CINEMA FOREVER?
3/2020 JULI/AUGUST EUR 5.00
celluloid
QUO VADIS, CINEMA? CINEMA FOREVER!
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CELLULOID FILMMAGAZIN 3/20
Foto: Katharina Sartena
filmmagazin
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CELLULOID FILMMAGAZIN
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inhalt ARTIG, NICHT BRAV
celluloid filmmagazin Ausgabe 3/2030 21. Jahrgang Juli/August 2020
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liebe leserInnen,
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QUO VADIS, CINEMA?
Wohin wird sich das Kino nach Corona entwickeln? Wird ein Comeback gelingen? Oder ist die Krise der Anfang vom Ende des Lichtspiels? Und wie reagieren Festivals?
FEATURES DER FUHRPARK VON 007 Ein neues Buch stellt
James Bonds heiße Schlitten vor
ADOLF HITLER, vor 75 Jahren gestorben, war
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immer wieder ein Lieblings-Protagonist des Kinos HOLLYWOODS SCHATTEN strahlen in der Netflix-Serie „Hollywood“ AUTOKINOS: Corona brachte ein neues Leben für längst vergangene Kinoträume US-PRÄSIDENTEN IM FILM: Ein Bildband zeigt, wie man den Potus im Kino inszeniert AUSBRUCH: Das Kino als Ort von Eskapismus WOODY ALLEN: Seine Autobiografie NACHRUF: Michel Piccoli ist tot JUBILAR I: Clint Eastwood ist 90 JUBILAR II: Al Pacino im Gespräch zum 80er
FILMKRITIK
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36 Space Force 37 Jeffrey Epstein: Stinkreich 38 Dérapages - Kontrollverlust 39 The Vast of Night 40 White Lines 41 The Eddy 42 Schw31ns7eiger
RUBRIKEN 4 43 46
Nachruf: Wolfram Paulus Neue Bücher: Frauen im Film, Bildband zum Neuen Deutschen Film Neues im VOD-Club
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DVD & Blu-ray Zum 75er: Rainer Werner Fassbinder, neu interpretiert
Fotos: Netflix; Greuling; Aston Martin
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Den 20. Geburtstag unseres Magazins hätten wir uns wahrlich anders vorgestellt. Im Juni 2000 erschien die erste celluloid-Ausgabe, und wir hatten ein großes Fest zu diesem Jubiläum vor, aber dann kam Corona. Also haben wir die Planung vorerst verschoben und die Zeit genutzt, für Sie trotzdem ein schönes Magazin zu gestalten, auch, wenn es darin noch nicht wirklich um Kinofilme geht. Die Lockerungen im Kinobereich traten mitten in der Finalisierung dieser Ausgabe in Kraft, aber immerhin beantwortet das schon einen Teil unserer am Titel gestellten Frage: Quo vadis, cinema? Das Kino wird sich nicht unterkriegen lassen von dieser Krise. Das haben wir vielseitig in dieser Ausgabe abgebildet. Wir hoffen, Sie bleiben uns als LeserInnen in dieser auch wirtschaftlich schweren Zeit treu. Wir brauchen Sie! Herzlichst, Ihr MATTHIAS GREULING CHEFREDAKTEUR UND HERAUSGEBER
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nachruf ABSCHIED VON WOLFRAM PAULUS
Wolfram Paulus (1957 - 2020)
Foto: Filmarchiv Austria
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r war einer, den man als Wegbereiter für den neuen österreichischen Film bezeichnen kann: Wolfram Paulus nahm mit seinen Filmen ab 1982 viele Strömungen und Erzählweisen vorweg, durch die das heimische Filmschaffen später international reüssierte. In seinem Langfilmdebüt „Heidenlöcher“ (1985) forschte er am Lebensgefühl der Menschen im Zweiten Weltkrieg und erhielt dafür den Wiener und den Deutschen Filmpreis. Viele Arbeiten thematisierten vorbelastete Begriffe wie Heimat, Religion oder Kindheit. „Paulus galt mit seinen Filmen nicht nur als einer der Erneuerer des Heimatfilms in den 80er-Jahren, sondern in Folge als innovativer Erzähler und oft auch widerständiger Einzelkämpfer, der sich gerne gegen die bestehende Ordnung auflehnte. Eine Haltung, die sich auch in seinen Filmen wieder spiegelt“, würdigt das Filmarchiv Austria den Regisseur, dem man im März eine Retrospektive gewidmet hätte, die wegen der Corona-Krise abgesagt wurde. Am 28. Mai ist Wolfram Paulus nach langer Krankheit gestorben.
WEGGEFÄHRTEN VON WOLFRAM PAULUS ERINNERN SICH: WOLFGANG MURNBERGER erinnert sich auf Facebook: „Ich denke an eine Geschichte die mir Wolfram Paulus in der zweiten Hälfte der 80iger Jahre erzählt hat. Er ist mit dem Zug und einer Kopie seines Filmes „Heidenlöcher“ der im Wettbewerb der Berlinale gelaufen ist, zu Robert Bresson gefahren um dem großen, angebeteten französischen Regisseur seinen Film zu zeigen. Aber Bresson war in keiner guten Stimmung. Es gelang ihm nämlich gerade nicht, das Geld für sein Vermächtnis zusammen zu bekommen und hatte kein riesiges Interesse am Film eines jungen österreichischen Regisseurs. Wolfram war fassungslos, aber nicht weil sich Bresson nicht besonders für seinen Film interessierte. Er fragte sich völlig verzweifelt: Wie kann es sein, dass einer der größten Regisseure der Filmgeschichte, die Finanzierung für seinen nächsten, vermutlich letzten Film nicht zusammen bekommt, nicht einmal in Frankreich, dem europäischen Filmparadies. Wolfram hat das mit so viel Empathie und ehrlicher Entrüstung erzählt, dass ich diese Begegnung und diese Erzählung nicht mehr vergessen habe. Ich hoffe, Bresson hat jetzt mehr Zeit für ihn. In Frieden ruhen, das passt so gar nicht zu Wolfram. 4
SABINE DERFLINGER erinnert sich auf Facebook: „Wolfram Paulus’ ‚Heidenlöcher‘: Ich bin begeistert und beeindruckt, so einen Ö-Film hab ich noch nie gesehen. Ich bin 23. Wolfram Paulus, einer der ersten Regisseure, für den ich arbeiten durfte. Filmverwertung in den Landkinos von ‚Heidenlöcher‘, die Producerin Monika Maruschko engagiert mich, Bürgermeister anschreiben, telefonieren. Noch gibt es kein Fax, keinen Computer. Ich habe keine Ahnung und arbeite mit der Begeisterung einer Unwissenden, ich spreche mit Gemeindesekretärinnen und schicke Unterlagen an Fremdenverkehrsverbände. ‚Heidenlöcher‘ schafft die notwendigen Zuschauerzahlen, es gibt Referenzgeld für den Regisseur und die Produktionsfirma. Als Produktionskoordinatorin seines Kinofilms ‚Nachsaison‘ schreibe ich die Dispos mit der Schreibmaschine. ‚Nachsaison‘, inspiriert vom Leben seines Bruders Albert, der als Koch im Saison-Tourismusgeschäft arbeitet, gedreht in Bad Gastein. Albert Paulus und Mercedes Echerer in den Hauptrollen, das legendäre Gewürzsträusschen, Christian Berger findet die Bilder für diesen so anderen Heimatfilm, Andreas Prohaska hat die Muster angelegt, erinnere ich mich, geschaut haben wir täglich im Kino, das dem Vater vom Wolfgang Steininger (Moviemento, Kino Freistadt) gehörte. Motive durften nicht abgebaut werden, bis das Ok vom Kopierwerk da war. Arbeiten und drehen im fast leeren Grandhotel. Mit Familie. Und Team. Nur wir vom Film und einmal ein arabischer Scheich mit seinen 40 (?) Frauen, die hinter schwarzen Burkas versteckt wurden. Eine schwere Zeit für mich, mir ging’s nicht so gut. Gelernt habe ich viel. Vor allem, dass RegisseurInnen sich nix dreinreden lassen. Diese Beharrlichkeit, die Wolfram Paulus an den Tag gelegt hat, bleibt mir in lebhafter Erinnerung. Und inspiriert hat mich Wolfram Paulus’ Arbeit, das Politische in ‚Heidenlöcher‘, das Unmittelbare bei seinen Arbeiten, seine Direktheit, seine Vermischung von Realem und Fiktivem, in Form, Stoff und Umsetzung, und ‚Nachsaison‘ hat sicher den Boden für meinen Kinospielfilm ‚Vollgas‘ bereitet. Danke für all diese Inspirationen! CELLULOID FILMMAGAZIN
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COVER
Die Corona-Krise hat gezeigt: Das Kino ist keineswegs krisenfest. Der Lockdown brachte viele Betreiber an den Rand der Existenz, in den USA wechselt die größte Kinokette der Welt demnächst den Besitzer: Dort könnte bald Amazon das Sagen haben. Ausgerechnet. Auch die Situation in Österreich ist mehr als kritisch.
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IRD NUN M KIINO?
COVER JEFF BEZOS KÖNNTE DAS KINO JETZT FÜR IMMER VERÄNDERN
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Die AMC Theatres sind derzeit finanziell stark angeschlagen und ein Übernahmekandidat
ie Freude war nicht zu überhören: Mit einem „Hurra, wir öffnen wieder“ kommentierte das Wiener Admiral Kino auf seiner Facebook-Seite die Ende Mai überraschend vorverlegte Möglichkeit, die Kinos im Land im Schnellverfahren wieder aufzusperren. Nach der Bekanntgabe der Verordnung, dass die Öffnung bereits zum Pfingstwochenende möglich wurde, anstatt wie zuvor angekündigt, erst am 1. Juli, ging ein Raunen der Erleichterung durch die Reihen der österreichischen Kinobetreiber - aber das übereilte Vorverlegen brachte auch logistische Schwierigkeiten mit sich. Zwar öffnete das Admiral Kino schon zu Pfingsten, zeigte mangels Angebot vorerst aber nur RepertoireFilme aus den vergangenen Kinomonaten. „Das ist ein Versuch, wieder auf die Beine zu kommen“, sagt Admiral-Chefin Michaela Englert, für die es jetzt gilt, die freudige Nachricht an ihre Klientel zu bringen. „Wir versuchen erst einmal, unser Publikum über Newslettering und die sozialen Netzwerke zu erreichen“, so Englert. Bis zu einem regulären Spielbetrieb werde es noch dauern. MANCHE ÖFFNEN VORERST NICHT Viele Kinos, wie etwa das Cinema Paradiso in St. Pölten und in Baden, sperren vorerst gar nicht auf und wollen den ursprünglichen Termin mit 1. Juli wahrnehmen. Etliche Programmkinos, darunter Admiral, Votiv, Filmcasino und Gartenbau, haben sich verständigt, die Wiedereröffnung geordnet und gemeinsam zu vollziehen. Als Starttermin wurde der 19. Juni festgelegt, ab dann soll es durchgehend gespielte Programme geben. „Uns hat die vorverlegte Öffnung sehr überrascht, und sie ist grundsätzlich erfreulich, aber wir wollten auch nicht überfallsaftig öffnen, weil es gewisse Vorbereitungen braucht und weil wir unserem Publikum auch verpflich-
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tet sind, was die Qualität unseres Angebots angeht“, sagt Michael Stejskal vom Wiener Votiv-Kino, der mit dem Filmladen Filmverleih auch auf Verleiherseite tätig ist. „An Programm mangelt es prinzipiell nicht, wir können alles spielen, was noch auf unseren Servern liegt - aber es wird noch keine neuen Filmtitel geben, denn dazu braucht es oft die Abstimmung mit internationalen Verleihern“. Solange das Kino international nicht wieder wie gewohnt läuft, ist der Nachschub für Filme eingeschränkt. Gerade Programmkinos können aber mit kleineren Arthaus-Produktionen, bei denen keine großen Weltvertriebe im Hintergrund dranhängen, recht flexibel agieren. CINEPLEXX: „KONTRAPRODUKTIV“ „Es bricht jetzt eine gewisse Anarchie aus“, formuliert es Stejskal. „Das wollte eigentlich keiner. Jeder macht nun sein Ding, manche spielen ältere Filme und auch nur an Wochenenden, es gibt kaum neue Titel“. Daher werde es auch schwierig sein, die Filme zu bewerben. Einheitliche, österreichweite Filmstarts, die sich auch in der so wichtigen medialen Berichterstattung niederschlagen, würden vorerst ausbleiben. Während die kleinen Kinos wendiger agieren können, gibt es seitens des Marktführers Cineplexx einiges Unverständnis für die Vorverlegung. „Unangekündigte Schnellschüsse das Kino betreffend im Zusammenhang mit dem Hochfahren des Kulturbetriebes sind leider kontraproduktiv“, sagt Cineplexx-Chef Christian Langhammer, der mit der Constantinfilm auch Verleiher ist. „Wir bedauern, dass man auf die immer wieder geforderte und notwendige Planungssicherheit nicht eingegangen ist und mit Veröffentlichung einer Verordnung am 27. Mai den Betrieb per 29. Mai ermöglicht.“ Die 29 CineplexxStandorte in Österreich will er wie geplant erst am 1. Juli öffnen, alles andere
Fotos: Votivkino; zVg
käme für ihn zu früh. Einerseits gehe es darum, die Abstandsregelungen in den mehr als 200 Sälen der CineplexxGruppe im Detail zu erarbeiten. „Unser erklärtes Ziel ist es, dass unser Distanzkonzept so ausgestaltet wird, dass das Wohlbefinden unserer Kinobesucher optimal gewährleistet ist“, sagt Langhammers Co-Geschäftsführer Christof Papousek. Und dann ist da auch für den KinoPlatzhirsch die nicht unwesentliche Frage, was in den Sälen zu sehen sein wird: „Der Filmmarkt ist international, und Filmstarts müssen in allen relevanten Märkten möglich sein. Wir gehen von weiteren Öffnungen in verschiedenen Ländern aus und rechnen daher mit großen Filmstarts ab Mitte Juli“, sagt Langhammer. Dann könnten Blockbuster wie Disneys „Mulan“, Christopher Nolens „Tenet“ oder „Wonder Woman 1984“ gespielt werden. Dennoch: Zum Normalbetrieb zurückfinden wird der Kinobetrieb länger nicht: Denn noch viel dramatischer als die Krise wird die Zeit nach der Krise: „Dann haben wir wieder die vollen Belastungen im Bereich Mieten und Gehälter, aber nur einen Teil der Einnahmen. Durch die Abstandsregeln und Platzbeschränkungen, aber auch dadurch, dass viele Menschen sich vielleicht gar nicht trauen, ins Kino zu ge-
Die meisten Kinos, darunter das Wiener Votivkino, öffnen wieder am 19. Juni.
hen“, so Stejskal. Unsicherheitsfaktoren, die die gesamte Veranstaltungsbranche betreffen. Stejskal: „Diese Branche ist eben kein Computer, den man einfach so wieder hochfahren kann“. AMAZON GREIFT ZU Auch international hat die Krise mächtige Verschiebungen bei den Kinos gebracht: Der größte Kinobetreiber der Welt, AMC Entertainment in den USA und Versandhändler Amazon sind dem Vernehmen nach in Gespräche über eine mögliche Übernahme eingetreten. AMC war durch die Schließung der Kinos an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gekommen, Amazon könnte nun einspringen und die Kinos übernehmen - ausgerechnet der Streaming-Dienst, der größte Feind des Kinos, könnte sich jetzt also als sein Retter erweisen. Zuerst soll es in den Übernahmegesprächen um die AMC Theatres in Großbritannien gegangen sein, schlussendlich hat Amazon-Chef Bezos aber den Gesamtkonzern ins Visier genommen. Ein Zukauf dieser Größe würde Amazon mit einem Schlag an die Spitze im Kinobereich katapultieren, denn AMC ist stark verflochten und weltweiter Marktführer. Amazon hatte bereits in der Vergangenheit Interesse an einem Einstieg im Kinosegment angemeldet, war mit seinem Interesse an CINEMA FOREVER!
der Kinokette Landmark Theatres aber nicht erfolgreich gewesen. Nun könnte der Internetgigant mit dem Griff nach AMC gleich in einer ganz anderen Liga mitspielen. Bislang gehört Amazon mit seinem zum Prime-Service gehörenden Streamingangebot Amazon Video neben Netflix und Disney+ von Walt Disney zu den größten Streaminganbietern für Filme und Serien. Mit dem Kauf von AMC könnte das Unternehmen seinen Einfluss in Hollywood massiv ausbauen, der Kauf der Kette könnte eine sinnvolle Ergänzung für den hauseigenen Streamingdienst darstellen. Und es bringt vermutlich den endgültigen Umbruch bei alten Traditionen: Die Übernahme von AMC würde Amazon eine verstärkte Kontrolle über das Kinofenster als eine zusätzliche Einnahmequelle geben - oder es ganz beerdigen (wie das während Corona ja mit etlichen Kinofilmen passierte, die direkt bei den OnDemand-Diensten landeten). Darüber hinaus könne die Kinokette auch als attraktives Marketinginstrument genutzt werden und dem Unternehmen zusätzlich Abonnenten bescheren. Am Preis wird’s nicht scheitern: An der Börse ist AMC gerade rund 300 Millionen Dollar wert. Das zahlt Bezos aus der Portokassa. Und könnte das Kino damit für immer verändern. 9
CORONA: EINE NEUE ZEIT FÜR DIE
FILMFESTIVALS Filmfestivals gehören zu den von der Pandemie am stärksten betroffenen Kulturveranstaltungen. Wie werden sie künftig aussehen?
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uerst war da ein ungläubiges Beharren. Dann eine wenig einsichtige, fast trotzige Terminverschiebung. Schließlich die nüchterne Erkenntnis: Das wird heuer nichts mit dem Filmfestival von Cannes. Diese berühmteste Filmschau der Welt ist ein Opfer der Corona-Krise geworden, so wie Hunderte andere Festivals auch. Mit der Absage der Diagonale in Graz und Crossing Europe in 10
Linz waren auch zwei wichtige heimische Filmfestivals betroffen. In Cannes hat man lange gehofft, Ende Juni, Anfang Juli doch noch einen Ersatztermin zu finden, und auch, wenn sich die Pandemie-Situation inzwischen in Frankreich gebessert hat, so sind Massenveranstaltungen wie diese noch völlig undenkbar. 2500 Menschen in einem Kinosaal? Das Gedränge am roten Teppich vor dem Palais des Festivals? Hunderte, die sich in den Cafés CELLULOID FILMMAGAZIN
und Restaurants dicht an dicht reihen? Cannes hat ein Problem. Filmfestivals als Orte kollektiver Filmerfahrung sind zumindest in naher Zukunft gänzlich unmögliche Modelle kultureller Vermittlung; zwar dürfen ab Juli wieder 250 Menschen in einem Kinosaal - mit entsprechend Abstand - Platz nehmen, aber dennoch leidet darunter vermutlich nicht nur die kollektive Erfahrung, sondern auch der mit den Festivals verbundene Wirt-
Katharina Sartena
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So wie auf dem Bild, aufgenommen im Vorjahr in Venedig, werden Filmfestivals wohl länger nicht aussehen: Keine Zaungäste, keine Fans, kein roter Teppich und nur beschränkter Zugang für Fachbesucher
schaftsfaktor: Allein nach Cannes kommen jedes Jahr 4000 Journalisten, und mehr als 150.000 Fachbesucher, die alle essen und schlafen müssen. Bei einer Begrenzung der Teilnehmer ist das für niemanden ein gutes Geschäft. Immerhin will man den Jahrgang 2020 nicht im Archiv verschwinden lassen - Anfang Juni (und nach Redaktionsschluss) wurde eine Liste der für den Cannes-Wettbewerb um die Goldene Palme ausgewählten Filme der Öffentlichkeit präsentiert. Angeblich, um den Filmen bei ihrer Kinoauswertung zu helfen, weil das Cannes-Logo mit der Palme eine Art „Gütesiegel“ wäre. Das denkt zumindest Festivalchef Thierry Frémaux. Der wahre Hintergrund aber dürfte sein, diese Filme zu „brandmarken“, damit die Cannes-Exklusivität weithin sichtbar wird, wenn sich die entsprechenden Produktionen bei anderen Filmfestivals um einen Premierenplatz bemühen. WIE GEPLANT Konkret geht es um das Filmfestival von Venedig, das allen Widrigkeiten zum Trotz bislang keineswegs abgesagt wurde. Es soll wie geplant zwischen 2. und 12. September stattfinden, und zwar auf dem Lido von Venedig, nur mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen. Zumindest, wenn es nach Luca Zaia, dem regionalen Präsidenten von Venetien geht. In der Filmbranche regiert jedenfalls noch breite Skepsis, wie ein Filmfestival „mit Einschränkungen“ funktionieren könnte. Online kursieren jede Menge Gerüchte: Zunächst müsse man das Publikum vom Festival aussperren, und nur Fachbesuchern den Zutritt erlauben, diskutiert man in diversen Foren. Aber auch die Anzahl der Fachbesucher würde stark eingeschränkt werden müssen, und auch die Anzahl der Filme. Hartnäckig hält sich derzeit das Gerücht, dass nur die italienische Presse am Festival physisch wird teilnehmen dürfen, während
die internationalen Journalisten mit einem Online-Zugang ausgestattet werden könnten, über den sie eine Auswahl der Filme daheim streamen könnten natürlich nur, wenn die Rechteinhaber der Filme dem zustimmen. KEIN ONLINE-CANNES Maßnahmen, die jedenfalls von Cannes entschieden abgelehnt werden. Frémaux verwehrte sich einer digitalen Ausgabe des Festivals von Anfang an: „Das widerspricht dem Charakter der Filmschau, die physische Präsenz voraussetzt“, sagt er. Und auch die Profis der Branche geben den Plänen der Filmschau in Venedig wenig Chancen. „Für einen internationalen Film-Launch braucht es auch die internationale Presse, sonst lohnt sich
„Es stellt sich die Frage, welche Stars nach Venedig anreisen würden oder dürften“ CHARLES MCDONALD BRITISCHER PR-PROFI
der Aufwand nicht“, sagt der britische PR-Experte Charles McDonald, der seit Jahrzehnten Filme auf Festivals betreut. „Außerdem stellt sich die Frage, welche Stars dann wirklich anreisen, oder anreisen dürfen. Und im stets überfüllten Hotel Excelsior geht das mit der sozialen Distanz auch nicht sehr gut“. Venedig-Festivalchef Alberto Barbera jedenfalls bezeichnete die kommende Filmschau als „Experiment“, bei der vermutlich die roten Teppiche eher leer bleiben könnten. Beim zeitgleich stattfindenden Festival in Toronto überlegt man sogar eine gänzliche Verlagerung ins Netz, wie Journalisten berichteten. Inzwischen gibt es mit Festivals, die ausschließlich online stattfinden, sogar CINEMA FOREVER!
schon erste, vielversprechende Erfahrungswerte: Das DOK.fest München, das größte deutsche Dokumentarfilmfestival, fand dieses Jahr notgedrungen als Online-Festival statt. „Zu unserer großen Freude und Überraschung war es extrem erfolgreich“, sagt Pressesprecher Dominik Petzold. „Wir hatten 75.000 gezählte Zuschauer – tatsächlich waren es weit mehr, da sicher in vielen Fällen mehr als ein Zuschauer vor dem Bildschirm saß. Unser bisherigen Rekordwert lag 2019 bei 52.000 Zuschauern“. Wohlgemerkt als rein physische Ausgabe. Daher will man ab nun neue Wege gehen, und den Online-Markt gleich mitnehmen. „Für das kommende Jahr planen wir ein hybrides Festival, das in Münchner Kinos und online stattfindet“, so Petzold. VIENNALE-PROBLEME? Spannend dürfte auch die Frage werden, wie Österreichs größte Filmschau, die Viennale, mit der Corona-Krise umgehen wird. Derzeit geht man davon aus, dass der Termin von 22. Oktober bis 4. November gehalten werden kann, sofern die PandemieZahlen niedrig bleiben und sich keine zweite Welle für den Herbst ankündigt. Dennoch wird diese Viennale ein Problem auf der programmlichen Seite haben. Normalerweise wäre ViennaleChefin Eva Sangiorgi nämlich bei den Festivals in Cannes, Venedig, Toronto, aber auch Locarno oder Karlovy Vary unterwegs, um Filme für die Viennale auszuwählen und einzuladen. Da die meisten Veranstaltungen ausgefallen sind, tut sich hier natürlich auch ein gewaltiges Programmloch für Sangiorgi auf. Wie das gefüllt werden soll, ist Gegenstand von Überlegungen und zeigt jedenfalls: Die Filmfestivals dieser Welt leiden in Krisenzeiten genauso an ihrer globalisierten Verknüpfung wie viele andere Branchen auch. Es brauchte erst Corona, um das zu erkennen.
