CINEMA FOREVER
4/2020 SEPTEMBER/OKTOBER EUR 5.00
celluloid
DIE RETTUNG DES KINOS? CINEMA FOREVER!
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CELLULOID FILMMAGAZIN 4/20
Foto:Warner Bros.
filmmagazin
Das schaurige Haus von Daniel Prochaska
Ab 30. Oktober im Kino
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CELLULOID FILMMAGAZIN
celluloid
inhalt ARTIG, NICHT BRAV
celluloid filmmagazin Ausgabe 4/2020 21. Jahrgang September/Oktober 2020
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DIE RETTUNG DES KINOS?
Können Filme wie „Wonder Woman 1984“ oder „Tenet“ die Wende im von der Corona krise gebeutelten Kinobetrieb bringen? Wohin geht die Entwicklung?
liebe leserInnen,
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Als diese Ausgabe in den Druck geschickt wurde, wussten wir immer noch nicht, ob es uns möglich sein wird, heuer zum Filmfestival nach Venedig zu fahren -steigende Infektionszahlen in Österreich und Italien machen derzeit jede Planung unmöglich. Dasselbe gilt für die Kinos: Sie leiden unter der Pandemie besonders, weil die großen Filme ausbleiben, solange in den USA die Kinos nicht unbeschränkt geöffnet sind. Es heißt also auch in den nächsten Monaten: Leben mit Corona hat alles verändert. Gerade in dieser Zeit ein zweimonatlich erscheinendes Filmmagazin zu produzieren, ist doppelt schwer: Werden die Inhalte aktuell genug sein? Woher kommt die Finanzierung, wenn der Anzeigenmarkt fast vollständig eingebrochen ist? Wir hoffen, dass Sie, liebe LeserInnen, uns in dieser schwierigen Zeit die Treue halten! Bleiben Sie gesund!
FEATURES 12 16 18 20 22 24 26 28 30
TENET Christopher Nolans neuer Film
wurde sehnlichst erwartet. Zurecht?
JOHANNA MODER siniert über ihre
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verlorene Generation, in „Waren einmal Revoluzzer“. Die Regisseurin im Gespräch. ANDREAS PROCHASKA über die Zusammen- arbeit mit Amazon Studios bei der Jugendserie „Alex Rider“ ATOM EGOYAN über seinen neuen Film „Guest of Honour“ RASSISMUS I: Warum man Filme wie „Vom Winde verweht“ auf den Index setzt RASSISMUS II: John Wayne, der gefallene Held JUBILAR: Sean Connery ist 90 NACHRUF I: Zum Tod von Ennio Morricone NACHRUF II: Joel Schumacher ist gestorben
FILMKRITIK
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12 Tenet 32 Pelikanblut 33 Ein bisschen bleiben wir noch 34 Corpus Christi 35 Artemis Fowl 36 Homemade
RUBRIKEN
Herzlichst, Ihr
Trivia: Die Viennale 2020 wird anders Neues im VOD-Club DVD & Blu-ray Kino-Legenden: Olivia de Havilland ist mit 104 Jahren gestorben
Fotos: Disney; zVg; Warner
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MATTHIAS GREULING CHEFREDAKTEUR UND HERAUSGEBER
CELLULOID ONLINE: WWW.CELLULOID-FILMMAGAZIN.COM CINEMA FOREVER!
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trivia BESONDERE VIENNALE IN BESONDEREN ZEITEN
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Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi hat trotz Corona-Krise viel vor.
CELLULOID FILMMAGAZIN
Foto: Katharina Sartena
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ie 58. Ausgabe der Viennale wird heuer von 22. Oktober bis 1. November stattfinden und damit um drei Tage kürzer ausfallen als üblich. Das ist der Corona-Pandemie geschuldet, die das Festival „zum Nachdenken über die Möglichkeiten eines Festivals unter besonderen Voraussetzungen“ zwingt, wie die Veranstalter sagten. Solange Corona und die Folgen präsent wären, „bleibt auch uns nichts anderes übrig, als flexibel zu sein, unser Augenmerk auf den jeweiligen Moment zu richten und für allfällige Veränderungen offen zu sein“. Einige Änderungen sind schon bekannt: So wird sich die gekürzte Viennale diesmal auf mehr Kinos im Wiener Stadtgebiet aufteilen, um die Kapazitäten an Sitzplätzen einigermaßen zu halten. Neu hinzu kommen diesmal unter anderem das Admiralkino, das Filmcasino oder das Votivkino. Inhaltlich präsentierte Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi Ende August die ersten Schwerpunkte: Sie will in Zeiten von Distanz ein „Fest der Synergien, der Kollaborationen, des Zusammenlebens“ ausrichten. Nicht so umfangreich wie sonst ist die Auswahlmöglichkeit für das Programm, da zahlreiche andere Festivals abgesagt wurden. Die Viennale zeigt heuer zum Beispiel neue Arbeiten von Kelly Reichardt, Frederick Wiseman, Heinz Emigholz oder Eliza Hittman, etliche davon waren auf der Berlinale zu sehen. Ein Österreich-Schwerpunkt soll helfen, die entfallene Diagonale zu kompensieren, die dazugehörige Reihe „Austrian Days“ soll Möglichkeiten zur internationalen Vernetzung der Branche geben. Eine Monografie zeigt das filmische Werk von Christoph Schlingensief, die Retrospektive im Filmmuseum widmet sich unter dem Titel „Recycled Cinema“ dem Werk etlicher Found-Footage-Filmemacher, die ihre Filme aus vorhandenem Material zusammenstellen. WWW.VIENNALE.AT
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Gal Gadot schlüpft zum zweiten Mal in die Rolle von Wonder Woman, in „Wonder Woman 1984“
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Warner Bros.
FILMSTART: 02.10.20
RETTET SIE DAS KINO? CINEMA FOREVER!
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Foto: Katharina Sartena
Gal Gadot kehrt als Wonder Woman zurück in die Kinos - hoffentlich. Nach mehrmaliger, coronabedingter Startverschiebung gieren die Kinobetreiber nach Filmware, die endlich das zurückbringt, was Corona genommen hat: CASH! Aber klappt der Neustart?
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Sie könnte vermutlich das Virus genauso effektiv vermöbeln wie ihre Filmgegner: Wonder Woman (Gal Gadot) kehrt auf die Leinwand zurück
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s liegt ein großes Fragezeichen über diesem bevorstehenden Kinoherbst: Zum einen ist unklar, ob bei einer Zunahme der CoronaInfektionen die Kinos wieder schließen müssten, zum anderen darf bezweifelt werden, ob in den USA die Kinos wieder in geeigneter Zahl aufsperren können. Erst dann nämlich werden die großen Studios ihre potenziellen Blockbuster freigeben, da man ihnen vorzugsweise weltweite Kinostarts ermöglichen will, um die Verluste durch Raubkopien in Grenzen zu halten. 8
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Die Corona-Krise hat die Grundfeste der Lichtspieltheater erschüttert, und mit ihnen auch das Selbstbewusstsein einer ganzen Branche: Wo man früher mit stolz geschwellter Brust in Top-Courture über den roten Teppich stakste, sind solche Events heute verboten - rote Teppiche finden derzeit maximal ohne Publikum, ohne Fans und mit automatisierten Kameras statt - der Redakteur sitzt dabei in einem räumlich getrennten Studio und stellt seine Fragen. Das ist nicht das Showbusiness, wie wir es kennen. Dass dies noch eine Zeit lang so bleiben könnte, ist allerdings anzunehmen.
Warner Bros.
Fotos: Votivkino; zVg
CORONA-LOCKDOWN, KEIN FILMNACHSCHUB, BEGRENZTE SITZPLÄTZE. DOCH DAS WAR NOCH NICHT ALLES: DIE GRÖSSTE KRISE STEHT DEM KINO NOCH BEVOR.
Der verkopfte „Tenet“, der nun startet (siehe Seite 12) wird wohl nicht der Umsatzbringer sein, den man sich erwartet. Nächste Hoffnung: „Wonder Woman 1984“, in dem Gal Gadot zum zweiten Mal als Superheldin zu sehen sein wird. Der Überraschungsbonus aus dem ersten Film, der 2017 herauskam und alle Erwartungen übertraf, ist dahin, dazwischen liegen Umbrüche in Hollywood, die die MeToo-Bewegung eingeläutet hat, eine Pandemie, und die Gewissheit, dass Gal Gadot es beim zweiten Mal mindestens so gut machen muss wie in Teil eins. Was den wenigsten Sequels gelingt.
„Wonder Woman 1984“, angesiedelt im Jahr 1984, soll es für Warner und die Kinos richten. Mehrfach verschoben, wird nun ein Start am 2. Oktober angepeilt. Dann wird Wonder Woman wieder kämpfen. Die Superheldin sieht sich diesmal mit gleich zwei völlig neuen Gegnern konfrontiert: Max Lord und Cheetah. Mehr wird derweil zum Inhalt nicht kolportiert, alles muss geheim bleiben, schließlich sollen die Leute ja ins Kino gelockt werden. Wer den Trailer gesehen hat, weiß aber: Materialschlacht plus weibliche Reize, diese Kombination wirkt auch im PostMeToo-Skandal-Hollywood. Der Film ist die große Herbsthoffnung der Multiplexe, die mangels Filmware derzeit ihren Planzahlen weit hinterherhinken. In Österreich hat die CineplexxKette - mit 70 Prozent unangefochtener Marktführer am Kinosektor - seine Mehrsaal-Kinos tageweise sogar geschlossen. Im ländlichen Raum Montag und Dienstag, im urbanen am Montag. Sogar der Umsatzbringer, die Kinowelt in der SCS, bleibt derzeit montags geschlossen. Kann das auf die Dauer gut gehen? HILFERUFE Die Cineplexx-Gruppe hat schon Anfang August, bei der Wiedereröffnung der Standorte, einen Hilferuf an die Politik gesendet: „Wie in vielen anderen Branchen, ist durch die mehrmonatige Schließung ein enormer wirtschaftlicher Schaden entstanden. Bei rund 150.000 Besuchern, die wir durchschnittlich pro Woche üblicherweise ganzjährig zählen, haben wir nun Verluste, die wir nicht mehr aufholen können“, zeigt sich Christof Papousek, Vize-Chef bei Cineplexx, besorgt. „Um die nächsten Schritte zu planen und das Budget unter Einbeziehung etwaiger staatlicher Hilfen festzulegen, benötigen wir dringend Details, wie der Fixkostenzuschuss in seiner Verlängerung CINEMA FOREVER!
ausgestaltet sein wird. Drei Monate als Bemessungszeitraum für die Unterstützung sind nicht ausreichend, denn die gesamte Branche musste nicht nur mehr als drei Monate geschlossen halten, sondern verfügt Corona-bedingt nur über eine sehr eingeschränkte Anzahl an Film-Neuerscheinungen. Dies dauert sicher über mehr als sechs Monate an“, so Papousek. „Es bedarf aber auch weiterer Finanzierungsmöglichkeiten für Unternehmen. Aufgrund der temporären Corona-Verluste, die gesunde Unternehmen nun erleiden mussten, sind neue Finanzierungen für Projekte nur schwer zu erhalten. Die Garantien, die für die Überbrückungsfinanzierungen gewährt werden, müssen den Firmen auch in den Folgejahren für ihre Weiterentwicklung eingeräumt werden, sonst entsteht ein dramatischer Stillstand und Wettbewerbsnachteil gegenüber Unternehmen aus anderen Ländern“, fordert Papousek. HIOBSBOTSCHAFTEN Und das sind nur einige Probleme der Branche, die sich beim hiesigen Marktführer besonders bemerkbar machen. Die größte Krise steht dem Kino allerdings noch bevor: Es war eine Hiobsbotschaft, als der Disney-Konzern verkündete, seinen als Premium-Produkt angelegten Blockbuster „Mulan“, der mehr als 200 Millionen Dollar in der Herstellung gekostet haben soll, nun nach mehreren Kinostartverschiebungen ausschließlich beim hauseigenen Streaming-Dienst Disney+ zeigen zu wollen. Ab 4. September könne man in den USA den Film dort streamen, jedoch nicht im Rahmen des günstigen Abopreises, sondern um eine zusätzliche Leihgebühr von 29,99 Dollar. Das ist das überraschende Ergebnis einer Investorenkonferenz, die über den Vertrieb des potenziellen Blockbusters beraten hatte. Zuvor war der Film, der am 26. März 2020 in die Kinos hätte kommen sollen, 9
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Philipp Jelenska
Das Lachen wirkt ein wenig gequält: Christof Papousek (links) und Christian Langhammer leiten die Cineplexx-Gruppe - und bekommen angesichts fehlender Filmware und ungewisser Zukunft gerade viele Sorgenfalten.
wegen der Corona-Krise bereits mehrfach verschoben worden. Zuletzt hatte Disney den Film auf „Ohne Termin“ gesetzt. Der Meinungsumschwung bei Disney betrifft zunächst die Märkte in Nordamerika, Australien, Neuseeland und einigen nicht näher genannten europäischen Ländern. Überall dort, wo Disney+ noch nicht verfügbar ist, soll der Film jedoch einen regulären Kinostart bekommen. In Deutschland und Österreich ist Disney+ bereits verfügbar. Insgesamt hat der Konzern inzwischen weltweit mehr als 60 Millionen zahlende Disney+-Kunden. Würden nur 10 Prozent dieser Kunden den zusätzlichen Leih-Betrag für „Mulan“ berappen, hätte das Studio mit 180 Millionen Dollar seine Kosten beinahe schon wieder eingespielt. NEUE WEGE Bei Disney beteuert man indes, dass die aktuelle Maßnahme lediglich ein dem Virus geschuldeter Versuch ist, um „Mulan“ doch noch entsprechend breit anbieten zu können. Disney-CEO Bob Chapek betonte: „Wir wollen den Konsumenten dieses Angebot machen und daraus lernen“. Man verfolge jedoch keine generelle neue Vertriebsstrategie über Disney+, betont das Management. Kinobetreiber würde dies vermutlich verängstigen: Durch die Pandemie 10
werden laufend Tabus der klassischen Filmverwertungskette gebrochen, Disneys Vorstoß ins Digitale gliche - wenn er Schule macht - einem Todesstoß für so manches Multiplex-Kino. Denn dort braucht man Blockbuster wie „Mulan“. Sollte „Mulan“ also ein Einzelfall bleiben, der akuten Krise geschuldet? Oder ist es der Anfang vom Ende der klassischen Filmverwertungskette? Für letzteres spricht das Vorpreschen der Universal Studios, die einen folgenschweren Deal mit der größten US-Kinokette AMC abgeschlossen hat: Sie einigten sich darauf, dass Universal in den USA seine Filme bereits 17 Tage nach dem Kinostart in den Online-Verleih bringen kann. Bislang lag das Kinofenster bei durchschnittlich 75 bis 90 Tagen. Dabei geht es um sogenannte Premium-Angebote, bei denen Filme für 15 bis 20 Euro ausgeliehen werden können - also zum Preis eines Kinobesuchs. Über die Konditionen für Europa soll in den kommenden Wochen verhandelt werden. Macht die Praxis Schule, stehen die Kinos mit dem Rücken zur Wand, und zwar weltweit. „Mit dieser neuen Vereinbarung möchte man natürlich dem Publikum das flexiblere Konsumieren von neuen Filmen ermöglichen und die Vereinbarung gilt vorerst nur für die USA“, sagt Christian Langhammer, Chef CELLULOID FILMMAGAZIN
der Constantin- und Cineplexx-Gruppe. „Wir verfolgen die Verhandlungen für den europäischen Markt sehr genau, denn diese haben natürlich für die FilmAuswertung und alle beteiligten Akteure am Filmmarkt bedeutende Auswirkungen. Wir stehen vor einem chancenreichen, aber auch gefährlichen Wendepunkt“, so Langhammer. Gezündelt mit der neuen Strategie hatte Universal bereits während des Lockdown: Als die Kinos geschlossen blieben, brachte Universal seinen Animationsfilm „Trolls World Tour“ im Frühjahr stattdessen in den OnlineVerleih. Das zahlte sich aus: In drei Wochen spielte der Film allein am USMarkt knapp 100 Millionen Dollar ein. Der Chef von NBCUniversal, Jeff Shell, machte daraufhin eine weitreichende Ankündigung: „Wir gehen davon aus, dass wir Filme in beiden Formaten veröffentlichen werden, wenn die Filmtheater wieder öffnen.“ Der Filmtheater-Betreiber AMC, zu dem in Deutschland die UCI-Kinos gehören, kündigte daraufhin an, gar keine Streifen des Studios mehr zu zeigen. Die nunmehrige Einigung auf ein 17-Tages-Fenster legt diesen Streit vorerst bei. LÖSUNGEN „Für Cineplexx steht selbstverständlich das Kinoerlebnis unangefochten an erster Stelle“, betont Papousek. „Kinos spannen den Bogen von Kultur zu Unterhaltung und sind nach wie vor Erlebnisorte, an denen Gäste die Kombination aus einem attraktiven Filmangebot, modernster Technologie und höchster Qualität genießen. Wir hoffen, dass nicht nur Cineplexx, sondern alle Akteure in der Branche, in Österreich von der Politik als kleiner, aber wichtiger Wirtschaftszweig erkannt werden und mit staatlichen Unterstützungen die Corona-bedingte Krise meistern können. Es braucht aber dringend schnelle Lösungen“, so Papousek. Schnelle Lösungen, die hätten derzeit nur die findigen und kräftigen SuperheldInnen parat: Wonder Woman könnte die Corona-Viren und ihre Trittbrettfahrer vermutlich ordentlich effektiv vermöbeln. Und dann die Leute zurück in die Säle bringen. Vielleicht erhört sie uns. O
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CHRISTOPHER NOLANS „TENET“:
RÜCKWÄRTS IN DIE ZUKUNFT FILMSTART: 26.08.20
Darauf haben die Kinobetreiber fast sehnlicher gewartet als die Fans: Mit dem Kinostart von „Tenet“ in Österreich Ende August kam ein lange ersehnter Blockbuster in die Lichtspielhäuser. Hält er, was er verspricht?
