Schlaf und Schmerz

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Schlaf ist diejenige Phase im menschlichen Leben, die ganz entscheidend dazu beiträgt, dass wir uns erholen und tagsüber leistungsfähig sind. Im normalen, gesunden Schlaf fallen wir in regelmäßigen Zeitabständen in Schlafstadien, die für unsere körperliche und geistige Regeneration besonders wichtig sind. Menschen mit chronischen Schmerzen erreichen diese Schlafphasen so gut wie nie: Sie haben einen sehr oberflächlichen Schlaf. Viele Schmerzpatienten leiden außerdem unter Einschlafstörungen; und wenn sie dann endlich eingenickt sind, werden sie oft wieder wach. Kurze Aufwachreaktionen sind zwar völlig normal und kommen auch bei gesunden Schläfern bis zu 30-mal pro Nacht vor; aber wenn man zu häufig aufwacht, wird der Schlaf dadurch fragmentiert und unerholsam. Außerdem werden diese Patienten von ihrem Schmerz oft so quälend geweckt, dass sie hinterher nicht mehr einschlafen können. Der gestörte Schlaf erhöht wiederum die Schmerzempfindlichkeit: Wer tagsüber unausgeschlafen ist, empfindet Schmerzen stärker als jemand, der die ganze Nacht ruhig und fest durchgeschlafen hat. Und er neigt auch vermehrt zu depressiven Verstimmungen – ein weiterer Faktor, der Schmerzen verschlimmern und den Schlaf empfindlich stören kann. So entsteht ein verhängnisvoller Teufelskreis. Der Schlaf von Schmerzpatienten unterscheidet sich stark von demjenigen schmerzfreier Schläfer. Um das zu verstehen, sollten wir uns zunächst einmal klarmachen, was während des Schlafs in unserem Körper und unserem Gehirn passiert. Ein gesunder Schläfer gleitet nach kurzem Wachliegen rasch in den Leichtschlaf, der aus zwei Stadien besteht: Rund fünf bis zehn Minuten verbringen wir in Schlafstadium 1, dann weitere fünf bis zehn Minuten in Schlafstadium 2. Danach gelangen wir in die Tiefschlafphasen 3 und 4, aus denen wir nur noch schwer zu wecken sind. Nach 30 bis 40 Minuten Tiefschlaf kommen wir über eine weitere Leichtschlafphase in den REM-Schlaf, der durch rasche Augenbewegungen und besonders lebhafte Träume gekennzeichnet ist. Eine solche Abfolge aus Leichtschlaf – Tiefschlaf – Leichtschlaf – REM-Schlaf bezeichnet man als Schlafzyklus. Innerhalb einer Nacht durchlaufen wir mehrere solche Schlafzyklen, die jeweils 90 bis 100 Minuten dauern. So quälend Schmerzen auch sein mögen – die Natur hat sie nicht erfunden, um uns zu ärgern. Oft erfüllt der Schmerz einen sehr sinnvollen Zweck: Das Kind, das seine Hand auf die heiße Herdplatte legt, würde sie vielleicht minutenlang dort liegen lassen, wenn das nicht so höllisch weh täte. Ohne Schmerzempfinden würden wir den Hund, der uns beißt, seelenruhig weiter streicheln. Oder nicht zum Arzt gehen, obwohl ein Geschwür unsere Magenwand zu zerfressen droht. Es gibt Menschen, die aufgrund eines Gendefekts keinerlei Schmerzen empfinden. Beneidenswert, finden Sie? Auf den ersten Blick vielleicht schon; aber diese Leute werden meistens nicht sehr alt. Sie verbrennen sich an heißen Herdplatten, gehen bei einem Blinddarmdurchbruch nicht zum Arzt – bis ihnen ihr schmerzfreies Dasein irgendwann zum Verhängnis wird.

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