HUBERT NEUDÖRFL
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COVER
ONLINE WIRD TEIL DER
ZUKUNFT DES KINOS Neun Thesen des DOK.fest München-Leiters Daniel Sponsel zur Zukunft des Kinodokumentarfilms. Seine Ansätze lassen sich aber auch gut auf Filme aller Genres und ihre Auswertung im Kino oder online übertragen.
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as DOK.fest München hat sich aufgrund der aktuellen Situation mit seinem Filmprogramm auf den hart umkämpften Markt der OnlinePräsenz begeben. Nun beweist uns der hohe Zuspruch, dass dieser Markt offen ist für diese herausragenden Filme. Mehr als 75.000 gezählte Zuschauer haben die 121 Filme des DOK.fest München @home, die DOK.forum und DOK.education Veranstaltungen online gesehen. Die Zahl der tatsächlichen ZuschauerInnen dürfte deutlich höher liegen, da wir nicht wissen, wie viele Menschen in jedem Haushalt jeweils vor dem Bildschirm saßen. Das DOK.fest München ist endgültig im digitalen Zeitalter angekommen und wird die wertvolle Erfahrung aus dieser Edition in allen Bereichen – dem Festival selbst, der Branchenplattform DOK.forum und der Bildungsplattforum DOK.education – für seine weitere Entwicklung nutzen. Wenn unsere Förderer, Partner und die Branche dazu bereit sind, werden wir im kommenden Jahr in großem Stile den Beweis dafür antreten, dass sich die Präsenz und die Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino und im Netz gegenseitig nicht nur ergänzen, sondern sogar bestärken können. An dieser Stelle sollen neun Thesen diese Chance skizzieren. Einfach hatten es Dokumentarfilme noch nie in ihren Verwertungswegen. In den letzten Jahren gab es in den Kinos in Deutschland eine hohe Anzahl an Filmen, die nur von wenigen zahlenden Zuschauern gesehen wurden. Das liegt nicht an der Qualität der Filme, sondern an einem überforderten Markt mit zu vielen Filmstarts und daran, dass die Marketing-Mittel, die einem Kinodokumentarfilm zur Verfü12
gung stehen, oft zu gering sind, um genügend Aufmerksamkeit und Reichweite zu erzielen. Wenn jetzt, nach den Beschränkungen, die Kinos wieder bedingt öffnen, werden sich die Dokumentarfilme ganz hinten in der Reihe anstellen müssen. Die Frage, vor der wir alle nicht erst seit heute stehen, lautet: Wird der Dokumentarfilm in Zukunft überhaupt noch eine relevante Rolle in der Strategie der Kinoauswertung spielen? These Nr. 1: Der Dokumentarfilm ist ein Genre mit größerem Zielgruppenpotential, als ihm allgemein zugestanden wird. Er muss sich seine Zuschauerinnen und Zuschauer dort abholen, wo sie sind – im Netz. Das gilt für das Marketing, aber eben auch für die Präsentation der Filme selbst. MY FESTIVAL FIRST? Filmfestivals lieben Premieren, jede Premiere ist eine Kerbe mehr im Kolben und der ganze Stolz, an dem sich der Wert eines Festivals scheinbar bemessen lässt. Dabei handelt es sich um eine Tradition, die sich aus der Besonderheit einiger weniger Festivals heraus zu einer nicht mehr zeitgemäßen Eitelkeit gewandelt hat. Sind Festivals wirklich die Geburtshelfer der Filme? Oder leben sie nicht vielmehr von den Filmen, die andere gemacht haben und können diese in der Reichweite und Auswertung unterstützen? Mittlerweile kommt den Festivals in der Verwertungskette für Dokumentarfilme eine ganz spezielle Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Branche zu: Die Dokumentarfilmfestivals müssen einen Teil der ausbleibenden regulären Kinoauswertung kompensieren und zwar in den Kinos selbst und möglicherweise ergänzt durch Online- Angebote. Genau das ist aufgrund ihrer Ausstattung und der Reichweite sowie der jeweiligen regionalen Verortung ihre CELLULOID FILMMAGAZIN
Qualität. Und: Der Kulturkalender und die Filmbranche in diesem Land bieten genügend Spielraum dafür, dass jedes größere Festival auch genügend Premieren präsentieren kann, so ganz en passant. These Nr. 2: Filmfestivals müssen ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag überdenken und weiterführend definieren. Ihr Potential für die Auswertungskette ist größer und wird bisher nicht umfänglich genutzt. Das World Wide Web bietet einem Festival zahlreiche Möglichkeiten, sich mit seinem Programm im wahrsten Sinne des Wortes weitreichend zu platzieren. Einige Festivals haben diesen Weg jetzt wagen müssen und entdecken auch die Chancen darin. Die vorübergehende Goldgräberstimmung einzelner Festivals sollte jedoch nicht zu vorschnellen Expansionsphantasien verführen. An erster Stelle steht die Verantwortung, die wir als Festival gegenüber den Urheberinnen und Urhebern jedes einzelnen Films, gegenüber der Branche an sich und nicht zuletzt auch gegenüber anderen Festivals weltweit haben. Wenn sich jetzt, nach der Beendigung der Beschränkungen, der aufgewirbelte Staub langsam legt, ist es wichtig, die Strategien an den eigenen Grundsätzen und Zielen zu bemessen und entsprechend zu handeln. Die Verwertungskette von Kinodokumentarfilmen ist national und international ein fragiles Gebäude, aus dem man nicht ohne Folgen einen Stein herausziehen sollte. These Nr. 3: Filmfestivals können in näherer Zukunft noch mehr Verantwortung und Aktivitäten in der Auswertungskette von Dokumentarfilmen übernehmen, möglicherweise auch mit zusätzlichen Online-Angeboten. Die Online-Edition eines großen Filmfestivals ist heute überhaupt noch nicht selbstverständlich. Die gegenwärtige Si-
tuation zwingt uns, einen Weg zu gehen, der als technische Möglichkeit zwar schon besteht, mit dem wir uns aber in jeder Hinsicht schwertun. Spätestens seit immer mehr Anbieter auf dem Filmmarkt erfolgreich online unterwegs sind und unsere vertrauten Produktions- und Verwertungsketten aus den Angeln heben, ist uns bewusst, dass die Zukunft das Beschreiten neuer Wege fordert. Nun ist die Versuchung groß, das Internet so zu nutzen, wie es sich anbietet: als Möglichkeit, weltweit zu agieren. Das kann nicht das Interesse eines örtlich und zeitlich verankerten Festivals sein. Das DOK.fest München war in seiner Online-Edition deshalb nur deutschlandweit und auf einen Zeitraum von 18 Tagen begrenzt zu sehen. Eine ganz wichtige Maßnahme, um die weiteren Auswertungsmöglichkeiten der Filme zu gewährleisten. These Nr. 4: Das Geoblocking und die zeitliche Begrenzung sind für jede Art der Online-Auswertung die Existenzgarantie für weitere Player in der Auswertungskette – das gilt auch für die Filmfestivals. KUNST DARF KOSTEN Aktuell reagieren zahlreiche Kulturanbieter und auch Filmfestivals im Netz auf die Beschränkungen mit gut gemeinten Angeboten – kostenfrei. Ein grundsätzlich fragwürdiges Signal, auch oder gerade in dieser Zeit. Auf diese Weise forcieren wir weiter den eigentlichen Geburtsfehler des Netzes: die scheinbar urheberlose und kostenfreie Welt des digitalen Contents. Auch in seiner Online-Edition waren die Filme des DOK.fest München nur mit einem Ticket oder dem Festivalpass zu sehen. Alle Preise waren niedriger angesetzt als der reguläre Zugang zum Kino, aber deutlich höher als die Angebote der Mitbewerber aus dem Silicon Valley. Darüber hinaus gab es das Extraticket mit einem Solidarbeitrag für unsere Partnerkinos. Unmittelbar nach der Entscheidung, mit dieser Edition online zu gehen, haben wir den RechteinhaberInnen der bereits für das Präsenzfestival zugesagten Filme für die Online-Edition eine erhöhte Beteiligung an der Auswertung zugesagt. Filmkunst muss ihren Preis haben, auch online. Die hohe Anzahl der Besucherinnen und Besucher bestätigt uns jetzt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. These Nr. 5: Filmfestivals müssen reguläre Tickets verkaufen, um somit relevante Screeningfees für alle Filme zahlen zu können. Ganz gleich, ob diese im Kino oder online ausgewertet werden. In der diesjährigen Online-Edition sind wir ohne großen Vorlauf und gewohnte
Verbreitungsmöglichkeiten aus dem Stand bei einzelnen Filmen auf eine Anzahl an verkauften Tickets gekommen, die den Ergebnissen der regulären Kinoauswertung nahekommt. Dabei haben wir mit Sicherheit auch ein ganz neues Publikum erreicht, das für einen Dokumentarfilm bis jetzt noch nicht den Schritt ins Kino getan hätte. Alle bisherigen Erhebungen über das Verhalten von Cineasten und Filmfreundinnen und Filmfreuden legen nahe, dass sich die Nutzung von Online-Angeboten und der Besuch im Kino nicht ausschließen, sondern teilweise bedingen. These Nr. 6: Filmangebote im Kino und auf OnlinePlattformen stehen nicht in unmittelbarer Konkurrenz. Ein gemeinsamer Auftritt erhöht die Reichweite und die Möglichkeiten, mehr und auch ganz neues Publikum zu generieren.
„Das Kino muss die Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten, sondern auch einfordern“ DANIEL SPONSEL LEITER DOK.FEST MÜNCHEN
Die Möglichkeiten für ZuschauerInnen, Filme zu sehen, ist noch einmal größer geworden und durch neue Anbieter vielfältiger. Der Markt ist schnell, jeder neue Film verdrängt die aktuellen und in der Frage der Preispolitik wird die Stimmung zunehmend aggressiver. Nur wer auf diesem Markt ausreichend sichtbar ist, erhält auch den Zuspruch durch das Publikum. In der Öffentlichkeits- und Pressearbeit kann jeder Film nur einmal Reichweite generieren. Darum ist es insbesondere für Dokumentarfilme wichtig, alle Synergien in der Auswertung zu bündeln. Damit die Filme auf dem Markt sichtbar werden können, benötigen sie deutlich mehr finanzielle Mittel. These Nr. 7: Die Filmförderungen sollten ihr Konzept für die Vergabe von Distributionsmitteln überarbeiten und erweitern. Dem Kinodokumentarfilm müssen deutlich mehr Mittel für die Kommunikation und das Marketing zugesprochen werden. Wir schaffen es nicht einmal, das Tempolimit auf deutschen Autobahnen politisch umzusetzen. Warum sollte es uns durch eine Regulierung gelingen, den CINEMA FOREVER!
Menschen vorzuschreiben, welche Filme sie wann und wo zu sehen haben? Das Publikum sieht die Filme da, wo es sie bekommt: Das kann im Kino sein, im TV oder online bei einer Streamingplattform. Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie bestimmte Filme zu sehen haben, vorschreiben. Der Markt ist zu groß und zu liberal, um ihn regulieren zu können. Aber wir sollten nicht Netflix, Disney oder Amazon alleine darüber entscheiden lassen, welche Dokumentarfilme wir online sehen können und welche nicht. Es ist von großem allgemeinen Interesse, in Deutschland Strukturen aufzubauen, die eine Koexistenz der Online-Auswertung und im Kino möglich macht und miteinander verzahnt. Die Projekte KINO ON DEMAND und KINOFLIMMERN sind ein Anfang, das DOK.fest München @home 2020 eine in diesem Sinne wertvolle Erfahrung – weitere sollten unbedingt folgen. These Nr. 8: Die Kinosperrfrist stammt aus der Zeit des linearen, dualen Marktes. Sie kann die Kinos nicht mehr schützen, sondern verwehrt den Filmen nun den Zugang zum Publikum. Die Kinosperrfrist ist in diesem Sinne für Dokumentarfilme kontraproduktiv und sollte aufgehoben werden. MEHR PUBLIKUM Wir müssen davon ausgehen, dass wir als gesamte Gesellschaft nach dieser Krise nicht einfach wieder in den Ausgangsmodus zurückkehren können. Dazu ist diese Krise zu substanziell, dafür sind die Bedürfnisse in unserer Wohlstandsgesellschaft zu ausgeprägt und divers. Das gilt insbesondere für Großveranstaltungen und sicher auch für das Kino. Das Kino muss in näherer Zukunft eine Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten können, sondern als Ergänzung fordern. Das Kino ist definiert durch seinen großen dunklen Raum während der Vorführung und die soziale Interaktion drumherum, sowie durch das kuratierte cineastische Programm. Nur das Kino kann, was das Kino kann. Es muss mit seinen unersetzlichen Qualitäten auf allen Ebenen für die Auswertung von Kinodokumentarfilmen arbeiten – am besten, wenn möglich, in enger Kooperation mit einem Festival vor Ort. These Nr. 9: Die zeitgleiche Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino und online bringt in der Summe mehr Zuschauerinnen und Zuschauer für jeden einzelnen Film. Alle Festivaltickets sollen in der Zählung der FFA erfasst werden, das Kinoticket genauso wie das Online-Ticket. DANIEL SPONSEL 13
FILM-AUTOS
Das Buch „Motorlegenden: James Bond“ nimmt Filmfans mit ans Steuer der legendären Autos.
DER WAHNSINNS-FUHRPARK VON
Very British: Prinz Charles besucht Bond-Darsteller Daniel Craig am Filmset von „No Time to Die“ 14
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Aston Martin
JAMES BOND
Lunafilm
Romanen und neun Kurzgeschichten seines Erfinders Ian Fleming, liegt ganz schlicht an Flemings Leidenschaft zu ebensolchen Wagen; diese PS-Liebe lebte Fleming beim Schreiben aus, später dann auch die Regisseure bei den inzwischen 25 Bond-Abenteuern (der Kinostart des neuesten 007-Actionspektakels „Keine Zeit zu sterben“ wurde wegen der Corona-Krise auf November verschoben). Ein Buch beleuchtet nun die Geschichte der Bond-Fahrzeuge, vom ersten BondFilm „Dr. No“ bis zu „Keine Zeit zu sterben“, bei dem sich Autor Siegfried
Tesche, celluloid-Lesern bestens bekannt, höchstselbst ans Bond-Set ins italienische Matera begeben hat. Allen voran wird Bond mit dem legendären Aston Martin DB5 assoziiert. Erstmals fuhr Bond diesen Klassiker im Film „Goldfinger“ (1964), und er gehört bis heute zu seinem Fuhrpark. Auch in „Keine Zeit zu sterben“ werden Daniel Craig - und seine zahlreichen Stuntmen - diesen Boliden lenken. Kein anderes Bond-Auto hat je einen annähernd so großen Kultstatus erlangt wie der DB5, wiewohl der weiße Lotus Esprit, den Roger Moore
Buchseiten aus MOTORLEGENDEN – James Bond; Bild: picture alliance/ Everett Collection
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as ist das Interessanteste für die Fans von James Bond? Seine Colts? Seine Frauen? Mitnichten! Natürlich sind es die Autos, die 007 fährt, die bei der (männlichen) Zuschauermehrheit das Blut in Wallung versetzen. Mit seinen fast 60 Filmdienstjahren auf dem Buckel kamen Bond schon etliche donnernde Motoren unter seinen Gasfuß. Warum Bond seit jeher schnelle Autos fahren durfte, auch in den 12
Ein Film ohne Kompromisse, Filmszene aus „Der Spion, der mich liebte“ (1977): James Bond (Roger Moore) und Anya Amasova (Barbara Bach) entgehen ihren Verfolgern, indem sie im Lotus Esprit von einem Pier ohne ins Meer fahren. Bei der Aufnahme saßen Dummys in der nicht fahrfähigen Karosse, die mit einer ohne klassische Struktur, Kompressor-Luftrakete abgeschossen wurde. zusätzliche Ausschmückungen. CINEMA FOREVER!
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Der Lotus Esprit für „Der Spion, der mich liebte“ (1977).
Jaguar
G. Wolf
in „Der Spion der mich liebte“ (1977) sogar zu einer Unterwasser-Tauchtour mitnahm, dem schon nahekommt. Kult sind aber auch Bonds gelbe Ente aus „In tödlicher Mission“ (1981) oder der Sunbeam Alpine aus dem allerersten Bond „Dr. No“ (1962). Ab dem Einstieg von Pierce Brosnan in den Bond-Ring mit „GoldenEye“ (1995) wurde die Autoauswahl kommerzieller: BMW kaufte sich ein und stellte Bond seinen damals neuen Z3 zur Seite. Bond-Filme wurden zu den Paradebeispielen für ungeniertes Product Placement. Mit Daniel Craig kehrte der Aston Martin wieder sichtbarer in Bonds Universum zurück, auch und gerade in seiner klassischen Form des DB5. Bond-Schöpfer Fleming hatte den Aston Martin schon in seinen Romanen erwähnt, damals noch den Sportroadster DB III: Der hätte perfekt zu dem „abenteuerlustigen, jungen Mann“ gepasst, als den er Bond skizzierte. Wichtig waren dabei aber die Gimmicks: Fleming beschrieb, wie Bond mit einigen zusätzlichen Schaltern Form und Farbe der Frontscheinwerfer verändern konnte, wie er mit verstärkten Stoßstangen zum Rammen befähigt war oder wie er unter dem Führersitz einen Colt 45 mit langem Lauf eingebaut hatte; diese technischen Spielereien beflügelten die Macher der Der Aston Martin DB 10 liefert sich in "Spectre" eine Verfolgungsjagd mit einem Jaguar. Der Hersteller hatte extra für den Film sieben Fahrzeuge im Design der Konzept-Studie C-X75 geliefert, fünf davon fahrtauglich mit Bond-Filme. Schon bald dem 550-PS-Motor aus dem F-Type SVR. gehörte es zum Usus, dass ein Ingenieur namens Q (meisterlich gespielt von Desmond Llewelyn, nen, Hinter-den-Kulissen-Fotos und Im Toyota 2000 GT war für den 1,88 später von John Cleese und aktuell von Berichte von den Dreharbeiten und Meter großen Sean Connery keinerlei Ben Whishaw) mit Bond am Beginn alte Film-Reklamen, sodass aus dem Kopffreiheit, weshalb man Toyota bat, jeder Mission ein neues Wunderaukurzweilig verfassten Buch ein wahdas schnitte Gefährt eigens für „Man to durchbesprach. „Ich habe in den res Fest für Fans der Filmreihe wird. lebt nur zweimal“ (1967) zum Cabrio Wagen ein paar Extras eingebaut, 007. Dabei legt Tesche aber besonderen umzubauen. Mit dem AMC Hornet Gehen Sie vorsichtig damit um“, sagte Wert darauf, nicht nur einen bunten vollführte Roger Moore in „Der Mann Q. „Und bringen Sie das Auto in einem Bilderreigen zu präsentieren, sondern mit dem Goldenen Colt“ (1974) einen Stück wieder zurück“. „Sie kennen auch ausführlich über alle Aspekte spektakulären Spiral-Sprung, den man doch meine Fahrweise“, konterte Bond. von Bonds fahrenden Untersätzen zu sich beim Stunt-Fahrer Chick Galliano Der Wagen war meist ein paar Szenen berichten. Den Hauptteil des Buches abgeschaut hatte und den das Studio später schon schrottreif. nimmt daher das Kapitel „Die 10 sogar patentieren ließ. Den Stuntmen Mit viel Liebe zum Detail versambesten Bond-Autos“ ein. Dort macht widmet Tesche übrigens ein eigenes melt Buchautor und Bond-Experte man dann auch die Bekanntschaft mit Kapitel im Buch; ohne sie wäre Bond Tesche in seinem reich bebilderten etwas exotischeren Bond-Gefährten, mit seinen Autos nämlich bloß brav in Band „Motorlegenden: James Bond“ etwa mit dem Mondfahrzeug „Moon der Gegend spazieren gefahren. unzählige Anekdoten und FilmszeBuggy“ aus „Diamantenfieber“ (1971). MATTHIAS GREULING 16
CELLULOID FILMMAGAZIN
Siegfried Tesche
Für die Dreharbeiten zu "James Bond – 007 jagt Dr. No" (1962) suchte die Produktion auf Jamaika nach einem einigermaßen schnittigen Cabrio. Ein Sunbeam Alpine Serie 2 in "lake blue" (Seeblau) war das einzige passende Fahrzeug auf der Insel. Seine Besitzerin, Jennifer Jackson, bekam dafür, dass sie ihren Wagen zur Verfügung stellte, 10 Pfund pro Tag.