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anchmal sind die ältesten Tricks einfach die besten. Das kann durchaus behaupten, wer Christopher Nolans neuen Sci-FiThriller-Fantasy-Action-BlockbusterFilm "Tenet" gesehen hat. Denn darin bemüht der für seine oftmals verkopften Spektakelfilme bekannte britische Regisseur einen der ersten und damit ältesten Tricks der Filmgeschichte: Er lässt sein Material rückwärts laufen, die Menschen gehen rückwärts und sprechen rückwärts und - wäre dies eine Komödie - sie würden sogar rückwärts lachen. Der simple Trick ist freilich so simpel nicht: Denn Nolan gemäß gibt es in ein und derselben Einstellung auch Dinge, die sich vorwärts bewegen, und das Fantasiewort "Tenet", das hier als Spionage-Codewort benutzt wird, verleiht dem Film nicht umsonst einen Titel, der als Palindrom von vorne und hinten gleich gelesen wird. Nolan hat mit "Tenet" ein Verwirrspiel vor, das auf einem mindestens ebenso simplen Ausgangspunkt be12
ruht wie die Idee vom Rückwärtslaufen: Es muss ein Dritter Weltkrieg verhindert werden, und genau damit sind John David Washington und Robert Pattinson in ihren Rollen als Agenten betraut. Dass Nolan den Film mit einer Eröffnungssequenz voll rasanter Action in der Kiewer Oper beginnt, wo Terroristen eine Vorstellung stürmen, zeigt, was möglich wäre, ließe man diesen Regisseur einmal Hand an die James-Bond-Reihe legen. Und dieser John David Washington, der Sohn von Denzel Washington, gäbe dabei einen ganz famosen 007 ab, noch dazu in schwarz. Dass "Tenet" jetzt doch noch den Weg ins Kino gefunden hat, ist nicht selbstverständlich. Der Film hätte das große Frühjahrs-Highlight von Warner Brothers werden sollen, doch die Corona-Pandemie machte dem weltweiten Kinostart immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Eine Terminverschiebung jagte die nächste, bis man sich schließlich zur Änderung der Strategie entschloss: Filme in der Größenordnung von "Tenet" starten die US-Studios gewöhnlich gleichzeiCELLULOID FILMMAGAZIN
tig in allen Kinomärkten der Welt, weil man nur so verhindern kann, dass sich Raubkopien im Netz wie ein Lauffeuer verbreiten und die Besucherzahlen dadurch hinter den Erwartungen zurückbleiben. Im Fall von "Tenet" ging man nun einen Mittelweg: Der Film startete in allen halbwegs sicheren Märkten, darunter in Deutschland und Österreich, am 26. August. In den USA, wo die Pandemie ungleich stärker wütet als in Europa, sind die meisten Kinos noch geschlossen, und "Tenet" wird dort erst in den nächsten Wochen nachgereicht (der US-Start war zu Redaktionsschluss noch unklar). Ein Tabubruch zwar, aber einer, der anscheinend auf Druck der Kinobranche weltweit auch bei Warner zu einem Umdenken geführt hat: Lieber ein paar wichtige Schlüsselmärkte wie Deutschland oder Italien bedienen, als den Film ewig weiter zu verschieben. Konkurrent Disney ist noch nicht so weit: Dort wanderten die meisten vielversprechenden Filme derweil auf "Ohne Termin". Für Christopher Nolan, der Ende Juli seinen 50. Geburtstag feierte, be-
filme mit alten Super8-Kameras gedreht. Sehr oft sind es schier unglaubliche Welten, in die Nolan sein Publikum entführt, aber die Fantasy steht dabei eigentlich im Hintergrund: Nolan will uns nämlich glauben machen, dass das alles gar keine Fantasy ist, was er uns erzählt. Er wagt ein experimentierfreudiges Gedankenkino, in das viele bahnbrechende Ideen einfließen, über die sich sonst bloß Wissenschaftler den Kopf zerbrechen. Kein Wunder, dass Nolan über seine Arbeit sagt: "Ich mache das
Rasantes Opening, besser als bei Bond: „Tenet“ beginnt mit einem Terroranschlag in der Oper von Kiew
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Warner Bros.
deutete die Verschiebung eine Vollbremsung in seiner inzwischen umfangreichen Karriere: Diese brachte Titel wie "Memento", die "Batman"-Trilogie, "Inception", "Interstellar" oder zuletzt "Dunkirk" hervor. Fünf Oscar-Nominierungen gehen bislang auf sein Konto. Nolans Filme sind meist geprägt von einer nicht unbedingt linearen Erzählweise, die Geschichten sind fantastisch, außergewöhnlich, wie ein realisierter Bubentraum. Kein Wunder eigentlich, hatte Nolan doch schon im zarten Alter von sieben Jahren erste Kurz-
den kann. Ein ausuferndes Gedankenexperiment, von dem man - des Spoilerns wegen - lieber nicht zu viel verrät. Gesagt werden darf jedoch, dass "Tenet" kein Zeitreise-Schwank ist wie dereinst die (überaus klug konstruierte) "Zurück in die Zukunft"-Trilogie. Zeitreisen finden hier nicht statt, vielmehr geht es um den Begriff "Inversion", also Umkehr. "Ich wollte das Interagieren mit Zeit kombinieren mit den klassischen Konventionen des Spionage-Films", sagt Nolan. "Es geht um Zeit, und wie wir sie erleben. Ich liebte schon als Kind Spionagefilme und wollte immer einen machen. Aber nicht, ohne dem Genre etwas Neues mitzugeben. Am einfachsten erklärt ist es so: Was ‚Inception‘ dem Heist-Movie mitgab, das soll ‚Tenet‘ dem Spionagefilm bringen". Der "Protagonist", so bezeichnet sich die namenlose Figur von John David Washington gern, soll in "Tenet" einen stinkreichen Verbrecher namens Sator (Kenneth Branagh) zur Strecke bringen, der ein seltsames Gerät besitzt, das offenbar die Zeit beeinflusst. Radioaktivität ist aber auch im Spiel, und Kat (Elizabeth Debicki), die Frau des Schurken, leidet unter seinen Besitzansprüchen ebenso wie unter der Trennung von ihrem kleinen Sohn, die Sator befiehlt. Genug Gründe also, um den Bösewicht zu jagen. Und zwar mithilfe der
Inversion, denn: "Man hat eine Zukunft in der Vergangenheit", und so eine Aussage lässt sich dann auch optisch hervorragend mit einer Verfolgungsjagd mit Trucks und Limousinen auf einer Autobahn illustrieren, in der vorwärts und rückwärts gefahren wird (und es heftig kracht), aber auch in einer FlughafenSequenz, bei der eine Cargo-Maschine voller Goldbarren mit Speed in den Hangar kracht. Der Rest ist Verknüpfungsarbeit für das gut geölte Zuschauerhirn, das sich vom "Protagonisten" John David Washington in all seiner Körperlichkeit durch ein Spektakel geleiten lässt, das mancher auch als blöd und hanebüchen empfinden kann. Aber Nolans Hirn will uns fordern, das ist wichtiger als jeder Stunt, jeder Effekt. Und das ist ja bekanntlich selten geworden im USMainstream. Die Chuzpe ist nun, dass es genügt, wenn Nolan die Bilder immer wieder mal rückwärts laufen lässt. "Seht her", suggeriert dieser Regisseur seinem Publikum, "die effektivste Art der Illusion muss gar nicht kompliziert sein. Sie entstammt eurem Kopf ". Treten Sie näher, das Kino ist bei Nolan auch wieder zu jener Jahrmarktattraktion geworden, als die es einst begann. Die simplen Tricks waren schon damals die effektivsten.
MATTHIAS GREULING
John David Washington brilliert in „Tenet“ als Geheimagent. 14
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nicht für Geld oder Ruhm, sondern einzig und allein fürs Geschichtenerzählen. Die Story muss mich faszinieren, und ich bin ein Verfechter der Tatsache, dass Filme keine linearen Erfahrungen sind, sondern komplexe Erzählungen, über die man auch im Nachhinein noch lange nachdenken kann". Nachdenken, das kann man bei "Tenet" allemal, denn der Film ist mit seinen epischen 150 Minuten vollgestopft mit Action, die aber niemals nur einem Unterhaltungsaspekt dient, sondern die Nolan immer auch mit Sinn anzufüllen versucht. Zugleich ist die visuelle Ebene seiner Filme stets darauf ausgerichtet, sprichwörtlich "großes Kino" zu zeigen, da haben Flatscreens, und seien sie auch noch so riesig, keine Chance. Nolan ist gleich Kino. Er dreht unentwegt und unbeirrt auf 65mm-Film, und so ist auch "Tenet" in ausgewählten Kinos als schillernde 70mm-Kopie zu sehen. Das gab es schon bei einigen seiner früheren Filme, unter anderem bei der "Batman"-Trilogie. Was ist also nun das Rätsel, dass er seinen Zuschauern diesmal mit auf den Weg gibt, wie dereinst die Vielschichtigkeiten in Filmen wie "Inception" oder "Interstellar"? "Tenet" arbeitet sich erneut am Thema Zeit ab; eine Ebene, die in Nolans Welt genauso beschritten wie die räumliche Distanz zurückgelegt wer-
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INTERVIEW DAS PORTRÄT EINER
VERLORENEN GENERATION Regisseurin Johanna Moder über ihren zweiten Spielfilm „Waren einmal Revoluzzer“.
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it „Waren einmal Revoluzzer“ umreißt Johanna Moder bereits im Titel, worum es in ihrem zweiten Spielfilm geht: Menschen, Mitte, Ende 30, stehen noch mit genügend Zukunft da, um ausladend über Fehler und deren Vermeidung zu reflektieren. Die befreundeten Paare Helene und Jakob sowie Volker und Tina waren früher mal richtig wild unterwegs, mittlerweile sind sie (fast) erwachsen. Doch dann bringt eine besoffene Idee einen russischen Dissidenten und seine 16
Julia Jentsch und Manuel Rubey befinden sich zu Beginn des 5. Lebensjahrzehnts auf einer Art Sinnsuche.
Familie nach Wien, und die geregelten Verhältnisse stürzen ein wie ein Kartenhaus. Der Film wirft einen Blick darauf, dass sich im Bobo-Mittelstand in dieser Altersklasse trotz vieler Freiheiten und weiter Horizonte doch auch Engstirnigkeit und Kleinbürgerlichkeit eingeschlichen haben. Eine Reflexion auf die (eigenen?) Lebensentwürfe, die Moder hier hinterfragt und daraus ein nicht uncharmantes Generationenporträt anfertigt, in dem jeder letztlich an sich selbst und den hohen Ansprüchen an eine alternative Lebensweise scheitert. CELLULOID FILMMAGAZIN
Geht es Ihnen in diesem Film vor allem um die Frage, ob ein Lebenskonzept möglich ist, das die engagierte Lebenshaltung der Jugend nicht verrät und man irgendwann, ob man will oder nicht, in der Schleife der Normalität landet? Johanna Moder: Mir kommt nur meine Generation besonders verloren vor, ich nehme sie als Generation wahr, die sich selbst nicht auskommt. Yuval Noah Harari bezeichnet in seiner Kurzen Geschichte der Menschheit unsere Epoche als die des „romantischen Konsumismus“, was ich für einen sehr treffenden Gedanken halte. Im alten Ägypten galt
Filmladen
FILMSTART: 28.08.20
das Grab in der Pyramide als höchstes zu erreichendes Glück, auf das man hingearbeitet hat. Heute stehen dafür die schöne Eigentumswohnung, der geräumige SUV oder die romantische Liebe, denen wir hinterherlaufen. Gleichzeitig wissen wir, dass die Erfüllung nie die erhoffte Zufriedenheit bringt, daher sind wir in einem Zustand der Getriebenheit und ersehnen etwas, das uns nicht glücklich macht, sind die ganze Zeit unglücklich und kommen aus diesem Hamsterrad nicht heraus. Das Bemühen, durch Konsumartikel Seelenheil zu finden, widerspricht ja dem Kapitalismus. Würde man das ersehnte Glück finden, hätte der Kapitalismus ausgedient. Sie haben bereits in „High Performance“ einen ironischen Blick auf ihre Generation geworfen, die zum damaligen Zeitpunkt eher Anfang dreißig und gerade auf der Suche war, im Leben Fuß zu fassen. Nun, fünf Jahre später, sind Ihre Protagonistinnen etabliert. Wie würden Sie den Lebensmoment von Helene, Jakob und Volker beschreiben? Das, wo die gerade in ihrem Leben stehen, würde ich mit dem Hineinfahren in eine Garage vergleichen. Sie sind haben es gerade geschafft, ihren Wagen in der Garage einzuparken und stellen fest, dass es da nicht so spannend wie erhofft und noch dazu dunkel ist. Jede Abgrenzung von Lebensmodellen einer vorangehenden Generation führt wieder in neue Konventionen. Auch in dieser Generation gibt es wieder einen Konsens über das „gute“ Leben, den guten Geschmack und subtile Statussymbole, die beweisen, dass man wieder wo dazugehört. Wie schwierig ist es, da eine Kritik anzubringen? Es ist gewiss schwieriger, weil ich nicht mehr weiß, wen genau ich mit meiner Kritik anspreche. Auch das war früher klarer. Jetzt ist es so vielfältig und jeder versucht, seinen individuellen Weg, auch abseits von Vorbildern zu finden. Und es stimmt: Jetzt gelten der Selbstfindungstrip nach Indien oder die Vinylsammlung als Statussymbole. Man entscheidet sich für eine Schicht und muss darauf schauen, dass man ihr mit allem Für und Wider entspricht. Eine Anpassung an eine unsichtbare Co-
dierung, die nur diejenigen verstehen, die Teil dieser Gesellschaft sind, so wie bei den Superreichen. Wenn ich sage, meine Generation scheint mir so verzweifelt, dann möchte ich betonen, dass das meine Sichtweise ist. Es gibt wohl genug VertreterInnen meiner Generation, die zufrieden sind. Wenn ich z.B. mit Hinblick auf die Klimakrise einen Blick auf die Welt werfe, dann ist der mit Katastrophen bestückt und die Zukunftsaussichten sind recht trübe. Es ist höchst fraglich geworden, wie man sein Glück finden kann. Eine Lösung wäre, sich biedermeierlich zurückzuziehen. Das Haus am Land ist ein Symbol dafür, dass man sich einen Ort erschaffen kann, an dem die Welt in Ordnung ist und man dort sein Glück finden kann. Man kreist allerdings auch dort nur um sich selber. Ich hatte schon bei High Performance das Gefühl, dass meine Figuren verzweifelt sind, sie sind es ganz eindeutig geblieben. Sie sind halt sehr beschäftigt, deshalb sieht man’s nicht so deutlich. Sie haben sich dafür entschieden, nicht von einer syrischen Flüchtlingsfamilie zu erzählen, sondern von politischen Aktivisten aus Moskau. Warum? Es hat dafür mehrere Gründe gegeben: Zunächst kam eine Anregung aus meinem persönlichen Umfeld, wo Menschen eine russische Familie nach Österreich geholt haben. Vor allem wollte ich mich nicht in die Klischeewelle hineinmanövrieren, die zum Zeitpunkt des Schreibens natürlich sehr nahe lag. Und darüber hinaus glaube ich, dass Russland und die dortige Unterwanderung von demokratischen Verhältnissen, die wir inzwischen auch in Ungarn und Polen haben, für Europa ein Land darstellt, das wir im Auge haben sollten. So wie wir auch beobachten sollten, wie sich die politischen Verhältnisse in Österreich entwickeln. Es gibt immer mehr Stimmung gegen Non-Profit-Organisationen, das halte ich für eine gefährliche Entwicklung für uns alle. Mit den drei Paaren Helene/Jakob, Volker/Tina und Pawel/ Eugenia, die in der Backstory auch schon in anderen Konstellationen miteinander verflochten waren, entsteht ein interessantes CINEMA FOREVER!
