecken und entfernen lassen. Da die Entwicklung der „Polypen“ und deren Entartung zu „Krebs“ in aller Regel viele Jahre in Anspruch nimmt, genügt häufig eine Spiegelung nur alle 10 Jahre – wurden „Polypen“ entfernt, kann es sinnvoll sein, nach 5 oder 3 Jahren erneut zum Darmspezialisten zu gehen. So lässt sich beinahe jede Dickdarmkrebs-Erkrankung vermeiden!

Vorsicht: Man spürt ihn nicht! „Sie sind über 50 und fühlen sich Ist so eine Spiegelung nicht unangenehm und kerngesund? Dann könnten Sie Prof. Klump: „Gastroenterologigefährlich? Dickdarm-Krebs haben!“ – dies war sche Praxen sind KompetenzJeder 17. Bundesbürger erkrankt an Dickdarmder Slogan einer amerikanischen Zentren der Dickdarmkrebskrebs, jeder 35. stirbt hieran – nur bei jeder Aufklärungskampagne; etwas pro- Vorsorge!“ 25 000. Spiegelung jedoch tritt ein Problem auf, vokant sollten die Menschen darauf das sich in aller Regel beheben lässt. Die Vorbeaufmerksam gemacht werden, dass reitung des Darms für die Spiegelung ist heute man eben nicht warten darf bis man Beschwerden verspürt: viel angenehmer geworden, die Untersuchung selbst lässt sich Blut im Stuhl, eine neue Verstopfung oder Durchfallneigung, dank neuer Medikamente „verschlafen“. Bauchweh und Abgeschlagenheit – all dies können Symptome einer Dickdarmkrankheit sein, jedoch treten diese Probleme Die Behandlung von Dickdarmkrebs häufig erst spät auf, manchmal auch zu spät. Dickdarmkrebs sollte heute nicht mehr entstehen – leider ge-

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Prof. Klump: „Im ParacelsusKrankenhaus gehen kompetente Spitzen-Versorgung und zuwendungsorientierte Medizin Hand in Hand.“

schieht es dennoch viel zu oft. Wenn ein Dickdarmkrebs-Leiden festgestellt wurde, muss alles unternommen werden, ist durch eine kompetente interdisziplinäre Therapie an einem spezialisierten Zentrum alles zu tun, um Heilung zu erreichen: am Paracelsus-Krankenhaus gewährleisten neueste Diagnose-Verfahren die korrekte Einschätzung der Krankheit – unerlässliche Voraussetzung für die bestmögliche Behandlung. Auf Schlüsselloch-Operationen spezialisierte Chirurgen arbeiten mit Onko-

logen und Strahlentherapeuten zusammen, um die für den individuellen Patienten optimale Therapie-Strategie zu entwickeln – unter Nutzung aller Möglichkeiten über die Fachgrenzen hinweg. Hierbei ist das Paracelsus-Krankenhaus das Zentrum der kurzen Wege und der persönlichen Betreuung. Es ist unsere Überzeugung, dass sich modernste Behandlungsmethoden mit einer zuwendungsorientierten Medizin verbinden müssen, um das Beste für unsere Patienten zu erreichen.

Ausgewählte Apps für Sie

Die digitale Welt der Mikroben: Tablet-Kompendium zum Thema Infektionsforschung

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ie Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat auf ihrer Jahrespressekonferenz in Berlin ihre erste App für mobile Endgeräte vorgestellt. Diese bietet unter dem Titel „MenschMikrobe“ ein ebenso unterhaltsames wie fachlich fundiertes Kompendium zum Thema Infektionsforschung. „Was sind Mikroben? Wie entstehen Epidemien? Wie lassen sich Infektionskrankheiten kontrollieren?“ – zu diesen Fragen erhalten die App-Nutzerinnen und -Nutzer ebenso Auskunft wie über die natürlichen Aufgaben der Körperflora, die überraschenden Strategien der Krankheitserreger, die Grenzen der Antibiotikatherapie oder die soziale und historische Dimension von Infektionen. Die „MenschMikrobe“-App ist die interaktive Erweiterung der gleichnamigen Wanderausstellung, die die DFG gemeinsam mit dem Robert Koch-Institut (RKI) zwischen 2010 und 2014 an 15 Standorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit großem Erfolg präsentiert hat. Wie in der von mehr als 150 000 Besucherinnen und Besuchern gesehenen Ausstellung dreht sich auch in der App alles um das faszinierende Wechselspiel zwischen dem Menschen und den oft nur als Krankheitserregern wahrgenommenen Mikroben. Wie vielfältig dieses Wechselspiel ist, zeigt die „MenschMikrobe“-App mit zahlreichen multimedialen Inhalten – Animationsfilmen ebenso wie Au-

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dio-Features, Wissenstests, einem Mikroben-Lexikon sowie interaktiv zugänglichen Exponaten. Auf einer 3-D-Weltkugel lässt sich die Seuchengeschichte in ihren globalen Ausmaßen erkunden. Einen aktuellen Einblick in die Infektionsforschung bieten schließlich die auf der App vorgestellten DFG-geförderten Forschungsprojekte. Mit einem altersspezifisch zugeschnittenen Kinderbereich und speziellen Angeboten für Schüler und Lehrer ist die App auch für den Unterricht geeignet, andere Angebote können gezielt in Ausbildung und Studium eingesetzt werden. Begleitend zur App stellt die DFG Arbeitsblätter für den Schulunterricht sowie weitergehende Informationen zum Thema Infektionsforschung auf der DFG-Internetseite zur Verfügung. Weiterführende Informationen: Die „MenschMikrobe“-App kann ab sofort für Tablet-Computer mit iOS im Apple App Store heruntergeladen werden, eine Android-Version geht in Kürze über den Google Play Store online. Download-Links und weitere Materialien finden sich auch unter: www.dfg.de/menschmikrobe

Marco Finetti, Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 27


Herz und Psyche

Warum seelischer Kummer krank machen kann Prof. Dr. med. Christian Herdeg

Früher galt das Herz als Sitz der Seele. Eigentlich ist es ja auch verständlich, dass diesem Motor unseres Lebens ein so hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Heute spricht man (zumindest im medizinischen Sinn) nicht mehr von Seele, sondern eher von Psyche. Und tatsächlich stehen Herz und Psyche in enger Wechselwirkung: Stress und seelischer Kummer können das Herz krank machen. Eine Herzkrankheit wiederum ist eine schwere psychische Belastung, die bei vielen Menschen zu Ängsten und Depressionen führt.

D

er Volksmund kennt unzählige Redewendungen für den engen Zusammenhang zwischen Herz und Psyche: „Es bricht mir das Herz“, „Ihr ist vor Schreck das Herz stehengeblieben“, „Er hat sich seine Kündigung sehr zu Herzen genommen“… All diese anschaulichen Beschreibungen für psychische Vorgänge stammen aus einer Zeit, als dem Herzen noch eine seelische Dimension beigemessen wurde. Und inzwischen weiß man: Der Volksmund hatte Recht! Tatsächlich reagiert unser Herz sehr sensibel auf Emotionen – positive ebenso wie negative. Wenn wir uns freuen, schlägt

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unser Herz schneller; wenn wir Angst haben, beginnt es zu rasen; Stress lässt das Herz manchmal stolpern. Auch wenn diese Extrasystolen normalerweise harmlos sind, können sie einem schon einen ganz schönen Schrecken einjagen. Und das ist noch lange nicht alles: Plötzliche Schicksalsschläge, aber auch langanhaltende psychischen Belastungen können zu schweren, manchmal lebensbedrohlichen Herzerkrankungen führen. Leider tritt die seelische Seite des Menschen in unserer heutigen apparateorientierten Medizin oft zu sehr in den Hintergrund. Das ist schade, denn