Aston Martin
Für den Bond-Film „Spectre“ (2015) wurde von Aston Martin der DB10 gebaut, dessen Design Anleihen beim legendären Aston Martin One-77 nimmt.
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GESCHICHTE
Italienisches Plakat zu „Der letzte Akt“
DER BESTE ANTAGONIST WAR
ADOLF HITLER Vor 75 Jahren, am 30. April 1945, starb Adolf Hitler. Sein unbeirrtes Ende war immer wieder Gegenstand filmischer Auseinandersetzungen.
D
a liegt er nun, der „Führer“. Übergossen mit Benzin, lichterloh brennend, im Garten der alten Reichskanzlei, gleich neben dem Eingang zum „Führerbunker“. Ein Gebilde aus Stahlbeton, das Hitler in 18 Metern Tiefe das Überleben sicherte, als Berlin längst im Bombenhagel zerkleinert wurde. Kurz davor, schwer schnapsgetränkt, die Erkenntnis in Hitlers engem Umfeld: „Wir sind durch Blut hinaufgekommen, haben immer nur von Blut gelebt und werden auch in Blut verrecken“. Wilhelm Burgdorf, Chefadjutant des Oberkommandos der Wehrmacht bei Hitler, hat das gesagt. Im Bunker, zumindest in der Phantasie Fritz Habecks, des Drehbuchautors von „Der letzte Akt“. Der österreichische Spielfilm von Georg Wilhelm Pabst aus dem Jahr 1955, der auf dem Roman „In zehn Tagen kommt der Tod“ von Michael A. Musmanno basiert, wurde in Wien und Baden gedreht und war die erste filmische Auseinandersetzung mit Hitlers Tod und seinen letzten Tagen überhaupt. Der Burgschauspieler Albin Skoda ließ sich einen Hitlerbart wachsen und studierte die Bewegungen und Gestiken des „Führers“ haargenau; ihm gegenüber stand Hauptmann Wüst, gespielt von Oskar Werner, der Skoda hier das Wasser reichte - beide Schauspieler sind in diesem Nachkriegs-Kino in Bestform zu erleben. IM BUNKER „Der letzte Akt“ skizziert viele Grausamkeiten des NS-Regimes, und er malt das Bild des „Tausendjährigen Reichs“ von seinem Inneren her aus: Man sitzt mit Hitler in seinen letzten 18
Tagen im Bunker, wenn er das Bildnis Friedrichs des II. beschwört, der einst in misslicher Lage doch noch triumphieren konnte. Hitler sucht den letzten Ausweg, weil die Russen schon zwei Häuserblocks von der Reichskanzlei entfernt stehen. Wird die Wende kommen? Wird Hitler doch noch siegen? Und: Wann werden seine Hoffnungen kollabieren? Welch spannende Fragen für eine Filmdramaturgie. Hitlers Ende ist im Kino häufig thematisiert worden; es ist sozusagen ein kleines Faszinosum der Filmgeschichte, weil man da einem Mann dabei zusehen kann, wie er wie ein Köter in die Enge getrieben wird, wie seine abstruse Vision von einer ewigen Diktatur zerbröselt, weil die Realitäten draußen doch immer andere waren als auf seinen Landkarten. Dort hat er Armeen, die es längst nicht mehr gab, tausende Kilometer weit hinund hergeschoben. Hitler und sein Ende im Film: Ein Jammertal. DAS ENDE Es gibt viele Versionen dieses Endes, und doch beruhen sie alle auf den Aussagen nur weniger Menschen. Die meisten Zeitgenossen, von Goebbels, Göring und Himmler abwärts haben sich umgebracht oder wurden zum Tode verurteilt. Otto Günsche, sein persönlicher Adjutant in den letzten Tagen, hielt sich bis zu seinem Tod 2003 stets bedeckt; Traudl Junge hingegen sprach: Sie war eine der vier Sekretärinnen Hitlers, und sie tippte sein persönliches und politisches Testament im Bunker. Ihr Bericht dieser letzten Tage ist die Grundlage für viele Hitler-Filme, auch für „Der letzte Akt“. Dort wollte sie keinesfalls als Filmfigur aufscheinen, sie CELLULOID FILMMAGAZIN
blieb darob gesichtslos. Junge speiste mit ihren Erzählungen all die Filme, die seither über Hitlers Ende erschienen sind. Das bringt auch eine schale Optik mit: Ein Geschichtsbild, das maßgeblich aus nur einer Quelle stammt, regt auch die Mythenbildung an. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Hitlers Ende im Bunker so oft filmisch aufbereitet wurde, wie etwa in der britisch-italienischen Produktion „Hitler - Die letzten zehn Tage“ von 1973, in der Alec Guinness als Hitler auftrat, oder in „Der Bunker“ (1981), wo Anthony Hopkins den Diktator spielte. 2001 sprach Traudl Junge höchstselbst in „Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin“ von André Heller und Othmar Schmiderer über die letzten Tage im Führerbunker - und starb kurz vor der Premiere des Films bei der Berlinale 2002. 2004 folgte dann die heute hochverehrte Hitler-Interpretation von Bruno Ganz. „Der Untergang“ von Oliver Hirschbiegel (nach einem Drehbuch von Bernd Eichinger) war im Prinzip ein Remake von „Der letzte Akt“: Die letzten Tage des Führers, jedoch ganz anders angelegt als es Albin Skoda in den 50er Jahren tat: Ganz’ Hitler war einen Deut greiser, ruhiger, während Albin Skoda in total energischer Façon einen wortgewaltigen, später irrlichternden Hitler zeigte. Er sagte Sätze wie: „Ich werde Berlin zum Stalingrad der Russen machen“, oder „Diese rassenlosen Untermenschen! Und die Juden, dieses Gewürm, das den Erdball überzieht. Ich habe doch zu viele fliehen lassen. Ich hätte sie ausrotten lassen sollen. Bis zum letzten Säugling“. Und auch, als es um die Sprengung der S-BahnTunnels ging, die Tausende Berliner als Lazarett nutzten: „Deutschlands bestes
Foto: Filmjuwelen (DVD)
Menschenmaterial ist auf den Schlachtfeldern gestorben. Was sich im sechsten Kriegsjahr noch in Berlin herumtreibt, ist Abfall“. Hitler im Film: Eine Figur, der man getrost die Dämonisierung aller menschlichen Absonderlichkeiten und Bosheiten zuschreiben konnte, der perfekte Antagonist sozusagen, den kein Drehbuchautor besser hätte erfinden können. Den Menschen hinter dem Dämon hat man höchstens anklingen lassen, in der Äußerung von Zweifel und Verzweiflung, je näher das Ende kam. Es wäre aber unpassend gewesen, Hitler allzu viele menschliche Züge zu verleihen, auch, wenn es die in Traudl Junges Erzählungen durchaus gegeben hat. CHARISMA Die Filme über Hitlers Ableben beziehen jedenfalls einen Teil ihres Charismas aus dem Umstand, dass hier dramatische Weltgeschichte in kammerspielartiger Umgebung stattgefunden hat: Der Bunker als letzter Zufluchtsort ist so auch Teil der filmischen Dramaturgie. Kein Film hat das in der Visualisierung besser eingefangen als „Der letzte Akt“. Pabst legte den Film als NoirStück unter Tage an, in kontrastreichem Schwarzweiß, mit steil gesetztem Licht, langen Schatten, nuanciert geleuchtetem Stahlbeton. Er imitierte damit auch die Optik der Nazi-Propaganda und der Wochenschauen, und Hitlers Reden sind da wie dort rhetorisch perfekte Durchhalte-Parolen, die sein Umfeld wieder auf Kurs brachten. Die Befehlsgewalt Hitlers reichte sogar über seinen Tod hinaus: Seinen Befehl, ihn und Eva Braun verbrennen zu lassen, hätte schließlich niemand mehr ausführen müssen. Was die Filme über Hitlers Ende aber allesamt zeigen, ist eben diese Unbeirrtheit und Konsequenz, mit der die Nazis sich und Deutschland in den Untergang manövrierten. Hitlers Flucht in den Suizid ist der Höhepunkt dieser Unbeirrtheit: Alles mit sich in den Tod zu reißen und sich jeglicher Verantwortung zu entziehen, auch das ist ein guter Nährboden für Mythenbildung. Hitlers Gefangennahme durch Alliierte hätte die Nachkriegs-Geschichte vermutlich umgeschrieben. Und die Gedenktafel beim ehemaligen Bunker-Eingang an der Gertrud-Kolmar-Straße in Berlin wäre heute wohl keine Pilgerstätte.
Burgschauspieler Albin Skoda spielte 1955 Adolf Hitler in Georg Wilhelm Papsts „Der letzte Akt“. Es ist der beeindruckendste Film über Hitlers Ende, auch wegen Oskar Werner. Der Film ist beim Label „Filmjuwelen“ in einer herausragenden DVD-Edition erschienen.
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HOLLYWOOD
VERFAULT BIS INS MARK
Die Netflix-Miniserie „Hollywood“ blickt hinter die Kulissen der Traumfabrik und erzählt von moralischem Verfall, Sex-Eskapaden und der Lust, ein Star zu sein. Sie spielt in den 1940er Jahren, ist aber erstaunlich aktuell, auch in Bezug auf #MeToo.
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uerst ist da dieses unstillbare Verlangen, berühmt zu werden. Das treibt sie alle an, die Protagonisten aus „Hollywood“. Die siebenteilige Miniserie eroberte während Corona via Netflix die Wohnzimmer, weil sie auf überaus charmante und raffinierte Weise von einem scheinbar längst vergangenen Mythos berichtet. Dem Mythos Hollywood und seiner unglaublichen Anziehungskraft. Im Mittelpunkt der von Ryan Murphy und Ian Brennan entwickelten Serie stehen junge Männer und junge Frauen, die im Los Angeles der späten 1940er Jahre vor allem eines wollen: Groß herauskommen, Stars werden! Das ist hier nach dem Zweiten Weltkrieg und einer großen Desillusionierung der Gesellschaft das Motto der Stunde: Die Unterhaltungsindustrie boomt wie keine andere Branche, hunderte Filme entstehen, denn die Menschen brauchen Ablenkung und Zerstreuung. Bei den fiktiven Ace Studios erhält jeden Morgen eine Handvoll der vor den schmiedeeisernen Toren Wartenden einen Job als „Extra“, als Statist, in einer der großen Produktionen, die 20
drinnen gedreht werden. Manche haben Glück, die meisten jedoch werden wieder weggeschickt. Doch das ist nur die eine Seite der Geschichte, denn mit Glück hat eine Hollywood-Karriere meist rein gar nichts zu tun, im Gegenteil. „Hollywood ist auf Heuchelei aufgebaut“, heißt es da einmal, und schnell wird klar, was gemeint ist. Weil der einstige Navy-Soldat Jack Castello (David Corenswet) als Neuankömmling ohne Job in L.A. mit seiner schwangeren Frau strandet und den erhofften Kredit nicht bekommt, versucht er sich als Statist, aber ohne Erfolg. Da heuert er bei einer Tankstelle als Tankwart an, aber es ist nicht bloß eine Tankstelle, denn: „Wir verkaufen hier eine Illusion, einen Traum, das ist schließlich Hollywood“, krakeelt der Tankstellenbesitzer Jack entgegen. Er hat ein besonderes Service parat: Mit dem Codewort „Dreamland“ beordern die Kunden die feschen, jungen Tankwarte in ihre Autos und entführen sie an ruhige Orte, wo es dann für Geld sexuell ordentlich zur Sache geht. Das Service ist gut bezahlt, die Kunden und Kundinnen sind halt nur leider alle nicht mehr ganz „frisch“. Die CELLULOID FILMMAGAZIN
betagten Ladies von fremdgehenden Studiobossen etwa wollen sich auch mit jüngeren, gut aussehenden Männern schmücken, die Ehefrau daheim muss ja gar nicht wissen, woher ihr Tankwart-Gatte plötzlich die vielen Dollars hat. Und natürlich werden an die Sexdienstleistungen bald auch Rollenangebote geknüpft, es ist die Keimzelle von „#MeToo“, und ganz Hollywood macht begeistert mit. KEIN ZUTRITT Selbstredend, dass man in den 1940er Jahren noch nicht viel über Homosexualität oder Rasse spricht, im Gegenteil: Ersteres existiert gar nicht und Farbige haben zu Hollywoods Traumland ohnehin kaum Zutritt. So geschieht im Heimlichen, was keiner wissen darf: Ein junger, schüchterner Schauspieler namens Roy Fitzgerald (Jake Picking) und der schwarze Drehbuchautor Archie Coleman (Jeremy Pope) lernen einander über das Tankstellenservice kennen und sind schnell ein Herz und eine Seele. Ihre Beziehung erfährt jedoch etliche Dämpfer: Zunächst ist da Roys schleimiger Agent Handy Wilson (Jim Parsons, genial!), ebenfalls homosexuell und an jedem
Foto: Netflix
Wunderbar in der Rolle eines Hollywood-Agenten, der Rock Hudson entdeckt: Jim Parsons
seiner Schützlinge auch sexuell interessiert. Er macht aus dem Langweiler Roy Fitzgerald den Draufgänger Rock Hudson (der Mitte der 80er Jahre als einer der ersten Prominenten an Aids starb). „Ich habe gleich gewusst, dass du ein Star werden kannst“. Die bescheidenen darstellerischen Fähigkeiten von Rock sind da kein Hindernis. Hauptsache, man sieht jung, gesund und schön aus. Das ist eben Hollywood. Und dann gibt es noch ein paar Tipps vom Agenten: „Lass das Nägelkauen. Nimm zu, indem du trainierst. Und bräune dich, so oft es geht.“ Danach folgt für Roy noch das Pflichtprogramm - eine Fellatio bei seinem Agenten, denn: „Das ist mein Ding. Da musst du durch. Oder du kannst gleich wieder gehen. Wenn du aber mitmachst, werde ich dir zeigen, wie keiner merkt, dass du eine Schwuchtel bist.“ An diesem Punkt ist man längst mittendrin im Sumpf Hollywoods. Archie Coleman hat ein tolles Drehbuch geschrieben über Peg Entwistle, eine Schauspielerin, die 1932 mit 24 Jahren vom H des Hollywood-Schriftzuges in den Tod sprang, weil ihre Rolle in ihrem ersten Film fast gänzlich der Sche-
re zum Opfer fiel. Dieses Drama, das Hollywood wie kein zweites auf einen Nenner bringt, dient als Vorlage für eine Produktion, die im Verlauf der Serie entstehen soll. Nur: Nicht mit dem Schwarzen als Drehbuchautor. „Ein farbiger Drehbuchautor? Wo kommen wir denn da hin? Und außerdem wird der Film sonst ein Flop“, ist der Studioboss überzeugt. VERNICHTEND Auch vor der Kamera klappt das nicht so recht mit den „Randgruppen“ (das ist eigentlich bis heute so): Die Rolle einer schwarzen Jungschauspielerin wird hier zur rassistisch motivierten Comedy-Einlage dezimiert, und die erste Asiatin, die in Hollywood je erfolgreich war, Anna May Wong, verfällt nach etlichen Zurückweisungen völlig dem Alkohol. Hollywood kann Menschen vernichten, und auch die Erfolgreichen im Business haben allesamt ihre Schieflagen. Ein Produktionsleiter, dessen unterdrückte Homosexualität ihn erpressbar macht, ein Studioboss mit Herzinfarkt im Bett der Geliebten, oder die ausschweifenden Schwulenpartys im Haus von Regie-Legende George Cukor, bei CINEMA FOREVER!
der jeder Gast eigentlich nur das eine will: Berühmt werden, koste es, was es wolle - wie sagt es der TankstellenHecht anfangs so schön: „Hollywood sells dreams, but its people are rotten to the core“ (Hollywood verkauft Träume, aber seine Menschen sind bis ins Mark verfault). Dass es hier neben etlichen fiktionalen Figuren so viele Querverweise auf reale Personen und Geschichten gibt, macht den Reiz dieser Serie aus, die relativ schonungslos die Geisteshaltung Hollywoods entzaubert, nur, um im Verlauf dann wieder das Glück walten zu lassen: Vieles entwickelt sich trotz der Widerstände zum Positiven, zumindest für die Beteiligten. Bemerkenswert ist zudem die Entschlossenheit eines Streamingdienstes wie Netflix, all den Zynismus, als die moralische Verkommenheit und die sexuellen Eskapaden mutig in eine Serie zu packen, die anhand starker Charaktere den Mythos Hollywood entschlüsselt. Doch sie beschädigt diesen Mythos nicht, dafür glänzt er viel zu glitzernd.
MATTHIAS GREULING
„Hollywood“ läuft auf Netflix. 21
KINOSZENE
FUMMELN IN DER
LOVE LANE
Früher fuhr man ins Autokino zum Knutschen. Die Corona-Krise verhilft dem Kino unter freiem Himmel jetzt zu einem Comeback, auch in Österreich.
W
er derzeit mit seinem Schlitten ins Capitol Drive-In an der Hillcap Avenue in San Jose, Kalifornien, fährt, der bekommt dort wahlweise um halb neun oder um dreiviertel elf die zuckerlbunte Tanzromanze „Valley Girl“ zu sehen. Auf Großbildleinwand, bei der man immer fußfrei und erste Reihe sitzt: In den
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Universal
Österreich hat wieder ein Autokino. Und Marty McFly könnte mit seinem DeLorean vorbeischauen.
USA gibt es, anders als in Europa, noch eine nennenswerte Autokino-Tradition, immerhin haben dort landesweit noch 325 Drive-Ins geöffnet. Aber früher waren es mal 4000. „Valley Girl“ ist ein typischer Film fürs Autokino. Die musicalhafte Liebeskomödie ist ein Remake des gleichnamigen Films mit Nicholas Cage aus einer Zeit, in der Cage noch volles Haupthaar hatte. 1983 war das, und CELLULOID FILMMAGAZIN
auch das Remake ist in den 80ern angesiedelt, zu merken an den grässlichen Dauerwellen, den weiten Pullis und den kitschigen Farbkompositionen. Der Film feiert dieses Jahrzehnt, und das Autokino gleich mit, denn das hatte damals seine vielleicht letzte Blüte - bis heute. „Valley Girl“ ist in den USA nur in Autokinos auf der Leinwand zu sehen, während man den Film zeitgleich auch als Stream veröffentlicht hat.