Beziehungsgespann, in dem sich die Allianzen ständig verschieben und Grenzen überschritten werden. Hat sich das Drehbuch in erster Linie aus diesem Figurengeflecht entwickelt? Die drei Paare waren von Anfang an da. Es war für mich eine neue Erfahrung und ganz schön kompliziert, mit so vielen Figuren eine Geschichte zu bauen und ein für die Betrachter emotional befriedigendes Band durch die Geschichte zu ziehen. Die beiden männlichen Hauptdarsteller Manuel Rubey und Marcel Mohab waren in den Schreibprozess sehr stark eingebunden, vor allem zu Beginn, wo sich die Grundkonstellation der beiden Paare – eines mit zwei Kindern, eines ohne Kinder – herausgebildet hat. Zwischen den beiden war sehr schnell klar, wer welche Figur spielen würde – Manuel den Jakob, Marcel den Volker. Die männlichen Figuren hatten durch die Mitarbeit am Buch immer einen starken Fürsprecher, andere Figuren hatten niemanden hinter sich und mussten für sich alleine kämpfen. Ich finde es sehr inspirierend, gemeinsam zu schreiben, auch wenn sich der Stoff von der ursprünglichen Idee total wegentwickelt hat. Es fließen Ideen ein, die einer allein nie haben kann. Die Geschichte hat eine Vielschichtigkeit bekommen, die ich alleine nicht hergestellt hätte. Die Hilfsaktion geht letztlich daneben, der russischen Familie hat man sich elegant entledigt und niemand fragt sich mehr nach ihrem Schicksal. Der Film endet mit einem Rückzug in den Familienkokon. Die bestürzende Indifferenz betten Sie sehr subversiv mit Musik und einem Feuerwerk in eine Atmosphäre des sanften Vergessens. Für mich hat „Waren einmal Revoluzzer“ ein sehr bitteres Ende. Ich finde es aber gut, wenn man die Möglichkeit hat, da mehr hineinzuinterpretieren. Volkers Satz: „Verdrängen, verdrängen, verdrängen!“ ist ein vielsagender Satz, der von einem erfolgreichen Psychotherapeuten ausgesprochen wird und für uns alle gilt. Anders könnten wir nicht existieren. Es gibt auch keine Lösung. Weder für die Figuren noch für uns.
INTERVIEW: KARIN SCHIEFER
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INTERVIEW „BEI UNS IST FILM NOCH
ROCK‘N‘ROLL!“ Andreas Prochaska ist der Regisseur hinter der neuen, britischen Amazon-Serie „Alex Rider“. ZU SEHEN AUF AMAZON PRIME
Foto: Des Willie
In „Alex Rider“ steht ein TeenagerSpion im Zentrum, gespielt von Otto Farrant (Mitte), hier zu sehen am Set mit Prochaska und Vicky McClure.
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n Großbritannien ist die Buchreihe um den Teenager Alex Rider sehr bekannt. Seit 2000 hat Anthony Horowitz 13 Romane um den JugendSpion geschrieben - und mit der seit August bei Amazon Prime Video abrufbaren Serie wird die Geschichte um Alex Rider, der nach dem Tod seines Onkels, eines Spions, plötzlich selbst beim MI-6 zu arbeiten beginnt, wohl auch in vielen weiteren Teilen der Welt
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bekannt werden. Hinter der Serie steckt der österreichische Regisseur Andreas Prochaska, der mit Filmen wie „In 3 Tagen bist du tot“ oder „Das finstere Tal“ große heimische Erfolge feierte und mit der Sky-Serie „Das Boot“ zuletzt auch international in Erscheinung trat. celluloid: Herr Prochaska, wie kam es zu diesem Schritt ins internationale Filmgeschäft? CELLULOID FILMMAGAZIN
Andreas Prochaska: Nach der Arbeit an der Serie „Das Boot“ wurde man auf mich aufmerksam. Sony wollte mich als Regisseur für vier der acht Folgen der Serie, man hat wohl geschätzt, dass ich mich bereits in etlichen Genres ausprobiert hatte und so eine gewisse Vielseitigkeit sichtbar war. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich jemals eine Serie mit einem Teenager-Spion in der Hauptrolle drehen würde.
Sie waren auch als Executive Producer an Bord, das ist aber eher mehr ein Ehrentitel. Wofür? Konkret, weil man mich bat, den Look für die gesamte Serie zu entwickeln. Man will einem Projekt schon ein bisschen den Stempel aufdrücken, die Freude am Filmemachen ist ja das Gestalten, denn beim Dreh sind die Abläufe sonst ja überall die gleichen, egal, ob zehn oder 100 Leute im Team sind. Welchen Einschnitt brachte die Corona-Zeit für Sie? Ich habe diese Zwangsentschleunigung genutzt, um viel an neuen Projekten zu schreiben, aber auch, um die Zukunft zu planen. Mir wurde bewusst, dass ich nicht mehr von einer in die nächste Produktion hasten, sondern auch einmal etwas auf die Bremse steigen will. Läuft man Gefahr, zu viel Routine zu entwickeln? Am Ende hängt es immer von der
Geschichte ab, die man erzählen will. Ich hatte einmal ein Angebot für eine Serie, die im alten Rom spielt, aber da hätte man mich für die letzten paar Folgen engagiert, wo also schon alles auf Schiene ist und du als Regisseur eigentlich nur mehr Dienstleister bist. Das interessiert mich nicht. Welche Projekte interessieren Sie denn als Nächstes? Ich werde einen Zweiteiler für das ZDF und ServusTV machen, mit Tobias Moretti. Auch, weil das Herumreisen derzeit sehr kompliziert ist. Ich liebe es, international zu arbeiten, aber man lernt auch zu schätzen, wie es bei uns ist. Hier ist Filmemachen immer noch mehr wie Rock’n’Roll, weil es nicht so überreglementiert ist. International ist alles sehr penibel geregelt. Sie haben großes Kino gemacht, aufwändige TV-Filme, Serien. Wo sehen Sie sich selbst in Ihrer Laufbahn? Im Moment werden viele Serien gemacht, weil die Nachfrage nach ConCINEMA FOREVER!
Foto: Nik Konietzny - Bavaria Fiction GmbH
Die Serie läuft auf Amazon. Wie paradiesisch ist das Arbeiten für StreamingDienste, bei denen das Geld ja sehr locker sitzt? Im Fall von „Alex Rider“ ist es anders: Da hat Sony die Serie gedreht und ist erst danach auf die Suche nach Abnehmern gegangen. Aber Sie haben recht: Die Budgets sind andere. Wir hatten pro Folge rund zwei Millionen Euro zur Verfügung, jedoch ist das auch kein Riesenbudget, wenn man damit in London dreht - mit einem doppelt so großen Team wie normal. Da schmilzt das Geld schnell dahin.
Foto: Stefan Rabold
Was macht den Reiz an einer Serie wie „Alex Rider“ aus? Die Buchreihe ist für Zwölfjährige, meine Aufgabe war es, das Material erwachsener zu erzählen. Sony wollte damit in die Zielgruppe der Young Adults, viele der Leser der ersten Bücher sind inzwischen erwachsen, auch die sollte ich abholen. Meine Version ist nun eine Art „Jason Bourne trifft Coming-ofAge“, die Hauptfigur ist ein Teenager, der in Situationen gerät, in die man in seinem Alter eigentlich nicht kommt. „Alex Rider“ ist eine lässige Bubenfantasie, eine Spionagegeschichte, mit dessen Held sich jeder identifizieren kann.
2018 realisierte Andreas Prochaska für Sky die prestigeträchtige Verfilmung von „Das Boot“ als Serie.
tent enorm ist. Aber ich würde sehr gerne wieder einen Kinofilm machen und suche dazu auch schon länger nach einem Stoff, der so gut ist, dass man bereit ist, dafür 12 Euro zu zahlen, um ins Kino zu gehen. Die Königsdisziplin ist stark bedroht, gerade in Zeiten von Corona. Was meine eigene Wahrnehmung angeht: Ich fühle mich immer noch in der Pubertät meiner Filmlaufbahn und bin total neugierig, was als nächstes passiert. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING 19
INTERVIEW
Filmladen
BEREITS GESTARTET
David Thewlis waltet in „Guest of Honour“ seines Amtes als Lebensmittelkontrolleur
J
im (David Thewlis) ist gestorben, und hat verfügt, dass nur ein ganz bestimmter Pfarrer die Trauerrede halten darf. Wieso, das versucht seine Tochter Veronica (Laysla De Oliveira) herauszufinden - und im Gespräch mit dem Geistlichen wird viel gesprochen über Jims einstigen Beruf als Lebensmittelkontrolleur in Restaurants: Er hat die Betriebe auf Einhaltung der Hygienestandards überprüft (und nicht selten grauenvolle Entdeckungen in den Küchen gemacht). Genau deshalb war Jim nicht immer ein gern gesehener „Guest of Honour“ (derzeit im Kino), ein Ehrengast. So nennt der kanadischarmenische Regisseur Atom Egoyan 20
sein neues Werk, es ist irgendwo an der Grenze zwischen Thriller, Komödie und Drama angesiedelt, und es erzählt nicht nur von schlechten Restaurants, sondern auch von der Persönlichkeit seiner Hauptfigur, über die so manches Ungeahntes ans Licht kommt. Und auch, dass Veronica für ein Sexualverbrechen ins Gefängnis ging, das sie gar nicht begangen hat, trägt nicht unbedingt zur Normalisierung der Lage bei. celluloid: Wie so oft in Ihren Filmen mischen Sie die Genres, diesmal ist Ihr Film wie ein Befundbericht über Familie, Elternschaft, Macht und Missbrauch. Woher stammt die Idee? Atom Egoyan: Die Idee rührt aus meiCELLULOID FILMMAGAZIN
ner eigenen Elternschaft, ich habe überlegt, was ich alles über meinen Sohn weiß, und was nicht. Was muss ich als Elternteil wissen, was darf ich wissen und was nicht? Wie weit reicht meine Verantwortung als Vater? Darüber hinaus arbeitete mein Sohn bei einem französischen Restaurant in unserer Heimatstadt Toronto und erzählte mir eines Tages von diesem Lebensmittelkontrolleur, der seinem Boss ordentlich zu schaffen machte. An jeder Kleinigkeit nörgelte er herum. Ich hörte mir all diese Geschichten genau an, und stellte bald fest, dass es wichtig ist, dass es Menschen gibt, die solche Macht und Kontrolle haben - denn sie arbeiten penibel, damit sie unsere Sicherheit ge-
Familie, Tod und Restaurant-Kontrolle: Der kanadische Regisseur Atom Egoyan über „Guest of Honour“, seinen neuen Kinofilm.
ÜBER SO MANCHES
SPRICHT MAN NICHT Zugleich ist der Kontrolleur nicht in der Lage, seine eigene Familie unter Kontrolle zu halten. Ein schöner, dramaturgischer Widerspruch… Ich begann, an diese sehr traurige, aber völlig plausible Falle zu denken, in der sich der Vater und die Tochter befanden, dass da etwas in ihrem Leben passiert war, das katastrophal gewesen ist. Es gibt Dinge, die ein Vater einer neunjährigen Tochter nicht sagen kann, aber die Tochter kreierte trotzdem Bilder, die ihr später unglaublich schaden sollten. Das Vater-Tochter-Verhältnis ist in „Guest of Honour" der Schlüssel. Jim und Veronicas gemeinsame Zeit ist schwebend in den Film integriert. Manifest werden die Erinnerungen lediglich im Gespräch mit dem Geistlichen, das sich wiederkehrend durch den Film zieht. Wenn ich eine solche Situation im Drehbuch beschreibe, dann sind es immer diese Bilder in den Rückblenden, die mir auch die Form für den Film diktieren. Es ist aber niemals klar für den Zuschauer, wie genau diese Beziehung aussieht, und ich glaube, darin liegt die Energie dieses Films. Es muss Geheimnisse geben. Mit David Thewlis haben Sie nicht nur einen bekannten Mitwirkenden der „Harry Potter“-Filme gecastet, sondern auch einen herausragenden Schauspieler, das kann er hier zeigen. Als ich ihm das Drehbuch schickte, und er zusagte, war ich ganz aus dem Häuschen. Wir trafen uns und es war fantas-
Atom Egoyan: „In einem Film muss es Geheimnisse geben“
Katharina Sartena
währleisten. Man muss manche Küchen wirklich sehr genau kontrollieren.
tisch. Man kann schwer beschreiben, wie es ist, mit jemandem zu arbeiten, bei dem die Performance so natürlich aus ihm herauskommt, als brauche er gar keine Anleitung. Und auch diese Intimität mit der Kamera, die David herstellen kann. Die Art und Weise, wie er die Vielzahl seiner unterschiedlichen Gefühle vermitteln kann, ist so inspirierend. Das war ein absoluter Höhepunkt für mich. Wie konstruiert man dieses Vor- und Zurückgehen in der Zeit, für das Sie schon 1998 für „The Sweet Hereafter“ zwei Oscarnominierungen erhalten hatten? Es ist ein System, bei dem die Schauspieler genau darüber informiert sein müssen, an welchem Punkt der Handlung sie sich gerade befinden, sonst funktionieren Zeitsprünge im Film nicht. Die Schauspieler müssen sich komplett die Orte und Szenen, die gedreht werden, zu eigen machen, sie CINEMA FOREVER!
verinnerlichen, und jede Verwirrung muss ich ihnen nehmen. Es ist ein sehr aufwändiger Prozess, den ich auch in Proben vorantreibe. Der Film streift viele universelle Themen, darunter auch das Thema Elternschaft, das die meisten Menschen angeht. Man macht Filme nur dann, wenn man sicher ist, dass sie ihr Publikum finden können. Deshalb sind die Themen wichtig. Man muss genug Vertrauen haben, dass die Geschichte, die man erzählt, auch eine Bedeutung für andere Menschen haben kann. Familienangelegenheiten gehören da sicher dazu. Vor allem, wenn es sich um die unausgesprochenen Angelegenheiten handelt, die es in jeder Familie gibt. Es sind Dinge, über die man nicht spricht, die letztlich aber die Macht haben, ganze Familien zu zerstören. INTERVIEW: MATTHIAS GREULING 21
ANALYSE
WEISSGEWASCHEN UND
VERSTECKT „Vom Winde verweht“, „Fawlty Towers“ & Co.: Überall nimmt man Filme mit unzeitgemäßen, rassistischen Inhalten derzeit vom Netz. Aber ist das die richtige Vorgehensweise?
Foto: Warner
Sensation - die tunlichst nur möglichst wenige Menschen mitbekommen sollten. Man hatte McDaniel samt schwarzer Entourage nämlich gar nicht erst in den Saal des Ambassador Hotels in Los Angeles eingelassen, in dem die Verleihung stattfand. Sie musste sich draußen am Flur aufhalten, man wollte farbige Gäste bei der durch und durch weißhäutigen Veranstaltung eigentlich vermeiden. Aber die Jury entschied sich für McDaniel, und 80 Jahre später setzte ihr die Netflix-Serie „Hollywood“ ein Denkmal - Queen Latifah spielt darin die erste schwarze Oscar-Preisträgerin.