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man kann Körper und Seele nicht voneinander trennen. Damit stellt sich die Frage: Was ist ganzheitliche Medizin? Eigentlich müsste jede Medizin ganzheitlich sein. Denn egal, ob wir einen Knochen reparieren oder eine Herzkrankheit behandeln: Wir müssen dabei stets den ganzen Menschen in all seinen Aspekten im Auge behalten. Warum suchen so viele Menschen Rat bei der Alternativmedizin? Ich vermute, dass das auf eine gewisse Unzufriedenheit mit uns schulmedizinischen Ärzten zurückzuführen ist. Unzufriedenheit darüber, dass man seine Sorgen und Probleme nicht beim Arzt loswerden kann – denn der hat ja kaum länger als fünf Minuten Zeit für seinen Patienten. Neben der chronischen Überlastung unserer heutigen Ärzte hat das auch ganz konkrete finanzielle Gründe: Für eine Stunde Gespräch mit einem Patienten bekommt der Arzt gerade mal eine Vergütung von 10 Euro; für eine Ultraschalluntersuchung oder Kernspintomografie greifen die Kassen sehr viel tiefer in die Tasche. Ich persönlich glaube, dass Patienten nicht deshalb so oft zum Heilpraktiker oder Alternativmediziner gehen, weil dieser eine andere Medizin anbietet, sondern weil sie dort das bekommen, was ihnen bei ihrem Arzt immer öfter versagt bleibt: Zeit, ein verständnisvolles Gespräch und das Gefühl, angenommen und ernst genommen zu werden. Gerade wir Kardiologen stehen mittlerweile in dem Ruf, nur noch Koronarklempner zu sein: „Koronarien“ ist der medizinische Fachbegriff für die Herzkranzgefäße, die das Herz mit Blut und Sauerstoff versorgen; und man liest und hört ja immer wieder, dass in Deutschland zu viele Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt und zu viele Stents eingesetzt werden. Auf der anderen Seite haben gerade die Herzkatheter-Eingriffe und die Behandlung des Herzinfarkts mit Ballon und Stent die Sterblichkeit an den akuten Herzerkrankungen in den letzten Jahren dramatisch gesenkt, ja sogar halbiert. Es gibt wohl kein anderes einzelnes Verfahren in der Medizin, das so vielen Menschen akut das Leben retten konnte. Die Technologien in der Kardiologie entwickeln sich rasend schnell. Heute werden Patienten sogar Herzklappen ohne Operation in lokaler Betäubung eingesetzt. Doch die beste Technik ist nichts ohne einfühlsame Begleitung, ohne Zeit für den einzelnen Patienten und ohne Ohr für die Wünsche und Nöte jedes Einzelnen. Und gerade der Kardiologe ist mit dem Organ, auf das er sich spezialisiert hat, ja auch noch sehr nah an der menschlichen Seele dran.

Wie arbeitet eigentlich unser Herz? Das Herz ist eine Pumpe, welche die Aufgabe hat, das Blut in den Körper zu transportieren. Dieser Muskel erbringt tagtäglich eine beeindruckende Leistung, über die man gar nicht zu viel nachdenken darf, weil einem sonst unheimlich zumute

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wird: Von unserem ersten Atemzug an – sogar schon im Mutterleib – arbeitet das Herz ununterbrochen und gönnt sich niemals eine Pause. Es schläft nie – bis zu unserem Lebensende. Rund 6000 Liter Blut pumpt es pro Tag durch den Körper; im Jahr sind das mehr als zwei Millionen Liter. Da ist es eigentlich kein Wunder, dass so ein Organ nicht einfach nur wie eine seelenlose Maschine vor sich hin arbeitet, sondern eben auch äußeren Einflüssen wie unserem Nervensystem und unserer Psyche unterworfen ist. Und diese Belastungen sollten wir ernst nehmen; denn in den westlichen Industrieländern sterben 50 % aller Menschen an einer Herzerkrankung. Die häufigsten Todesursachen sind Herzinfarkt und Herzschwäche.

Was macht das Herz krank? Es gibt verschiedene körperliche Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an denen wir nichts ändern können: • Vorgerücktes Alter: Die meisten Herzkrankheiten entstehen langsam und treten daher erst in höherem Alter auf. • Geschlecht: Frauen sind durch ihre Geschlechtshormone bis zu einem gewissen Grad vor Herzinfarkt und Schlaganfall geschützt, holen die Männer aber nach den Wechseljahren ziemlich schnell ein. • Genetische Faktoren: Wenn in einer Familie (z. B. bei Eltern, Großeltern oder Geschwistern) viele Herzerkrankungen vorkommen, hat man selbst ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme. Ferner gibt es Risikofaktoren, die sich durch Medikamente oder eine gesunde Lebensweise beeinflussen lassen: • Bluthochdruck • zu hohe Cholesterinwerte • Diabetes • Rauchen • zu wenig Bewegung. Wie erklärt ein Patient sich die Tatsache, dass er einen Herzinfarkt erlitten hat? In der Regel wird er dabei keine der obigen Ursachen erwähnen, sondern sagen: „Ich hatte einfach zu viel Stress.“ Solche Aussagen hört man von Menschen nach einem bedrohlichen Herz-Kreislauf-Ereignis immer wieder. Tatsächlich ist unsere moderne Lebensweise für das Herz sehr ungesund. Früher mussten wir unserem Essen hinterherjagen, um es zu erlegen. Essen war schwer zu bekommen, Bewegung garantiert. Heute ist es genau umgekehrt: Wir fahren mit dem Auto zu McDonald’s. Bewegung haben wir keine mehr, aber fürs Essen ist zu jeder Tages- und Nachtzeit gesorgt. Doch unsere heutige Zeit hat nicht nur Auswirkungen auf unser Bewegungs- und Essverhalten, sondern bringt auch viele seelische Belastungen mit sich. Die Folgen dieses Stresses werden immer wieder mit einem Begriff umschrieben, den es

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noch bis vor ein paar Jahrzehnten gar nicht gab: Burnout. Mit der Auflösung von Strukturen, die früher unser Leben geordnet und ihm einen Sinn verliehen haben – Arbeitswelt, Ehe, Familie –, gehen natürlich auch Belastungen für die Psyche einher: Viele Menschen fühlen sich ihrer Arbeit entfremdet. 50 % aller Großstadtbewohner sind Singles. Jede dritte Ehe wird geschieden … Die Liste dieser Stressfaktoren ließe sich beliebig lang fortsetzen. Deshalb gibt es inzwischen eine neue medizinisch-psychologische Disziplin, die die krankhaften Auswirkungen der Psyche auf das Herz erforscht und zu behandeln versucht: die Psychokardiologie. Welche Gefühle sind gefährlich fürs Herz? Aufregung, Angst, Trauer, Wut, Mutlosigkeit, Erschöpfung, Depression … Wohl jeder Mensch hat diese Emotionen schon einmal erlebt. Es gibt immer wieder Phasen im Leben, in denen uns solche Gefühle übermannen. Bei manchen Menschen ist es ein einschneidendes Ereignis: eine Todesnachricht, ein Unfall, der Verlust des Arbeitsplatzes … Andere stehen unter einem ständigen Druck, der ihnen möglicherweise gar nicht bewusst ist, und brechen irgendwann zusammen, ohne dass es ein auslösendes Ereignis dafür gibt. Am häufigsten kommt jedoch beides zusammen: dass Menschen in einer chronischen Belastung leben und ein akutes Ereignis – sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt – dann die Herzkatastrophe auslöst. Meist haben diese Patienten sich auch vor dem Herzinfarkt schon lange Zeit ausgelaugt und erschöpft gefühlt.

Welche Stresskonstellationen sind besonders belastend? Was ist Stress eigentlich? Solche Belastungen werden individuell sehr unterschiedlich empfunden. Manche Menschen leben unter Stress auf; sie empfinden ihn gar nicht als negativ. Es kommt also nicht auf das Ausmaß der Belastung an, sondern auf unsere Sichtweise, unsere Reaktion darauf. In dieser Hinsicht ist jeder Mensch anders. Aber es gibt schon gewisse „herzinfarktverdächtige“ Konstellationen, die ich in meiner Sprechstunde immer wieder beobachte. Als Arzt muss man sich Zeit nehmen, um solche Risikokonstellationen zu erfra-