Die Corona-Krise ist da, und mit ihr und dem Lock-Down für die Kinos auf der halben Welt wächst das Bedürfnis, wieder auszugehen, unter Menschen zu kommen und das Gemeinschaftserlebnis Kino zu genießen. Das Autokino war bis Ende Mai die einzige mögliche Form, Filme gemeinsam mit anderen auf der großen Leinwand zu genießen. Weltweit werden die Kinos jedenfalls nicht vor Ende des Sommers wieder Normabetrieb fahren - und dann auch nur mit sehr eingeschränkter Sitzplatzzahl. Das Autokino offeriert hier die perfekte Übergangslösung: Im eigenen Auto zu sitzen und über die Stereoanlage des Autoradios den Filmton herein zu holen, das bedeutet Kinovergnügen ohne direkten Kontakt zu anderen Personen, außer man muss mal. Das Autokino erlebt ein Revival in der Corona-Zeit, die allerlei ausgestorben geglaubte Begriffe wieder modern gemacht hat. „Hamsterkäufe“ zum Beispiel. Oder auch den Terminus „Ausgangssperre“. Warum also sollte nicht auch das Autokino zu neuem Ruhm gelangen? KUSCHELN Ab den 1930er Jahren öffneten die ersten Autokinos in den USA. Besonders beliebt waren Drive-Ins in den 1950er Jahren, damals waren die Autos jedenfalls geräumiger als heute und eine störende Mittelarmlehne gab es auch nicht, sodass man die Angebetete leichter liebevoll übers Knie legen konnte. Gerade die Hüftschwung-Zeit der Rock’n’Roll-Generation liebte diese Kuschelgelegenheit, die besten Plätze hierfür waren in der hintersten Reihe, die man auch „Love Lane“ nannte. Die Drive-Ins entwickelten sich schnell zu einem Aushängeschild für amerikanische Freizeitkultur, zu einem Markenzeichen des Turbokapitalismus, den die USA ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs propagierten: Das Freiluftkino war eine coole und lässige Art, sich zu unterhalten, zugleich konnte man die Vorfahrt auf dem Parkplatz auch nutzen, um seine prestigeträchtigen Cadillacs, Dodges oder Ford Mustangs zu präsentieren und damit potenzielle neue Partnerinnen zu beeindrucken. Seht her, was ich alles besitzen kann! Ja, die Welt war einmal voller Klischees, aber sind wir ehrlich: Ist sie das nicht auch heute? Gerade der Mythos,
den Hollywood über die Jahrzehnte aufgebaut hat, verhandelt solche Klischees, ja, sie sind sogar sein Motor. Hollywood war immer besonders gut darin, den eigenen Mythos in seine Filme zu integrieren - und hat darin auch unzählige Male das Autokino als Teil seiner DNA verewigt. In „Grease“ (1978) bekommt John Travolta von Olivia Newton-John eine Abfuhr, als er versucht, ihr im Autokino zu nahe zu kommen. Eine Szene mit Kultstatus bei den Fans. In Jan de Bonts „Twister“ (1996) wütet der F3-Tornado über einem Autokino just in dem Moment mit voller Härte, in dem Jack Nicholson auf der Leinwand in „Shining“ mit seiner Axt drauflos hackt. In Francis Ford Coppolas „The Outsiders“ schmuggeln sich die Protagonisten unter einen Zaun aufs Autokinogelände. In „Targets“ (1968), dem Debüt von Peter Bogdanovich, spielt Boris Karloff einen alternden Schauspieler, der Monster-Filme gedreht hat (sic!) und in einem Autokino einen Sniper erledigt, der aufs Publikum schießt. Eine der schönsten Autokino-Momente im Film ist die Szene in „Zurück in die Zukunft III“ (1990), in der Marty McFly (Michael J. Fox) mit dem DeLorean auf dem Gelände eines Autokinos auf die Leinwand zurast, auf der unterhalb ein Gemälde von frontal auf ihn zureitenden Indianern zu sehen ist. Kurz vor der Wand verschwindet der DeLorean in die Vergangenheit - und landet in der selben Szenerie wie jener auf dem Bild - nur reiten diesmal echte Indianer auf ihn zu. Das Autokino ist fixer Bestandteil der Kinokultur, zumindest in den USA. In Europa sieht es ein bisschen anders aus. Zwar gab es auch hier ab den 50er und 60er Jahren Autokinos, jedoch in der Anzahl nie so viele wie in den USA, wo die Distanzen von Natur aus größer sind und Autokinos daher eine logische Folge. Immerhin gab es etwa in WestDeutschland Mitte der 70er Jahre 40 bespielte Freiluft-Leinwände, die mit dem Multiplex-Boom bis auf wenige Ausnahmen verschwanden. Doch seit Ausbruch der Corona-Krise steht das Autokino vor einem unverhofften Comeback. Mehr als 40 Radiofrequenzen für die Tonübertragung wurden in Deutschland seit März beantragt - weil findige Betreiber an neuen PopCINEMA FOREVER!
up-Kinos am Stadtrand oder an der Reaktivierung alter Spielstätten arbeiten. Dort, wo noch gespielt wird, ist der Erfolg groß, wie der „Tagesspiegel“ berichtete: So wurden in Autokinos in Essen und Düsseldorf die Filme „Lindenberg!“ und (passenderweise) „Der Junge muss an die frische Luft“ vor ausverkauftem „Haus“ gezeigt, mit bis zu 1000 Besuchern pro Vorstellung. In Dänemark will man Geisterspiele in Fußballstadien via Leinwand auf die Parkplätze vor den Stadien übertragen, also eine sportliche Version des Autokinos realisieren. Im litauischen Vilnius wurde der stillgelegte Flughafen zum Autokino umfunktioniert - man zeigte den südkoreanischen Oscar-Triumphator „Parasite“. Es existieren längst weitere Ideen für die Autokinos: Beispielsweise werden die Areale bald auch für Konzerte nutzbar sein, das Publikum muss dann halt im Autositz mitschunkeln, denn Aussteigen bleibt verboten. ÖSTERREICH MIT NEUSTART Auch in Österreich steht ein Neubeginn an: Das einzige Autokino des Landes in GroßEnzersdorf bei Wien schloss 2015 endgültig seine Pforten. Inzwischen haben neue Betreiber aber einen Neustart gewagt, der wegen Behördenauflagen jedoch mehrmals verschoben werden musste. Mitte Mai sperrte das Kino wieder auf - passend, mit „Grease“. Und auch in St. Pölten und Linz gibt neue Popup-Autokinos, die auch andere Veranstaltungen beherbergen kann, Konzerte zum Beispiel. Ob das Autokino nun einen neuen Boom erfahren wird? Das Andauern des Hypes auch nach der Coroina-Krise darf getrost bezweifelt werden, denn: Der Drang des Publikums, endlich wieder „raus“ zu kommen und ein gemeinsames kulturelles Leben zu erfahren, äußert sich nun eben in jenen Nischen, die trotz der Krise noch möglich geblieben sind. Für die Zeit danach dürfte der bequeme Kinosessel dann doch die Nase vorn haben. Es sei denn, die jungen Leute gehen zum Knutschen wieder öfter ins Autokino und überlegen sich, wie man die Mittelarmlehne in Papas BMW nivellieren könnte. MATTHIAS GREULING INFOS: WWW.AUTOKINO.AT
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SACHBUCH
OHNE KAMERA IST DIE
MACHT MACHTLOS US-Präsidenten im Film: Ein neues Buch zeigt 164 Schauspieler, die fiktional die Welt regierten.
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iebrige Mediengeilheit und der Wille zur absoluten Selbstdarstellung sind vielleicht die zwei wichtigsten Eigenschaften, die ein amerikanischer Präsident mitbringen muss. Zumindest, seit es das bewegte Bild gibt. Als der Republikaner William McKinley 1897 zum Präsidenten gewählt wurde, nutzte er das gerade einmal zwei Jahre alte Medium Film, um sich seinem Volk zu präsentieren. „President McKinley at Home“ war die erste filmische Polit-Homestory der Geschichte, mit einem Präsidenten am Arbeitstisch. Vielleicht lag die Anwendung der neuen Filmtechnik daran, dass McKinleys Bruder damals Aktionär der Filmgesellschaft war, aber diese paar Meter Film zeigen, wie schnell diese mediale Selbstdarstellung amtsimmanent wurde. Zeitsprung in den April 2020: Wer mit angesehen hat, wie Donald Trump bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus anlässlich der Corona-Krise nicht nur reihenweise anwesende Journalisten diskreditierte, sondern sich selbst auch zum Machthaber mit „totaler Au24
torität“ stilisierte, begreift, wie „kriegsentscheidend“ die Beherrschung des Bewegtbildes gerade für das US-Präsidentenamt ist; später hat sich das mit den Rassenunruhen noch verdeutlicht. Ein Amt, das sich selbst als das wichtigste der Welt begreift, und das mitten in der Corona-Krise eklatante Schwächen zeigt, auch, oder gerade weil da jemand im Sattel sitzt, der ganz offenkundig wenig weiß über das Regieren. Umso wichtiger ist das starke Bild, das Trump von sich zeichnet. Es soll all jene überzeugen, die inhaltlich nicht hinhören (wollen). Das ist die Mehrheit der Bürger.
„Air Force One“ über „Independence Day“ bis hin zur Netflix-Serie „House of Cards“. Eingeteilt ist der Bilderreigen in 240 Kategorien; Situationen, in denen man die jeweiligen SchauspielerPräsidenten studieren kann. Beim Essen etwa, beim angestrengt Schauen, beim Telefonieren, beim Pool-Billard, beim Überlegen, ob man den roten Nuklearknopf betätigen soll, beim Arbeiten im Bett oder beim berühmten Pressebriefing im White House. Ein 460 Seiten starker Bildband, der wenig Text braucht, um seine Message zu transportieren: Die Wichtigkeit bildgewordener Rituale zu bePRESIDENTS ON SCREEN Das Bild Lea N. Michel: The Presi- tonen, egal, ob es sich dabei des Präsidenten, wie es das dent of the United States um die verschiedenen Arten Screen, Scheidegger & amerikanische Kino in allen On handelt, Hände zu schütteln Spiess, 464 Seiten, 38 Euro möglichen Facetten abgebildet oder geschäftig im Oval Ofhat, ist Thema eines neuen Buches. In fice am Schreibtisch zu sitzen. Der Prä„The President of the United States on sident in seiner Rolle als Kinoheld wird Screen“ stellt Autorin Lea N. Michel 164 von der Autorin anhand verschiedener Film-Präsidenten in 1877 Bildern dar. Typologien durchdekliniert: Als Vater Zumeist sind es Screenshots aus den und Ehemann, als Bösewicht, Alien, unterschiedlichsten Produktionen, von Clown, Held und Liebhaber - für all dieCELLULOID FILMMAGAZIN
Foto: Katharina Sartena; Verlag
Trump provoziert gerne die Medien und lehnt sich weit aus dem Fenster.
se Rollen finden sich im Kino Dutzende Beispiele, und viele reale Präsidenten pass(t)en ebenso in die eine oder andere Kategorie. Der Band macht bewusst, welche ungeheure Dimension eine Präsidentschaft hat. Ohne Kamera ist die Macht machtlos, das wusste schon John F. Kennedy, der als erster Präsident auf einen persönlichen und offiziellen Präsidenten-Fotografen setzte. Und natürlich auf die entsprechende Lenkung der Bilder, die daraus entstanden. Kein Wunder, dass es von Kennedy und seiner angeblichen Affäre Marilyn Monroe gerade einmal ein gemeinsames Foto gibt. VON PULLMAN BIS NICHOLSON Was die Präsidenten im Film angeht, so gehen diese durchaus salopper um mit dem Amt, das die Welt regiert: In „Independence Day“ (1996) zog der heldenhafte Präsident, gespielt von Bill Pullman, an der Spitze seiner Soldaten in den Kampf gegen die Aliens, dazu Fanfaren. Pull-
man hat so ein typisches Präsidentengesicht, dass er schon mehrmals solche Rollen gespielt hat. Dagegen stinkt Jack Nicholson in „Mars Attacks!“ (1996) ziemlich ab, sieht ohnmächtig und bald auch mausetot aus im Kampf gegen die Aliens. In „In the Line of Fire“ ist der Präsident gesichtslos, weil sich Clint Eastwood immer vor ihn wirft, sobald eine Bedrohung auftaucht. In „Vantage Point“ (2008) versucht Dennis Quaid den Mordanschlag auf den Präsidenten (William Hurt) zu vereiteln, was misslingt und aus acht verschiedenen Blickwinkeln. Quaid selbst war auch schon Präsident („American Dreamz“, 2006) und soll demnächst Ronald Reagan in einem Bio-Pic spielen. Reagan, der Ex-Schauspieler, der Präsident wurde: Das US-Kino hat viele MännlichkeitsPhantasien befeuert, aber diese Hybris ist manchmal eben auch Realität geworden. Als Schauspieler war Reagan jedenfalls weniger glaubhaft als im Amt, wo er „Mr. Gorbachev, tear down this wall“ CINEMA FOREVER!
sagte. Medienwirksam und auf Film. Das Kino war immer phantasievoll im Umgang mit dem Präsidenten: Famos, wie Kevin Kline 1993 in „Dave“ als Doppelgänger eines UnsympathlerPräsidenten nach dessen Schlaganfall (in den Armen seiner Geliebten) in die Rolle des Präsidenten schlüpft und dann plötzlich soziale Reformen anstößt, die man dem „Echten“ nie zugetraut hätte. Das bewegte Bild hat aber auch schon prophetisch agiert: Etliche Filme haben den ersten farbigen Präsidenten vorweggenommen, lange bevor Obama im Oval Office saß: Sammy Davis Jr. in „Rufus Jones for President“ (1933) oder etwa James Earl Jones in „The Man“ (1972). Und man sah auch Aktuelles vorher: Eine „Simpsons“-Folge aus dem Jahr 2000 prophezeite Donald Trump im Oval Office, allerdings erst im Jahr 2030. Bis dahin sollte diese wahr gewordene Dystopie allerdings vorbei sein. MATTHIAS GREULING 25
ESSAY
DER REAL EXISTIERENDE
KINO-ESKAPISMUS Das Kino als Ort für Eskapismus hat uns das Virus monatelang genommen. Ein Anlass, über das Ausbrechen aus dem Welten-Dilemma nachzudenken.
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ugegeben, die Perspektive war erdrückend: Erst mit Juni haben in Österreich die Kinos wieder zaghaft ihre Pforten geöffnet, dabei war es gerade dieses Medium, das uns in überlebensgroßer Form vorgeführt hat, was es heißt, den kompletten Eskapismus zu leben: Auszubrechen aus der Hektomatikwelt, hinein ins Superheldenkostüm, oder: es zumindest andere für einen machen zu lassen. Sich wegzudenken aus der eigenen Misere, Trauer, Mittellosigkeit, in die Welt von fantastischen Geschichten oder auch realen Erzählungen, nur eben nicht: Geschichten über einen selbst. Das Kino hat seine Funktion als Ort des Ausbruchs immer wieder mit Wonne thematisiert. Manche Filmwissenschaftler sind überzeugt, dass das Kino seiner ursprünglichen Bedeutung als Jahrmarktattraktion schnell verlustig ging, sobald es von Regimen wegen seiner Propagandatauglichkeit ausgebeutet wurde. Ein Blick aufs hiesige Filmschaffen genügt: Vorm Krieg Lustspiele und Deutschtümelei sowie Patriotismus auf der Leinwand. Im Krieg noch mehr Patriotismus und bald auch Durchhalteparolen. Und nach dem Krieg: Lustspiel und Romanzen, ja, die gute Sissi als Paradebeispiel für real existierenden Kinoeskapismus! Im Kino gab es als Entlohnung eine schier unbezahlbare, fröhliche Lebenseinstellung. Etwas, was wir auch in Corona-Zeiten gut gebrauchen könnten. Was liegt da näher, als ein paar wirklich lohnende Film über wörtlich und metaphorisch gemeinte Ausbrüche vorzustellen, die ohne die 08/15-Dramaturigen aus dem Netflix-Universum auskommen? Da gibt es zum Beispiel die Filme, die das eigene Ausbrechen aus dem Trott ermöglichen. Die „Sissi“-Trilogie gehört dazu, und zwar so sehr, dass man sie im ORF allweihnachtlich zur Sedierung entnervter Großeltern-Eltern-Kind-Konstellationen ins Nachmittagsprogramm einstreut. Der Kaiser lässt sich von einem 16-jährigen Backfisch namens Sissi auf seinem Weg nach Ischl (nicht: Ischgl!) mit einer Angelrute 26
angeln - um gleich ein Leben lang bei ihr zu bleiben. Ernst Marischka als Regisseur ist da ein oscarreifer, dramaturgisch mustergültiger Rattenfänger gelungen, der memorable Charaktere zeichnete: Ganz abgesehen vom Kaiser und seiner Sissi wurden die böse Schwiegermutter und deren schwerhöriger Gatte ebenso berühmt wie der schusselige Obert Böckl oder die bitter enttäuschte Nene, mit der Franz Joseph eben nicht den Cotillion tanzte. Aber eigentlich deprimiert uns „Sissi“ in diesen Tagen: Bei all den rauschenden Festen im Film wird man unweigerlich an die Abstandsregelungen erinnert. Wobei: Die Reifröcke der Damen machten ein Zunahekommen damals ohnehin schwer. ZEIT ZUM VERGESSEN Wer vergessen möchte, dem empfehlen sich natürlich auch die Technicolor-Streifen, in denen gesungen und getanzt wird - Musicals waren Hollywoods verlässlichste Garanten für etwas Zerstreuung; manche behaupten sogar, die „Great Depression“ der 30er Jahre hätte man nur dank dieses Genres überleben können. Unvergessen sind Gene Kelly und Debbie Reynolds in „Singin’ in the Rain“ (1952), aber auch kultige andere Vertreter wie „The Band Wagon“ (1953), „The Blues Brothers“ (1980, oh yeah!) oder „Little Shop of Horrors“ (1986). Aber auch die großen Liebesfilme eigenen sich doch für einen Moment Eskapismus: „Vom Winde verweht“ (1939), wenn man ihn denn als Liebesfilm bezeichnen mag, wartet mit dieser wunderbaren Romanze zwischen Rhett Butler (Clark Gable) und Scarlet O’Hara (Vivien Leigh) auf, bei der die eingeschworenen Fans des Films eigentlich nur deshalb zuschauen, weil sie Leigh maßlos bewundern, wie sie die Dauer-Alk-Fahne ihres Gegenübers so wunderbar hat wegspielen können. Ziemlich nahe kamen sich auch Doris Day und Rock Hudson in „Bettgeflüster“ (1959) in dem beide aus ihren Alltagen ausbrachen, um zueinander zu finden.
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Foto: zvg
Im Prinzip erzählt jede Filmgeschichte die Geschichte eines Ausbruchs - damals wie heute. In „Der Pate“ sucht Don Vito Corleone nach einem Ausweg aus dem Dilemma mit den anderen Clans. In „Die 12 Geschworenen“ (1957) wollen 11 Geschworene eigentlich aus ihrem Beratungszimmer ausbrechen, weil sie den jungen Angeklagten in ihrem Fall für schuldig halten, doch Henry Fonda stimmt sie alle um. In „Schindlers Liste“ (1993) ist der sprichwörtliche Ausbruch aus dem Lager für all die Schindler-Juden ohnehin unmöglich, auch, wenn er ständig in der Luft liegt. Das Wort Lagerkoller bekommt hier ungeahnt beängstigende Dimensionen. In „Taxi Driver“ (1976) bricht er aus Robert De Niro heraus, der Hass auf sich und die Gesellschaft. In Hitchcocks „Psycho“ durchdringt den „Helden“ die Unmöglichkeit vom Ausbruch aus den Fängen der eigenen Mutter. In „Star
te Gegenprogramm dazu, schon allein wegen Ralph Stanley Bluegrass-Sound. Geht es um Vulkanausbrüche, die ja ähnliches Unheil über Menschen bringen können wie Seuchen oder Erdbeben, so matchte man sich in Hollywood gerne darum, wer den besseren Feuerspucker hatte: 1997 kamen mit „Dante’s Peak“ und „Volcano“ gleich zwei Vulkanausbrüche in die Kinos, im ersten rette Pierce Brosnan (selbst in einer BondDrehpause!) die Welt, im zweiten schickte man Tommy Lee Jones und Anne Heche in die Schlacht um einen Vulkan, der sich über Los Angeles entleerte. Aber es geht, bitte schön, auch mit Niveau: 1949 nämlich verfilmte Roberto Rossellini mit „Stromboli“ eine Lovestory zwischen Ingrid Bergman und Mario Vitale im Schatten des Vulkans. Den Virenausbruch streifen wir nur, denn davon haben wir selbst gerade ausreichend: Aber es ist schon beängstigend, wie akkurat Hollywood im Fall von „Outbreak“ (1995) mit Dustin Hoffman als Virologen und mit „Contagion“ (2011) von Steven Soderbergh jenes Szenario vorhergesagt hatte, das wir gerade durchleben. Freilich, hier und dort spitzen diese Filme alles kräftig zu - aber wer weiß schon, was in einer späteren Phase der Corona-Pandemie noch alles auf uns zukommt? Im Kino muss halt auf zwei Stunden verdichtet werden, was bei uns - wie Wissenschaftler errechnet haben - vier bis sechs Jahre dauern könnte. Verdrängen wir diesen Gedanken und widmen uns der Königsklasse menschlicher Gefühlsentladung: Dem Wutausbruch. Es gibt unzählige erstklassige Kirstie Alleys emotionale Eruption in „Deconstructing Harry“ (1997) von und mit Woody Allen Wutausbrüche in der Filmgeschichte. Jack gehört eindeutig in die Kategorie „Wutausbrüche“. Nicholson macht es mit dem Satz „You’re Wars“ bricht dauernd irgendwer aus, um der dunklen Seite goddam right, I did“ gar nicht schlecht, wenn er in „Eine Frage zu entkommen. der Ehre“ (1992) von Tom Cruise herausgefordert wird. Bei den Nehmen wir den Begriff Ausbruch einmal wörtlich: Da hat gut dokumentierten Dreharbeiten zu „Fitzcarraldo“ (1982) von das Kino allerlei Spielformen zu bieten. Man kann etwa aus Werner Herzog wechselt Klaus Kinski dermaßen in Fäkalspradem Gefängnis ausbrechen, es kann aber auch ein Vulkan che, dass einem Angst und Bange wird. Dabei hätte er damals ausbrechen, dann kommt Lava raus. Es bricht ein Virus aus, vermutlich einfach nur ein Snickers gebraucht. auch darin ist Hollywood seiner Zeit voraus gewesen, oder es Die schönste Wutausbruchsszene der Filmgeschichte ist bricht man selbst aus, dann nennt man das Wutausbruch. aber jene aus „Harry außer sich“ (1998), einem vergessenen Edelstein von Woody Allen, in dem der Regisseur einen VON HARRISON FORD BIS ZU DEN COENS Ein Gefängnisfilm ganz Schriftsteller mit Schreibblockade spielt, den seine Romanfijenseits von neumodischem „Prison Break“-Flair ist zum guren heimsuchen. Die Wut passiert hier aber in einem sehr Beispiel der atemlose „Auf der Flucht“, wo Harrison Ford realen Zusammenhang: Seine Frau, eine Psychologin, findet vor Tommy Lee Jones sogar aus dem Kanalrohr in die Tiefe heraus, dass er eine Affäre mit einer ihrer Patientinnen hat hupft. Schon 1993 ein Remake der TV-Serie aus den 60ern, ihre Wut ist nicht zu (s)toppen: Kirstie Alley in einer Oscarhatte diese Verfilmung vor allem eines: Fords starr vor Angst Performance, die nie belohnt wurde, die wir nicht vorenthalaufgerissene Augen. „O Brother, Where Art Thou“ (2000) ten wollen und die im Original bis zum Schluss angesehen von den Coen-Brüdern mit John Turturro und George werden sollte, und zwar hier: https://tinyurl.com/woodyaffair Clooney in comichaft gestreifter Häftlingskleidung auf dem Tun Sie es für den armen Mister Farber, der das alles mit Weg in die „Freiheit“ der Depressions-Ära ist da das absolu- anhören muss. MATTHIAS GREULING CINEMA FOREVER!