Hattie McDaniel
A
ls Hattie McDaniel am 29. Februar 1940 ihren Namen hörte, den man bei der Oscar-Gala laut verlesen hatte, traute sie ihren Ohren nicht. Denn McDaniel hatte soeben als erste afroamerikanische Schauspielerin einen Oscar erhal22
ten, und zwar für die beste Darstellung in einer Nebenrolle, in Victor Flemings Epos „Vom Winde verweht“ (1939), wo sie „Mammy“, die Hausangestellte, spielte. Auch Viviana Leigh als Scarlett O’Hara gewann einen Oscar, den für die beste Hauptdarstellerin, aber Hattie McDaniels Gewinn war die eigentliche CELLULOID FILMMAGAZIN
OFFENER RASSISMUS Wie ein Sklave im Vorraum zu warten, das ist die brutale Zuspitzung der Missachtung, die Hollywood für seine farbigen Mitarbeiter seit jeher entgegenbringt. „Hollywood“, die Serie, wollte das zum Thema machen, wollte zeigen, wie drastisch dieser offene Rassismus dereinst war; und zeigt im Jahr 2020 leider doch nur, dass sich daran bis heute wenig geändert hat, in einem Land, in dem täglich Afroamerikaner von weißen Polizisten erschossen werden und ein Präsident mit der Zukunft einer ganzen Nation zündelt. Nicht genug damit, dass Hattie McDaniel seinerzeit im Vorraum geparkt wurde; ausgerechnet die schwarze Bürgerrechtsbewegung „National Association for the Advancement of Colored People“ (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen), kurz
NAACP, also McDaniels eigene Interessenvertretung, hatte sie dafür kritisiert, meistens Rollen anzunehmen, die den damals herrschenden, rassistischen Ressentiments gegen Afroamerikaner entsprachen. McDaniels war wütend: „Warum sollte ich mich beschweren, für eine Wochengage von 700 Dollar ein Hausmädchen zu spielen? Wenn ich das nicht täte, wäre ich selbst eines und mein Wochenverdienst läge bei sieben US-Dollar“, schäumte sie. VOLLER KLISCHEES Diese Geschichte zeigt ziemlich deutlich, in welchem Dilemma Farbige (nicht nur) in Hollywood bis heute stecken: Man behandelt sie als Menschen zweiter Klasse, denen man dann und wann ein Almosen in Form von anerkennenden Preisen zukommen lässt. Ihre Rollen stecken voller Klischees, oder aber: Man dreht Filme, die das amerikanische Gewissen reinwaschen sollen von all dem verbrecherischen Sklavenmief der Vergangenheit: Bekannte Regisseure wie Steven Spielberg haben ihre Anti-Rassismus-Dramen gedreht, im Fall von Spielberg etwa „Die Farbe Lila“ (1985) oder das Sklavendrama „Amistad“ (1993). Schwarze Filmemacher haben zwar nicht erst seit Spike Lee und dessen „Do the Right Thing“ (1988) über Polizeigewalt an Schwarzen eine laute Stimme in Hollywood, aber von einer Gleichstellung in Salär und Wahrnehmung ist diese Bevölkerungsgruppe noch weit entfernt. Die Ermordung von George Floyd sorgt jetzt auch für Aktionen aus der Ecke „vorauseilender Gehorsam“: Im Juli wurde „Vom Winde verweht“ (gegen den übrigens schon 1940 demonstriert wurde) wegen seines rassistischen Grundtons vom Spielplan des Kanals „HBO Max“ verbannt; der Sender will damit die ohnehin angeheizte Stimmung in den USA nicht unnötig reizen, hieß es, und auch: Man werde „Vom Winde verweht“ in Hinkunft wieder ins Programm nehmen, nicht aber ohne entsprechenden historischen Kontext. Dann soll vor dem Film etwa ein Insert erscheinen, auf dem steht: „Die rassistischen Darstellungen waren damals falsch und sind es auch heute“. Zensur oder die Schere für fragwürdige Szenen werden nicht angewendet. Aber: Auch andere Filme und Serien sind in übereilter Panik zurückgezogen worden: Netflix strich etwa die Serien „Summer Heights High“ und „Little
Britain“, die BBC in Großbritannien entfernte die „Fawlty Towers“-Episode „Die Deutschen“ wegen „rassistischer Beleidigungen“ gegen Deutsche, was dessen Mastermind John Cleese auf die Barrikaden trieb: Die Folge sei als Kritik an rassistischen Einstellungen zu verstehen, nicht als Aufforderung dazu. Irgendjemand bei der BBC hat in Cleese’ Augen den Sinn von Parodie nicht verstanden, aber das ist eigentlich logisch, bei der „Mischung aus Marketingleuten und kleinlichen Bürokraten“, die die BBC leiteten, so Cleese. Schnell gerät man in dieser Debatte an gefährliche Fronten. Die Pole sind eindeutig: Die einen, die Rassismus aus dem öffentlichen Bild löschen möchten, gerade in einem hochriskanten Wahljahr für die USA. Die anderen, die sich die Freiheit der Kunst nicht verbieten lassen wollen und vehement gegen Zensur sind. Die Frage, die sich zugespitzt stellt: Kann man Filme wie „Vom Winde verweht“ in all ihrer cineastischen Pracht noch gut finden und trotzdem kein Rassist sein? Muss ein Film immer durch einen tagesaktuellen, politisch korrekten Filter betrachtet werden? Dann müsste man die meisten Kunstwerke der Filmgeschichte verbieten, in denen es fragwürdige Figuren, Rollen, Besetzungen, Ressentiments oder Entstehungsgeschichten gab. IDEOLOGISCH FATAL Aber was tun mit Filmen wie dem ultrarassistischen Stummfilmepos „The Birth of a Nation“ (1915) von D.W. Griffith, der in den USA beim Anbieter „Sling TV“ ohne Vorwarnungen abrufbar ist und auch bei Amazon auf DVD bestellt werden kann? Den die NAACP schon bei seiner Premiere boykottierte, weil er den Ku Klux Klan glorifizierte und Schwarze als sexuell getriebene Wilde darstellte? Es ist nicht die US-Filmgeschichte allein, die man hier an den Pranger stellen könnte: Allein die gut 1200 Spielfilme, die man während des „Dritten Reiches“ angefertigt hat, sind ideologisch fatal. Verbrecherische, hetzerische, zutiefst rassistische Filme wie „Jud Süß“ (1940) von Veit Harlan oder glorifizierende Dokus wie Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ (1935) sind bis heute verboten, es sei denn, man verknüpft ihre Vorführungen mit historischer oder psychologischer Einführung - es ist der Moment, wo das Konsumieren von CINEMA FOREVER!
Filmen zu einer Bildungsangelegenheit wird und die Filmvermittlung gefragt ist; dennoch kann man „Triumph des Willens“ leicht via Amazon als Import beziehen, und „Jud Süß“ war sogar bis vor kurzem frei zugänglich via Google Videos abrufbar. „VERALTETE KULTURELLE INHALTE“ Auch Disney hat seine Rassismus -Leichen im Keller: „Dumbo“ gilt als Paradebeispiel für rassistische Klischees, etwa mit seinem singenden Krähen-Quintett, dessen Anführer Jim Crow heißt, ein Name, den man in den USA des 19. Jahrhunderts gern für singende und tanzende Schwarze benutzte. Seit Anfang 2020 prangt bei Disney+ der Hinweis „Veraltete kulturelle Inhalte“ vor dem Film. Selbiger Hinweis erscheint auch vor „Susi und Strolch“ (1955) und „Fantasia“ (1940). Den Film „Onkel Remus’ Wunderland“ (1946) über einen alten Sklaven, der sich mit einem weißen Buben anfreundet, hat man beim hauseigenen Streamingportal vorsorglich erst gar nicht veröffentlicht. Auch aktuelle Filme blenden schwarze Realitäten gerne aus. „Ich schaute viele Weltkriegsdramen im Fernsehen, als ich ein Kind war“, sagt Spike Lee, der Rassismus in seinem Netflix-Drama „Da 5 Bloods“ thematisiert. „Aber es war mein Vater, der mir erklären musste, dass im Weltkrieg auch Schwarze gekämpft hatten“. Ein Beispiel des „Whitewashing“, das es im US-Kino bis heute gibt: in Christopher Nolens „Dunkirk“ (2017) etwa fehlen sämtliche farbigen Gesichter, obwohl im Zweiten Weltkrieg einer von vier Soldaten bei den Alliierten farbig war. Der Umgang mit diesen heiklen Teilen der Filmgeschichte sollte viel offensiver geschehen. Die schwarze Filmproduzentin Stephanie Allain sagte auf CNN kürzlich: „Solche Filme sind Teil unserer Filmgeschichte, sie sind Teil der amerikanischen Geschichte. Ich glaube nicht, dass sie versteckt und vergessen werden können. Ich denke, man muss diese Filme im Kontext von Rassismus und Sklaverei betrachten, und von dem Punkt aus, wo wir heute stehen“. Die Lösung liegt aber nicht in der Zensur oder dem Totschweigen, sondern im offenen Diskurs: Das Ziel ist, belastete, alte Filme nicht mehr so heutig erscheinen zu lassen. Solange in den USA aber die George Floyds sterben, wird das eine Utopie bleiben. MATTHIAS GREULING 23
ANALYSE
WUND UND BALD
GESUND? Mit John Wayne wird ein weiteres Denkmal der US-Geschichte demontiert. Das ist Teil der Genesung einer kranken Nation.
M
ocht’s es euch bequem, wäul jetz kummt da John Wayne“, sangen die Madcaps 1971 in Wien nach Musik und Text von Georg Danzer. Sie spielten darauf an, dass dieser überlebensgroße Westernheld ein diametral gegenseitiger Männertypus von dem Couch Potatoe war, der ihm in bequemer Lümmelhaltung vom Sofa aus beim Reiten und Schießen zusah. Wayne war der Inbegriff des Amerikanischen, ein Held, der wie kein zweiter den Wilden Westen verkörperte, und damit die Genese des modernen Amerika: Wo damals die Colts rauchten, rauchen sie oft bis heute, so unfertig und unstet wirkt das Land und seine als großartig beschriebene Demokratie gerade im Wahljahr 2020 wieder. Wayne war zum Zeitpunkt des Madcaps-Songs aber schon lange keine lupenreine Identifikationsfigur mehr, nicht bei den Amerikanern und auch nicht international. Nach einer fast 50-jährigen Karriere beim Film, wo man ihn meist als raubeinigen Sheriff, Marshall oder Soldaten sah, hatte er 1969 den Zenith seiner Karriere erreicht, als er den Oscar als bester Hauptdarsteller für „Der Marshal“ bekam. Zugleich wurde Wayne immer wieder auffällig, was seine Äußerungen zu politischen Themen anging. Er, der Über-Held, wurde auch zum Inbegriff des US-Imperialismus, sagte öffentlich, man solle den Vietnamkrieg doch am besten mittels Atombombe beenden und gab in Interviews noch andere g’schmackige Sager von sich. Mit Helden verhält es sich so: Sie haben eine ganz andere Fallhöhe als ein gewöhnlicher Mensch, weshalb ihre Abstürze dann auch entsprechend spektakulär ausfallen und das mediale Rummms dazu auch. Weshalb es genau jetzt in unsere Zeit passt, dass man das Denkmal von John Wayne zum Einsturz bringen will, denn mitten in die aufgeheizte Stimmung in den USA in Hinblick auf die „Black Lives Matter“-Bewegung platzte kürzlich ein altes Interview, das Wayne 1971 dem Playboy gegeben hatte: Darin hatte er von der Überlegenheit der weißen Rasse gesprochen, von „white supremacy“, und auch gemeint, Afroamerikaner hätten noch etliche Erziehung 24
nötig. Auch sagte er über Schwarze: „Ich fühle mich nicht schuldig wegen der Tatsache, dass diese Leute vor fünf oder zehn Generationen Sklaven waren“. Die demokratische Partei im kalifornischen Orange County will den dortigen Flughafen, der gleich nach dem Tod des Westernstars 1979 „John Wayne Airport“ getauft wurde, deshalb bald umtaufen lassen. Man will Zeichen setzen in den USA, die Massenproteste rund um George Floyds Tod zeigten das, und auch Akte wie diese. Umbenennungen, das Stürzen von Statuen einstiger Helden, problematische Filme mit Rassismus-Gedankengut (etwa Disneys „Dumbo“) auf einen Index oder zumindest mit Warnhinweisen versehen: In den USA organisiert sich eine ganze Generation in Hinblick auf Rassismus neu - wenn er schon nicht ausgelöscht werden kann, so sollen wenigstens seine sichtbaren Spuren ausradiert werden, scheint die Devise. „NICHTSTUENDE DEMOKRATEN“ Völlig klar, dass das jemandem wie Donald Trump nicht egal sein kann. Im Wahljahr stellte er sich nach Bekanntwerden der John Wayne-Flughafenumbenennung postwendend hinter die Filmikone. Wayne Rassismus zu unterstellen, das sei eine „unglaubliche Dummheit“, twitterte der Twitter-Präsident. Wayne, dessen großer Fan er sei, werde nun von den „nichtstuenden Demokraten“ verunglimpft. Auch Waynes Sohn Ethan hatte sich auf CNN über das Vorhaben enerviert. Die Textstelle sei aus dem Zusammenhang gerissen, sein Vater mit Sicherheit kein Rassist gewesen. Dem ultrakonservativen Nachrichtensender Fox News sagte der 58-Jährige außerdem: „Lassen Sie mich klarstellen: Es ist ungerecht, ihn wegen eines einzelnen Interviews zu verurteilen. John Wayne stand für das Beste in allen von uns, er stand für eine Gesellschaft, die keinen diskriminiert, der den Amerikanischen Traum leben will“ (Was Interpretationsspielraum in Hinblick auf all jene ermöglicht, die den Amerikanischen Traum NICHT leben wollen). Und: „Wäre er dabei gewesen, wäre er zwischen die Polizisten und George Floyd gegangen,
CELLULOID FILMMAGAZIN
Foto: StudioCanal
John Wayne und Maureen O‘Hara in dem Western „Rio Grande“ (1954), als Blu.ray erhältlich bei StudioCanal/Arthaus
denn das wäre das einzig Richtige“. Die Causa zeigt, wie elektrisiert die Stimmung in den USA derzeit ist; da entzünden sich Debatten sogar an Toten, solange sie nur genug Symbolcharakter haben. Das ist vielleicht ein Lernprozess innerhalb der stetig schwelenden RassismusSeuche, die Nordamerika überzieht. Und es ist kein nordamerikanisches Phänomen: In Wien ist der Dr.-Karl-Lueger-Platz auch immer noch nach dem Wiener Bürgermeister benannt, der besonders üblen Rassismus-Fantasien gefrönt hatte. KELLERLEICHEN Amerika räumt mit seinen Kellerleichen derzeit hingegen im großen Stil auf. Überall im Land fallen die Denkmäler von zweifelhaft gesinnten Ikonen: Es stürzen Statuen von Konföderierten-Generälen, von Reiterstandbildern, von Präsidenten der abtrünnigen Südstaaten und Präsidenten wie Andrew Jackson, dereinst glühender Befürworter der Sklaverei. Warum es mit John Wayne nun eine Westernikone trifft, liegt auf der Hand: Niemand sonst stand in der Filmgeschichte so sehr für dieses konservative Amerika, das sich nach dem Sezessionskrieg und der Abschaffung der Sklaverei mit viel unterdrücktem Selbsthass, mit viel Wut und begrabenen Ideologien auseinandersetzen musste. So tief konnte man diese Ideologien nicht begraben, dass sie nicht bis heute allerorts und immer wieder zum Vorschein kamen. John Wayne war eben ein Repräsentant dieser „Gestrigen“, jemand, dem man eben auch als Privatmann die konservative Position anmerkte, auch, weil er sie lautstark verkündete. Aber er ist damit nicht allein: Viele der größten Hollywood-Stars sind oder waren erzkonservativ in ihren Überzeugungen. Clint Eastwood hat aus seiner Nähe zu den Republikanern nie einen Hehl gemacht (er lehnt Trump jedoch ab), „Ben Hur“ Charlton Heston war jahrelang Präsident der US-Waffenlobby „National Rifle Association“, Gary Cooper, Bob Hope, Cary Grant, Dennis Hopper, Mickey Rooney oder Clark Gable - sie alle wählten konservativ. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie Rassisten waren, aber die meisten Rassisten waren in den USA eben eher in den Reihen der Republikaner heimisch. Seinen Fans bleibt der „Duke“ vermutlich nicht wegen des Flughafens, der nun umbenannt werden könnte, in Erinnerung, sondern wegen seiner Filmrollen, in „Rio Bravo“, „Ringo“, „Red River“, „Der schwarze Falke“, „Hatari!“ oder „Alamo“. Es ist kein Zufall, dass es Stars wie Wayne gegeben hat, zu einer Zeit, in der Amerika seit einem Jahrhundert ohne Sklaven war, die Rassentrennung in den Köpfen aber aufrecht geblieben war. Das Westerngenre inszenierte man lange als die Allmachtsfantasie der überlegenen Weißen, sich ein im Grunde fremdes Land untertan zu machen; all das getarnt durch spannende Plots und wilde Schießereien, letztlich auch Kriegshandlungen der USA legitimierend - Propaganda, wie sie im Buche steht. Dieses Genre hat spätestens mit Waynes Tod einen drastischen Wandel durchlaufen, dessen Höhepunkt sich vielleicht in Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ (1980) oder Clint Eastwood „Erbarmungslos“ (1992) am besten abbildet. Dass man nun mit Hass und Wut auf die Ära von Westernfilmen und Stars wie John Wayne reagiert und auch ihre Symbole ausradieren will, mag ein scharfer Einschnitt für die Rezeption der US-Filmgeschichte bedeuten, bei der immer auch der Propaganda-Aspekt mitgedacht werden muss. Vielleicht ist dieser Einschnitt aber zur Gesundung dieser Nation, die das Kino wie kein anderes Land als Nationalgut betrachtet, DORIS NIESSER schon mehr als nötig gewesen. CINEMA FOREVER!