gen; denn nicht jeder Patient öffnet dem Arzt sein „Herz“ gleich in den ersten zwei Minuten. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass schwierige Arbeitsverhältnisse sehr belastend für Herz und Kreislauf sind. Hier gibt es zwei besonders bedenkliche Konstellationen: Menschen, die sehr hohen Anforderungen und hohem Zeitdruck ausgesetzt sind, aber nur wenig Entscheidungsspielraum haben (sich also als fremdgesteuert empfinden) und womöglich auch noch schlecht bezahlt werden, haben ein erhöhtes Herzinfarktrisiko. Krank macht aber auch mangelnde Wertschätzung: z. B. der cholerische Chef, der nie ein anerkennendes Wort für die Leistungen seiner Mitarbeiter übrig hat, oder Mobbing durch Kollegen. Eine weitere gefährliche Konstellation ist die berufstätige Mutter, die sich an allen Fronten aufreibt und es doch niemals allen recht machen kann. Die Kinder sind nicht richtig versorgt; der Arbeitgeber ist verärgert, wenn sie einmal fünf Minuten zu spät kommt; und der Mann erwartet, dass abends, wenn er nach Hause kommt, das Essen auf dem Tisch steht. Von chronischen Stressbelastungen sind häufig Menschen betroffen, die sehr viel von sich geben – beispielsweise Seelsorger, Sozialarbeiter, Lehrer, Ärzte und andere Angehörige helfender Berufe. Gefährdet sind aber auch Arbeitslose, die jeden Tag eine Absage aus dem Briefkasten ziehen, und Menschen, die in einer schwierigen Partnerschaft leben oder einen pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause haben. Ein typisches Muster, das ich oft erlebe: Ein Patient arbeitet bis zum Gehtnichtmehr, um sein Haus abzubezahlen; irgendwann steht er kurz vor der Rente, will im Ruhestand endlich alles nachholen, was er bisher versäumt hat – und dann schlägt der Herzinfarkt zu. Nicht jeder, der hart arbeitet oder private Probleme hat, ist gleichermaßen gefährdet. Wie anfällig jemand für Stress ist, hat auch etwas mit Vererbung, Erziehung und Erfahrung zu tun. Trotzdem ist Stress kein unabwendbares Schicksal. Wir sollten immer wieder hinterfragen: Welchen Stellenwert haben Leistung und Erfolg für mich? Was erwarte ich von mir? Bin ich überhaupt in der Lage, das alles zu bewältigen? Wie gehe ich mit belastenden Situationen um?

Gefährlicher Stresshormoncocktail Prof. Dr. med. Christian Herdeg Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Herz- und Kreislauferkrankungen Kreiskliniken Esslingen Paracelsus-Krankenhaus Ruit Hedelfinger Str. 166 73760 Ostfildern Tel.: 0711 4488-11450 E-Mail: c.herdeg@kk-es.de

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Medizinisch gesehen schüttet ein Mensch, der in Stress gerät, bestimmte Hormone (beispielsweise Kortisol und Adrenalin) aus. Wenn solche Stresshormone dauerhaft im Blut zirkulieren, macht uns das krank. Ein klassisches Beispiel dafür ist das „Broken-Heart-Syndrom“. Es äußert sich ähnlich wie ein Herzinfarkt: mit Atemnot und Schmerzen in der Brust. Ausgelöst wird es jedoch nicht durch ein verstopftes Herzkranzgefäß, sondern durch einen Schwall an Stresshormonen im Blut, die das Herz überfluten und dazu führen, dass kleine Gefäße im

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Herzmuskel sich zusammenziehen. Meist wird das Broken-Heart-Syndrom durch ein akutes emotionales Trauma verursacht: z. B. durch den Verlust eines geliebten Menschen oder einen Autounfall. Es gibt aber auch Ursachen, die einem Unbeteiligten banal erscheinen mögen: Ich hatte einmal eine Patientin auf meiner Station, bei der die Erkrankung dadurch ausgelöst wurde, dass der Gärtner in ihrem Garten einen Baum absägte, an dem ihr Herz 40 Jahre lang gehangen hatte. Diesen Baum beim Blick aus ihrem Fenster plötzlich nicht mehr zu sehen, war für sie ein derartiger Schock, dass sie darunter zusammenbrach. Das Broken-Heart-Syndrom betrifft häufiger Frauen, kommt aber auch bei Männern vor. Es führt zu einer akuten Herzschwäche: Oft ist die Herzleistung schwer eingeschränkt. Die Patienten sind in Gefahr, es ist ein schweres Krankheitsbild. Zum Glück erholt sich das Herz meistens wieder von dieser Erkrankung, sobald der Patient die akute Situation überstanden hat.

Herzinfarkt: wenn der Lebensmotor versagt Auch beim Herzinfarkt spielen psychische Ursachen eine wichtige Rolle. So weiß man inzwischen, dass psychische Erkrankungen – z. B. Ängste und Depressionen – das Infarktrisiko genauso stark erhöhen wie Rauchen. Und ein Herzinfarkt zieht wiederum bei vielen Patienten psychische Probleme nach sich. So entsteht ein gefährlicher Teufelskreis. Nach einem Herzinfarkt leiden viele Menschen unter Ängsten und Traurigkeit; das ist völlig normal. Welcher Kardiologe spricht sie darauf an? Nicht viele. Die meisten haben gar keine Zeit dazu. Gerade Männer nehmen den Herzinfarkt als eine Art narzisstischer Kränkung wahr: Vor dem Infarkt haben sie sich als vital und unverwundbar empfunden; sie standen mitten im Leben, waren beruflich erfolgreich, konnten mit

ihrer Arbeit eine Familie versorgen – und plötzlich versagt das Herz ihnen den Dienst. Allerdings neigen gerade Männer auch dazu, nach dem Infarkt zu schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen. Sie sagen sich: „Das Problem ist repariert; in das verstopfte Herzkranzgefäß wurde ein Stent eingesetzt. Jetzt geht es mir wieder gut; jetzt muss ich wieder arbeiten.“ Aber nachts liegen sie wach, und dann steigen Ängste aus dem Unterbewusstsein auf: „Ich wäre beinahe daran gestorben.“ Ärzte sollten ihre Herzinfarktpatienten darauf vorbereiten, dass sie in so einer Lebensphase mit Ängsten und Depressionen rechnen müssen. Dass sie Zeit brauchen, um das Vertrauen in ihren Körper zurückzugewinnen. Dass sie Geduld mit sich haben müssen und vielleicht auch psychotherapeutische Hilfe benötigen. Rund 20 % aller Patienten entwickeln als Reaktion auf den Infarkt eine schwere klinische Depression mit allen typischen Symptomen: niedergedrückte Stimmung, Antriebsverlust, kein Interesse und keine Freude mehr an Dingen, für die sie sich früher begeistert haben. Meist kommen auch noch Schlafstörungen und Appetitmangel dazu. Oft tragen solche Menschen sich auch mit Selbstmordgedanken, sehen keinen Sinn mehr in ihrem Leben. Viele können das, was sie fühlen, allerdings gar nicht richtig benennen, sondern haben einfach nur das Gefühl, in ein tiefes Loch zu stürzen. Selbst von denjenigen Patienten, die nach dem Herzinfarkt nicht an einer „richtigen“ Depression erkranken, entwickeln viele zumindest eine depressive Verstimmung. Denn nach dem Infarkt stürmen so viele bedrückende und beängstigende Fragen auf einen Menschen ein: Wie geht es jetzt weiter? Kann ich meinen Beruf noch mit der gleichen Leistungsfähigkeit ausüben wie bisher? Wie soll meine Partnerschaft und mein Sexualleben mit einem kranken Herzen funktionieren? Könnte ich

Zentrum für Integrative Onkologie In einem interdisziplinären Team kombinieren wir die Möglichkeiten der modernen Onkologie mit den Therapieverfahren der anthroposophischen Medizin zu einem individuellen und ganzheitlichen Therapiekonzept.

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einen zweiten Herzinfarkt erleiden? Das sind Fragen, die mit einer schweren Herzerkrankung unweigerlich einhergehen. Der Verlust der körperlichen Unversehrtheit ist nach meiner Erfahrung vor allem für Männer ein großes Problem: Sie können damit oft sehr viel schlechter umgehen als Frauen.

Psychotherapeutische Hilfe nach dem Infarkt Was tut man dagegen? Nun, zunächst einmal muss man dieses Problem erkennen und annehmen. Die meisten Herzinfarktpatienten sprechen nicht über ihre Ängste und Nöte. Das ist ein großer Fehler; denn gerade bei solchen Erkrankungen ist soziale Unterstützung das A und O. Wer sich in seiner Familie und seinem Freundeskreis gut aufgehoben fühlt und die Erfahrung macht, dass er von den ihm nahestehenden Menschen weiterhin Wertschätzung und liebevolle Unterstützung erhält, hat ein sehr viel geringeres Risiko für eine Depression. Es gibt aber auch psychosoziale Interventionen, die nach einem Herzinfarkt sehr hilfreich sein können. Große wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die Sterblichkeit von Infarktpatienten um bis zu 40 % abnimmt, wenn sich jemand um sie kümmert – sei es ein Psychotherapeut, ein einfühlsamer Arzt oder eine Selbsthilfegruppe. Auch das Risiko für einen erneuten Infarkt sinkt dadurch.