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AUTOBIOGRAFIE
AM ENDE EINES
LÜGENMÄRCHENS Zwischen sexuellen Missbrauch und unendlicher Lust: Woody Allens Autobiografie dreht sich leider nicht nur um seine Filme.
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igentlich war gerade nicht der Zeitpunkt für das Ausbreiten geschundener Künstlerseelen. Aber die neue Autobiografie von Woody Allen, „Ganz nebenbei“ (Rowohlt), die mitten in der Corona-Krise erschien, lieferte den Stoff, sich auch einmal abseits der Krise zu enervieren, denn was Allen darin schreibt, ist weniger Biografie als mehr eine permanente Deskription seines Gefühlshaushalts. Das war immer so, auch seine Filme sind getränkt von dieser melancholischen Grundstimmung in Hinblick auf das Leben und die Liebe. Aber die Filme sind deutlich lustiger als Allens Leben.
VORWÜRFE Man kann „Ganz nebenbei“ unter gar keinem anderen Licht lesen als unter jenem der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, die gegen Allen immer noch im Raum stehen. Obwohl vom Gericht mehrfach freigesprochen, halten sich die Anschuldigungen seiner Adoptivtochter Dylan Farrow, sie 1992 sexuell missbraucht zu haben, hartnäckig. Dies wohl auch deshalb, weil Farrow diese Vorwürfe im Zuge der MeToo-Debatte erneuert hatte; und auch nach der Lektüre des Buches, das nun entgegen ursprünglicher Ankündigungen auch in den USA erschienen ist, ändert sich nichts: Die Familie Farrow ließ nur wissen, dass sie 28
Allens Memoiren umkommentiert lassen will, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Vorwürfe. Woody Allens Buch ist natürlich seinen Filmen gewidmet, und dabei tischt der brillante und pointierte Schreiber, der Allen nun einmal ist, unzählige Anekdoten auf, die allesamt zwar wenig Substanz haben, aber in ihrer Gesamtheit dann doch gut abbilden, wie dieser Mann gestrickt ist und worüber er lachen kann. Hinter die Kulissen des Filmemachers Allen lässt er dabei nur wenig blicken, das Anekdotische steht dabei im Vordergrund. Allen, der niemals müde wird, sich und seine Kunst öffentlich kleinzureden, empfindet sein Talent als gewöhnlich, kanzelt sich selbst ein paar Stufen herunter, wenn er sagt, so mancher Filme sei ihm gründlich misslungen, dass er ihn am liebsten verstecken würde. Zugleich ist er aber auch stolz auf sein Werk, das ihm geglückt ist, darunter Filme wie „Manhattan“ oder „Match Point“. Allens Befindlichkeit steht und fällt mit den Erfolgen seiner Filme; auch, wenn Allen das in diesem Buch nicht zugibt, so liest man das doch deutlich heraus. Leider ist „Ganz nebenbei“ aber trotzdem zu einem Gutteil ein Selbsterklärungsversuch für die im Raum stehenden Verfehlungen des inzwischen 84-jährigen Regisseurs. So ist LangzeitpartCELLULOID FILMMAGAZIN
nerin Diane Keaton nur auf elf Seiten der 500-Seiten-Autobiografie erwähnt, Adoptivtochter Dylan immerhin auf 46 Seiten, hingegen Mia Farrow auf 105 Seiten. Selbst Allens Ehefrau, seine frühere Adoptivtochter Soon-Yi kommt nur auf 71 Seiten vor. Das Buch ist gespickt mit Seitenhieben auf Mia Farrow, mit der Allen den gemeinsamen Adoptivsohn Satchel hatte und eben auch mit Farrows anderen Adoptivkindern Dylan, Moses und Soon-Yi zusammenlebte. Allen wirft Farrow Rachsucht vor, sie sei eine Getriebene und wolle Allen ruinieren, weil sie die Trennung von ihm nicht verwinden hätte können, zumal diese Trennung in die neue Beziehung mit Soon-Yi mündete. Eine enttäuschte Ehefrau überzieht die Szenerie mit bösem Blut und eiskalter Rache, so stellt Allen in seiner Version die Dinge dar. Gewidmet ist das Buch SoonYi: „Sie fraß mir aus der Hand, und plötzlich fehlte mir der Arm“, so Allen. ENGEL Überhaupt ist diese Soon-Yi im Buch einem Engel gleichgestellt, jemand, der Allen aus seiner Sicht durch dunkle Zeiten geholfen hat und zugleich auch jemand, der für ihn die absolute Verkörperung der leiblichen Lust dargestellt hat. Allen beschreibt sehr detailreich, wie Mia Farrow von den Nacktfotos von Soony-Yi erfuhr, die bei Allen am Kaminsims lagen.
Woody Allen 2016 in Cannes: Den Künstler von seiner Kunst zu trennen, das ist auch bei Allen nicht restlos möglich.
Damals war Soon-Yi 21, und die Liebe zwischen den beiden war voll entbrannt. „In den Anfängen, als die Lust alles regierte, konnten wir die Hände nicht voneinander lassen“, schreibt Allen über die 35 Jahre jüngere Frau, mit der die sexuelle Beziehung schon damals mehrere Jahre angedauert haben soll. Farrows Reaktion der Wut war Allen bewusst: „Natürlich verstehe ich ihren Schock, ihre Bestürzung, ihre Wut, alles. Sie hat korrekt reagiert“. Aber seine Liebe sei stärker gewesen: „Manchmal, wenn es hart kam und ich überall als Bösewicht hingestellt wurde, fragte man mich, ob ich was mit Soon-Yi angefangen hätte, wenn ich über die Folgen Bescheid gewusst hätte. Ich antwortete jedesmal: Ich würde keine Sekunde zögern“.
Foto: Katharina Sartena
RACHEAKT Geht es nach Allen, war alles, was danach kam, ein einziger Racheakt, vor allem jener Nachmittag im Jahr 1992, an dem Allen zu Gast in Farrows Haus war und dort der sexuelle Missbrauch passiert sein soll. Er habe jedoch nur seinen Kopf auf den Schoß der siebenjährigen Dylan gelegt, und zwar „in einem Raum voller Leute und wir haben im Fernsehen das Nachmittagsprogramm geschaut“. Allen ist überzeugt: „Ich habe nie Hand an Dylan gelegt, habe nie etwas mit ihr gemacht, das als Missbrauch gedeutet werden könnte. Es war von Anfang an ein totales Lügenmärchen.“ Man kann diese Biografie auch unter dem Aspekt des Filmemachers Allen lesen, dann kann man sich getrost in die ersten 260 Seiten fallen lassen, die von „Manhattan“ handeln, von „Der Stadtneurotiker“, von „Ehemänner und Ehefrauen“. Aber auch diese Filme, das wird bald klar, sind wie eine Sammlung vieler privater Neurosen, auch, wenn Allen das stets verneint. Den Künstler von seiner Kunst zu trennen, das ist auch bei Allen nicht restlos möglich. Schade ist, dass man dieses Buch am Ende doch nur des einen Themas wegen in Erinnerung behalten wird. So ist nun einmal die Welt: Zwischen Gerichtssälen, Richtern, Prozessen, der Öffentlichkeit und den Medien - Allen wirkt nicht federleicht, sondern zermürbt, am Ende dieses Lebens. Die Opferrolle, in die er sich schreibt, will man ihm trotzdem nicht so ganz abnehmen. MATTHIAS GREULING
Woody Allen: „Ganz nebenbei“, Rowohlt, 442 Seiten,. EUR 25,00 CINEMA FOREVER!
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afp
NACHRUF
DER DURCH DIE SEELEN REISTE Der französische Weltstar Michel Piccoli ist 94-jährig gestorben.
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er Michel Piccoli einmal gegenüber gesessen ist, der weiß, was Aura bedeutet. Der Mann strahlte eine Ruhe aus, die sich am besten mit gelassener Weisheit umschreiben lässt; und das, obwohl Michel 30
Piccoli in seinen Rollen auch aufbrausend sein konnte, vor allem, wenn jemand sein Geheimnis gelüftet hatte. Michel Piccoli war über Jahrzehnte das Gesicht des französischen Kinos, er spielte aber kaum ikonenhafte Figuren, das machte ihn zu einem Weltstar, dessen Ruhm sich mit „Understatement“ CELLULOID FILMMAGAZIN
gut beschreiben lässt. Piccoli war kein Belmondo, der zu wirklichem Weltruhm gelangte, er war kein Schönling wie Delon, kein Grobschlächtiger wie Jean Gabin und kein Spaßvogel wie Yves Montand. Piccoli hatte seinen eigenen Stil, eine beeindruckende Eleganz, mit der er sich die Rollen aneignete, eine
Michel Piccoli verlässt mit Romy Schneider die Premiere von Claude Sautets „Max et les ferrailleurs“ („Das Mädchen und der Kommissar“) am 17. Februar 1971 in Paris.
Foto: Archiv
Klasse, mit der er dem französischen Kunstfilm seinen Stempel aufdrückte. „Ich will keinen Applaus für die Vergangenheit, ich bin nur an der Zukunft interessiert“, sagte Piccoli bei einem Interview mit der „Wiener Zeitung“. „Ich erfinde meine Profession bei jedem Film neu. Ich will wachsen bei jeder Rolle, als Schauspieler wie als Mensch. Es ist ein wahnsinnig intimer Beruf, intim mit dem Publikum, mit dem Regisseur und dem Autor. Mein Beruf ist es, durch die Seelen der Figuren zu reisen, die ich spiele. DURCHBRUCH MIT GODARD 176 Filme hat er in seinen 94 Lebensjahren gedreht, stand in 50 Theaterstücken auf der Bühne. Bereits am 12. Mai ist er verstorben, an den Folgen eines Schlaganfalls, wie seine Familie am Montag mitteilte. Piccoli gelang eine der eindrucksvollsten Filmkarrieren im französischen Kino, sein Durchbruch in Jean-Luc Godards Meisterwerk „Die Verachtung“ (1963) zeigte ihn in seiner ersten Hauptrolle als Drehbuchautor, dessen Ehe (mit Brigitte Bardot) während der Dreharbeiten zu einem Film über die Irrfahrten des Odysseus zerbricht. Schnell wurden die großen Regisseure auf den schmalen Mann mit der hohen Stirn aufmerksam, der eine eindringliche Stimme besaß, mit der er betören, aber auch verstören konnte. Piccoli drehte mit Raoul Ruiz, Jean-Pierre Melville, Alain Resnais, Jean Renoir, Luis Buñuel, Jacques Demy, Nanni Moretti, Leos Carax und sogar Alfred Hitchcock, für dessen „Topas“ er 1969 vor der Kamera stand. Oft changierten seine eleganten Figuren zwischen Feinsinnigkeit und Ironie, wirkten nur vorderhand wie Normalos, hatten aber ein reiches, vielschichtiges und nicht immer astreines Innenleben. Manchmal waren sie gar von einer Göttlichkeit gestreift, und das, obwohl Piccoli bekennender Atheist war: In Nanni Morettis „Habemus papam“ (2011) machte er der Welt sein letztes Abschiedsgeschenk, als frisch gewählter Papst, der sich seinen geheimen Ängsten stellen musste. Es war seine letzte große Rolle. Und es hatte ihm Freude gemacht, vor allem das Papst-Gewand. „Ich bin wie ein Kind, und alle Kinder verkleiden sich gern“, sagte er damals. Piccoli drehte bis zu sechs Filme pro Jahr, und verzichtete immer auf die Hilfe eines Agenten, sondern ließ sich stets davon leiten, wie lustvoll er die DarstelCINEMA FOREVER!
lung einer Figur empfand. Eine ganz besondere Ära im französischen Kino hat Piccoli nachhaltig geprägt, nämlich, als er immer wieder zusammen mit Romy Schneider vor der Kamera stand, die ihn (nach einer gemeinsamen Affäre) etliche Jahre auch ihren besten Freund nannte. Begonnen hatte alles mit „Die Dinge des Lebens“ (1969), in der Schneider Piccolis Geliebte spielt, die er verlassen möchte. Inszeniert hat Claude Sautet, ein Regisseur, dem man zuschreibt, der vielleicht französischste aller Filmemacher zu sein; während Godard, Resnais und Co. die große Kunst zelebrierten, ruhten Sautets Filme auf dem Sockel der sozialen Wirklichkeit Frankreichs, ohne Sozialtristesse zu verbreiten oder gar politische Anliegen zu vertreten. Piccoli drehte mit Sautet und Schneider noch den legendär gut aussehenden Kriminalfilm „Das Mädchen und der Kommissar“ (1972), und stand als nobler Versicherungsbetrüger mit Schneiders Hilfe in „Trio Infernal“ (1974) vor einer Badewanne voll Salzsäure, in denen man die Leichen der zuvor Betrogenen auflöste. Ein anderer skurriler Film seiner Karriere war „Das große Fressen“ (1973), bei der sich die vier Herren Piccoli, Mastroianni, Ugo Tognazzi und Philippe Noiret einschließen, um der zügellosen Völlerei zu frönen, mit allen schrecklichen Konsequenzen. Mit Schneider drehte er schließlich noch deren letzten Film „Die Spaziergängerin von Sans Souci“ (1982), wo er als ihr Ehemann auftrat. Gerade im deutschen Sprachraum machten ihn die Filme mit Schneider bekannt. Aber das Understatement blieb, denn seine Kunst bestand eher darin, „sie zu verbergen, weil er die Gabe hat, sie sparsam einzusetzen“, sagte die im Vorjahr verstorbene Agnes Varda einmal über ihn. Sein Oeuvre umfasst 70 Jahre europäische Filmgeschichte, mit vielen Regisseuren unterhielt er große Freundschaften und drehte mehrere Filme, etwa mit Luis Buñuel (sieben Filme), Marco Ferreri (sieben), Sautet (fünf) oder Chabrol (drei). Sie alle waren fasziniert von dieser Aura: Eine Gelassenheit, hinter der sich manchmal Abgründe auftun konnten. Das war Michel Piccolis Credo: „Ich mag das Geheimnis der Figuren, den Zweifel, der sie umgibt“, sagte er. „Ich suche gerne andere. Ich möchte nicht ganz sagen, was ich denke“.
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JUBILAR
EASTWOOD: ALT, ABER ROSTFREI 90 Jahre und kein bisschen leise: Clint Eastwood arbeitet immer noch an seinem Oeuvre.
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lint Eastwood hasst Geburtstage. Und die dazu gehörigen Feiern ebenso. Deshalb, sagte sein Sohn Scott, hatten sich die Feierlichkeiten zu Clints 90. Geburtstag am 31. Mai nur auf „ein schönes Mittagessen“ beschränkt. „Sehr, sehr ruhig, sehr locker“. Eastwood will lieber nach vorn schauen und an die Arbeit denken. Denn dieser Gigant des amerikanischen Kinos und des Amerikanischen an sich, ist von seinem künstlerischen und schöpferischen Anspruch noch weit entfernt von einem Nachruf, so aktiv ist Eastwood bis heute geblieben. Erst im Vorjahr legte er seine jüngste Regiearbeit „Der Fall Richard Jewell“ vor, sie ist bereits seine 41. Es geht darin um einen Security-Mann, der fälschlicherweise für einen Terroristen gehalten wird. Eastwoods Themenwahl war immer sehr heutig, wenn er Regie geführt hat. DURCH DIE PRÄRIE Das trifft auf seine Schauspieler-Karriere nicht immer zu. Immerhin ist er in diesem Metier seit sechseinhalb Jahrzehnten tätig, und da waren seine Figuren oftmals aus der Zeit gefallen, sei es nun, weil sie auf einem Pferd durch die Prärie ritten oder mit knallharter Faust auf den Straßen von San Francisco ermittelten. Sie entführten das Publikum in andere Welten, anstatt es zu erden, wie in seinem Regie-Oeuvre. Eastwood hat zwei Karrieren beim Film gemacht, die erste in 71 Spielfilmen, mit dem Auftritt in der Western-Serie „Rawhide“ ganz zu Beginn 32
seiner Karriere: 217 Episoden lang trug er den Cowboyhut seiner Figur Rowdy Yates, sogar dann noch, als er 1964 Sergio Leones Italo-Westernklassiker „Für eine Handvoll Dollar“ drehte. Anfangs glaubte niemand an den Erfolg von Leone, aber die Kritiker wurden schnell eines Besseren belehrt. Eastwoods zweite Karriere begründete seinen Ruhm als Künstler, denn viele seiner Regiearbeiten, die er ab 1971 drehte, erreichten auch den Beifall der Kritiker. Eastwood hat aber auch noch eine dritte Karriere gemacht, als Politiker. Diese führte ihn zwar nur für zwei Jahre ins Bürgermeisteramt der kalifornischen Kleinstadt Carmel (1986-88), jedoch nutzte Eastwood seine Prominenz oftmals dafür, für die republikanische Partei und ihre Präsidentschaftskandidaten Reklame zu machen. Nixon, McCain und Romney, sie alle hat Eastwood unterstützt, und 2016 machte er sich auch für die Wahl von Donald Trump stark, von dem er sich aber inzwischen öffentlich abgewandt und seine Politik als widerwärtig und zankhaft bezeichnet hat. Gerade für diese, seine dritte Karriere stand Eastwood auch in der Kritik: 2012 sprach er beim republikanischen Parteitag zum imaginären, auf einem leeren Stuhl sitzenden Barack Obama und warf ihm vor, versagt zu haben - viele Medien fanden den Auftritt bizarr. Aber Eastwood hat sich nie den Mund verbieten lassen und findet sich selbst gar nicht so konservativ: „Ich glaube, ich war schon gesellschaftspolitisch links und wirtschaftspolitisch rechts, bevor das in Mode kam“, sagt er. Es ist ein Hybrid aus Ansichten, die sich CELLULOID FILMMAGAZIN
in Eastwood mischen: Er wählt stets republikanisch, ist aber auch für das Recht auf Abtreibung und für die Homo-Ehe. Eastwood mag kommunizieren, was er gut findet und was nicht: „Schon als Kind habe ich mich über Leute geärgert, die allen vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten“, sagt er. GRAN TORINO Es gibt einen Film, in dem lebt Eastwood seine Abneigung gegen Bevormundung besonders aus, zugleich kann man darin wohl auch etliche Facetten seiner Persönlichkeit erkennen, im selben Atemzug aber bricht er auch mit seinem Image. „Gran Torino“ (2008), Eastwoods finanziell erfolgreichster Film, zeigt ihn als alten, grantelnden und rassistischen Veteran aus dem Korea-Krieg, der in seiner US-Heimat den Vorgarten und seinen garagengepflegten, rostfreien Ford Gran Torino notfalls auch mit Waffengewalt verteidigt und dessen mürrisches Knurren wie eine Persiflage auf seine Western-Rollen oder seine Zeit als „Dirty Harry“ wirkt. Der Film aber nimmt seine Thematik ernst, es geht um ein rassistisches Amerika, in dessen zerschmetternden Werten Eastwoods Figur seinen Lebenstraum untergehen sieht. Der Film sagt viel über Amerika, aber auch über Eastwood. Der hatte sich damit endgültig von seiner Spielart aus den „Dirty Harry“-Filmen verabschiedet, so wie er es 1992 in seinem Western-Abgesang „Erbarmungslos“ getan hatte. Dort sagte er seinen zu Ikonen gewordenen Western-Helden adieu, und „Erbarmungslos“ brachte Eastwood seine ersten beiden Oscars - allerdings nicht als
Foto: Warner Home Entertainment
In „Gran Torino“ (2008) ist Eastwood als alter, rassistischer Grantler zu sehen - eine Rolle, die tief blicken lässt in ein Amerika, das seine Werte verloren hat.