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JUBILAR
Foto: MGM
Sean Connery, für viele der beste Bond aller Zeiten
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CELLULOID FILMMAGAZIN
ALLES GUTE,
MISTER BOND! Sean Connery feierte seinen 90. Geburtstag.
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ünktlich zu seinem 90. Geburtstag am 25. August hätte man Sir Sean Connery ein besonderes Geschenk machen können - wenn man 34 Millionen Euro übrig hat. Das kostet nämlich die südfranzösische Villa des James-Bond-UrDarstellers, von der aus man am Cap de Nice von einem Hügel aufs Meer blicken kann. Die Traumimmobilie, in der auch Szenen von „Sag niemals nie“ (1983) gedreht wurden, steht neuerdings zum Verkauf. Connery, der für viele der beste aller Bond-Darsteller war, hat keine Lust mehr auf den Luxus mit Meerblick, wie er sich überhaupt in den letzten Jahren konsequent aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Connery, der 1962 im ersten offiziellen James-BondAbenteuer „Dr. No“ als Geheimagent auftrat und über Nacht zum Star wurde, meidet die Presse und hatte schon nach seinem letzten offiziellen Bond-Film genug von der Schauspielerei. Damals, nach seinem sechsten Bond-Film „Diamantenfieber“ (1971) wollte er den Schauspielerberuf den Rücken kehren, weil, wie er sagte, „der Ruhestand so unglaublich schön“ sei. Seine Filmografie zeigt, dass Connery da seine Karriere noch lange nicht an den Nagel gehängt hatte. Vielmehr begann in den 70er und 80er Jahren seine zweite, seine Post-Bond-Karriere, in der er auch zeigen konnte, dass er nicht bloß zum smarten Agenten taugte, sondern auch des Schauspielens mächtig war - ein Vorurteil, das viele Schauspieler kennen, die einmal eine
Paraderolle angenommen haben, die sie später nicht mehr los geworden sind. Aber Connery war kein verbitterter Bond-Schauspieler, sondern einer, der immer stolz war, den legendären Agenten ein Gesicht gegeben zu haben. Dabei war Connery keineswegs der erste Bond-Darsteller: Der Amerikaner Barry Nelson spielte Bond in dessen erstem Auftritt in einer TV-Serie, in der 1954 Ian Flemings „Casino Royale“ verfilmt wurde - mit Peter Lorre als Bösewicht Le Chiffre. BOND MIT TOUPET Aber erst mit Connery wurde Bond zur Legende: Der große, schlanke und adrette Agent mit dem soliden Scheitel (schon ab dem zweiten Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ (1963) musste der Glatzenträger Connery ein Voll-Toupet tragen) wurde von Connery sechs Mal verkörpert, ehe er nach „Man lebt nur zweimal“ (1967) die Rolle an den glücklosen Einmal-Bond George Lazenby übergab, dessen Bond-Film „Im Geheimdienst Ihrer Majestät“ von 1969 vielen als der beste Bond-Film überhaupt gilt. Doch Lazenbys Film floppte damals, und so kehrte Connery 1971 noch einmal in diese Rolle zurück - ehe der erfolgreiche Roger Moore übernahm. „Ich habe mit Bond meinen Frieden gemacht, ich habe ihn nie gehasst, im Gegenteil, aber diese Rolle klebt an mir, ich werde sie mit ins Grab nehmen“, sagte Connery einmal über 007. „Aber für einen Schauspieler ist es auch normal, dass man sich andere CINEMA FOREVER!
Rollen sucht als bloß die eine, die einen bekannt gemacht hat“. Das hat Connery nach seiner Agenten-Rente dann auch getan, und zwar mit Erfolg: Meist ohne Toupet war er in Filmhits wie „Mord im OrientExpress“ (1974), „Robin und Marian“ (1976), „Time Bandits“ (1981) oder „Der Name der Rose“ (1986) zu sehen, zu seinen Filmpartnern zählten auch Austro-Größen wie Klaus Maria Brandauer und Helmut Qualtinger. Nach einer Rückkehr in die Rolle von James Bond in dem inoffiziellen Bond-Film „Sag niemals nie“ (1983), in dem Brandauer den Bösewicht mimte, kamen dann Connerys wirklich erfolgreiche Filmrollen, für die er auch als Schauspieler gefeiert wurde: Etwa „Die Unbestechlichen“ (1987), „Jagd auf Roter Oktober“ (1990) oder „Das RusslandHaus“ (1990). In „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ (1989) wurde er zum Kult-Helden als Vater von „Indy“ Harrison Ford. „Die Wiege der Sonne“ (1993) und „The Rock“ (1996) wurden weitere Kulthits, ehe sich Connery mit „Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ (2003) von der Leinwand verabschiedete. Seither darf er das tun, was er schon nach den Bond-Zeiten am liebsten getan hätte: Die Pension genießen. Das konnte er auch, denn verdient hat er in seinem Leben genug: Während man ihm für „Dr. No“ noch läppische 20.000 Dollar zahlte, waren es für seinen letzten Film stattliche 17 Millionen. Und wenn er noch seine Villa los wird, ist Sir Connery vor allem eines: Stinkreich. PAUL HEGER 27
NACHRUF
EINFACH MEISTERLICH,
MEISTERLICH EINFACH Zum Tod des legendären Filmkomponisten Ennio Morricone.
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s ist eine dieser bitteren Hollywood-Inszenierungen, die auch Ennio Morricone passiert ist: Da schreibt man ein halbes Jahrhundert lang einige der wichtigsten Scores der Filmgeschichte und dann gibt es ausgerechnet erst zu einem Zeitpunkt den Oscar für die beste Filmmusik, an dem man beginnt, sich selbst zu zitieren. Als Morricone 2016 für Quentin Tarantinos Western „The Hateful 8“ den Oscar erhielt, da war das mehr die Würdigung eines Lebenswerks denn des konkreten Films: Auch, wenn Morricone darin noch einmal zu einer Hochform auflief, die ihn dereinst berühmt gemacht hat - der Score zu „The Hateful 8“ ist am Ende doch mehr eine Hommage an das Genre denn eine origi-
näre oder originelle Filmmusik. So war das im Werk von Tarantino schon immer, nur für Morricone war es neu. Aber im Unterschied zu Tarantino, der sich immer schon quer durch die Filmgeschichte geklaut hat, konnte Morricone bei sich selbst klauen, so umfangreich ist sein Oeuvre. ABSCHIED Am 6. Juli 2020 ist Morricone mit 91 Jahren infolge eines Sturzes in Rom verstorben. Bis ins hohe Alter tourte er mit seiner Musik durch die Welt, er war längst sein eigenes Markenzeichen geworden; nicht viele haben das geschafft: Den eigenen Beruf (die eigene Berufung) so zu vermarkten, dass man trotz der an sich unspektakulären Arbeit eines Komponisten doch zu einem weltweit gefeierten Star avanciert. Morricone ist das gelungen, er
Machte Morricone weltberühmt: Die Musik zu „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968)
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CELLULOID FILMMAGAZIN
füllte ganze Konzerthallen, wenn er seine Stücke mit großen Orchestern dirigierte. Morricones Arbeit bestand allerdings nie nur im Komponieren eingängiger Melodien, das wäre ihm zu wenig komplex gewesen. Vielmehr arbeiten seine Scores dramaturgisch jedem Film zu. Morricones Musik erledigte das, was Michael Haneke für seine Filme seit jeher kategorisch ausgeschlossen hat, nämlich, dass sie die Arbeit des Regisseurs übernimmt, um seine Fehler zu kaschieren. Tatsächlich ist Morricone mit der Art, wie er seine Musik anlegt, immer ein Zuarbeiter der Regisseure gewesen, vor allem, wenn er mit Kompositionen und außermusikalischen Elementen die Bilder auf der Tonebene fortschrieb. Morricones legendärste Filmmusik, jene zu Sergio Leones „Once Upton a Time in the West“ („Spiel mir das Lied vom Tod“), mit ihrer flirrenden Mundharmonika und einem Zusammenspiel aus Geräuschen (darunter Maultrommeln, Kojotengeheule) und sehr aufeinander abgestimmten einfachen Klangmustern ist das Paradebeispiel für seine Art, Filmmusik zu verstehen: Morricone reichte ein einziger Ton, ein Dreiklang oder ein Motiv, um daraus die Themen für Figuren, ja für ganze Filme zu entwickeln. Diese scheinbare Einfachheit hat wenig mit den oft aufwändigen Orchester-Scores von Kollegen wie John
Fotos: Archiv, zVg
Der Maestro schwang gern den Taktstock selbst: Ennio Morricone tourte bis ins hohe Alter mit seiner Musik durch die Welt.
Williams, Hans Zimmer, James Horner oder Danny Elfman zu tun, die viel symphonischer arbeiten als Morricone. Der Nachteil von Morricone Herangehensweise ist die klangliche Einfalt, die durch die Limitierung auf wenige Töne entstehen kann. Der Vorteil ist: Sein Sound wurde unverkennbar, viele seiner Scores brannten sich ins kollektive Gedächtnis der Filmgeschichte. Dieser meisterlich einfache Zugang zum Musikmachen fand auch viele Nachahmer, vor allem in der BMovie-Szene und im Spaghetti-Western. 500 FILME Es sind am Ende mehr als 500 Filme, zu denen der 1928 in Rom geborene Morricone die Musik beisteuerte. Morricones Einstellung zu seiner Arbeit war klar: Sein Schaffen würde er immer nur von Italien aus leisten, ein Umzug nach Hollywood kam für ihn nie in Frage. Auch seiner Weigerung, in Interviews oder bei Veranstaltungen auf Englisch zu sprechen, blieb er bis zuletzt treu. Und ebenso der durchaus einleuchtenden Aussage: „Einen schlechten Film kann selbst die beste Filmmusik nicht retten“. Dass der Italowestern an seinem Namen hängt wie kaum ein anderes Genre, liegt an den bekannten Scores zu Filmen wie „Für eine Handvoll Dollar“, „Zwei glor-
reiche Halunken“ und eben „Spiel mir das Lied vom Tod“ - doch bei genauerer Betrachtung machen die Western in seinem Werk nur einen Bruchteil der Arbeiten aus. Der studierte Chormusiker und Trompeter, der 1947 als Theaterkomponist begann und wenig später zum Rundfunk wechselte, spendierte seine Klänge auch Filmen, die wenig mit Spektakel oder Hollywood zu tun hatten. So stammt etwa der Score zu Pasolinis „Decameron“ von Morricone, ebenfalls jener zu Bertoluccis „1900“. Er vertonte Dario Argentos Regiedebüt „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“, Henri Verneuils „Die Schlange“, Giuseppe Tornatores „Cinema Paradiso“ oder Roland Joffés „Mission“, um relativ wahllos nur einige wenige Produktionen herauszugreifen. Ab den 1990er Jahren arbeitete Morricone jährlich an bis zu 15 Filmmusiken, er schrieb aber auch Musik für die Popwelt, etwa für Paul Anka, Andrea Bocelli, Morrissey oder die Pet Shop Boys. Ein ganz besonderes, weil ungemein einprägsames Beispiel seines Stils, mit nur wenig Noten und simplen Melodien auszukommen, stellt die Musik zur italienischen Kult-TV-Serie „Allein gegen die Mafia“ dar, die in den 80er und 90er Jahren auch in Österreich sehr populär war. Der Ehrenoscar, den man Morricone 2007 verlieh CINEMA FOREVER!
(mit einer Laudatio von Clint Eastwood), war ein Trost für ihn, nachdem er zuvor bereits fünf Mal erfolglos nominiert worden war. Das späte Oscarglück von „The Hateful 8“ ließ seinen Traum schließlich doch noch wahr werden. Interessant auch die Projekte, die Morricone nicht realisiert hatte: Schon für „Inglourious Basterds“ wollte Tarantino ihn haben, doch daraus wurde nichts. Auch beim Spätwestern „Heaven’s Gate“ von Michael Cimino hätte er um ein Haar mitgewirkt. Nach „Spiel mir das Lied vom Tod“ war Morricone ins Visier von Stanley Kubrick gerückt, der ihn unbedingt für „Uhrwerk Orange“ haben wollte, doch da Sergio Leone, der mit Morricone damals an „Todesmelodie“ arbeitete, behauptete, der Komponist sei unabkömmlich (was gar nicht stimmte), zerschlug sich das Projekt. Morricone hat diese verpasste Gelegenheit stets bereut. Aber Leone hielt damals eisern die Hand über Morricone, der für ihn wertvoll wie Gold war. Vielleicht war dieses Gespann Leone-Morricone gerade deshalb so erfolgreich, weil beider Weltkarrieren sehr früh begannen, und zwar gemeinsam: Morricone teilte mit Leone schon die Schulbank. Manchmal sind die Dinge eben ganz einfach.
HUBERT NEUDÖRFL 29
NACHRUF
Fotos: zVg; Archiv, Warner
„Batman“und „Falling Down“Regisseur Joel Schumacher ist 80-jährig verstorben.
EIN MAGIER DES MAINSTREAM
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„Batman Forever“ (1995)
CELLULOID FILMMAGAZIN
„Falling Down“ (1993)
A
uch, wenn aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommt, wer sich „Batman & Robin“ aus dem Jahr 1997 ansieht, man tut Joel Schumacher jetzt unrecht, ihn dieser Posse wegen in Erinnerung zu behalten. Die üppig ausgestalteten Verschalungen am Kostüm von Batman (George Clooney) und Robin (Chris O’Donnell), in denen jeweils deren Gemächt Platz fand, wurden nur mehr durch die sexy platzierten Nippel auf den Brustpanzern übertroffen. Und ja, auch Arnold Schwarzenegger als „Mr. Freeze“ machte in dem Film nicht die beste Figur. Aber Joel Schumacher stand dazu: Dieser Batman war - nach drei vorangegangenen Filmen - immerhin einer, der auch dem komischen Aspekt dieser meist als düster dargestellten Comicfigur gerecht werden wollte - und es da und dort auch schaffte. Wie man aus der Batman-TV-Serie der 1960er Jahre weiß, hat dieser Superheld durchaus ein (unfreiwillig) ulkiges Potenzial, und Schumacher könnte man durchaus unterstellen, er hätte damit spielen wollen. Auch seine offen gelebte Homosexualität trug dazu bei, dass das Batman„Nippelgate“ legendär wurde. Schumacher hatte sich seinen ganz persönlichen Superhelden designt - denn das war sein Erstberuf: Kostümbildner, ehe er ins Regiefach wechselte. Und George Clooney hat nicht nur einmal gesagt, dass er Batman in diesem Film durchaus als schwul angelegt hat. Strich drunter. Joel Schumacher, der am 22. Juni 2020 im Alter von 80 Jahren einen jahrelangen Kampf gegen den Krebs verloren hat und in seiner Geburtsstadt New York verstarb, ist ein Magier des US-Mainstream gewesen, der viel zu bieten hatte, vor allem fürs Auge: Opulenz war vor allem in seinen beiden Batman-Filmen wichtig: In „Batman Forever“ (1995) trat er das Erbe von Tim Burton an, der zuvor mit „Batman“ (1989) und „Batmans Rückkehr“ (1992) die Franchise völlig neu ersonnen hatte. „Batman Forever“ mit Val Kilmer in der Heldenrolle war eine erfrischende Fortführung, voller Fantasie und bei den Fans beliebt. Nach „Batman & Robin“ wurde ein geplanter fünfter Film gestrichen, und Schumacher widmete sich kleineren Projekten.