Patienten, die nach dem Herzinfarkt in eine schwere Depression hineinrutschen, haben ein fünffach höheres Sterberisiko. Denn: • Bei depressiven Menschen entstehen besonders leicht arteriosklerotische Plaques in den Herzkranzgefäßen, die zu einem zweiten Herzinfarkt führen können. • Sie sind anfälliger für gefährliche Herzrhythmusstörungen. • Oft steigt aufgrund der Stresshormone, die bei einer Depression ausgeschüttet werden, auch der Blutdruck, und die Blutplättchen verklumpen leichter, was das Risiko für die Entstehung von Blutgerinnseln in den herz- und hirnversorgenden Arterien erhöht. Außerdem wirkt die Depression sich negativ auf das Gesundheitsverhalten der Patienten aus: Wer ständig niedergeschlagen ist und alles als sinnlos empfindet, der bewegt sich weniger, ernährt sich ungesund und nimmt vielleicht auch seine Herz-Kreislauf-Medikamente nicht regelmäßig ein. Ein depressiver Patient ist in der Reha nicht aktiv, geht nicht zur Aquagymnastik oder zum Vortrag über Cholesterin. Stattdessen sitzt er in seinem Zimmer und raucht weiter. Das führt dann natürlich zu weiteren Komplikationen, oft zur Frühberentung und manchmal auch zu einem früheren Tod.

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Auf der Intensivstation geht es bei einem akuten Infarktpatienten zunächst einmal nur ums nackte Überleben: Er wird mit Medikamenten versorgt, das blockierte Herzkranzgefäß wird mit einem Stent aufgedehnt oder durch eine Bypass-Operation eine Art „Umleitung“ geschaffen. Sobald es dem Patienten dann wieder besser geht, wird er auf die Normalstation verlegt; und schon da sollte eine intensive psychosoziale Betreuung beginnen. Dazu gehört als Erstes eine gründliche Anamnese: Welche Vorerkrankungen gibt es, unter welchen außergewöhnlichen Belastungen hatte der Patient vor dem Infarkt zu leiden? Oft muss man gar nicht lange nachfragen, sondern die Patienten berichten von selbst über ihre Probleme. Gegebenenfalls muss man dann schon in der Klinik die Weichen für eine spätere psychotherapeutische Begleitung stellen und dem Patienten vielleicht auch Antidepressiva verschreiben. In der Rehaklinik geht es dann weiter: Dort wird der Patient nicht nur im Hinblick auf eine herzgesunde Lebensweise (richtige Ernährung, regelmäßige Bewegung, Rauchstopp usw.) beraten, sondern erfährt auch, wie er seiner Seele etwas Gutes tun kann: Er erlernt Stressbewältigungs- und Entspannungsverfahren und bekommt Hilfestellung für einen besseren Umgang mit seinen Problemen. Oft kann man eine Stresssituation nicht einfach „abschalten“: Die Ehefrau kann oder möchte beispielsweise ihren pflegebedürftigen Mann nicht ins Pflegeheim schicken, sondern will sich auch nach dem Infarkt weiterhin liebevoll um ihn kümmern. Aber die Patienten erhalten in der Reha eine intensive psychologische und sozialmedizinische Beratung: Es wird besprochen, wie es mit ihrer künftigen Berufsfähigkeit aussieht, welche Unterstützung sie bei häuslichen Problemen in Anspruch nehmen und welche persönlichen Strategien sie im Umgang mit ihren Belastungen entwickeln können. An dieser medizinischen und psychosozialen Betreuung des Patienten wirkt ein ganzes Team mit: der Hausarzt als Lotse, der Kardiologe, der Psychotherapeut, oft auch noch Sozialarbeiter und Seelsorger. Sie alle müssen eng miteinander kooperieren und kommunizieren, um dem Patienten den Weg zurück ins Leben zu zeigen. Und natürlich muss der Patient die während der Reha gefundenen neuen Bewältigungsmöglichkeiten so in sein Leben integrieren, dass sie auch praktikabel sind, wenn er anschließend wieder in den Alltag entlassen wird. Viele Patienten finden nach dem Reha-Aufenthalt in Selbsthilfegruppen und ambulanten Herzsportgruppen Halt und Unterstützung: Mit anderen Menschen, die das Gleiche durchgemacht haben, kann man sich austauschen, über Ängste und Probleme sprechen und gemeinsam vielleicht auch eher zu einer nachhaltigen Motivation für eine herzgesunde Lebensweise finden.

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18. - 20. September 2015 im Hospitalhof Stuttgart EINTRITT

Begegnungstage der MAHLE-STIFTUNG zum 50. Förderjubiläum

FREI

MAHLE-STIFTUNG feiert 50. Förderjubiläum Begegnungstage „Mensch – Entwicklung – Zukunft. Wie wollen wir leben?“ vom 18. – 20. September im Stuttgarter Hospitalhof Was wollen wir essen? Wie wollen wir erziehen? Was hält uns gesund? Wie gehen wir verantwortungsvoll mit unserer Welt um? Um diese und andere Fragen geht es vom 18. – 20. September bei den Begegnungstagen der MAHLE-STIFTUNG im Stuttgarter Hospitalhof. Die anthroposophisch inspirierte Stiftung mit dem Leitgedanken „Heute stiften – mit der Vision von morgen“ feiert ihr Jubiläum mit einem breit aufgestelltem Kompass Gesundheit 3/2015

dreitägigen Informations- und Erlebnisprogramm. Die Besucher erwarten 20 Aussteller, über 40 Vorträge und Diskussionsrunden, verschiedene MitmachAktionen, kulinarische Verköstigungen und kulturelle Beiträge. Auch für Kinder ist vom Töpfern bis zur „Teddybärensprechstunde“ einiges geboten. Der Besuch aller Programmpunkte ist kostenlos. Moderieren wird Markus Brock, bekannt aus dem SWR Fernsehen. 33


Glückliches Kinzigtal

Warum man im Schwarzwald gesünder lebt und Gesundheit dort preiswerter ist

Fliegen war einst ein teurer Spaß. Heute werden einem Flugtickets nachgeworfen. Die Billigfliegerei ist in. Doch man fliegt genauso sicher und erreicht sein Ziel wie früher – nur für weniger Geld. Warum kommt uns dann die Gesundheit immer teurer zu stehen – ohne deshalb besser zu werden? Das altbekannte Spiel zwischen Kostensteigerungen und Spardiktat der Krankenkassen, konsequenter Gegenreaktion der Leistungserbringer und erneuter Kostensteigerung, das ist ein Teufelskreis. Die Gründe dafür: das Gegeneinander zwischen Kliniken und Ärzten, auch innerhalb der Ärztegruppen, zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Und wer bezahlt dafür? Der Patient. Doch es geht auch anders. Man muss nur einmal ins Kinzigtal fahren. 34

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A

uf 65 Kilometern fließt der Schwarzwaldfluss Kinzig von den Höhen bei Lossburg und Alpirsbach im Osten bis zu den Reblanden bei Gengenbach im Westen. Für den Urlauber ist das Landschaft pur: ausgedehnte Wiesen, Obstbäume, Weiden und Ackerland, langgezogene Seitentäler am unteren Flusslauf, ursprünglicher am oberen Flusslauf der Kinzig, wo sich die Bergflanken des Mittelgebirges steil und waldig ineinanderschieben. Dazwischen viel Romantik: Schwarzwaldhöfe, Fachwerkstädtchen, hübsche Dörfer und kleine Städte. Dass gerade dieses malerische Schwarzwaldtal seit Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch über seine Grenzen hinweg Gesundheitsexperten neugierig macht, dass es gerade hier ein einmaliges, höchst erfolgreiches Gesundheitssystem gibt – das alles ist einem quirligen, ideenreichen Mann namens Helmut Hildebrandt zu verdanken. Der studierte Apotheker und Gesundheitswissenschaftler hat eine lange Karriere in der Gesundheitsbranche hinter sich. Mit der Gründung der „Gesundes Kinzigtal GmbH“ hat er ein Modell regionaler integrierter Vollversorgung etabliert, das beispiellos ist. Werner Waldmann hat ein Gespräch mit ihm geführt. Die Medizin bietet heute immer fantastischere Möglichkeiten, die allerdings auch ins Geld gehen. Unser Gesundheitssystem braucht einen Paradigmenwechsel, braucht bessere Leistung zu geringeren Preisen. Sie haben mit „Gesundes Kinzigtal“ ein Modell entwickelt und zum Erfolg geführt, bei dem alle Teilnehmer des Gesundheitssystems dieser Region eng zusammenarbeiten – zum Nutzen für die Patienten. Warum gerade im Schwarzwald? Helmut Hildebrandt: Eigentlich war’s ein Zufall. Die niedergelassenen Ärzte im Schwarzwald hatten schon vor dem Jahr 2000 ein Ärztenetz gegründet und sich natürlich auch mit den Neuerungen im Gesundheitswesen beschäftigt. Eine dieser Neuerungen war die Einführung der integrierten Versorgung, wobei sie sich darunter nichts Rechtes vorstellen konnten. Also beschlossen sie, jemanden von außen als Ratgeber zu holen. Und das war ich. Diese erste Klausur, die ich mit den Ärzten im Kinzigtal hatte, fand im April 2004 statt.