Schauspieler, sondern für den besten Film und die beste Regie. Das Kunststück wiederholte er 2004 mit „Million Dollar Baby“, in dem sich Hilary Swank mit Eastwoods Trainer-Hilfe nach oben boxte. Eastwood hatte stets ein sicheres Händchen für Triumphe. Dass dies gelang, ist auch einer gewissen Entspanntheit geschuldet, die Eastwood in seinen Arbeiten spürbar macht; es sind routiniert umgesetzte Stoffe, und ihre Einzigartigkeit liegt meist in der Psychologie ihrer Figuren begründet: In „Changeling“ zum Beispiel ist es eine verzweifelte junge Mutter (Angelina Jolie), die felsenfest überzeugt ist, dass der Bub, den die Polizei nach einer Vermisstmeldung aufspürt, nicht ihr Zum 90. Geburtstag von Sohn ist, auch wenn Clint Eastwood ist der das alle behaupten. empfehlenswerte Band In „Mystic River“ „Clint Eastwood: Mann (2003) konfrontiert mit Eigenschaften“ von Kai Bliesener erschienen. ein Mord an einer (Schüren, EUR 24,90) 19-jährigen drei alte Freunde mit einer schweren Vergangenheit. In „American Sniper“ (2014) schildert Eastwood die seelischen Wunden eines Navy-Soldaten, der den Krieg nicht hinter sich lassen kann. In „Flags
of Our Fathers“ und „Letters from Iwo Jima“ unternahm er den famos geglückten Versuch, die Weltkriegsschlacht um Iwo Jima einmal aus amerikanischer und einmal aus japanischer Perspektive zu erzählen und damit eine psychologische Balance herzustellen. Dem entgegen stehen seine Filme, die ihn weltberühmt machten: „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) katapultierte ihn beinahe schon im Post-Western-Zeitalter zum Weltstar, es folgten Kassenschlager wie „Hängt ihn höher“ (1968), „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) oder „Stroßtrupp Gold“ (1970). Ab 1971 lieh er dem San-Francisco-Cop „Dirty Harry“ sein Gesicht. EASTWOOD UND DIE RACHE Unterm Strich eint viele Filme von und mit Clint Eastwood ein Rache-Aspekt. Oftmals ist Eastwood als Rächer kühl, aber nicht cool, für seine Mission unterwegs; in den Western sowieso, da erhebt er sich selbst auch gleich zum Gesetz. Aber auch die späteren Regiearbeiten streifen das Thema, besonders „Mystic River“. Hinzu gesellt sich Brutalität, die Eastwood aber nie mit filmischer Leichtigkeit oder gar als Spaß inszeniert, wie etwa Tarantino, sondern die er ernst nimmt und sie daher auch zentnerschwer entfaltet. Überhaupt ist Eastwood ein Verfechter des Erzählkinos, der sich selten Scherze erlaubt; alle seine Regiearbeiten sind naCINEMA FOREVER!
turalistisch und schnörkellos. Sie beziehen sich nicht auf Strömungen des Kunstkinos, sie finden ohne all das statt, was das Feuilleton gemeinhin „hinaufschreibt“. Eastwoods Filme sind von einer zeitlosen Schlichtheit, er dreht sie zumeist an Originalschauplätzen, scheut die Künstlichkeit der Studios. Seiner Kunst eine Stimme gab er in „Die Brücken am Fluß“ (1995), eine aufwühlende Geschichte mit ihm und Meryl Streep, und einem Ehebruch dazwischen. Dort zeigt Eastwood, der einen Fotografen spielt, sein künstlerisches Credo: Alles soll möglichst sachlich sein, auf seinen Fotografien, keine modischen Unschärfen, sondern Natürlichkeit durch und durch. Das subsumiert Eastwoods Regie-Werk: Es stammt von einem, der sich niemandem verschrieben hat, sondern seine eigene Sicht durchsetzt; das tat und tut er auch im politischen Diskurs, und das kann, muss man aber nicht mögen. Sicher ist: Eastwood wird, so ihm die Gesundheit erhalten bleibt, nicht aufhören, seine Sicht zu sagen, zeigen, filmen: „Ich bin glücklicher als je zuvor in dem, was ich tue“, gab er kürzlich zu Protokoll. „Andere in meinem Alter mögen vielleicht über ihren Ruhestand nachdenken, doch mir würde wahrscheinlich dann das Gehirn einrosten“. Rosten? Eine Vorstellung, die vielleicht zu einem alten Gran Torino passen würde, nicht aber zu diesem rastlosen Urgestein.
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Al Pacino in „Kurzer Prozess - Righteous Kill“ (2008), erschienen als DVD und Blu-ray bei Kinowelt.
„DAS ALTE HOLLYWOOD IST TOT“ Al Pacino wurde am 25. April 80 Jahre alt. Der Hollywood-Superstar trauert den guten, alten Zeiten nach. Wenn Al Pacino den Raum betritt, dann strahlt dieser trotz seiner kleinen Körpergröße von gerade einmal 170 Zentimeter eine richtige Größe aus: Der 1940 in New York geborene Schauspieler mit italienischen Wurzeln ist einer der letzten großen Hollywoodstars der „alten Schule“, und er ist zusammen mit Joe Pesci und Robert De Niro ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der Martin Scorsese einen Mafia-Thriller nach dem anderen realisiert hat. Dass die Altherrengang das noch immer beherrscht, hat sie Ende 2019 mit „The Irishman“ (auf Netflix) bewiesen. Das „celluloid“-Interview mit Pacino fand vor der Corona-Krise statt, deshalb reichte uns der lässige Schauspieler auch ganz leger die Hand zum Gruß. Er kommt in einem schwarzen Anzug mit weit offenem Hemd zum Interview. 34
CELLULOID FILMMAGAZIN
Fotos: Kinowelt
JUBILAR
celluloid: Mr. Pacino, legen Sie eigentlich Wert auf Ihre Kleidung? Al Pacino: Nicht wirklich. Ich bin echt schlecht darin, mir meine Garderobe zusammenzustellen. Das lasse ich meistens meine Freundin machen (lacht). Ich habe keinen Geschmack. Ich habe zwar ein paar Smokings, aber die werden nur bei Anlässen ausgepackt. Wenn Sie zum Beispiel einen Oscar gewinnen. So wie 1993 für „Der Duft der Frauen“? Ja, damals brauchte ich so was. Das war ein unbeschreibliches Gefühl. Du stehst da oben, und die ganze Welt sieht dir zu. Es ist fast, wie wenn du eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen gewinnst. Der Unterschied ist: Du musst für den Oscar nicht zum 100-Meter-Lauf antreten, sondern hast nur einen Film gedreht. Was geht einem durch den Kopf, wenn nach „The Oscar goes to …“ der eigene Name verlesen wird? Es ist in diesem Moment unmöglich, auszudrücken, was Sie ausdrücken wollen. Sie finden keine Worte und wissen in diesem Moment noch nicht, wie Sie sich dabei fühlen, das kommt erst später. Ich war damals in der Mitte von Dreharbeiten und stand unter Zeitdruck. Nach der Verleihung steckte man mich sofort in einen Privatjet, und am nächsten Tag war ich schon wieder am Set. Ich glaube, ich habe nicht ein einziges Interview nach dem Oscar gegeben. Ich durfte nicht mal auf eine Oscar-Party! Was ist denn das bitteschön für ein Mist? (lacht) Wie kreiert man eine oscarreife Performance? Was ist Ihr Rezept? Als Schauspieler ist man immer am Beobachten. Man saugt möglichst viele menschliche Verhaltensweisen in sich auf. Ab einem gewissen Alter hat man da natürlich viel mehr Erfahrungsreichtum, aus dem man schöpfen kann. Das sollte intuitiv passieren. Man muss zulassen, dass die eigenen Instinkte die Situation einschätzen können, dann wird eine Performance gut. Wenn ich ganz ehrlich bin, gelingt das selten. Man versucht als Schauspieler die ganze Zeit, das Schauspielen aus einer Szene herauszubekom-
men, damit es realistischer wirkt, und man scheitert dabei sehr oft. Sie werden 80 und haben eine lange, denkwürdige Karriere gehabt. Werden Sie nostalgisch, wenn Sie an frühere Erfolge zurückdenken? An den „Paten“ zum Beispiel? Oh ja, ich werde nostalgisch, weil ich komplett den Überblick über meine Karriere verloren habe. Ich habe ja keine Ahnung mehr, wo ich überall mitgewirkt habe! Ich war ein Teil dieser 70er-JahreÄra, die sich erst im Rückblick als eine Ära dargestellt hat. Die Zeit war einzigartig in der Filmgeschichte. Hat Hollywood sich seither sehr verändert? Und wie! Das alte Hollywood, wie ich es noch kannte, ist tot. Es existiert schon lange nicht mehr. Früher war das eine Gemeinschaft von Künstlern und Kreativen, die dort wirklich tolle Geschichten erzählt haben. Heute ist das leider alles dem finanziellen Interesse großer Medienkonzerne gewichen. Die interessieren sich nicht mehr für Filme, sondern nur mehr für Geld. Und andererseits pressen sie die Filme heute auf kleine Silberscheiben oder man streamt sie über das iPhone. Das ist doch bitte keine vernünftige Art, sich einen Film anzusehen! Was sieht man schon am iPhone? Nichts! Welche Erinnerungen haben Sie an Marion Brando, der „Der Pate“ mindestens ebenso prägte wie Sie? Brando hat mich unglaublich beeindruckt. Immer schon, aber bei „Der Pate“ besonders. Erst mit einigen Jahren Abstand habe ich rückblickend festgestellt, wie sehr ich Brando nachgeahmt, wie sehr ich ihn beinahe schon imitiert hatte. Ich habe sehr viel von der Weise, wie er spielt, übernommen. Ich glaube, das passiert automatisch bei Leuten, die dasselbe machen wie man selbst: Man schaut sich was von ihnen ab. Sie haben zwischen Ihren Filmen immer wieder Theater gespielt. Eine Faszination, die Sie nie losgelassen hat? Ja, und es war die perfekte Gelegenheit für mich, eine Erdung zu bekommen. Denn das, was sich nach „Der Pate“ rund CINEMA FOREVER!
Durchbruch: 1972 in Coppolas „Der Pate“, auf DVD und Blu-ray bei Kinowelt.
um mich abgespielt hat, war unglaublich. An viele erinnere ich mich nicht mehr, aber ich weiß nur: Es war immer viel los. Da hat mir die Bühne eine gute Bodenständigkeit zurückgegeben. Auch Coppola ist damals auf Sie gekommen, als er Sie im Theater sah… Ja, ein verrückter Typ, den ich wahnsinnig liebte damals. Und er mich. Ich konnte mir gar nicht erklären, wieso er ausgerechnet mich für den „Paten“ wollte. Niemand wollte mich, nur Coppola. Er sah mich in einem Stück, für das ich einen Tony gewonnen hatte und ließ nicht locker. Im Übrigen wollten die Studiobosse damals auch Brando nicht in dieser Rolle. Coppola hat sich zum Glück durchgesetzt. Mit Robert De Niro standen Sie zuletzt für Scorseses „The Irishman“ vor der Kamera. Robert und ich sind seit Jahrzehnten befreundet, wir fanden immer, dass es in unser beider Leben ziemlich viele Ähnlichkeiten und Gleichzeitigkeit gab. Daran hat sich nichts geändert. Für diesen einen Film nochmals zusammen zu drehen, war ein Ereignis, das wohl nie mehr wieder kommt. Was bedeutet Ihnen das Älterwerden? Ich muss sagen, mit Blick auf den 80. Geburtstag werde ich dieses Jubiläum eher gelassen angehen. Vor ein paar Jahren habe ich eine Veränderung in meinem Leben gespürt. Mir gefällt es, wie ich jetzt die Dinge sehe. Ich wünschte, ich hätte das schon vor 20 Jahren gefühlt, aber nun verstehe ich es. INTERVIEW: D. NIESSER
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Aufgrund der Corona-Krise haben wir diesmal für unsere Kritiken-Rubrik vor allem Filme und Serien der Streaming-Portale berücksichtigt.
filmkritik SPACE FORCE
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ären Steve Carell und Greg Daniels vor zehn Jahren mit ihrer Idee zu einer Serie über die US-Space Force bei einem Sender angekommen, dann wäre diese schräge Nummer wohl als astreine Satire durchgegangen. Heute aber, wenn man bei Netflix die zehnteilige, erste Staffel von „Space Force“ als Comedyserie anpreist, ist vieles von dem, was darin zu sehen ist, längst (traurige) Realität, so absurd, dass man es einfach komisch finden muss. Es gab zum Start der Serie eine zeitliche Koinzidenz, die von einem Gagschreiber stammen könnte: Erst vor wenigen Tagen wurde im Weißen Haus die Flagge der Ende 2019 neu gegründeten Space Force, der Weltraumstreitkraft der USA, enthüllt: Sie zeigt im Prinzip das schlecht geklaute Logo der Enterprise, und bei dieser Gelegenheit verkündete Trump auch gleich, was er mit der Space Force so alles vorhat. Zum Beispiel, Zitat: „Eine SuperDuper-Rakete“ zu bauen. Zum Brüllen. Da tut man sich als Comedian schwer, so etwas in einen Witz zu verwandeln. Vor allem, wenn der Persiflierte witziger ist als man selbst. Carell und Daniels haben dennoch eine Serie über die oftmals belächelte Space Force gedreht. Man kennt den Humor des Gespanns bereits von „The Office“, beide ticken ähnlich, was gute Pointen angeht. Und so ist es zunächst erstaunlich kurzweilig, wenn das Autorenduo sich mit der Absurdität einer Weltraumarmee auseinander setzt. Es waren die Worte des aktuellen Potus (des „President of the United States“), die da via Twitter die Richtung vorgaben (Trump wird namentlich nicht erwähnt): 36
Es möge bis 2024 endlich Truppen auf dem Mond geben, „Boots on the Moon“, wie das im Original heißt. Getwittert hat der Potus allerdings „Boobs on the Moon“ (Titten auf dem Mond), aber seine Mitarbeiter tun das als Tippfehler ab. Ab hier ist klar: „Space Force“ ist eine Abrechnung mit der absurdesten Präsidentschaft, die es in den USA je gegeben hat, mit einem prahlerischen Egomanen an der Spitze, der statt einem Colt lieber das Twitter-Handy zieht; allein: So richtig ernst nimmt ihn niemand, und darin liegt seine Stärke (und die Gefahr für das Land). Steve Carell spiegelt diesen Potus in gewisser Weise innerhalb der Serie, denn er gelangt als General Naird zunächst recht unvermittelt auf den Chefposten dieser Weltraumarmee - dabei wäre der Pilot lieber der Air Force vorgestanden. Weil die Space Force niemand so recht ernst nimmt, gilt der Job auch als Schleudersitz, doch der Umzug von Washington nach Colorado in die geheime Zentrale der Space Force ist auch so etwas wie ein Neubeginn für Naird. Schon nach einem Jahr soll er zeigen, was die Force kann, und er lässt testweise eine Rakete steigen. Das Teil explodiert noch in Bodennähe. Wieviel Geld hat das gekostet, will Naird wissen. „Vier Mittelschulen“, seufzt sein Assistent. Nairds trumphafte Züge verdichten sich, als er beim Start einer Rakete, die einen Satelliten ins All schießen soll, auf das vehemente Abraten seines wissenschaftlichen Beraters, den Start durchzuführen, partout nicht hören will. Dieser, gespielt von einem in seiner zeitlupenartigen Nonchalance kaum zu schlagenden Johann Malkovich, mahnt, die LuftfeuchCELLULOID FILMMAGAZIN
Netflix
Die Netflix-Serie „Space Force“ mit Steve Carell persifliert die Trump-Präsidentschaft. tigkeit an diesem Tag sei zu hoch. Doch Naird geht - wie Trump in ähnlichen Situationen - auf volles Risiko, und gewinnt. Der Start klappt, es ist das Glück des Anfängers, das hatte Trump auch einmal. Aber die Katastrophe folgt auf dem Fuß, und hier zeigt sich, wie außergewöhnlich diese Serie hätte sein können, führte sie nur ständig dieses Level an Skurrilität und ekstatischer Absurdität fort. Bei einer Reparatur im All wird mangels Alternativen auf einen Affen als Helfer gesetzt. Dieser sitzt zusammen mit einem Hund in einer Raumkapsel, die der Potus ins All schießen ließ, um darin das Funktionieren von Sturmgewehren im All zu beweisen. Die Tiere waren nur mit, damit es ein paar schöne Fotos für die PR-Abteilung gibt. Der Waffenhersteller wirbt seither mit dem Slogan: „Even works in Space“. Das ist alles so Trump. Besagter Affe soll dann einen Weltallspaziergang machen, was natürlich schief geht. Szenen wie diese verdeutlichen die Absurdität dieser realen Behörde. „Space Force“ hat nichts von einer Sitcom, auch, wenn das die bloß halbstündigen Episoden vermuten ließen. Es mischt sich dann doch auch relativ viel Drama in die Komödie. Aber so ist eben das Leben: Viele der Dinge, die mächtige Menschen sich ausdenken, haben eben ernst Hintergründe, und das reflektiert diese Serie sehr schön. Vielleicht findet sie der Potus ja auch „Super-Duper“. MATTHIAS GREULING SPACE FORCE Comedy-Serie, USA 2020, von Steve Carell und Greg Daniels. ZU SEHEN AUF NETFLIX
JEFFREY EPSTEIN: STINKREICH
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ädchen, die in den späten 1990ern und 2000ern zwischen 12 und 16 Jahre alt waren und irgendwo im Einzugsgebiet von Palm Beach wohnten, hatten gute Chancen, von Jeffrey Epstein ein „Jobangebot“ zu erhalten. Wenn sie Zahnspange trugen, war das kein Hindernis, nur fett sollten sie nicht sein. Epstein, der über Jahre, Jahrzehnte Dutzende, Hunderte Mädchen sexuell missbraucht und sich 2019 im Gefängnis umgebracht haben soll, geriet früh unter Verdacht, doch sein Status als Milliardär gewährte ihm Freiheiten, die andere nicht haben. Und so konnte er das System Epstein erfolgreich über lange Zeit im Verborgenen halten. „Jeffrey Epstein: Stinkreich“, eine vierteilige Doku von Lisa Bryant und Joe Berlinger, die neu auf Netflix zu sehen ist, rollt den bislang nicht abgeschlossenen Fall nun aus der Sicht von Epsteins mutmaßlichen Opfern auf. In detaillierten Interviews und mit viel Recherche haben die Filmemacher viele der Frauen aufgespürt, die Epsteins „Jobangebot“ angenommen hatten, in der Hoffnung auf leicht verdientes Geld. Die Masche war angeblich immer die gleiche: Die Mädchen sollten einen „älteren Herren“ massieren, und dafür gab es 200 Dollar. Doch Epstein beließ es nicht bei einer Fußmassage, sondern entblößte sich im Massage-
Netflix
Mädchen, Mädchen, Mädchen: Die vierteilige Doku „Jeffrey Epstein: Stinkreich“ blickt hinter die Kulissen der Abscheulichkeit.
raum seiner Millionevilla gerne vor den Minderjährigen, ließ sich befriedigen oder verging sich an ihnen und schickte die Kinder hinterher nach Hause, mit Geld und der Aufforderung, wieder zu kommen - und neue Mädchen aus dem Freundeskreis mitzubringen. Ein grausames Missbrauchsnetzwerk, von dem auch seine Lebenspartnerin Ghislaine Maxwell gewusst haben soll. Mehr noch: Sie soll das Vertrauen junger Mädchen gewonnen und sie dann zum Sex mit Epstein gezwungen haben. Die Causa ist längst nicht abgeschlossen, es gibt Dutzende Anzeigen von mutmaßlichen Opfern, ein Anwalt verklagte eine der Frauen wegen Verleumdung. TRUMPS BUDDY Epsteins Aufstieg vom jungen Finanzgenie, der allein seinen Intuitionen vertraute, zeichnet die Mini-Serie auch nach. Er feierte die luxuriösesten Partys, hatte Häuser, Villen, Apartments in Florida, New York, Paris, sowie zwei Privatjets. Und ein privates Eiland, das seine Angestellten nur „Orgien-Insel“ nannten. Dorthin ließ er regelmäßig junge Frauen einfliegen. Zu seinen Gästen zählten auch Prominente wie Bill Clinton und Donald Trump. Der Mann wusste, wie man an die großen Fische kommt. In der Netflix-Doku sieht man auch Material von Polizei-Verhören, bei denen CINEMA FOREVER!
Epstein sich bei jeder Frage nach seinen sexuellen Vorlieben und nach dem mutmaßlichen Missbrauch von Minderjährigen auf den 5. Verfassungszusatz der USA berief und - schwieg. Diese Szenen sind die wohl verstörendsten der Doku. Die Doku-Serie schlüsselt all das mit vielen Beispielen auf, verwendet die gängigen Mittel des US-Mainstream, aber das muss sie auch: Nicht anders wäre einem derartigen Fall beizukommen, wenn man eine breite Öffentlichkeit erreichen will. Die #MeToo-Bewegung hat die Schlinge um Epsteins Hals letztlich dramatisch zugezogen, erst so konnte öffentlich derartig sensibilisiert werden, was sonst in dunklen Massageräumen geblieben wäre. Der Tod Epsteins bleibt indes ein Rätsel. Hat er sich umgebracht, oder half jemand mit? War es gar Mord? Das wird noch zu klären sein, aber es hilft den Opfern nicht weiter. Epsteins System des mutmaßlichen Mädchenhandels ist auch ein Beleg dafür, dass die schlimmsten Verbrecher meist in den obersten Etagen zu finden sind. Es heißt nicht umsonst: Der Fisch fängt am Kopf zu stinken an.
DORIS NIESSER
JEFFREY EPSTEIN: STINKREICH USA 2020. Regie: Lisa Bryant, Joe Berlinger Vierteilige Doku-Serie ZU SEHEN AUF NETFLIX 37
DERAPAGES - KONTROLLVERLUST
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Netflix
In der französischen Netflix-Serie „Dérapages - Kontrollverlust“ legt der arbeitslose Eric Cantona jede Moral ab.