Denn da kam er eigentlich her, von den eher unterschätzten Dramen, die sich dann als Überraschungshits entpuppten, aber nie die Welt kosteten. Großes Hollywood-Kino, das Unsummen verschlang, war nie Schumachers Welt, auch, wenn er darin reüssieren konnte. Begonnen hat alles mit „St. Elmo‘s Fire - Die Leidenschaft brennt tief “ (1985), Schumachers dritter Regiearbeit, die ihm viel Applaus brachte. Der Film mit den damaligen sogenannten Brat-Pack-Stars (Schauspieler, die häufig zusammen auftraten und auch feierten) Emilio Estevez, Ally Sheedy, Rob Lowe und Demi Moore drehte sich um Drogen- und Liebesprobleme rebellischer Teenager. Der Regisseur bekannte sich damals offen zu seiner früheren Drogen- und Alkoholsucht, die ihm lange Jahre zu schaffen machte. In „The Lost Boys“ (1987) probierte er sich mit Kiefer Sutherland (ein langjähriger Weggefährte) erfolgreich im Horrorgenre aus, in „Seitensprünge“ (1989) zeigte er ein US-Remake der französischen Komödie „Cousin, Cousine“. Kein Genre schien Schumacher fremd, und als er 1990 mit „Flatliners“ einen Thriller um Nahtod-Erfahrungen drehte, in dem sich neben Kiefer Sutherland auch Julia Roberts und Kevin Bacon in den klinischen Tod versetzten, erhielt seine Regiekarriere in Hollywood den größtmöglichen Auftrieb. Mit „Falling Down“ ließ Joel Schumacher 1993 Michael Douglas mit einer Sporttasche voller Waffen in ein Fast-Food-Restaurant gehen und dort seinen Amoklauf beginnen, weil er zwei Minuten nach halb elf kein Frühstück mehr serviert bekam. Es ist vielleicht der CINEMA FOREVER!
Film, der in Schumachers Werk die USGesellschaft am besten skizzierte, sich an ihren Wunden abarbeitete, und vieles darin hat bis heute erschreckend aktuelle Gültigkeit. In diesem Höhenflug realisierte Schumacher die John-Grisham-Bestsellerverfilmungen „Die Jury“ und „Der Klient“ mit den Oscar-Gewinnern Susan Sarandon, Sandra Bullock, Tommy Lee Jones und Matthew McConaughey. Schumacher war ganz oben. „Batman Forever“ war dann sein finanziell erfolgreichster Film. Nach dem „Batman & Robin“-Flop drehte Schumacher „8mm“ (1999) mit Nicolas Cage - ein Film, der sich mit dem Phänomen der Snuff-Filme (Filmen eines Mordes zur sexuellen Erregung oder zur Unterhaltung) auseinandersetzte. Mit „Nicht auflegen“ (2002) folgte ein großartiges Kammerspiel, das nur in einer Telefonzelle in New York spielte: Als der PR-Agent Stu (Colin Farrell) einen Anruf in einer Zelle entgegennimmt, hat er einen Scharfschützen in der Leitung, der ihm mit der Erschießung droht, sollte er auflegen. Es sind schaurige 78 Minuten im Post-9/11-New York, die man gesehen haben muss. Seinen letzten Mainstream-Film „Trespass“ drehte er 2011, mit Cage und Nicole Kidman, danach verpflichtete man ihn noch für zwei Folgen von „House of Cards“ (2013). Gut sichtbar bleibt seine Bandbreite quer durch alle Genres, auch, wenn er am Ende doch vermutete, dass ihn der Flop von“ Batman & Robin“ für immer verfolgen würde: „Es wird auf meinem Grabstein stehen, das weiß ich“. DORIS NIESSER Wird es nicht. 31
Aufgrund der Corona-Krise mischen wir diesmal Kino-Kritiken mit Kritiken zu aktuellen Filmen der Streaming-Anbieter.
filmkritik PELIKANBLUT
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Unbehaglicher Mix aus Familiendrama und Schauerstreifen, der die Themen Elternschaft und Adoption umkreist.
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DCM Distribution
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ass sie für ein unbequemes Kino steht, demonstrierte die deutsche Filmemacherin Katrin Gebbe bereits mit ihrem kontrovers diskutierten Debütwerk „Tore tanzt“, das 2013 seine Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Cannes feierte. Die Geschichte um einen gläubigen Teenager, der sich in ein grausames Missbrauchsverhältnis begibt, provozierte durch ihre beklemmende Thematik und ihre drastischen Folterszenen. Etwas weniger verstörend, aber immer noch sehr widerspenstig und herausfordernd präsentiert sich auch ihre zweite eigenständige Leinwandarbeit „Pelikanblut – Aus Liebe zu meiner Tochter“, die als Mischung aus Familiendrama und horrorartigem Thriller daherkommt. Zu Beginn wirkt alles noch sehr beschaulich: Irgendwo in der deutschen Provinz führt Wiebke (Nina Hoss) einen Hof, auf dem sie Polizeipferde trainiert. Zugang findet die alleinerziehende Frau selbst zu den nervösesten Tieren. Eine Bewährungsprobe erwartet sie jedoch, als sie beschließt, zum zweiten Mal ein Kind zu adoptieren. Ihre Tochter Nikolina (Adelia-Constance Ocleppo) soll eine Schwester bekommen. Und so reist Wiebke nach Bulgarien, um die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska) in Empfang zu nehmen. Auch wenn das Mädchen anfangs äußerst schüchtern ist, scheint ihr das neue Familienglück gut zu tun. Nach und nach bemerkt die Adoptivmutter allerdings seltsame Veränderungen. Hinter Rayas Fassade lauern offenbar ungeahnte Abgründe. „Pelikanblut – Aus Liebe zu meiner
Tochter“ versprüht zunächst einen sympathischen Westernhauch. Schon sehr früh lässt die Regisseurin aber in Handlung und Inszenierung Elemente des Mysteriösen und Gruseligen einfließen. Der Blick auf das Bild einer Pelikanmutter, die ihren Nachwuchs mit einem Stich ins eigene Herz zum Leben erweckt, sorgt ebenso für Gänsehaut wie die manchmal geisterhaft umherschwebende Kamera oder die mitunter gespenstischen Klänge auf der Tonspur. Gebbe scheut nicht vor den Stilmitteln des Horrorfilms zurück, spielt selbstbewusst mit Standardmotiven des Genres – etwa der des Teufelskindes – und findet eine gute Balance zwischen Schauer und schmerzhaft realistischer Familienwelt. Raya könnte von einer bösen übernatürlichen Macht besessen sein. Andererseits deuten ihre beängstigenden Wutausbrüche auf ein schweres Trauma hin. Vor diesem Hintergrund befasst CELLULOID FILMMAGAZIN
sich der Film mit spannenden Fragen: Wie geht die Gesellschaft mit jungen Menschen um, die als Problemkinder abgestempelt werden? Und wie weit kann die Liebe einer Mutter reichen? Gebbes eigenwilliger Mix eckt an, auch wegen seines streitbaren Endes, entwickelt aber immer wieder eine unerwartete Wucht. Großen Anteil daran haben zweifelsohne die beiden Hauptdarstellerinnen. Als unberechenbare Adoptivtochter gleicht Katerina Lipovska einer Naturgewalt, die ihre Umgebung mit sich reißt. Ebenso sehenswert ist die Performance von Nina Hoss, in deren Darbietung sich Sorge und Überforderung schrittweise einnisten. CHRISTOPHER DIEKHAUS PELIKANBLUT D/BG 2019. Regie: Katrin Gebbe. Mit Nina Hoss, Murathan Muslu, Sophie Pfennigstorf AB 25.09.2020 IM KINO
EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH
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s gibt Filme, da stimmt alles zusammen: Da passt die Besetzung haargenau zum emotionalen Momentum, da sind Rhythmus und Tempo immer im Gleichschritt mit den Anfordernissen der Dramaturgie. Da durchwühlt einem das Gefühlvolle, da bekommt man einen Spiegel vorgehalten und da entdeckt man neue Perspektiven. „Ein bisschen bleiben wir noch“ von Arash T. Riahi ist so ein Film, bei dem alles stimmt. Er schildert eine emotionale Achterbahnfahrt aus der Perspektive von Flüchtlingskindern, erzählt in Wahrheit aber von uns allen, und wie wir am Vorsatz, es gut zu meinen mit den anderen und mit uns selbst, fortwährend scheitern. Auf Basis des Romans „Oskar & Lilli“ von Monika Helfer erzählt Riahi nach eigenen Drehbuch von den tschetschenischen Flüchtlingskindern Oskar (Leopold Pallua) und Lilli (Rosa Zant), die von ihrer Mutter (Ines Miro) getrennt werden, nachdem diese einen Selbstmordversuch knapp überlebt. Eingewiesen in die Psychiatrie kann man sie und ihre Kinder immerhin nicht in die Heimat abschieben, was aber der ursprüngliche Plan der Behörden war. So kommen Oskar und Lilli getrennt zu Pflegefamilien; der Bub landet bei einer vegetarischen
Filmladen
Arash T. Riahi erzählt überaus emotional und präzise von zwei tschetschenischen Flüchtlingskindern, die bei heimischen Pflegeeltern untergebracht werden.
Lehrerfamilie, findet dort keinen rechten Zugang zur Pflegemutter (Alexandra Maria Nutz) und freundet sich stattdessen mit der an Parkinson leidenden Oma (Christine Ostermayer) an, zu der er eine Verbindung aufbauen kann. Seine Schwester Lilli hingegen kommt zu der überengagierten, alleinstehenden Ruth (Simone Fuith), in deren Leben bald ein neuer Mann (Rainer Wöss) tritt, der das zarte Beziehungsgeflecht zwischen Lilli und Ruth zu stören scheint. AKZEPTANZ Daneben erleben wir den Alltagskampf der beiden Kinder auch außerhalb der Familien mit; dann etwa, wenn Lilli sich in der neuen Schule zu integrieren versucht, aber Akzeptanz nur bei der übergewichtigen Außenseiterin in der Klasse findet. Integration ist, das wird hier besonders deutlich, keine Verordnung, die man über die Menschen drüberstülpen kann; sie ist keine Regel und kein Gesetz, sondern sie muss gelebt werden von denen, die sie annehmen und von denen, die sie anbieten. Arash T. Riahi hat schon mehrfach gezeigt, dass er poetische und kraftvolle Inszenierungen beherrscht, etwa in „Ein Augenblick Freiheit“. Das Fremdsein ist ihm, der 1982, im Alter von zehn JahCINEMA FOREVER!
ren, vom Iran nach Österreich kam, ein Lebensthema geworden, von dem er immerzu erzählt. Das kann - wie im vorliegenden Fall - durchaus eine mitreißende Geschichte sein, die einem nahe geht. Mit den beiden jungen Darstellern Leopold Pallua und Rosa Kant ist Riahi zudem der Coup geglückt, seine beiden wichtigsten Rollen mit einfühlsamen, aber auch präzise spielenden Nachwuchsdarstellern zu besetzen, in deren Spiel es keinerlei Künstlichkeit gibt. Der Trumpf von „Ein bisschen bleiben wir noch“ ist die kindliche Perspektive: Sie lässt uns das Geschehen aus Kinderaugen miterleben, die Kamera ist zumeist auf Augenhöhe mit den Kindern, und interessanterweise ist diese Perspektive ein Stück weit naiver als die Sicht der „Großen“; das ist aber nicht negativ gemeint, sondern man kann diese Naivität auch als positiven Begriff erleben, solange an ihn Hoffnungen geknüpft sind. Und so ist das Drama dieser Geschichte aus diesem Blickwinkel auch eines voller hoffnungsvoller, ja sogar glücklicher Momente. MATTHIAS GREULING EIN BISSCHEN BLEIBEN WIR NOCH Ö 2019. Regie: Arash T. Riahi. Mit Leopold Pallua, Rosa Zant, Simone Fuith, Rainer Wöss AB 02.10.2020 IM KINO. 33
CORPUS CHRISTI
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Stadtkino
Fake-Priester mit Herz: Ein polnisches Drama um einen ehemaligen Jugendstraftäter, der vorgibt, Priester zu sein. Zunächst mit Erfolg.
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ottes Wege sind unergründlich“, lautet ein Sprichwort, mit dem man Schicksale und die Unwegsamkeiten des Lebens zu beschreiben versucht. Ein Sprichwort wie dieses ließe sich gleich mehrfach auf „Corpus Christi“ des polnischen Regisseurs Jan Komasa anwenden, denn hier passieren eine Menge Dinge, die nicht nach Gottes Willen aussehen, zumindest nicht in den hiesig verorteten katholischen Glaubenswelten. Aber so manches ist tatsächlich passiert, denn der Film beruht auf einer wahren Geschichte. Im Zentrum steht ein junger Mann namens Daniel, ganz wunderbar besetzt mit Bartosz Bielenia. Ein 20-jähriger Straftäter, der in der Jugendstrafanstalt sitzt, weil er zu viele Nasen blutig geschlagen hat und dort eine wundersame Läuterung erfährt und nach seiner Entlassung nichts mehr will als Priester zu werden es ist schließlich nie zu spät, zu Gott zu finden, schon gar nicht, wenn man in einem erzkatholischen Land wie Polen geboren wird. Daniel, den Ex-Knacki, der früher gern gekifft und auch gekokst hat, will sein Leben, nun durch den Glauben an Gott gestärkt, als Priester veredeln, aber seine Kriminalkate verunmöglicht ihm das natürlich. Es verschlägt ihn in 34
ein polnisches Kaff, wo er sich als Arbeiter in einem Sägewerk verdingen soll, aber - „Gottes Wege sind unergründlich“ - es bietet sich plötzlich eine ganz andere Chance: Über Umwege bietet sich ihm plötzlich die Chance, die örtliche Kirche vertretungsweise zu übernehmen. Dem voraus geht natürlich eine Lüge, denn im Priesterseminar in Warschau war der junge Mann natürlich nie. FRISCHER ZUGANG Nicht so wichtig, wenn Gott mit einem Großes vorhat. Und tatsächlich: Daniels frischer und erfrischender Zugang zum Glauben zieht die Menschen im Dorf an, er ist ein junger, leidenschaftlicher Mann. Doch im Dorf gab es einen Vorfall, der allen in den Knochen sitzt: Bei einem Autounfall starben sechs Jugendliche, weil ein anderer Dorfbewohner - angeblich betrunken - frontal mit ihnen zusammengestoßen ist. Die Angehörigen beklagen ihr Leid intensiv, die Gattin des toten Unfallverursachers wird schnell gebrandmarkt als Hure und als ursächliche Urheberin des Unfalls. Auch da vermittelt Daniel erfolgreich, ehe man ihm Schritt für Schritt auf die Schliche kommt. Regisseur Jan Komasa inszeniert sein CELLULOID FILMMAGAZIN
Glaubens-Drama als (auch spirituellen) Spießrutenlauf eines jungen Mannes, der sein Lebensziel gefunden zu haben scheint, es aber nicht und niemals ausleben darf. Zu viel ist schon passiert in seinem jungen Leben, als dass er sich noch Perspektiven erwarten dürfte. Aber er findet sie in sich selbst und setzt sie um. Komasa schlüsselt anhand einer durchwegs hervorragend besetzten Figurenkonstellation gut auf, worin das Erzkatholische in Polen besteht, und gibt auch Hinweise darauf, wohin sich Glaubensfragen heute entwickeln: Das Abwenden der Jugend vom Glauben ist ebenso Thema wie die Öffnung der Kirche zu neuen Werten. Durch das großartige Ensemble und das Thema wurde „Corpus Christi“ zu einem ArthausFilmhit in Polen, und zwar mit Recht: Der Film schlüsselt auch auf, wie stark verwurzelt Glaube und die Rebellion dagegen in Polen sind. Dass es am Ende wieder blutige Nasen gibt, beweist auch die Wahrheit dieses plakativen Spruchs: Gottes Wege sind eben unergründlich. HUBERT NEUDÖRFL CORPUS CHRISTI PL 2019. Regie: Jan Komasa. Mit Bartosz Bielenia, Eliza Rycembel, Tomasz Zietek, Lidia Bogacz BEREITS GESTARTET
ARTEMIS FOWL
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Disney
Schwer daneben: Die Fantasy-Verfilmung der Buchreihe ist zwar opulent, doch Regisseur Kenneth Branagh hätte lieber die Finger von dem Stoff lassen sollen.