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War es schwierig, alle Player zusammen an einen Tisch zu bekommen? Die haben doch oft sehr gegensätzliche Interessen. Helmut Hildebrandt: Die gegensätzlichen Interessen beginnen immer erst dann, wenn es ums Geld geht. Bei der Versorgung liegen die Interessen gar nicht so weit auseinander. Nur sind wir es gewohnt, immer schnell mitzurechnen: Was bedeutet das für mich persönlich, für mein Krankenhaus, für meine Praxis – dadurch blockiert man sich oft im Kopf. In unserem Fall bestand das Netz aus Haus- und Fachärzten bereits, auch einige Klinikärzte waren mit dabei. Diskutiert wurde eher auf medizinischer Ebene. Weil ich da gut mitsprechen konnte, kamen wir uns rasch näher. Und als ich noch allen zeigen konnte, dass wir mit einem solchen Modell die Gesundheit der Bevölkerung insgesamt verbessern könnten, ohne dass dies zum wirtschaftlichen Nachteil der Beteiligten führen würde, waren fast alle ziemlich schnell Feuer und Flamme. Das Ganze hat sich immer weiter positiv entwickelt, bis heute? Helmut Hildebrandt: Genau. Eine der großen Herausforderungen war es dann, eine Krankenkasse zu finden, die bei diesem Projekt mitzieht. Da hatten wir das Glück mit der AOK Baden-Württemberg und der Landwirtschaftlichen Krankenkasse, die die Vorteile unseres Plans begriffen und das Risiko geringer einschätzten als den Erfolg. Blicken wir ein wenig zurück: Wie sind Sie zu Ihrer gesundheitsökonomischen Tätigkeit gekommen? Helmut Hildebrandt: Ich habe 1972 bis 1977 in Marburg Pharmazie studiert. In dieser Zeit kam das Thema Umweltschutz hoch. Das hat mich stark bewegt, und ich habe mir überlegt, dass man doch eigentlich auch auf dem Terrain der Gesundheit ganz neue Wege suchen müsste. Nach dem Pharmaziestudium habe ich meinen Zivildienst geleistet, und zwar bei einer Jugendorganisation. Da kam der Gedanke auf, doch etwas zum Thema gesunde Ernährung zu machen. Doch für mich war das zu kurz gedacht. Eigentlich müsste man Gesundheit in einem größeren Kontext sehen. Mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung entwickelte ich ein Projekt mit Kindern auf einem Abenteuerspielplatz, und zwar in Frankfurt, in einem der

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schwierigeren Stadtteile. So kam ich mit der Weltgesundheitsorganisation in Kontakt. Von der Pharmazie habe ich dann Abschied genommen und mich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf intensiv mit Gesundheit und den Möglichkeiten ihrer Erhaltung beschäftigt. Sie waren auch mal in der Politik? Helmut Hildebrandt: Ich hatte in Hamburg mit der WHO zusammen ein Projekt gestartet, das hieß „Gesündere Zukunft für Hamburg“. Dort versuch-

ten wir die klassischen Player im Gesundheitswesen – die Krankenkassen, den öffentliche Gesundheitsdienst und später auch noch andere Institutionen wie Vereine, Bürgerinitiativen und Wohlfahrtsverbände – zusammenzubringen. Im Zuge einer Neuorientierung der Grünen in Hamburg wurde ich gefragt, ob ich mich nicht als unabhängiger Kandidat mit auf die Liste setzen lassen würde. Das habe ich gemacht. So haben Sie gelernt, verschiedene Partner zusammenzubringen und zu überzeugen?

Wie spart integrierte Versorgung finanzielle Mittel ein, macht Ärzte und Kliniken zufriedener und bietet Patienten eine bessere und schnellere Behandlung? Im etablierten Gesundheitssystem arbeiten die einzelnen Leistungserbringer (Klinik-, Fach- und Hausärzte, Physiotherapeuten, Apotheker und Homecare-Versorger) mehr oder weniger nebeneinander her oder ab und zu auch gegeneinander. Jeder schaut auf seinen Vorteil. Das muss er auch, sonst kommt er unter die Räder. Untersuchungen werden mehrfach vorgenommen, Patienten rasch aus der Klinik ent- und dem Hausarzt überlassen. Wobei dieser selten zeitnah den Entlassungsreport bekommt. Klinikärzte stellen Patienten auf teure Medikamenteninnovationen ein, die die Hausärzte dann wieder absetzen müssen, weil sie ihre Budgets sprengen. Und so weiter. Diesen „Leistungserbringern“ gegenüber stehen die Krankenkassen, die das alles zu bezahlen haben. Das permanente Problem: Den Kassen sind die Honorarerwartungen der Leistungserbringer zu hoch, den Leistungserbringern sind ihre Vergütungen zu niedrig. Die einen knausern, die anderen jammern. Irgendwann gibt es dann, von der Politik initiiert, einen Nachschlag. Den freilich zahlen die Patienten als Versicherte. Wie – so die neugierige Frage – könnte man nun mit den vorhandenen Geldern auskommen, alle Beteiligten zufriedenstellend honorieren und dabei vor allem den Patienten eine rasche und ordentliche Versorgung bieten? Wie könnte man darüber hinaus Gesundheitsdienstleister wie Ärzte und Kliniken dazu bringen, die Kranken nicht nur schnell wieder gesund zu machen, sondern auch etwas für die Erhaltung ihrer Gesundheit zu tun? Prävention heißt das Zauberwort. Dahinter verbergen sich Aktionen, Workshops, Vorträge, Kampagnen. Ziel: `runter mit dem Übergewicht, weg vom Sofa und hinaus in die Natur, Hände weg vom Glimmstängel, Alkohol entweder gar nicht oder nur in Maßen. Doch Prävention funktioniert nicht von alleine. Dazu müssen Experten den Bürgern Information und Motivation bieten. Und diese Mühe muss natürlich auch honoriert werden. Helmut Hildebrandt hat sich gesagt: Wenn alle an einem Strang ziehen, sich gegenseitig schnell über den Therapieverlauf der Patienten informieren (genial: die elektronische Patientenakte!), von den Krankenkassen fallunabhängige Vergütungen bekommen und ihren Erfolg nicht an der Menge der Fälle messen lassen müssen, sondern daran, wie rasch die Patienten wieder gesund werden und gesund bleiben – das wäre es doch! Und ganz „nebenbei“ wird die ärztliche Expertise dazu eingesetzt, den Menschen ein bisschen Gesundheitsbewusstsein einzutrichtern. Im Kinzigtal hat das funktioniert: Überflüssige Behandlungen unterbleiben. Den Ärzten wird das Gespräch mit den Patienten vergütet. Der Medikamentenverbrauch sinkt. Die Krankenkassen geben weniger aus, als sie einnehmen. Davon finanzieren sie die Gesundheit ihrer Versicherten. Übrigens: Die AOK hat Lehren aus dem Kinzigtal gezogen und mit ihrer integrierten Versorgung über Haus- und Facharztverträge ähnliche Effekte erzielt.