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enn Eric Cantona, seines Zeichens französische Fußballlegende und Schauspieler, zu Beginn der Netflix-Serie „Dérapages - Kontrollverlust“ mit Bart und kahl geschorenem Kopf die Zuschauer direkt über die Kamera anspricht, um ihnen zu sagen, was in seinem Leben alles schief gelaufen ist, dann ist er schon ganz unten. Er sitzt im Gefängnis, doch wie kam es dazu? Cantona spielt den Langzeitarbeitslosen Alain Delambre, der Mitte/Ende 50 ist und seit Jahren nach einem Job sucht - doch für Leute wie ihn gibt es keine Jobs mehr. Darunter leidet auch seine Ehe mit Nicole (Suzanne Clément) und seine Beziehung zu den Töchtern Lucie (Alice de Lencquesaing) und Mathilde (Louise Coldefy). Da stößt Delambre auf ein Jobangebot einer Firma, die jemanden suchen wie ihn. Einen Personalmanager, der die eigenen Führungskräfte einem Stresstest unterziehen kann; Delambre bewirbt sich. Und hat überraschenden Erfolg: Alexandre Dorfmann (Alex Lutz), der Inhaber der großen Firma, die den Posten ausgeschrieben hat, will ihn engagieren. Doch bald merkt Delambre, dass hier ein übles Spiel mit ihm gespielt wird. Im Rahmen eines Rollenspiels
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will Dorfmann sein Führungsteam einer simulierten Geiselnahme aussetzen, die Delambre leiten soll. Delambre, den Cantona als hochgradig aufbrausenden Kerl anlegt, lässt sich nicht übel mitspielen, und schnell verläuft die Geiselnahme ganz anders als geplant. „Dérapages - Kontrollverlust“ ist ein weiteres gelungenes Beispiel für die an sich schon ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Netflix und dem Kultursender Arte; kürzlich bekam man von dieser Symbiose aus Anspruch und Breitenwirksamkeit die Sci-Fi-Serie „Ad Vitam: In alle Ewigkeit“ serviert, und auch die Mystery-Serie „Es war einmal ein zweites Mal“. „Dérapages - Kontrollverlust“ setzt die Zusammenarbeit auf hohem Niveau fort. Hoch zumindest, wenn es um das Niveau von TV-Serien geht. Zu Beginn der sechsteiligen ersten Staffel fühlt sich alles ganz nach einem klassischen französischen Sozialdrama an, wo die Augen des Protagonisten den ganzen Hass auf die Gesellschaft und die Globalisierung ausdrücken, die zu den schlimmsten Jobvernichtern zählt. Der einzelne Mensch zählt hier nicht, das System kennt keine Schicksale, nur Zahlen. Und wenn die nicht stimmen CELLULOID FILMMAGAZIN
eben Pech gehabt. Hier kommt die Räubersgeschichte ins Spiel: Alain Delambre entwickelt als Abwehrreflex seiner aussichtslosen Lage eine Wut, die ihn zum Gewalttäter werden lässt, der jegliche Moral abgelegt hat. Die aussichtslose Arbeitslosigkeit ist für solche Menschen die letzte Station vor der Eskalation. Der Wandel geht ob der wenigen Folgen rasend schnell vonstatten, wodurch es ein wenig an der Dramaturgie und Figurenentwicklung krankt. Die Entscheidung, alles in Rückblenden aus zu erzählen, erlaubt aber, schneller durch die einzelnen Phasen von Delambres Metamorphose zu gelangen. Dennoch gelingt es dem libanesischen Regisseur Ziad Doueiri durch geschickt eingebaute Wendungen, die Spannung zu halten. Kein Wunder: Doueiri hatte mit „Der Affront“ 2017 einen der beeindruckendsten Kinofilme über die konkreten Mechanismen von Eskalation gemacht. Hier, in „Dérapages“, kann er dieses Talent bravourös perfektionieren. MATTHIAS GREULING DERAPAGES - KONTROLLVERLUST F 2020. Regie: Ziad Doueiri. Mit Eric Cantona, Suzanne Clément, Alex Lutz ZU SEHEN BEI NETFLIX
VAST OF NIGHT
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Amazon Prime Video
Seltsame Frequenzen und eine Nacht in der Wüste New Mexicos: „The Vast of Night“, neu im Programm bei Amazon Prime Video.
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in High-School-Basketball-Spiel in dem 492-Seelen-Dorf Cayuga, inmitten der Wüsten von New Mexico. Es ist Abend, das ganze Dorf ist versammelt, es ist das erste Spiel der Saison. Nur Everett (Jake Horowitz) und Fay (Sierra McCormick) sind nicht dabei, denn sie haben andere Pflichten: Er als Moderator der örtlichen Radiostation, sie als Telefonistin, die Anrufe verbindet. Die Zeit: Die 1950er Jahre. Beide sind zusammen auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen, plaudern über die Zukunft, halten elektrische Fahrbahnen für Autos und das Reisen in einer Vakuum-Kapsel ab 1990 für möglich, glauben aber nicht an die Erfindung mobiler Telefonie. Dann machen sie eine beunruhigende Entdeckung: eine seltsame Tonfrequenz hat sich in ihre Netze eingeschlichen, keiner weiß, woher der Sound kommt. Aber bald schon wird den beiden klar, dass das Leben in Cayuga nach dieser Nacht ein anderes sein wird. Die beiden wollen dem Geräusch auf den Grund gehen und stoßen dabei auf unbekanntes Terrain vor, das - erraten - auch Aliens beinhaltet. „The Vast of Night“, Gewinner des Publikumspreises beim Slamdance Fes-
tival und danach von Amazon Prime Video gekauft, ist ein No-Budget-Film des Regie-Neulings Andrew Patterson. Der hat mit viel kreativer Energie und mangels Budget einen Science-FictionFilm ohne Special Effects gedreht. Es geht um den Outer Space, aber dafür wirkt hier alles ziemlich geerdet. Eingerahmt in eine Episode der fiktiven TV-Show „Paradox Theater“ referenziert „The Vast of Night“ zahlreiche popkulturelle Phänomene der 1950er Jahre, die voll waren mit Sci-Fi und Alien-Invasions - in Comics ebenso wie in populären TV-Serien und Kinofilmen. UNGESCHNITTEN Doch der Film verfällt nie in eine 50’s-Nostalgia, sondern bleibt trotz seines B-Movie-Plots so bodenständig wie möglich. Die Handlung nimmt Fahrt auf, als Patterson seine Telefonistin Fay für eine über zehnminütige, ungeschnittene Sequenz in ihrem Telefonhäuschen dabei beobachtet, wie sie Verbindungen herstellt und trennt, stets hellwach spekulierend über die seltsame Frequenz, die da irgendwo in der Leitung ist. Patterson schneidet dann umso schneller, als er zu Everett in den Radiosender wechselt, wo ein CINEMA FOREVER!
ominöser Anrufer von mysteriösen Vorfällen erzählen. Aber diesem Anrufer glaubt man nicht, in den 1950ern, denn er ist schwarz. Der Wechsel zurück nach draußen in einer atemberaubenden Kamerafahrt, die scheinbar ungeschnitten mehrere halsbrecherische Bewegungen vollführt, um vom Telefonhäuschen zum Basketball-Halle und zurück zu kreisen, dürfte dem Kameramann Miguel I. Littin-Menz eine Karriere in Hollywood ermöglichen. Mit viel Budget. Regisseur Patterson hat sich den Film übrigens selbst finanziert, durch Werbeclips für sein Lieblings-NBA-Team. Auch Patterson hat mit seinem ambitionierten Debüt neue Türen für ein NoBudget-Independet-Kino aufgestoßen. Es ist ein Kino, frei von Sentimentalität, von Effekten und von Show. Es ist ein Kino, voll von Tatendrang, Phantasie und dem Wunsch, die Kinomagie keinem Budget unterwerfen zu müssen.
KIKI ADLER
THE VAST OF NIGHT USA 2019. Regie: Andrew Patterson. Mit Jake Horowitz, Sierra McCormick ZU SEHEN BEI AMAZON PRIME VIDEO 39
WHITE LINES
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Netflix
Hunde, wollt ihr ewig koksen? Zack, zack, zack, war das ganze Koks weg! In der NetflixSerie „White Lines“ hüpfen im Drogen-Mekka Ibiza sogar Hunde high in den Pool.
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ylvester treibt reglos im Swimmingpool des in die Jahre gekommenen Ibiza-DJs Marcus (Daniel Mays). Sylvester ist ein Hund und hat gekokst und ist dann high ins Wasser gegangen. Wie es wohl dazu kam? Nun, es begab sich, dass der örtliche Drogenlieferant seine sieben Kilo Koks in einer dieser Schwimmbananen versteckt hat und diese an den DJ liefert. Der darf die Drogen derzeit aber nicht verkaufen, weil der hiesige Club-Großbesitzer auf Weiße Weste macht, statt auf Weiße Nase. Schließlich geht es um die Vergrößerung seines Imperiums um ein Casino, und da muss zunächst alles sauber aussehen. Was DJ Marcus in Bedrängnis bringt, denn er muss die Ware in seiner Garage zwischenlagern. Auf dem Weg dorthin reißt ein Päckchen Koks auf und hinterlässt eine dicke Linie auf seinem Rasen. „Die Kinder wollten immer schon mal ein Fußballfeld“, sagt sich Marcus. Da klingeln auch schon seine Drogenlieferanten an der Tür. Marcus, entspannt von einem Tässchen Pilztee, darf sich ob seiner Zahlungsunfähigkeit aussuchen, ob Bein oder Auge, nun ja - weg muss. Inzwischen delektieren sich Marcus’ Wauzis an den „Torwartlinien“ im Rasen. Das
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Resultat steht am Anfang dieses Textes. Was wie eine turbulente Slapstick-Komödie klingt, ist alles andere als das (aber schon auch sehr komisch): „White Lines“, erdacht von „Haus des Geldes“-Macher Álex Pina, ist nämlich eigentlich hochdramatisch. Es geht um Axel (Tom Rhys Harries) aus Manchester, der auf Ibiza Ende der 1990er Jahre eine Karriere als DJ begann - bald aber von der Bildfläche verschwand. Als man ihn 20 Jahre später in der Wüste von Almeria am spanischen Festland mumifiziert aus dem Sand buddelt, wird klar, dass er seinerzeit nicht zu einem Selbstfindungstrip nach Indien aufbrach, wie seine Freunde damals vermuteten. Jetzt tritt Axels Schwester Zoe (Laura Haddock) auf den Plan, die es sich zum Ziel gesetzt hat, nach Ibiza zu reisen und den Mord an ihrem Bruder aufzuklären. Die Serie um die Partyinsel im Dauerkoksmodus nimmt rasant Fahrt auf. „White Lines“ macht Ibiza zum Ort düsterer Abgründe, und legt peu à peu ein Netzwerk an Machenschaften frei, bei der jeder Protagonist seine ganz eigenen Süppchen kocht oder Pinkerl zu tragen hat. Für Zoe steht der eigene, geliebte Bruder im Mittelpunkt, weshalb auch sie schnell mit dem ganzen Kokain konfronCELLULOID FILMMAGAZIN
tiert wird, das in Marcus’ Garage lagert. Das Koks wird bald in ein Auto verladen und unterwegs bei einer wilden Verfolgungsjagd im Wald entsorgt. Da staubt’s! Eine Räubergeschichte, die wild die Genres mixt, mit scharf gezeichneten Figuren: „White Lines“ blickt fast mitleidigliebevoll auf die gealterten Techno-DJs der 90er, die mit Mitte 40 und nach 20 Drogenjahren so abgewrackt aussehen, dass uns einfällt, wovor Mami und Papi beim Fortgehen immer gewarnt haben. Zugleich entwickelt die Serie auch eine Familiensaga um einen Clan, in dem viele Leichen begraben scheinen, bis hin zum Inzest. Serien-Guru Álex Pina hat sich das alles sehr fein ausgedacht, wiewohl so manche Subgeschichte eigentlich fast haarsträubend ist. Aber eben nur fast. Immerhin: Auf Ibiza scheint alles möglich; wer diese zehnteilige Serie gesehen hat, der kann durchaus nachvollziehen, wie HC einst da stand und glaubte, eine russische Oligarchin hätte wirklich Geld zu verschenken. MATTHIAS GREULING WHITE LINES Idee: Álex Pina. Mit Laura Haddock, Daniel Mays, Laurence Fox, Tom Rhys Harries ZU SEHEN AUF NETFLIX
THE EDDY
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Netflix
Jazz mit Ecken und Kanten: Damien Gazelle hat Teile der Netflix-Serie „The Eddy“ um einen Pariser Jazzclub inszeniert, überzeugt jedoch nicht.
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er Jazz ist ein Lebenselixier, für die Musiker sowieso, für die, die es gern wären, auch. Für die Zuschauer ist Jazz im besten Fall ein Teppich aus improvisiert wirkenden Klangwolken, eine Disziplin, in der man aufgrund seiner offenen Form eigentlich nur dilettieren kann. Damien Chazelle, musikbegeisterter Jazzfan und gefeierter Regisseur von Filmen wie „Whiplash“, La La Land“ und „First Man“, hat dazu nun die passende Mini-Serie, bestehend aus acht Episoden, für Netflix gedreht - die ersten beiden Folgen hat er selbst inszeniert. Die Geschichte dreht sich um einen Jazzclub in Paris, gelegen weit abseits der Touristenmagneten. Das „Eddy“ wird mit künstlerischer Hingabe von dem Amerikaner Elliot Udo (André Holland) geleitet, doch der Erfolg will sich nicht so recht einstellen. Elliot hat Schulden, die sein Geschäftspartner Farid (Tahar Rahim) noch dazu bei skrupellosen Kriminellen gemacht hat. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Die Probleme werden bereits in der ersten Episode noch dramatischer für „The Eddy“ und Elliot. Dazu gehört auch, dass seine Tochter Julie (Amandla Stenberg) von New York nach Paris zieht und eine komplexe Vater-Toch-
ter-Geschichte ihren Anfang nimmt. „The Eddy“ ist als Miniserie ähnlich konstruiert wie ein Jazz-Stück. Vieles hier wirkt improvisiert, auch, wenn es das nicht unbedingt ist (genau wie beim Jazz). Der Jazz und all seine Ausformungen, mal zugänglicher, mal fordernd, scheint beinahe wie ein Heilmittel, zumindest aber ist er Ventil für die Gefühle, die manchmal unterdrückt in der Luft liegen und erst durch die Klänge eruptieren können. Damien Chazelle wählte hier bewusst auch visuelle Stilmittel, die stark an die (absichtliche) Ungelenkigkeit der Nouvelle Vague erinnern, oder an das Kino von John Cassavetes. Chazelle, der nur die ersten beiden Folgen inszenierte, verwendete dafür 16mm-Film, ein Novum bei Netflix, wo sonst nur mehr digital produziert wird. Aber dieses wunderbar körnige Filmmaterial korrespondiert perfekt mit dem ImprovisationsTouch des Jazz. Die Bilder wackeln, sind fahrig und haben Ecken und Kanten, sie lenken den Fokus mal auf Details, mal auf Gesichter, immer der Musik untergeordnet; „The Eddy“ entspricht darob auch keinem gängigen Paris-Klischee, zumindest keinem amerikanischen - die Serie gibt sich diesbezüglich entschieden CINEMA FOREVER!
unverkitscht und unbeeindruckt von jeglicher Postkarten-Ästhetik. Auf allzu viel Stilisierung zum Grunge-Underground verzichtet Chazelle hingegen auch - seine Folgen wirken mit ihren Musikeinlagen eher dokumentarisch, und das gereicht der Dramaturgie deutlich zum Nachteil; so ehrenwert die Idee sein mag, dem Jazz auch filmisch zu entsprechen, so lasch und ohne Spannung zeigt sich zunächst der Fortgang der Handlung. An vielen Stellen ist „The Eddy“ mehr ein verrauchter ClubAbend denn eine stringent zu verfolgende Handlung. Zwar nimmt das Geschehen durch ein Verbrechen bald Fahrt auf, gelangt aber immer wieder an seinen musikalischen Ausgangspunkt zurück. Das könnte in ein Fest für Jazz-Liebhaber münden, aber Chazelles Episoden ist seine Lustlosigkeit anzumerken. Vielleicht ist er mit den Gedanken schon bei seinem nächsten Projekt „Babylon“ gewesen. Jedenfalls spürt man bei „The Eddy“ zwar die Handschrift dieses Filmemachers, nicht aber sein Herzblut. PAUL HEGER THE EDDY 8-teilige Miniserie, Regie: Damien Gazelle, u.a. Mit André Holland, Amanda Stenberg, Tahar Rahim ZU SEHEN AUF NETFLIX 41
SCHW31NS7EIGER
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„Schw31ns7eiger: Memories - Von Anfang bis Legende“ feiert Kicker Bastian Schweinsteiger und den deutschen Fußball. Produziert hat Til Schweiger. Auf Amazon.
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an könnte permanent heulen. So bewegend ist der Fußball und die damit einhergehenden emotionalen Erregungen, die man nicht nur als Zuschauer durchlebt („Tooooooooor“!!!), sondern auch als Spieler am Feld („Toooooooooooooor“!!!!!). Ganz eindrucksvoll zeigt das die von Til Schweiger produzierte Doku „Schw31ns7eiger“ über den deutschen Fußballweltmeister Bastian Schweinsteiger. Mainstream-Til hat sogar schon in den Filmtitel die ganze Emoition reingepackt: Die Zahlen beziehen sich auf die Rückennummern des Kickers, die 31 beim FC Bayern München, die 7 im deutschen Nationalteam. Symbolik gehört dazu, im Fußball. Erzählt wird die Geschichte eines mühevollen Aufstiegs. Der Film handelt zwar von Bastian Schweinsteiger, aber in Wahrheit verkauft er jede Menge deutsche Tugenden gleich mit: Fleiß, Fleiß, Fleiß. Denn der kleine Bayern-Bub war eigentlich nie der schnellste, nie der gefährlichste Ballkünstler und auch nie der eleganteste Dribbler. Aber durch seinen Ehrgeiz konnte er sich weit übers Mittelmaß hieven, schaffte es bis zum Weltmeister, 2014 in Brasilien. Als der kleine Basti in Oberaudorf zu trainieren begann, 42
war sein Papa schon mit der Kamera immer dabei. Und als er mit gerade einmal 18 sein Debüt in der Nationalelf hinlegte, gehörte der noch etwas ungehobelte Jüngling längst zu den großen Hoffnungen bei Bayern München. Dann beginnt der Film, die Karriere Schweinsteigers im Detail nachzuzeichnen - von Erfolg zu Erfolg. Es ist großartige Sportpropaganda, die ein verklärtes Bild auf diese Ausnahmekarriere wirft, aber sowas darf Propaganda. Und weil sich Til Schweiger immer auch gerne selbst in Szene setzt, ist er im Film selbstredend mit dabei, gibt Urteile zu Bastis größten Erfolgen und auch Fehltritten ab. „Schw31ns7eiger“ zielt vor allem darauf ab, eine Message zu transportiere: Niemals aufgeben. Wer einen weiten Weg hat, soll nicht laufen. Natürlich braucht es auch seelischen Ausgleich, deshalb sind die Spielerfrauen beim Fußball fast wichtiger als gesunde Wadeln: Mit der serbischen Tennisspielerin Ana Ivanović hat Schweinsteiger seine Lebensliebe gefunden und zwei Söhne bekommen. Der Film sieht dem perfekten Paar auch dabei zu, wie es die Zelte in Chicago nach Schweinsteigers letztem Match für Chicago Fire im Herbst 2019 abbricht und zurück nach Deutschland kommt. CELLULOID FILMMAGAZIN
„Schw31ns7eiger“ ist abseits des Fokus auf seinen Titelhelden vor allem ein Dauerwerbespot für den deutschen Fußball geworden: Hier kommen alle zu Wort, von David Alaba über Jogi Löw, Oliver Kahn, Michael Ballack, Miro Klose bis zu Lukas Podolski - sie erklären den (deutschen) Fußball zum König. Und Uli Hoeneß verrät sogar, dass er das WMFilnale 2014 im Häfn gesehen hat, allein in der Zelle - und dass ihm die Tränen kamen, als sich Schweinsteiger im TVInterview beim ihm bedankte. Schon wieder: Heulen. Die Probleme, unter denen der deutsche Fußball heute leidet, spart man großzügig aus. Das Märchen von 2014 ist lange ausgeträumt, nach der Schmach von 2018 muss man sich erst neu erfinden. Auch das: Zum Heulen. Aber man muss die Emotion zulassen, denn sie macht aus uns allen bessere Männer. Fußball ist der einzige Sport, bei dem sogar die härtesten Männer weinen dürfen. Ja, sollen! Das ist nämlich wichtig für die innere Balance.