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ie Verfilmung „Artemis Fowl“ von dem an sich sehr renommierten Kenneth Branagh, ist ziemlich arg in die Hose gegangen, weshalb Disney diese aufwändige Produktion ab sofort via Disney+ verfügbar macht, ganz ohne Umweg über das Kino. „Artemis Fowl“ ist die erste Verfilmung der gleichnamigen Buchreihe des irischen Kinder- und Jugendbuchautors Eoin Golfer. Seit dem Jahr 2001 sind acht Bände rund um den jungen Buben mit Verbindung ins Elfenland erschienen, die Bücher verkauften sich mehr als 25 Millionen Mal und wurden in 44 Sprachen übersetzt. Zugleich führte Artemis Fowl immer auch ein Schattendasein unter dem überlebensgroßen Harry Potter, der in etwa um die selbe Zeit Karriere machte. Im Fall von Artemis Fowl entwarf der Autor eine Fantasy-Reihe, in der ein Knabe, dessen Vater spurlos verschwunden ist, Zugang zu einer Parallelwelt erhält, in der es Zwerge, Elfen, Trolle oder Zentauren gibt, und das ist schon was für staunende Kinder-Augen. Die Verfilmung des ersten Romans der Reihe ist darob auch opulent gestaltet, denn der Schauwert ist den Kids ja heute sehr wichtig. Weshalb Regisseur Branagh zunächst
einmal seine Hauptfigur einführt: Artemis Fowl II. (Ferdia Shaw), ein überaus intelligentes Wunderkind ohne Mutter und mit einem Vater, der ständig auf Reisen ist, muss aus den Medien erfahren, dass sein Daddy (Colin Farrell) entführt worden ist - und auch, dass er ganz offensichtlich in arge kriminelle Machenschaften verwickelt ist. Bis hierhin ist „Artemis Fowl“ ein rasanter Thriller, doch dann geht es in die besagte Parallelwelt: Artemis muss dort mit der ziemlich betagten Elfe Commander Root (gespielt in stoischer Mimik von Judi Dench) zusammenarbeiten, um seinen Vater zu befreien, aber natürlich auch: Um die Welt zu retten, ohne diese Dimension kommt kein modernes Fantasy-Spektakel aus. Weil Artemis nur drei Tage dafür Zeit hat, sind hier natürlich alle sehr gestresst. Das merkt man auch an der Inszernierungsweise von Regisseur Branagh, der in nur 95 Minuten durch den an sich dünnen Plot hetzt, als wäre er auf der Flucht: Die Welt der Feen und Elfen ist wie ein bunter Sommersalat, den man mit dem Köchleffel permanent durcheinander wirbelt. Branagh lädt die Vorlage mit vielen Zitaten aus anderen fantastischen Geschichten auf, aber das ist auch dem CINEMA FOREVER!
Buch geschuldet, das halt schon damals nicht das erste war, das eine fantastische Geschichte erzählt hat und sich viele Motive in anderen Vorlagen zusammengeklaut hat. Das Disaster besteht darin, dass vom Buch nur ein Gerüst übriggeblieben ist, während der Film sich vollständig auf seine Special Effects und Action-Szenen konzentriert - und die sind nicht einmal besonders gelungen. Disney muss geahnt haben, dass „Artemis Bowl“ bei den Kritikern zu hämischen Kommentaren führen würde . Man hat sich da, in Hinblick auf eventuelle weitere Verfilmungen aus dem ArtemisFowl-Universum zum Auftakt keinen guten Dienst erwiesen. Aber vielleicht sollte man es lieber bleiben lassen und Billy Wilders Ratschlag vertrauen, der da hieß: Aus einem guten Stoff kann vielleicht ein guter Film werden, aber aus einem schlechten Stoff niemals ein guter Film. Es hat einen Grund, weshalb Artemis Fowl dem Schatten Harry Potters nie entwachsen konnte. DORIS NIESSER ARTEMIS FOWL USA 2020. Regie: Kenneth Branagh. Mit Colin Farrell, Ferdia Shaw, Judi Dench. Auf Disney + 35
HOMEMADE
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Netflix
Netflix zeigt unter dem Titel „Homemade“ Kurzfilme internationaler Filmemacher, die im Lockdown entstanden sind.
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ie meisten dieser 18 Kurzfilme sind sieben, acht Minuten lang, manche auch zehn, und entstanden mit einfachsten Mitteln. International renommierte Filmemacher zückten ihr Smartphone und drehten ihre Eindrücke von der eigenen Quarantäne während des nahezu weltweiten Lockdowns der Corona-Krise. Das Ergebnis heißt „Homemade“, ist auf Netflix zu sehen und reflektiert die unterschiedlichsten Impressionen, die jedoch eines gemeinsam haben: Wir haben sie allesamt auch am eigenen Leib verspürt in dieser Zeit des „Herunterfahrens“. Es ist der erste Corona-Film, ein Panoptikum an zuweilen durchaus liebevollen Annäherungen an die eigene Familie oder auch an die Absurdität der ungewohnten Situation. Es gibt Geständnisse, die diese Krise überhaupt erst möglich gemacht hat, und es gibt depressive Verstimmung und erdrückende Müdigkeit in einer perspektivlos gewordenen Zeit. „Homemade“ bildet das ganze Spektrum an Gefühlen ab, die wir die letzten Monate erlebt haben. Zum Beispiel bei dem Chilenen Pablo Larrain, dem Initiator dieses Projektes: Er zeigt einen Skype-Dialog zwischen einem alten, im Heim lebenden Mann, der sich voller Innigkeit an seine einst verlorene Liebe wendet; ein ganzes Leben in einem Videotelefonat, bei dem er seine Fehler eingesteht und sich beinahe schon fiebrig 36
an gemeinsame sexuelle Begegnungen erinnert - allein: Die Gefühlsbeichte hat einen Haken, und die adrette Lady am anderen Ende der Leitung meint bald, das Virus wäre genau für Menschen wie ihn erfunden worden. „Viva il virus!“ Schauspielerin Kristen Stewart durchlebt in ihrem Kurzfilm eine depressive Isolation, aus der heraus sie nur mehr noch „Ich brauche eine kleine Pause“ hauchen kann; der Blick aus dem Fenster, schlaflos, übernächtig, der Lärm von Los Angeles nur übertönt vom immerwährenden Grillenzirpen; Stewart füllt ihr durchlebtes Martyrium mit schauspielkünstlerischer Mini-Mimik. Anders ist Rachel Morrisons Sicht auf dieses Los Angeles im Lockdown: In ihm spürt sie die kindliche Seele ihres fünfjährigen Sohnes auf, dem sie ein gefühlvolles Erinnerungsdokument an diese Zeit hinterlässt. Morrison schlägt eine Brücke in ihre eigene Kindheit, zu ihrer Mutter, die an Krebs starb; damals habe sie nichts davon mitbekommen, weil sie so behütet wurde. Auch ihrem Sohn will sie ermöglichen, in dieser seltsamen Zeit einfach nur Kind sein zu können. Ähnlich wie Stewart verfährt die Japanerin Naomi Kawase in ihrem Beitrag, der wie eine Panikattacke wirkt. Eingesperrt sein mit Ausblick, malträtiert vom täglichen medialen Katastrophen-Kanon vegeCELLULOID FILMMAGAZIN
tiert Kawase durch den Film. Der deutsche Regisseur Sebastian Schipper wiederum sieht sich bald doppelt und dreifach in der verordneten Einsamkeit: Eine wiederkehrende Leier aus Schlafen, Zähneputzen, Nudeln mit Tomatensauce und ein Gitarrenständchen kitzeln den Humor aus der tristen Lage. Das Medium Kurzfilm ist für solche pointierte Zuspitzungen ideal, weil ihm eine gute Idee reicht, um zu wirken. Schipper zeigt das mit Bravour. Anders sieht der Italiener Paolo Sorrentino die Quarantäne, nämlich aus der Sicht zweier „Promis“ im Lockdown: Die britische Queen besucht da den Papst in Rom, Sorrentino dekoriert das alles in seiner Wohnung und führt zwei Puppen mit der Hand, denen er charmante Dialoge in den Mund legt. Papst und Queen machen eine Tour durch den Vatikan, sinnieren über Rosenzucht und Barack Obama, ehe der Big Lebowski vorbeischaut und vom Lockdown erzählt. Die Queen sagt: „Ich bin seit 94 Jahren im Lockdown“. Man muss schmunzeln, der Film ist eine Freude. Und die Erkenntnis folgt auf den Fuß: Eingesperrt sein, das ist zuallererst ein Geisteszustand. ARNO VEUER HOMEMADE 2020. Regie: u.a. Pablo Larrain, Maggie Gyllenhaal, Kristen Stewart, Sebastian Schipper, Ladj Ly, Paolo Sorrentino AUF NETFLIX
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Österreichische Kinofilme online schauen und dabei das Lieblingskino unterstützen:
VOD CLUB Foto: Kino-VOD-Club
KINO VOD CLUB
KINO FÜR ZUHAUSE IM
„Risse im Beton“
„Kino Wien Film“
„Inland“
Aktuell steht der KINO VOD CLUB ganz im Zeichen der österreichischen Hauptstadt: WIEN IM FILM. Wie unterschiedlich sich Wien als Schauplatz von Filmproduktionen zeigt findet sich in diesem Highlight. Die Auswahl des Specials zeigt Filme in denen Wien nicht nur als Schauplatz dient sondern auch solche, die den Charakter der Stadt gut widerspiegeln und sich mit dem typischen Wiener Lokalkolorit auseinandersetzen. Neben herausragenden Arbeiten wie „Nordrand“ von Barbara Albert, „Nevrland“ von Gregor Schmidinger und Josef Haders „Wilde Maus“ wollen wir folgende Filme empfehlen:
wurde für seine Darstellung mit dem österreichischen Filmpreis ausgezeichnet.
Straße bis zur heutigen Multiplexwelt. Paul Rosdys Liebeserklärung an den Film, das Kino und Wien mit vielen Anekdoten und Geschichten.
RISSE IM BETON Ertan (35), herausragend verkörpert von Murathan Muslu, kam als harter, aggressiver Junge wegen Totschlags ins Gefängnis und wird nach zehn Jahren entlassen – gebrochen und gezeichnet von der Zeit hinter Gittern. Mikail (15) hat seine Lehre abgebrochen, hängt mit seinen Jungs auf der Straße ab und spart auf sein Rap-Mixtape. Ertan sucht Mikail. Mikail weiß nicht, wer Ertan ist. Wie gehen beide mit der harten Realität um, wenn Mikail die Wahrheit erfährt? Mit seinem zweiten Langspielfilm „Risse im Beton“ liefert Umut Dag ein kraftvolles Sozialdrama ab, das Facetten von Wien zeigt, die noch nie auf der Leinwand zu sehen waren. Murathan Muslu
KINO WIEN FILM ist eine Kinoreise durch Wien von 1896 bis heute. Sie erzählt mittels Gesprächen mit Kinobetreibern, Filmvorführern und Technikern, Kinobesuchern und einem Historiker sowie zahlreichen Film-, Fotound Textdokumenten eine Kinogeschichte Wiens – vom ersten Kino auf der Kärntner
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INLAND Der Dokumentarfilm INLAND begleitet drei Wiener FPÖ-Fans vor und nach der Nationalratswahl in Österreich: Eine Kellnerin, einen Arbeitslosen und einen kleinen Beamten. In roten Arbeiterfamilien sozialisiert, setzen sie jetzt ihre Hoffnungen auf die FPÖ. Alle drei haben großes Unbehagen gegenüber „den Ausländern“. Gleichzeitig sehnen sich nach einem besseren Leben für die „kleinen Leute”. Der Film von Ulli Gladik gibt intime Einblicke in ihre Probleme, Ängste und Gesinnungen und zeichnet so ein Bild einer sich im Umbruch befindenden Gesellschaft. “Inland ist nicht einfach eine Dokumentation, es ist ein Friedensangebot.” Völlig zurecht mit dem österreichischen Filmpreis 2019 fürs en besten Dokumentarfilm ausgezeichnet. Weiters zu sehen: Der Dokumentarfilm „Zu ebener Erde“ von Birgit Bergmann, Steffi Franz, & Oliver Werani, Stefan A. Lukacs Polizeifilm „Cops“, die Culture Clash Komödie „Die Migrantigen“ von Arman T. Riahi, Elena Tikhonovas Spielfilmdebüt „Kaviar“ sowie die Grätzel-Komödie „Planet Ottakring“ von Michi Riebl. 37
Fotos: DVD-Labels
DVD & BLU-RAY „Crash“ von David Cronenberg, als Mediabook Edition mit 4K-Abtastung
Neu als DVD & Blu-ray: Cronenbergs „CRASH“
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„HABE NUR GELACHT“
m Bonusmaterial behauptet David Cronenberg, dass er, nachdem er CRASH nach knapp 20 Jahren nun zum ersten Mal wiedersah, den ganzen Film über nur gelacht habe. Dies zeugt nicht nur von seinem ausgezeichneten Humorverständnis, sondern legt auch eine ganz neue Sichtweise offen: Sollte sich hinter diesem grenzgängerischen Fetisch-Film für Geschwindigkeitsrausch, verbogenes Blech und vor motorisierter Energie bebender Menschenkörper gar eine heitere Komödie befinden? Will man das so sehen, müsste man in weiterer Folge allerdings einen Großteil des Cronenbergschen Oeuvres neu denken. CRASH erschien 1996 und der Meister des Body-Horror und PS-Aficionado ließ sein Publikum einmal mehr verstört zurück. Der Film erzählt von dem Filmproduzenten James Ballard (zugleich der Autor der Romanvorlage), der mit seiner Frau Catherine ein unterkühltes, aber sexuell aufgeladenes Verhältnis führt. Beide sind stets auf der Suche nach dem nächsten Kick, auch unabhängig voneinander und beim Reden über diverse außereheliche Erfahrungen kommt man auch wieder zusammen. Das sind Figuren, die wie die Faust aufs Auge in die hedonistischen 90er Jahre passen. Als James eines Nachts mit seinem Auto von der Fahrbahn abkommt, weil er – völlig selbstverständlich – während der Fahrt seine Drehbuchseiten liest, kracht 38
er in einen entgegenkommenden Wagen und dessen nicht-angeschnallter Fahrer durch seine Windschutzscheibe. Die Frau im Beifahrersitz erregt allerdings James Aufmerksamkeit, als sie beim Versuch sich aus dem Wrack zu befreien ihre Brüste entblößt. Einige Zeit später treffen die beiden erneut aufeinander und beginnen eine Affäre, bevorzugt auf der Rückbank ihres Unfallwagens. Sie stoßen zudem auf eine Art Geheimbund, der nachts die tödlichen Autounfälle berühmter Hollywood-Stars nachstellt, von James Dean bis Jayne Mansfield. Ihrer Philosophie zufolge ist der Zusammenstoß zweier Autos ein schöpferischer, sexueller Akt. DER ZEIT VORAUS Cronenbergs Filme sind in gewissem Sinne stets ihrer Zeit voraus: Sie handeln von der Verschmelzung von Körper, Geist und Technik, wie schon zuvor in NAKED LUNCH (1991) und danach, ganz besonders zukunftsweisend, in eXistenZ (1999), der das vorwegnimmt, was wir heute mit unseren Smartphones anstellen. Seine Filme erzählen aber auch von abgeschotteten Systemen, von Individuen oder einer Gesellschaft, die über keinerlei Korrektiv von Außen verfügt. Das Fehlen von jeglicher moralischer Instanz und Ironie lassen Cronenbergs Filme häufig wie Versuchsanordnungen scheinen – ein Eindruck, den die Themensetzung seiner CELLULOID FILMMAGAZIN
Arbeiten möglicherweise verstärkt. Die Figuren in CRASH leben in einer sterilen und selbstbezogenen Welt, ihr „Außen“ existiert vielleicht nur in den endlos vorbeiziehenden Autokolonnen auf dem Highway, die James beim Sex mit seiner Frau vom Balkon aus beobachtet. So landet James nach seinem Unfall in einem leeren Krankenhaustrakt, sein Arzt entpuppt sich später als „Prophet“ der sektenähnlichen Autofanatiker. Obwohl vieles an CRASH kalt, ja nahezu abstoßend wirkt, entfaltet der Film von der ersten Sekunde an eine nahezu magische Sogkraft, der man sich nur mehr schwer entziehen kann. Das Staunen wird umso größer, je mehr James Spader, Holly Hunter und Deborah Kara Unger sich ihrer neu gefundenen Leidenschaft hingeben und schließlich völlig weltvergessen mit ihren Autos eins werden. Im kommunikativen Unvermögen offenbart ihnen die Technik neue Ausdrucksmöglichkeiten. Ein typisches Cronenberg-Momentum das er hier wieder einmal perfekt ausformuliert. Die weltweit erste Blu-ray Veröffentlichung im schönen Mediabook lässt für Fans jedenfalls keine Wünsche offen: Bild und Ton sind fantastisch geraten, im Bonusbereich trumpft Turbine Medien vor allem mit zahlreichen Interviews neueren und älteren Baujahres auf. Kurzum: Die lange überfällige Würdigung eines Meisterwerks. FLORIAN WIDEGGER
ZWEI ECHTE ENTDECKUNGEN PINK FILMS VOL 3 & 4: Low Budget-Kino aus dem Japan der 1960er Jahre.