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Helmut Hildebrandt: Jeder versucht natürlich, seinen Vorteil daraus zu ziehen, sonst macht er nicht mit. Ich muss also lernen, mit dem Kopf der anderen zu denken. Ich muss wissen: Was treibt eine Krankenkasse an, was bewegt eine Bürgerinitiative, was denkt der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes? Wenn man diese verschiedenen Sichtweisen kennt, ist es gar nicht mehr so schwierig, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Nicht nur Prävention ist ein schwieriges Thema; es ist auch nicht so einfach, Kliniken und niedergelassene Ärzte zu einer effizienteren Zusammenarbeit zu bewegen. Stichwort Entlassmanagement. Helmut Hildebrandt: Die Kliniken erfahren jetzt unter anderem durch das Krankenhausstrukturgesetz, dass man sie in näherer Zukunft auch an den Ergebnissen ihrer Behandlung messen wird. Es wird also verglichen werden: Wie viele Patienten sterben im Laufe eines Jahres nach der Behandlung, wie viele Patienten entwickeln Komplikationen und müssen noch mal ins Krankenhaus? Kliniken, die dabei besser abschneiden, sollen belohnt werden; andere werden bestraft. Und dabei kommt natürlich dem Entlassmanagement eine größere Bedeutung zu, dem die Kliniken bisher noch zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Das wird sich künftig ändern, denn die Kliniken sollen zukünftig obligatorisch das Entlassmanagement für ihre Patienten organisieren. Die Kliniken werden dann sehr

daran interessiert sein, dass der Übergang vom Krankenhaus zum weiter betreuenden Hausarzt reibungslos abläuft. Da stehen sicher auch die Hausärzte in der Pflicht, ihren Kollegen im Krankenhaus über das weitere Befinden des Patienten zu berichten. Helmut Hildebrandt: Viele Chirurgen klagen darüber, dass sie gar nicht wissen, wie denn die Qualität ihrer Behandlung war. Ob der Patient drei, vier Wochen später noch Schmerzen hat oder die Wunde Probleme macht, das wissen sie nicht. Sie könnten versuchen, den Patienten wieder einzubestellen, aber das wird von den niedergelassenen Kollegen meistens kritisch gesehen. Hier muss eine Vernetzung her – ein zeitnaher und enger Austausch von Informationen. Dies leistet ein integriertes System, wie wir es im Kinzigtal realisiert haben.

Helmut Hildebrand Geschäftsführung Gesundes Kinzigtal GmbH Managementgesellschaft für Integrierte Versorgung für die Region Ortenaukreis Strickerweg 3d · 77716 Haslach www.gesundes-kinzigtal.de

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Wenn Arbeit krank macht

Betriebliche Gesundheitsvorsorge Nicht nur privater und familiärer Stress kann uns krank machen; auch das Arbeitsleben ist oft mit enormen Belastungen verbunden. Doch Gesundheit ist ein hohes Gut, und es ist sinnvoll, etwas dafür zu tun. Für uns Menschen bedeutet Gesundheit Lebensqualität; und auch für den Arbeitgeber sind gesunde Mitarbeiter wichtig: Denn sie sind engagierter und helfen mit, ein Unternehmen vorwärtszubringen. Große Firmen haben das längst begriffen und eine eigene Taskforce etabliert, die sich professionell um das leibliche und physische Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter kümmert. In mittelständischen und kleinen Betrieben ist das aber noch lange keine Selbstverständlichkeit. Wir sprachen mit Timo Rebmann, bei der AOK Neckar-Fils zuständig für betriebliches Gesundheitsmanagement, darüber, was Firmen tun können, um ihre Mitarbeiter gesund und leistungsfähig zu halten. Eine Frage vorab: Firmen beschäftigen Mitarbeiter verschiedener Altersgruppen. Welches Interesse haben junge Mitarbeiter – beispielsweise Auszubildende –, am Thema Prävention? Timo Rebmann: Die Erfahrung zeigt, dass weniger Zugang zur Prävention besteht. Ich habe schon den Eindruck, dass das Thema Gesundheit in jungen Jahren noch keinen so großen Stellenwert einnimmt wie in höherem Alter. Obwohl auch bei den Auszubildenden beispielsweise Rückenbeschwerden schon ein ernsthaftes Thema sind. Und ich finde es bedenklich, dass so wenig gegen diese Probleme unternommen wird.

sich um das betriebliche Gesundheitsmanagement kümmert. Oft ist das vielleicht auch eine Frage der Finanzierung. Timo Rebmann: Das Bewusstsein für die Wichtigkeit gesunder Mitarbeiter nimmt in letzter Zeit merklich zu. Auch kleine und mittelständische Betriebe interessieren sich immer häufiger für Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement. Dazu gehören auch familiengeführte Unternehmen. Natürlich kostet betriebliches Gesundheitsmanagement Geld, aber diese Investitionen zahlen sich aus, da gesunde und motivierte Mitarbeiter das wichtigste Gut einer Firma sind.

Aber viele junge Menschen gehen regelmäßig ins Fitnessstudio. Also muss es doch auch in dieser Altersgruppe ein gewisses Interesse für Prävention geben? Timo Rebmann: Sicher, das Fitnessstudio ist für viele Jüngere ein wichtiges Thema. Man muss aber unterscheiden zwischen „Fitnesswahn“ und Gesundheitssport. Muskelaufbau kann man auch falsch betreiben, sodass körperliche Probleme möglicherweise erst durch das Training entstehen.

Wie unterstützt die AOK Unternehmen darin, etwas für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu tun? Timo Rebmann: In unserer Bezirksdirektion haben wir regionale Ansprechpartner für die Göppinger und Kirchheim-Nürtinger Region sowie für den Esslingen-Filder-Bereich. Hier arbeiten wir bereits seit vielen Jahren mit Unternehmen zusammen und führen auch regelmäßig Maßnahmen durch – vom Gesundheitsbericht bis hin zu Gesundheitstagen und klassischen Kursen.

Es gibt viele mittlere und kleine Betriebe, die sich nicht unbedingt jemanden leisten können, der

Was versteht man unter einem Gesundheitsbericht? Timo Rebmann: Hierbei handelt es sich um eine betriebsbezogene Krankenstandsanalyse auf Basis derer wir Firmen genau daraufhin untersuchen, welche gesundheitsfördernden Maßnahmen bei ihnen sinnvoll sein können.

Timo Rebmann AOK – Die Gesundheitskasse Neckar-Fils Betriebliches Gesundheitsmanagement Stuttgarter Str. 1 73054 Eislingen

Was kann man sich darunter konkret vorstellen? Timo Rebmann: Wir betrachten z. B. die Fehlzeiten

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Welches sind denn die häufigsten Krankheitsbilder bei Mitarbeitern von Unternehmen? Timo Rebmann: Atemwegs- und Muskel-Skeletterkrankungen treten am häufigsten auf, wobei die meisten Arbeitsunfähigkeitstage durch Rückenleiden verursacht werden. Aber auch psychische Erkrankungen nehmen zu. Was für Kurse bieten Sie an? Timo Rebmann: Wir bieten viele gesundheitsfördernde Maßnahmen in den Bereichen Bewegung, Entspannung, Ernährung und Sucht an: beispielsweise klassische Rückenfitness-Kurse, Ernährungsvorträge, Ernährungsworkshops, Anti-Stress-Workshops, Yoga- und QigongKurse oder Raucherentwöhnungsprogramme.

eines Unternehmens sowie deren Ursachen. Wenn wir dabei feststellen, dass Muskel-Skelett-Erkrankungen – wie in sehr vielen Betrieben – zu den meisten Fehlzeiten führen, überlegen wir gemeinsam mit dem Unternehmen, was zu tun ist, z. B. Ergonomieschulungen oder Rückenschul- und Entspannungskurse anzubieten. Wenn Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein großes Problem sind, ist es ergänzend zur Bewegung sinnvoll, Ernährungsangebote zu unterbreiten. Wichtig ist: Wir gehen nicht nach Schema F vor, sondern stimmen unsere Vorschläge und Maßnahmen individuell auf jedes Unternehmen ab. Was hat ein Unternehmer davon, wenn es seinen Leuten besser geht? Timo Rebmann: Motivierte Mitarbeiter leisten einen wichtigen Beitrag zum Unternehmenserfolg. Als Mitarbeiter registriere ich es genau, wenn die Firma sich für meine Gesundheit engagiert. Das ist auch ein wichtiger Aspekt der Mitarbeiterbindung. Durch ein nachhaltiges und zielgerichtetes Gesundheitsmanagement kann man Mitarbeiter halten, ihre Beziehung zum Unternehmen stärken und auch neue Mitarbeiter gewinnen. Im Idealfall entsteht eine Win-Win-Situation für Mitarbeiter und Betrieb.