HUBERT NEUDÖRFL SCH31NS7EIGER D 2020. Regie: Robert Bohrer. Dokumentarfilm Auf Amazon Prime Video
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STARKE FILME,
STARKE FRAUEN
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s ist viel geschrieben worden über die Arbeitsbedingungen von Frauen in der österreichischen Filmbranche, von der angestrebten Geschlechtergleichheit und einem „Equal Pay“, also einer Bezahlung, die für Männer wie Frauen gleich ist. Auch filmpolitisch ist der Diskurs zur Gleichstellung von Frauen zumindest im Gange, nicht zuletzt dank Initiativen wie dem Frauennetzwerk „FC Gloria“. Bis in die Filmförderinstitute spielt inzwischen hinein, ob es eine Quotenregelung betreffend der zu fördernden Projekte geben soll. Am Ziel angekommen sind all diese Debatten noch längst nicht. Da kommt ein Buch, das die österreichischen Filmemacherinnen vor den Vorhang holt, gerade recht: Isabella Reicher hat mit „Eine eigene Geschichte - Frauen, Film, Österreich seit 1999“ (Verlag Sonderzahl) ein umfassendes Kompendium zur Filmarbeit von Frauen herausgegeben, in dem in Aufsätzen, Interviews und Essays über den großen Einfluss von Frauen auf den Erfolg des heimischen Films hingewiesen wird. Ja, man könnte geradezu sagen: Der Aufstieg des österreichischen Films seit Ende der 1990er Jahre ist - weiblich. Schließlich hat die Erfolgsgeschichte im österreichischen Film 1999 mit einem Paukenschlag begonnen - und der war in zweifacher Hinsicht weiblich: Barbara Albert inszenierte mit „Nordrand“ eine einfühlsame Geschichte
Das Buch „Eine eigene Geschichte“ holt österreichische Filmemacherinnen vor den Vorhang. von zwei Wiener Frauen, die zwischen Träumen und sozialen Brennpunkten oszillierten. Der Film feierte am 2. September 1999 seine Weltpremiere im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig - für die damals 28-jährige Albert ein Riesenerfolg. Am Ende gab es für Hauptdarstellerin Nina Proll dort den, Coppa Marcello Mastroianni, den Preis für die beste Newcomerin, und das legte den Grundstein zu ihrer Karriere. „Eine eigene Geschichte“ nimmt diese Initialzündung für das österreichische Filmschaffen als Ausgangspunkt, um aus einer heutigen Perspektive auf die vergangenen 20 Jahre Rückschau zu halten. Neben Texten von Journalisten schlüsseln auch Beiträge von namhaften heimischen Filmpublizisten, darunter Drehli Robnik, Bert Rebhandl, Alejandro Bachmann oder Birgit Flos inhaltliche und ästhetische Aspekte auf. UNGLEICHGEWICHT Die frühen 2000er Jahre wiesen eine zunächst vielversprechende Zunahme von Frauen auf dem Regiesessel vor. Ganz bewusst fokussiert das Buch auf diese Profession, weil Filmregie trotz aller Fortschritte noch immer eine Männerdomäne ist. Daran konnten die viele Arbeiten junger Frauen nachhaltig nichts ändern. Doch Filme wie „Lovely Rita“ (2001) von Jessica Hausner, „Ternitz, Tennessee“ (2000) von Mirjam Unger, „Struggle“ (2003) von Ruth Mader, „Mein Stern“ (2001) von Valeska Grisebach, „VollCINEMA FOREVER!
gas“ (2002) von Sabine Derflinger, „Mein Russland“ (2002) von Barbara Gräftner oder „Auswege“ (2003) von Nina Kusturica überzeugten nicht nur durch eine erzählerische Qualität, sondern wirken im Rückspiegel auch wie „aus einem Guss“ - nicht künstlerisch, sondern vom Anspruch her, endlich auch den Frauen den entsprechenden Zugang zum Regiefach freizumachen. Diesen jedoch nachhaltig zu verankern, ist nicht geglückt, trotz einer wirklichen Öffnung des Filmfestivals Diagonale unter Constantin Wulff und Christine Dollhofer in den frühen 2000ern, was Diskurs und Debatte über Filmpolitik und Gender-Parität angeht. Die Lorbeeren heimsten am Ende doch die Männer ein, vorwiegend solche, die lange Wege zurückgelegt hatten: Haneke, Seidl, auch Götz Spielmann. Starke Frauen machen heute noch immer starkes Kino: Sabine Derflinger widmet sich etwa nach ihrer Doku über „Die Dohnal“ demnächst einer (un)umstrittenen Frauenikone: Alice Schwarzer. Marie Kreutzer arbeitet an ihrem „Sissi“-Film „Corsage“. Ruth Mader geht in „Serviam“ ins katholische Mädcheninternat. Claudia Müller lässt Elfriede Jelinek über sich selbst sprechen. Ein Buch wie „Eine eigene Geschichte“ gerade zum jetzigen Zeitpunkt ist wie ein Wegweiser: Es zeigt, wie ungebrochen wuchtig das Potenzial der österreichischen Filmemacherinnen allen Widerständen trotzt. MATTHIAS GREULING 43
NEUE BÜCHER
Der (Bild-)Band „Vor der Klappe ist Chaos“ versteht sich als Hommage an den Neuen Deutschen Film.
„JEDER GING SEINEN
EIGENEN WEG“
B Im Bildband „Vor der Klappe ist Chaos“ (Zweitausendeins, 178 Seiten, EUR 51,30) werden die Protagonisten des Neuen Deutschen Films vorgestellt, darunter auch Kameramann Michael Ballhaus (unten) und Schauspieler Mario Adorf (rechts unten)
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ücher über Epochen, über „legendäre“ Zeiten, sie bergen immer die Gefahr der Verklärung, und eine Hommage ist darob nicht selten ein gefährliches Unterfangen für die Glaubwürdigkeit eines Autors. Nicht so im Fall des bei Zweitausendeins erschienen, großformatigen (Bild-)Bands „Vor der Klappe ist Chaos“ des Basler Fotografen und Filmschaffenden Beat Presser. Der hat seine Karriere entlang des so genannten neuen deutschen Films entwickelt, als er ab Ende der 1960er Jahre bei Dreharbeiten nicht nur die Setfotografie hinter den Kulissen besorgte, sondern auch die Standfotos aus den Filmen für den Kinoaushang anfertigte. Entstanden sind dabei herausragende Fotografien,
CELLULOID FILMMAGAZIN
die Einblick geben in jenen Kosmos, der das deutsche Filmschaffen nachhaltig verändert hat, so wie die Nouvelle Vage einst das Kino revolutionierte. „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen“. Das Oberhauser Manifest schrieb 1962 nieder, wie man sich von „Papas Kino“ verabschieden wollte; der Nachkriegsmief und die Allseits-Happy-Façon sollte raus aus den Kinosälen, denn diese Art der Vergangenheitsbewältigung (oder eigentlich: -verdrängung) war den Köpfen des neuen deutschen Films zutiefst zuwider. Man wollte anders erzählen, nüchterner, differenzierter, auch: spröder und wahrhaftiger. „Nach dem Kurzfilm ‚Les mistons‘ von Francois Truffaut, den ich 1959 in Paris
Fotos: Zweitausendeins
Papas Kino zu Grabe tragen, das war das Ziel des „Neuen Deutschen Films“
sah, war mir sofort klar: Das müssen wir in Deutschland auch so machen“, erinnert sich Volker Schlöndorff in dem Band. Das Motto war: Weg von den Heimat-Filmen, Melodramen und Krimis des „Schnulzenkartells“. „Im Rückblick erscheint dieser neue deutsche Film wie ein grandioser Aufbruch“, so Schlöndorff. Ein Aufbruch, der große Namen mit sich brachte, eine Reihe von Künstlern, die als Individualisten auffielen und ein Profil schärften, dennoch aber Teil dieser „Gruppe“ waren, von der es keine endgültige Definition geben kann, schon allein wegen der Freiheit der Kunst, die man hier allerorts beschwörte. Alexan-
der Kluge, Edgar Reitz und Reinhard Hauff gehörten zu frühen Vertretern, ebenso Schlöndorff, später Wim Wenders und Rainer Werner Fassbinder. Der große Werner Herzog natürlich auch, vor allem im Gespann mit dem Enfant terrible des deutschen Films, dem rastlosen Klaus Kinski. 55 PORTRÄTS Diese und weitere Protagonisten dieser Ära erfahren hier Beachtung: 55 von ihnen porträtiert Presser in Bildern, die sie in ihrer (heutigen) Lebensumgebung zeigen. Die Texte stammen von den Porträtierten selbst, darunter Mario Adorf, Michael Ballhaus,
CINEMA FOREVER!
Bruno Ganz, Jürgen Jürges, Klaus Lemke, Eva Mattes, Elfie Mikesch, Hanna Schygulla, Rosa von Praunheim, Ulrike Ottinger oder Margarethe von Trotta. Viel Anekdotisches lässt die Epoche Revue passieren, ohne sie zu verklären. Ein kollektives Erinnern daran, das Voraussetzung für jede Verklärung ist, fehlt, denn: Anders als bei der Nouvelle Vage gingen die vorgestellten Filmschaffenden allesamt ihren eigenen Weg. „Jeder hat es anders gemacht“, so Schlöndorff. Ein Umstand, der den neuen deutschen Film erst zu dem macht, was er ist: Vielgestaltig. ARNO VEUER
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„Womit haben wir das verdient“
„Was uns bindet“
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Ab sofort im KINO VOD CLUB: Bei allen drei Tipps könnte man sagen: FAMILIE, aber anders.
altes, baufälliges Bauernhaus. Das Erbe aus Stein soll uns wieder an jenen Ort in den Salzburger Bergen binden, in dem wir aufgewachsen sind und in dem meine Eltern immer noch leben. Ich leide unter Atemnot. Ich merke: Die Auseinandersetzung mit meiner Familie hat nicht aufgehört. Mit meiner Rückkehr beginnt ein neuer Blick auf meine Eltern.
BORN IN EVIN
WOMIT HABEN WIR DAS VERDIENT
Eva Spreitzhofers kurzweilige, höchst vergnügliche und dabei kluge Komödie zur Zeit. Die atheistische, feministische Ärztin Wanda (gespielt von Caroline Peters) fällt aus allen Wolken, als ihre pubertierende Tochter Nina (herrlich Chantal Zitzenbacher) ihr eröffnet, sie sei zum Islam übergetreten. Die Weltoffenheit der liberalen Patchwork-Familie steht nun auf dem Prüfstand. Weltanschauungen prallen aufeinander, Sichtweisen verändern sich. Eine Komödie über die Suche nach Erklärungen, nach Zugehörigkeit, nach Identität, nach Zusammenhalt und paradiesischen Zuständen. WAS UNS BINDET
Der mir dem Großen Diagonale Preis für den besten Dokumentarfilm ausgezeichnete Film von Ivette Löcker zeigt ein entwaffnendes und berührendes Familienporträt. Gerade als ich geglaubt habe, endlich mit meinen Gefühlen für meine Eltern und meine Herkunft im Reinen zu sein, vererbt mein Vater mir und meiner Schwester sein 46
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Der Dokumentarfilm BORN IN EVIN erzählt die Geschichte von Regisseurin und Schauspielerin Maryam Zaree, die sich auf die Suche nach den gewaltvollen Umständen ihrer Geburt in einem der berüchtigtsten politischen Gefängnisse der Welt macht. Vor genau vierzig Jahren wurde der Shah und mit ihm die iranische Monarchie gestürzt. Ayatollah Khomeini, der neue religiöse Führer, ließ nach seiner Machtergreifung Zehntausende von politischen Gegnern verhaften und ermorden. Unter den Gefangenen waren auch die Eltern der Filmemacherin, die Jahre im Gefängnis überlebt haben und nach Deutschland fliehen konnten. Vielfach, zuletzt mit dem deutschen Filmpreis, prämierte filmische Spurensuche. SCHULKINO VOD CLUB
Gerne möchten wir auf eine neue Initiative des KINO VOD CLUB aufmerksam machen: SCHULKINO VOD CLUB https://schulkino. vodclub.online. Gerade in Zeiten des Homeschooling und der zunehmenden Digitalisierung des Unterrichts soll damit ein wertvoller Beitrag zur Mediennutzung und Filmvermittlung geboten werden. Mittels Gutscheincode können SchülerInnen österreichische Filme via Stream ganz einfach zuhause anschauen.
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Fotos: Alamode, DVD-Labels
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Arthaus aus Frankreich: „Les misérables“
Neu als DVD & Blu-ray: „Die Wütenden - Les misérables“
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rankreich im Sommer 2018: Ein Land im Ausnahmezustand. Die Menschen strömen zu tausenden auf die Straßen (ein Bild, das uns zwei Jahre später schon ganz fremd vorkommt), umarmen sich, tanzen gehüllt in rot-weiß-blau: La Grand Nation im Freudentaumel vereint – endlich wieder Fußball-Weltmeister! Und für ein paar Tage schien es so, als wären die Probleme im Land, gravierende Armut, soziale Ungerechtigkeit, schwelender Fremdenhass, vergessen, im Jubelschrei untergegangen. Diese Bilder setzt Ladj Ly an den Anfang seines in Cannes mit dem Jurypreis und in weiterer Folge mit zahlreichen weiteren Preise ausgezeichneten wie heftig diskutierten Film. In Montfermeil, einem Pariser Vorort, wo Victor Hugo einst seinen titelgebenden Klassiker ansiedelte, herrschen raue Sitten, Bandenkriminalität und die Muslimbrüder. Ein Pulverfass, das jederzeit hochgehen könnte. Nur dass dieses Feuerwerk keine Freudensprünge verursacht, wie jene vom Sommer ‚18. Die Polizei hat längst kein Leiberl 48
SOZIALE BRENNPUNKTE mehr. Dennoch begleiten wir eine Streife auf ihrem Arbeitsalltag: Stéphane hat sich erst kürzlich hierher versetzen lassen und ist mit seinen beiden Kollegen, dem hitzköpfigen Chris und seinem ruhigen Pendant Gwada in Zivil durch die Straßen unterwegs. Es ist sein erster Dienst und wie alle rookies, ist er dazu verdammt, auf der Rückbank zu sitzen, zu beobachten und vor allem den Mund zu halten. Der Neuling wird – wie wir – zum Zuschauer, der in diese gänzlich fremde Welt hineingestoßen wird: Es bleibt nichts weiter als sprachlos zu staunen und hin und unbeholfen den Kopf zu schütteln. BAD COP Bei einer Gruppe Teenagerinnen, die an einer Bushaltestation steht, kann Chris zu Beginn noch den „bad cop“ raus hängen lassen. Später sieht das anders aus. Was zuerst wie ein Arbeitstag von vielen scheint, wird zu einem Höllenritt, als die Kunde von einem gestohlenen Löwenbaby die Runde macht. Tatsächlich forschen die Polizisten den Dieb rasch aus (im Viertel kennt jeder jeden, CELLULOID FILMMAGAZIN
man ist vernetzt und ein unvorsichtiges Instagram-Posting tut das Übrige). Die Festnahme des jungen Issa verläuft alles andere als planmäßig. Seine Freunde und er leisten erheblichen Widerstand – ein Schuss löst sich. Doch zu spät merken Stéphane und Co., dass die bei dieser missglückten Aktion von einer Drohne gefilmt wurden (so wird die Polizei „Opfer“ ihrer eigenen Methoden). Die Jagd nach der Aufnahme beginnt … Ladj Ly hat einen pulsierenden, kraftvollen und ganz und gar spannenden Film geschaffen, der keinen kalt lässt. Er kennt sich aus mit dem Leben in und an sozialen Brennpunkten: Schon 2007 verarbeitet er die Unruhen in den Pariser Vororten in einer Dokumentation, wenig später filmt er einen brutalen Polizeieinsatz, der den Beamten ihren Job kostet. Aus diesen Erfahrungen konzipiert er 2017 einen Kurzfilm (als Bonus vorhanden), der wiederum die Vorlage für „Les Misérables“ bildet: Exzellente Genrekost mit politischer Botschaft und extrem starken Finale! FLORIAN WIDEGGER
ENTSTAUBTE GRUSELKOMÖDIE
Teil 2 der William-Castle-Reihe: „Das alte, finstere Haus“ als Edel-Blu-ray
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orhang auf für Teil 2 der William Castle-Reihe bei Koch Media. Nachdem MR. SARDONICUS (1961) zu formidablen Blu-ray-Ehren gekommen ist, folgt mit DAS ALTE FINSTERE HAUS ein etwas unbekannterer Eintrag aus der Filmografie des erfindungsreichen RegieEntrepreneurs: Ein Remake des 1932er Klassikers von James Whale. Im Gegensatz zur damals 30 Jahre alten Vorlage, legt Castle seinen Film etwas weniger ernsthaft an – heraus kommt eine interessante Gruselkomödie, an der der Zahn der Zeit zwar etwas genagt hat, die aber in technischer Hinsicht auf wunderbare Weise entstaubt wurde. Tom ist Autoverkäufer aus Amerika, lebt aber bereits seit geraumer Zeit in London. Casper, sein in jeder Hinsicht
exzentrischer, aber finanziell bestens ausgestatteter Mitbewohner, bestellt bei ihm einen teuren Wagen und bittet ihn, diesen zum Landsitz seiner Familie zu bringen. Als Tom dort inmitten eines Sturms ankommt, findet er Casper allerdings tot in einem Sarg aufgebahrt vor, umgeben von dessen nicht minder exzentrischen Familienmitgliedern. Da der Regen nicht nachlässt, ist er gezwungen die Nacht bei ihnen zu verbringen – Stunden, in denen um ihn herum fleißig gestorben wird … William Castle bot sich bei diesem Film die Zusammenarbeit mit den legendären britischen Hammer-Studios, was sich in Besetzung, Locations und Tonfall niederschlägt. Alles ist etwas mehr als sonst bei ihm auf Parodie getrimmt, auf der anderen Seite muss auf die Gim-
micks, für die seine Arbeiten berühmt sind, verzichtet werden. Dafür sind die skurrilen Figuren, die DAS ALTE FINSTERE HAUS bewohnen, herrlich überzeichnet und immer wieder für den ein oder anderen Schmunzler gut: Potiphar, Caspers Onkel etwa, vermutet im strömenden Regen den Vorboten der Sintflut und ist eifrig am Zimmern einer neuen Arche. Ob er diese bis zum nächsten Morgen auch besteigen und in Sicherheit segeln kann, oder dem geheimnisvollen Mörder bis dahin zum Opfer wird, kann man nun anhand der technisch sauberen Blu-ray Veröffentlichung, die neben der Farb- auch die Schwarzweißfassung des Films sowie würdiges Bonusmaterial an Bord hat, herausfinden. Für die nächsten Einträge der Castle-Reihe wären trotzdem „seriösere“ Titel wie STRAIT-JACKET, 13 GHOSTS oder I SAW WHAT YOU DID wünschenswert! FLORIAN WIDEGGER
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KINO-
LEGENDEN
IMPRESSUM CELLULOID FILMMAGAZIN Nummer 3/2020 Juli/August 2020 erscheint zweimonatlich Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films Chefredakteur: Matthias Greuling Freie AutorInnen: Gunther Baumann, Jürgen Belko, Christopher Diekhaus, Paul Heger, Astrid Pozarek, Sarah Riepl, Carolin Rosmann, Katharina Sartena, Constantin Schwab, Manuel Simbürger, Florian Widegger, Sandra Wobrazek Coverfoto: Katharina Sartena Anzeigen: Katharina Sartena Layout/Repro: Matthias Greuling Werbeagentur Printed in Austria. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder.
Anschrift: celluloid Filmmagazin Carl-Zwilling-Gasse 32/19, 2340 Mödling Tel: +43/664/462 54 44 Fax: +43/2236/23 240 e-mail: celluloid@gmx.at Web: www.celluloid-filmmagazin.com Vertrieb: PGV Austria, Salzburg; erhältlich in 600 ausgewählten Trafiken in ganz Österreich im Bahnhofsbuchhandel, sowie bei Thalia, in ausgewählten Kinos oder direkt bei der Redaktion. Preise: Einzelheft: EUR 5,- (zuzüglich Porto und Verpackung: EUR 1,70); Abonnement für 6 Ausgaben: EUR 19,90 (inkl. Porto und Verpackung); Ermäßigte Abos für Studierende gegen Nachweis: EUR 14,90. Abonnements können bis zwei Wochen nach Erhalt der 6. Ausgabe (nach einem Jahr) schriftlich gekündigt werden. Andernfalls verlängern sie sich um ein weiteres Jahr zum jeweils gültigen Vorzugspreis für Abonnenten. Preise gelten innerhalb Österreichs. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion und Quellenangabe. © 2020 by Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films.
Diese Publikation wird unterstützt von
Land NÖ, Abteilung Kultur Stadtgemeinde Mödling, Abt. Kultur Stadtgemeinde Mödling, Abt. Kultur
Fotos: Schüren Verlag
Grundsätzliche Richtung der Zeitschrift gemäß §25 MedienG: celluloid begreift Film als Kunstform und will dem österreichischen und dem europäischen Film ein publizistisches Forum bieten. celluloid ist unabhängig und überparteilich.
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chlafen kann ich, wenn ich tot bin“, hat Rainer Werner Fassbinder einmal gesagt - und ist schließlich 1982 im jungen Alter von nur 37 Jahren gestorben, vermutlich an einer Mischung aus Kokain, Schlaftabletten und Alkohol. Als wüßte er, dass er nur ein kurzes Dasein haben würde, arbeitete Fassbinder ohne Unterlass und zählte zu den produktivsten Köpfen des neuen deutschen Films. Mit viel Selbstbewusstsein wähnte er sich stets an der Spitze seiner Zunft. „Er war sich seines Nachruhms bewusst. Natürlich hat er sich für den größten deutschen Regisseur aller Zeiten gehalten. Selbstverständlich“, schreibt Rolf Giesen in seinem Beitrag zu dem neuen Buch „Rainer Werner Fassbinder: Transmedial“, das aus Anlass zu Fassbinders 75. Geburtstag am 31. Mai bei Schüren erschienen ist. Der Band, herausgegeben von Werner C. Barg und Michael Töteberg, will ein neues Schlaglicht auf Fassbinders Oeuvre setzen, denn dass der Regisseur immer schon ein Getriebener seiner Kunst war, ist hinlänglich bekannt und auch oft erörtert worden. Der neue Ansatz ist nun, Fassbinders Arbeiten auf ihre Transmedialität hin zu untersuchen. Will heißen: Filme, die Fassbinder geschrieben und inszeniert hat, sind von ihm oft mehrfach bearbeitet worden, er schrieb fürs Theater und fürs Kino, adaptierte eigene und fremde Vorlagen immer wieder neu und interpretierte Stoffe unter unterschiedlichen Vorzeichen und in allerlei Genres. Wenn Fassbinder sich eines Stoffes mehrfach angenommen hat, dann war das nie eine bloße Zweitverwertung, sondern es handelte sich um Bearbeitungen für ein anderes Medium. Fassbinder experimentierte in der Vor-Internet-Zeit mit allem, was die mediale Welt hergab. Unter diesem Aspekt erscheint sein Werk in einem anderen Licht, wie die Beiträge des Buches zeigen. Rainer Werner Fassbinder: Transmedial, Werner C. Barg, Michael Töteberg (Hg.), Schüren Verlag, 224 Seiten, EUR 24,90
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