Kompass Juli 2022

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KVW Soziales

Wie Menschen und Jobs sich finden Gute Arbeitsmarktlage mit bisher unbekannten Entwicklungen Südtirols Arbeitsmarkt entwickelt sich immer mehr zu einem Arbeitnehmermarkt und entspricht damit dem europäischen Trend. Warum das so ist, wie er die Situation bewertet und was die Herausforderungen der Zukunft sind – das haben wir Stefan Luther vom Amt für Arbeitsmarktbeobachtung gefragt.

In welcher Lage befindet sich Ihrer Einschätzung nach der Südtiroler Arbeitsmarkt? Stefan Luther: Das ist gar nicht so leicht auf den Punkt zu bringen. Denn eigentlich haben wir mehrere Arbeitsmärkte, die sehr stark regional oder berufsspezifisch geprägt sind. Der Arbeitsmarkt des Tourismus hängt von anderen Faktoren ab als je­ ner der Pflege. Prinzipiell gehe ich zum derzeitigen Zeitpunkt davon aus, dass die Auswirkungen der Co­ rona-Krise im Hinblick auf die An­ zahl der Arbeitnehmer:innen wohl überwunden sind. Seit Sommer 2021 haben die Arbeitsverhältnisse quan­ titativ dasselbe Niveau wie im bishe­ rigen Rekordjahr 2019 erreicht. Trotz des unsicheren internationalen Um­ feldes setzt sich diese Entwicklung auch fort – bis jetzt. Zeichnet sich also wirklich ein Arbeitskräftemangel ab? Luther: Dem ist so, zumindest mittelund langfristig. Denn die Südtiroler Er­ werbsbevölkerung nimmt ab, und der Bedarf an Arbeitskräften steigt. 2011 hatten wir noch 184.500 Arbeitneh­ mende im Jahresschnitt; 2021 – wohl­ gemerkt nach zwei Jahren Krise – 207.500. Also ein Plus von 14 Prozent. Wenn es so weitergeht, werden zum Ende der laufenden Legislaturperiode etwa 7.000 potenzielle Arbeitskräfte weniger zur Verfügung stehen, da die Südtiroler Erwerbsbevölkerung stag­ niert. Auch kurzfristig fehlen Arbeits­ kräfte: Die digitale Arbeitsmarktbörse des Landes, die eJobBörse (www.jobs. bz.it) mit immerhin 25 Prozent Markt­ anteil, hat noch nie so viele offene Stellenangebote in den ersten vier Mo­ naten des Jahres verzeichnet: nämlich 4

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über 5.600. Es fehlen also Arbeitskräf­ te, nicht nur Fachkräfte in diversen Be­ rufen und Branchen. Selbst bekannte­ re Betriebe haben Schwierigkeiten, Ar­ beitskräfte zu rekrutieren, und müssen deshalb Anforderungen wie die Kennt­ nis beider Landessprachen herabset­ zen. Ich sehe Anzeichen, dass sich Südtirol wie andere mitteleuropäische Regionen zu einem Arbeitnehmer­ markt entwickelt: Arbeit­nehmer­:innen suchen sich ihren Arbeitgeber aus. Also eine sehr gute Arbeitsmarkt­ lage. Dennoch gibt es auch viele Menschen, die keine Arbeit finden. Luther: Sie bringen das Dilemma auf den Punkt. Wir haben Arbeitsmarkt­ spannungen: Betriebe finden keine Leute, Arbeitslose – ohne Saisonar­ beitslose waren im April dieses Jahres immerhin fast 10.000 Arbeitslose re­ gistriert – finden keine passenden Stel­ len. Das ist unsozial und unwirtschaft­ lich. Dennoch bin ich optimistisch. Woraus speist sich Ihr Optimismus? Luther: Es gibt Instrumente, um das Zusammentreffen von Betrieben und Arbeitslosen zu erleichtern – das ist der Kernbereich aktiver Arbeits­ marktpolitik, mit einem Ziel: Beschäftigungshindernisse ab­ zubauen. Und zwar auf Seiten der Betriebe wie der Arbeitslo­ sen. Es geht um Beratung, um Weiterbildung bis hin zur Um­ schulung und auch um gezielte Förderungen. Ein sehr wirksa­ mes Instrument, um die Ent­ wicklungen auf dem Arbeits­ Stefan Luther, Amtsdirektor des Amtes markt zu fördern, ist eine star­ für Arbeitsmarkt­ ke und professionelle Arbeits­ beobachtung der Südtiro­ vermittlung. Und dies gilt ganz ler Landesverwaltung ausdrücklich auch für die

gezielte Arbeitsvermittlung für Men­ schen mit Beeinträchtigung. Betrachten Sie Digitalisierung und Automatisierung nicht als Gefahr für den Südtiroler Arbeitsmarkt? Luther: Aus heutiger Sicht nicht − wenn es der Schul- und Ausbildungs­ welt gelingt, die notwendigen Kom­ petenzen zu vermitteln. Moderne Ar­ beitsmärkte sind dynamisch. Bereits jetzt verfügt die Abteilung Arbeit über einen wertvollen Datenschatz und ausreichend Informationen, um zukunftsfähige Konzepte für den Ar­ beitsmarkt zu entwickeln. Ein Bei­ spiel: Auf den Arbeitskräftemangel durch demografischen Wandel haben wir bereits vor mehr als zehn Jahren aufmerksam gemacht – jetzt wird er in den Betrieben spürbar. Was uns fehlt, sind fachlich kompetente Mitarbeiter:innen in ausreichender Zahl, um diese Konzepte auch in die Praxis umzusetzen. Wie Sie sich vor­ stellen können, ist die Beratung von Betrieben wie von Arbeitssuchenden alles andere als eine bürokratische Tätigkeit. Es gilt mitunter, arbeitslose Personen engmaschiger zu aktivieren als es heute möglich ist. Der Arbeits­ vermittlung muss gelingen, den Be­ darf der Arbeitssuchenden und der Betriebe zu erkennen und somit Übereinstimmungen zu suchen und zu finden. Und manchmal auch Men­ schen und Jobs zusammenzubringen, die vielleicht auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, sich dann aber als Glücksgriff erweisen. Ich würde die Herausforderung so auf den Punkt bringen: Eine professionel­ le Arbeitsvermittlung ist ein enormer wirtschaftlicher und sozialer Mehr­ wert und stärkt Südtirols Attraktivität für Betriebe und Arbeitskräfte.


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