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Welche Voraussetzung muss Ihrer Erfahrung nach erfüllt sein, damit eine gesundheitliche Unterstützung in einem Betrieb auf breiter Basis angenommen wird? Timo Rebmann: Die Führungskräfte müssen hinter den Maßnahmen stehen und das auch gezielt im Unternehmen kommunizieren. Die Begeisterung für das Thema Gesundheit muss von ganz oben ausgehen und glaubhaft herüberkommen. Und die Angebote dürfen nicht einfach nur am Schwarzen Brett ausgehängt werden. Es darf nicht der Eindruck erweckt werden: Die machen das nur, um Fehlzeiten zu verringern. Die Mitarbeiter müssen merken, dass die Angebote ein Ausdruck von Wertschätzung sind. Psychische Erkrankungen werden immer häufiger. Sind Betriebe sich dieses Problems bewusst? Timo Rebmann: Viele Unternehmen kennen die Entwicklung, halten sich bei diesem sensiblen Thema allerdings zurück. Führungskräfte, idealerweise geschult zum Thema „gesunde Führung“ – können dabei eine entscheidende Rolle spielen. Besteht beispielsweise ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Führungskraft und Mitarbeiter und der Chef hat den Verdacht, dass es Probleme gibt, kann er auch auf den Betroffenen zugehen und vorsichtig fragen, ob er helfen kann. Haben Sie den Eindruck, dass das Gesundheitsbewusstsein in den Betrieben zunimmt? Timo Rebmann: Ja, hat es. Wünschenswert wäre vielleicht noch mehr Tatendrang, mehr Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit. Man muss den Unternehmen deutlich machen, dass das nicht von selbst läuft, sondern mit Arbeit verbunden ist. Wir sehen es als unsere Aufgabe, die Unternehmen noch mehr davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, mehr in die Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu investieren.

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Mundgeruch – ein Thema, über das man nicht gerne spricht So finden Sie fachmännische Hilfe Anne Greveling Es ist ein Tabuthema. Oder haben Sie schon mal jemanden gefragt, ob Sie Mundgeruch haben? Höchstens dem Partner gegenüber traut man sich (vielleicht), die „Gretchenfrage“ zu stellen. Dabei ist Mundgeruch – oder Halitosis, wie es in der Fachsprache heißt – gar nichts Peinliches, sondern hat konkrete zahnmedizinische Ursachen, die sich in den meisten Fällen problemlos beseitigen lassen. Wir sprachen mit der Dentalhygienikerin Ingrid Bantle, die Patienten mit solchen – und anderen – Problemen einfühlsam betreut.

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an selber merkt meistens nichts davon – und gerade das macht die Sache so heikel. Vor wichtigen Besprechungen oder der ersten intimen Begegnung mit einer neuen Damen- oder Herrenbekanntschaft kommt so mancher ins Grübeln: Ich rieche doch hoffentlich nicht aus dem Mund …? Und dann greift man schnell noch mal zur Zahnbürste oder schiebt ein Pfefferminzbonbon ein. Aber echter Mundgeruch lässt sich durch solche Maßnahmen natürlich nicht vertreiben, sondern nur vorübergehend überdecken. Und auch die meisten anderen Eigentherapie-Maßnahmen nützen nicht viel: „Es gibt zwar viele Wässerchen gegen Mundgeruch in der Drogerie, die den Patienten aber meistens nicht helfen, weil die Wirkstoffe darin zu schwach dosiert sind“, erklärt Ingrid Bantle.

Die Mundgeruchsprechstunde bringt es an den Tag Was die wenigsten Menschen wissen: Es gibt tatsächlich professionelle Hilfe. Manche zahnärztliche und kieferchirurgische Praxen bieten nämlich eine „Mundgeruchsprechstunde“ an. Am Anfang steht – wie bei allen gesundheitlichen Problemen – eine gründliche Diagnostik. „Die erste

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Mundgeruchsitzung dauert anderthalb Stunden“, sagt Ingrid Bantle. Vorher bekommt der Patient einen Fragebogen zugeschickt, den er ausgefüllt zurücksenden oder zum ersten Termin mitbringen soll. „Ehe ich den Patienten aufrufe, gehe ich erst mal diesen Fragebogen durch und nehme eine vorläufige Einstufung vor: Leidet dieser Mensch wirklich unter Mundgeruch, oder bildet er sich das womöglich nur ein?“ Als Nächstes wird der Patient ausführlich befragt: Wie viel trinkt er? Wie putzt er seine Zähne? In was für einem sozialen Umfeld lebt er? Dann wird sein Mundgeruch mit einem eigens hierfür entwickelten Gerät – dem Halimeter – gemessen. Dieses Gerät saugt die Atemluft aus der Mundhöhle an und misst flüchtige Schwefelverbindungen im Atem, die für die unangenehme „Duftnote“ verantwortlich sind. „Wir bestimmen auch die Speichelfließrate – also wie viel Speichel der Patient produziert – und den pH-Wert des Speichels.“ Denn der Speichel ist für die Selbstreinigung unserer Mundhöhle wichtig: Er sorgt für den Abtransport der übelriechenden chemischen Verbindungen. Leidet der Patient tatsächlich unter Mundgeruch, wird als Nächstes Ursachenforschung betrieben.

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„Der Geruch entsteht zu 80 bis 90 % im Mund“, erklärt Frau Bantle. Immerhin treiben in der Mundhöhle über 300 verschiedene Bakterienarten ihr Unwesen. Einige dieser Kleinlebewesen produzieren die unangenehm riechenden Substanzen.

Selbsttest: Haben Sie Mundgeruch? Wenn Sie im Zweifel sind und niemanden fragen mögen, hilft folgender einfacher Test: Blasen Sie in eine Plastiktüte (ohne Loch) hinein und riechen Sie dann an dem Inhalt. Wenn die Luft in der Tüte nicht unangenehm riecht, haben Sie keinen Mundgeruch.

Mundgeruch kann ein ernst zu nehmendes Warnsignal sein Die Hauptursache für Mundgeruch ist Parodontitis – eine Entzündung des Zahnbetts, die durch Bakterien verursacht wird. Am Anfang steht meist eine Zahnfleischentzündung (Gingivitis), aus der sich, wenn sie nicht behandelt wird, eine Parodontitis entwickeln kann. Die Zahnfleischentzündung entsteht durch bakterielle Plaque, einen haftenden Bakterienfilm auf den Zahnoberflächen. Diese Bakterien setzen Stoffwechsel- und Zerfallsprodukte frei, welche Abwehrreaktionen des Körpers auslösen. Diese Immunreaktion zielt darauf ab, die Bakterien abzutöten, führt jedoch gleichzeitig auch zur Zerstörung von Bindegewebe und Knochen. So entstehen die ersten Symptome einer Parodontitis: Zahnfleischbluten, Rückbildung des Zahnfleischs, Bildung von Zahnfleischtaschen. Bei solchen Symptomen sollte man unbedingt zum Zahnarzt gehen. Denn die Parodontitis kann nicht nur unangenehmen Mundgeruch erzeugen, sondern auch zum Verlust der Zähne führen: Mit der Zeit bildet sich nämlich auch der Kieferknochen zurück – die Zähne werden locker und fallen irgendwann aus. Risikofaktoren für eine Parodontitis sind (neben falscher Mundhygiene) Rauchen und Diabetes; aber auch unsere Gene haben ein Wörtchen dabei mitzureden, ob wir an einer Entzündung des Zahnhalteapparats erkranken oder nicht.

Keine Angst vor der Parodontitisbehandlung! In den Zahnfleischtaschen lagern sich mit der Zeit Speisereste ab, die man auch mit noch so gründlichem Zähneputzen nicht mehr wegbekommt. Und so werden die Taschen zum idealen Nährboden für Bakterien, welche die Speisereste zersetzen – und so den unangenehmen Geruch erzeugen. Jetzt kann nur noch eine professionelle Parodontitisbehandlung helfen. Dabei werden als Erstes die Zahnbeläge entfernt und die Zahnfleischtaschen gründlich gereinigt. Schon allein dadurch verringert

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sich die Anzahl geruchserzeugender Bakterien, die Entzündung geht zurück, und das Zahnfleisch kann sich wieder regenerieren. „Wichtig ist, die Taschen entzündungsfrei zu halten. Dazu muss der Patient regelmäßig zu uns kommen, denn es gibt Stellen, die er nicht putzen kann, weil er mit der Zahnbürste da gar nicht hinkommt.“ Manchmal ist auch eine Lasertherapie und/oder die Gabe von Antibiotika zur weiteren Bakterienbekämpfung sinnvoll. Nur wenn die Parodontitis sich durch diese Maßnahmen nicht stoppen lässt, ist ein operativer Eingriff erforderlich.

Richtiges Zähneputzen will gelernt sein Ist falsche Mundhygiene die Ursache des üblen Atems, so erfolgt ebenfalls eine gründliche Zahnreinigung; anschließend gibt die Dentalhygienikerin dem Patienten Anleitungen zum richtigen Zähneputzen. Auch das muss niemandem peinlich sein; meist liegt das Problem nämlich nicht darin, dass der Patient seine Zähne nicht pflegt, sondern an falschem Putzen: Vielleicht vernachlässigt er bestimmte Bereiche oder kommt mit der manuellen Zahnbürste dort einfach nicht so gut hin. Dann empfiehlt sich der Einsatz von Zahnseide oder Interdentalbürstchen für die Reinigung der Zahnzwischenräume und/oder die Anschaffung einer elektrischen Zahnbürste. Was oft vergessen wird: Auch auf dem Zungenrücken fühlen Bakterien sich pudelwohl und können sehr unangenehme Gerüche erzeugen. Wer sich einen geruchsfreien Atem wünscht, sollte daher auch seine Zunge in die tägliche Mundhygiene mit einbeziehen. Manchmal ist dafür ein spezieller Zungenreiniger erforderlich. „Es gibt unterschiedliche Zungenstrukturen“, erklärt Frau Bantle. „Zum Beispiel gibt es Patienten mit einer tiefen Furche in der Mitte der Zunge, die können ihre Zunge kaum putzen. Wir haben spezielle Geräte dafür. Und natürlich erklären wir unseren Patienten auch die optimale Zungenpflege und

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So können Sie vorbeugen • Regelmäßig die Zunge reinigen • Viel trinken • Regelmäßig essen: Wer fastet, auf das Frühstück verzichtet oder andere Mahlzeiten ausfallen lässt, gerät in einen Hungerstoffwechsel – das erzeugt Mundgeruch • Abends ab 17 Uhr keine eiweißhaltigen Nahrungsmittel mehr zu sich nehmen (Bakterien bevorzugen Eiweiß!) • Kaffee und Zigarettenrauch verursachen Mundgeruch, ebenso Alkohol (weil er den für die Selbstreinigung der Mundhöhle wichtigen Speichelfluss reduziert)

Wann zahlen die Kassen? Gesetzliche Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Mundgeruchsprechstunde nicht; private Kassen beteiligen sich nur kulanzhalber daran. Liegt eine behandlungsbedürftige Ursache wie beispielsweise Parodontitis vor, so müssen die Kassen dem Patienten die Kosten für die Therapie aber selbstverständlich erstatten.

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geben ihnen einen für sie geeigneten Zungenreiniger mit nach Hause. Außerdem braucht man eine Zungenpaste zur Desinfektion und Reinigung. Wenn man seine Zunge regelmäßig reinigt, schmeckt übrigens auch das Essen gleich viel besser!“ Ein an die individuelle Zungenform angepasster Zungenreiniger ist auch deshalb wichtig, weil Menschen mit Unebenheiten auf der Zunge sich mit einem Metallreiniger, der nicht zu ihrer Zungenform passt, leicht verletzen können: „Das blutet dann, und mit der Zeit können sogar Tumore entstehen.“ Manchmal sind auch mangelhafte Füllungen oder Kronen schuld an dem Mundgeruch. „Dann schicken wir den Patienten zum Zahnarzt. Karies selbst verursacht zwar keinen Mundgeruch; aber in Löchern oder undichten Füllungen bleiben leicht Speisereste hängen, und bei nicht perfekter Mundhygiene können sich dort dann auch Bakterien einnisten.“

Ernste Erkrankungen sind selten die Ursache Manchmal – aber selten – kann auch ein Magenproblem Ursache des Mundgeruchs sein: zum Beispiel, wenn der Patient unter einer Refluxkrankheit (Rückfluss von Magensäure in die Speiseröhre) leidet. In ebenso seltenen Fällen liegt der Ursprung des Übels im Nasen-Rachen-Raum: „Bei einem Kind fanden wir einmal ein abgelöstes Stück von einem Tempotaschentuch in der Nase. Dieses Kind litt neben Mundgeruch auch unter Dauerschnupfen. Der HNO-Arzt hat den Fremdkörper dann beseitigt. Oft sind es ganz banale Ursachen – man muss nur dahinterkommen.“ Aber natürlich gibt es

auch Karzinome in der Nase, die einen unangenehm riechenden Atem verursachen können. „Wir messen den Geruch der Ausatemluft mit unserem Halimeter stets aus dem Mund und aus der Nase. Wenn der Geruch aus der Nase auffällig ist, muss man einen HNO-Arzt hinzuziehen.“ Eine gründliche Untersuchung der Mundhöhle gehört bei Frau Bantle übrigens immer zur Mundgeruchsprechstunde dazu. „Man muss die gesamte Mundschleimhaut und die Speicheldrüsen untersuchen, und zwar mit der Lupenbrille. Wir hatten nämlich auch schon Patienten mit Tumoren, zum Beispiel Zungenkrebs. Solche Karzinome riechen teilweise auch schon im Frühstadium, wenn sie noch klein sind; denn sie bilden Retentionsstellen (Stellen, die bei der Mundhygiene nur schwer zugänglich sind), hinter denen sich winzige Speiserestpartikel ablagern können.“ Und natürlich gibt es noch viele andere Ursachen. Zum Beispiel Medikamente, die den Speichelfluss reduzieren, wie manche Antidepressiva und Bluthochdruckmittel. Diabetiker mit schlechter Stoffwechseleinstellung neigen ebenfalls zu Mundgeruch. Oft existiert der übelriechende Atem aber auch nur in der Fantasie der Patienten: „Menschen mit Pseudohalitosis glauben, dass sie Mundgeruch haben, obwohl das gar nicht stimmt. Vielen dieser Patienten hilft es, wenn man trotzdem eine Zungenreinigung bei ihnen durchführt und erklärt, wie sie ihre Zunge zu Hause selbst reinigen können.“ Schwieriger ist es bei Halitophobie-Patienten: Diese Menschen werden so von ihrem eingebildeten Mundgeruch verfolgt, dass sie kaum noch an etwas anderes denken können. Aus Angst, andere mit dem nicht vorhandenen „Gestank“ zu belästigen, ziehen sie sich immer mehr zurück. Hier kann nur ein Psychotherapeut helfen. Grundsätzlich sollte man keine übersteigerten Erwartungen an den „Duft“ aus seinem Mund haben, warnt Ingrid Bantle: „Morgens beim Aufwachen kann man nicht kussfrisch sein – so etwas gibt es nicht“, sagt sie.

Mundgeruchsprechstunde Dentalhygienikerin Ingrid Bantle Praxis für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie und Oralchirurgie Stuttgart Dr. Meschenmoser und Dr. Bittner Marienplatz 1; 70178 Stuttgart Tel.: 0711 60171830 www.mkg-marienplatz.de

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die Gelenke schmerzen, muss an eine schicksalhafte Erkrankung gedacht werden, die Schuppenflechte. Salben,

Tel.

Pillen, Strahlen und Bäder – Therapien gibt es viele, doch zur Heilung führte bisher keine. Biologicals sind eine neue

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Perspektive der Behandlung, durch die oft eine nachhaltige Besserung der Beschwerden erreicht werden kann.

Datum / Unterschrift

11.11.2015 20.00 Uhr Herz in Gefahr – Koronare Herzkrankheit und Herzinfarkt

Widerrufsrecht: Mir ist bekannt, dass ich die Vereinbarung innerhalb einer Woche bei MEDITEXT DR. ANTONIC (Leser-Service, Postfach 3131, 73751 Ostfildern) widerrufen kann. Die Frist beginnt mit Absendung dieses Formulars.

Dr. med. Suso Lederle im Gespräch mit Prof. Dr. med. Thomas Nordt (Klinik für Herz- und Gefäßkrankheiten, Klinikum Stuttgart) Ein Herzinfarkt kommt nicht aus heiterem Himmel. Rauchen, wenig Bewegung, falsche Ernährung – der Körper verzeiht viel, aber nicht alles. Der Druck auf der Brust, das Stolpern des Herzens, die Atemnot, das könnte auf Engpässe an den Herzkranzgefäßen hinweisen. Das Herz ist dann in Gefahr, wenn nicht rasch eingegriffen wird.

Faxen Sie Ihre Bestellung an 0711 7656590 oder senden Sie diese in einem Briefumschlag an: MEDITEXT DR. ANTONIC Postfach 3131 73751 Ostfildern

Eine Veranstaltung im Rahmen der Deutschen Herzwochen.

Der nächste Kompass Gesundheit erscheint im Oktober 2015


THEMENTAG SCHLAF 2015

Eine Veranstaltung der Zeitschrift „das schlafmagazin“, des Bundesverbands Schlafapnoe und Schlafstörungen Deutschland e. V. (BSD) und des Landesverbands Baden-Württemberg Schnarchen-Schlafapnoe e. V. (LVBWSS)

Foto: © scanstockphoto.com

15 17.10.20 0 Uhr 0 . 7 1 – 0 0 9. nie Filharmo t ad Filderst

DER EINTRITT IST FREI!

Mehr Info: www.dasschlafmagazin.de


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