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wei richtig tolle Vertreter der Gattung pinku-eiga, also jener Reihe an Low-Budget Filmen, die seit den 60er Jahren in Japan entstanden sind und in denen es in einer knappen Stunde Laufzeit recht freizügig zur Sache geht, ohne dass dabei künstlerische Ambitionen außer acht gelassen werden, bringen uns die Kölner Asien-Spezialisten von Rapid Eye Movies nun auf Blu-ray und DVD. Sie sind erneut echte Hingucker: ABNORMAL FAMILY: OLDER BROTHER‘S BRIDE
– schon der Titel dieses farbenprächtigen Exemplars aus dem Jahr 1984 verheißt ganz große Freude, die dann auch nicht enttäuscht wird. Regisseur Masayaki Suo muss wohl eine heimliche Inkarnation von Altmeister Ozu und dem deutschen Kinogott der tristen Erotik, Jürgen Enz, sein. Der Ozu-Einfluss ist evident, erzählt er doch von einer Familie, die auseinandergeht, weil der Sohn eine Frau heiratet, die der toten Mutter ähnlich sieht, und auch die beiden anderen Kinder langsam flügge werden. Dem Papa bleibt nur der Gang in die Bar (verheißungsvoll ____Bar genannt) … Suo kopiert nicht nur das Ausgangsszenario, sondern auch die Filmsprache seines Vorbilds (niedrige, statische Einstellungen, einzelne Szenen sind von Aufnahmen der Stadt oder des
Verkehrs verknüpft), bei den recht lang ausgespielten, genial-monotonen Sexszenen vermutet man sich aber fast in den stilsicher-geschmacklos eingerichteten Wohnlandschaften in der BRD. Der Humor kommt dennoch nicht zu kurz: Der erste Kunde der Tochter, die als Masseuse in einem türkischen Bad die Freuden der Sexualität kennenlernen will, entpuppt sich als ihr frisch verheirateter Bruder, die Dame hinter der Bar verdreht gleich mehreren männlichen Familienmitgliedern den Kopf. Am Schluss bleiben Vater und Schwiegertochter zurück, und die Erkenntnis, dass ein Frauenleben nichts taugt, weil es einzig auf eine Hochzeit hinausläuft! Wacky! BLUE FILM WOMAN bildet eigentlich das perfekte Gegenstück dazu: Dieses in kräftigen Farben (fürs Entstehungsjahr 1969 eigentlich noch ein Novum, waren die meisten pink filme doch schwarzweiß) gehaltene Melodram offenbart in seiner Ernsthaftigkeit die düstere Wurzel der pink films, die ihre Heroinnen physischen und psychischen Belastungsproben unterziehen. Als Vorläufer könnte man da eventuell die Filme über gefallene Frauen von einem anderen Altmeister, Kenji Mizo-
guchi, nennen. Um die Schulden ihres Ehemannes abzuarbeiten, muss sich eine Frau bei seinem Gläubiger prostituieren und dessen behinderten Sohn „betreuen“. Von diesem Erlebnis ist sie dermaßen traumatisiert, dass sie von einem Auto tödlich angefahren wird. Der Vater verzweifelt darüber, während die erwachsene Tochter einen Entschluss fasst: Sie würde nicht nur die Schulden des Vaters begleichen, sondern auch nie mehr arm sein wollen – was sie direkt in die Rotlichtbezirke der Stadt führt. Regisseur Kan Mukai zählt auch im Westen zu den bekannteren Vertretern des Genres, denn Filme mit blumigen Titeln wie NACKTES FLEISCH oder UNERSÄTTLICHE TRIEBE liefen auch hierzulande in den Kinos. Dahinter verbergen sich ausnahmslos beklemmende Geschichten, in denen die dunklen Seiten der japanischen Gesellschaft hervorgekehrt werden. Höhepunkt ist eine Szenenfolge, in der die Tochter ihre Klienten nach den immer gleichen Ritualen in ihre Wohnung lässt und die ganze Ausweglosigkeit und Tristesse ihrer Situation auf den Punkt bringt. Kurzum: Zwei echte Entdeckungen, die neugierig auf mehr machen! FLORIAN WIDEGGER
„Abnormal Family: Older Brother‘s Bride“ (1984) CINEMA FOREVER!
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Fotos: DVD-Labels
DVD & BLU-RAY Neu als DVD & Blu-ray: „Colour Out Of Space“ Nicolas Cage an Grenzlinien: „Colour Out of Space“
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n den letzten Jahren fällt immer mehr auf, wie sehr Nicolas Cage ein Sammelsurium von Charakteren verkörpert, die an den Grenzlinien von Genie und Wahnsinn entlang balancieren – und dabei häufig in letzteren verfallen. Zuletzt stellt er dies recht eindrucksvoll im psychedelischen Rachetrip MANDY unter Beweis, nun folgt mit COLOR OUT OF SPACE ein weiterer, im besten Sinne bizarrer Film, der auch ganz besonders von Cages – nennen wir es – eigenwilliger Darstellung eines Familienvaters, der das Heft schon längst nicht mehr in der Hand hat und dem das viel zu spät erst auffällt. Nathan Gardner lebt mit seiner Familie auf der abgeschiedenen Farm seines verstorbenen Vaters. Während er sich der nicht besonders einträglichen Zucht von Alpakas widmet, sitzt seine Frau Theresa, die gerade eine Brustkrebs-OP überstanden hat, zwecks besserer Internetverbindung auf dem Dachboden und hält mehr schlecht als recht wichtige Geschäftskonferenzen per Skype ab. Sohn Benny gönnt sich gern mal einen Joint, Tochter Lavinia gibt sich WiccaRitualen hin und Jack, der Jüngste, hat sich in sich selbst zurückgezogen und beschäftigt sich am liebsten mit dem Hund. Eine schrecklich „normale“ Fami40
BIZARRER CAGE lie also. Bis eines Nachts ein kleiner Meteorit im Vorgarten landet und ihr Leben schlagartig verändert: Pflanzen wachsen auf unnatürliche Weise, Tiere mutieren in grässliche Wesen und auch sie selbst bleiben von der seltsam-lilanen Farbe, die von dem Einschlag auf die Umgebung ausgeht, nicht verschont … WEG DES EXZESSES Schon mehrfach wurde H. P. Lovecrafts 1927 erschienene Kurzgeschichte im Kino adaptiert, doch während die bisherigen Verfilmungen allesamt bestenfalls durchschnittlich und brav gerieten, wählt Richard Stanley (ein Name, der bei Genrefans durchaus Augen zum Leuchten bringen kann, schuf der gute Mann mit HARDWARE 1990 einen kultigen Horror-Sci-FiMeilenstein) den Weg des Exzesses und lauert (auch für Kenner der Vorlage) mit einer fiesen Überraschung nach der anderen. DIE FARBE AUS DEM ALL ist im besten Sinne verstörend, wie man es sich von einem Film nach Lovecrafts Feder nur wünschen kann. In seinem Cast (allen voran Nicolas Cage, aber auch Madeleine Arthur als Lavinia) findet Stanley ideale „partners in crime“: Von Anfang an vermitteln sie, dass die Gardners alles andere als Amerikas Vorzeigefamilie darstellen. Da wirkt der CELLULOID FILMMAGAZIN
Wechsel von den kleinen und größeren „spleens“ der Protagonisten hin zu den echten Bedrohungen etwas weniger gebrochen und das tut dem Film ganz gut. Cage darf sich schon bevor der Wahnsinn komplett übernimmt wunderbar austoben, indem er etwa Melktechniken für seine Alpakas erklärt oder die total riesigen, aber auch total ungenießbaren Tomaten aus dem verseuchten Vorgarten in die Tonne wirft). Ganz großes Kino! Während sich Lovecrafts Vorlage über einige Monate zieht und als Rückblende erzählt wird, sind wir hier gewissermaßen live dabei, wie sich innerhalb weniger Tage das idyllische Landleben der Gardners in ein Inferno verwandelt. Bist du deppert – die letzte halbe Stunde hat es dabei echt in sich: Während sich die meisten Horrorfilme nur noch von jump-scare zu jump-scare hanteln, erzeugen Stanley und sein Team eine genuine Stimmung der Angst, und das Gefühl, hier einen Film vor Augen zu haben, den man so wirklich noch nicht gesehen hat. Wer sich auf diesen Trip einlässt, wird – bei allen kleineren Schwächen, die so ein Film mit sich bringt – mit einer der tollsten Erfahrungen der letzten Jahre belohnt. FLORIAN WIDEGGER
SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT
Sean Connery in seinem Herzensprojekt als Polizist mit kurzer Zündschnur.
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änner am Rande des Nervenzusammenbruchs – so könnte man eines jener Leitmotive, die sich durch Sidney Lumets Schaffen ziehen, das immerhin sieben Jahrzehnte umfasst, auf den Punkt bringen. Immer wieder hat sich Lumet mit dem Bild des vermeintlich starken Geschlechts in Extremsituationen auseinandergesetzt – ob man nun über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten befinden muss (12 ANGRY MEN), ein Atomkrieg ausbricht (FAIL SAFE), ein Bankraub ausartet (DOG DAY AFTERNOON), oder ein Cop in die Schusslinie gerät (PRINCE OF THE CITY) – und das sind nur ein paar wenige Beispiele aus der immens abwechslungsreichen Filmografie dieses viel zu selten besungenen Professionals alter Schule. Auch in SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT steht ein Polizist vor einer folgenschweren Entscheidung – und den Trümmern seiner Existenz. Der Film basiert auf dem Theaterstück THE STORY OF YOURS von John Hopkins. In einer britischen Kleinstadt geht das Grauen um: Immer wieder verschwinden Kinder am hellichten Tage und werden
dann kurze Zeit später vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Die Eltern sind in Panik, die Polizisten schieben Überstunden. Trotz immenser Überwachungsmaßnahmen verschwindet erneut ein Mädchen, das zum Glück lebend gefunden wird. Mit einer Täterbeschreibung macht sich Sergeant Johnson (Connery) auf die Suche und wird tatsächlich rasch fündig. Beim Verhör brennen in Johnson die Sicherungen durch und er prügelt auf den Verdächtigen ein – mit fatalen Folgen. An dieser Stelle setzt der Film ein. Was verwunderlich klingt, entpuppt sich als ungemein kluger Schachzug, denn Lumet baut diesen Film ganz anders auf, als es dramaturgisch logisch erschiene. Eine immens verlangsamte und verfremdete Version der Szene, die unmittelbar nach der Prügelattacke folgt, leitet den Film ein – das verwirrt gleichermaßen wie es Interesse weckt. Erst dann wird die Vorgeschichte aufgerollt, bis wir uns erneut an diesem Punkt in der Handlung befinden. Doch erst am Schluss erfährt man, was Johnson so aufgebracht hat und wie dieses Verhör verlaufen ist. Bis
dahin gibt es – da leugnet der Film seine theatralische Herkunft nicht – lange, sehr elaborierte und zum Teil (im positiven Sinne) quälende Zweipersonen-Passagen, in denen die Schattenseiten seiner Hauptfigur zum Tragen kommen. Nach seinem x-ten Auftritt war Connery es Leid: Er würde die Rolle als 007 in DIAMONDS ARE FOREVER nur übernehmen, wenn ihm das Studio die Möglichkeit gibt, eines seiner Herzensprojekte zu verwirklichen. So entstand SEIN LEBEN IN MEINER GEWALT verhältnismäßig günstig für unter eine Million Dollar. Leider wurde dem Film bei Erscheinen weder das Wohlwollen der Kritiker noch des des Publikums zuteil. Sehr zu Unrecht, wie man nun anhand dieser wunderbaren Veröffentlichung aus dem Hause Koch Media nachprüfen kann. Keine leichte Kost für die entspannende Abendunterhaltung, sondern ein forderndes, sprödes, manchmal auch erschreckendes Psychogramm, das mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet. FLORIAN WIDEGGER
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IMPRESSUM CELLULOID FILMMAGAZIN Nummer 4/2020 September/Oktober 2020 erscheint zweimonatlich Herausgeber, Eigentümer und Verleger: Verein zur Förderung des österreichischen und des europäischen Films Chefredakteur: Matthias Greuling Freie AutorInnen: Gunther Baumann, Jürgen Belko, Christopher Diekhaus, Paul Heger, Doris Niesser, Hubert Neudörfl, Carolin Rosmann, Katharina Sartena, Constantin Schwab, Manuel Simbürger, Florian Widegger, Sandra Wobrazek Coverfoto: Warner Bros. Anzeigen: Katharina Sartena Layout/Repro: Matthias Greuling Werbeagentur Printed in Austria. Die Beiträge geben in jedem Fall die Meinung der AutorInnen und nicht unbedingt jene der Redaktion wieder.
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ie gewann zwei Oscars, zwei Golden Globes, spielte in einigen der größten Klassiker der Filmgeschichte mit und war ein Weltstar. Die größte Leistung aber, das hat Olivia de Havilland selbst gesagt, ist ihr hohes Alter gewesen: Mit 104 Jahren ist die Hollywood-Diva am 26. Juli 2020 in ihrem Haus in Paris gestorben, und im Nachhall bleibt ihr Satz in Erinnerung, der da hieß: „Die Vorstellung, ein ganzes Jahrhundert zu leben, gefällt mir sehr. Stellen sie sich das einmal vor. Was für eine Leistung!“ Das gab sie kurz vor ihrem 100. Geburtstag dem Magazin „Entertainment Weekly“ zu Protokoll. Olivia de Havilland hat sie alle überlebt, ihre Filmpartner. Zum Beispiel jene aus „Vom Winde verweht“, dem kürzlich wegen Rassismus in die Schusslinie geratenen Südstaatendrama, das 1939 entstand und in dem de Havilland die tugendhafte Melanie Hamilton spielte: Clark Gable alias Rhett Butler starb 1960 im Alter von 59, Viviana Leigh alias Scarlett O’Hara, gestorben 1967, wurde nur 53.
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Land NÖ, Abteilung Kultur Stadtgemeinde Mödling, Abt. Kultur Stadtgemeinde Mödling, Abt. Kultur
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LEGENDEN
KEIN GETUSCHEL Es gibt wenige, die bis vor kurzem so intensiv von den goldenen Jahren in Hollywood berichten konnten, der letzte, Kirk Douglas, ist Anfang Februar gestorben. Olivia de Havilland war zwar bei vielen Kino-Meilensteinen dabei, hat Hollywood als Ort von Tratsch und Klatsch aber schnell den Rücken gekehrt. Das lag vor allem an ihrem zweiten Ehemann, dem französischen Autor Pierre Galante, dem sie 1955 nach Paris folgte. Mit dem Getuschel in Tinseltown hatte de Havilland nichts am Hut, sie wollte sich nicht in die Niederungen der Neidgesellschaft begeben, sondern lieber in Würde leben. Das frühe Exil folgte auf eine Zeit, in der die Schauspielerin alles erreicht hatte, was es zu erreichen gibt: Die 1916 in Tokio als Tochter britischer Eltern zur Welt gekommene de Havilland übersiedelte schon im Kindesalter nach Kalifornien. Als 19-Jährige wurde sie von Max Reinhardt in dessen einziger US-Regiearbeit „Sommernachtstraum“ (1935) besetzt. Das Studio Warner Bros. witterte ihr Starpotential und nahm sie für sieben Jahre unter Vertrag, um sie an der Seite von Errol Flynn
groß herauszubringen - mit ihm drehte sie acht Filme, darunter den frühen Farbfilm „Robin Hood“ (1938). „Vom Winde verweht“ barg eine bittere Enttäuschung für de Havilland: Der Film erhielt acht Oscars, nur sie wurde in der Kategorie „Beste Nebendarstellerin“ von Hattie McDaniel, der ersten schwarzen Oscarpreisträgerin, geschlagen (siehe dazu Seite 22). 1946 klappte es dann mit dem ersten Hauptrollen-Oscar für „To Each His Own“, 1949 folgte der zweite für William Wylers „The Heiress“. Da war Olivia de Havilland mit Hollywood schon auf Kriegsfuß, was auch am lebenslangen Streit zwischen ihr und ihrer Schwester Joan Fontaine (1917-2013) gelegen haben mag: Nach deren Aussagen konnten sich die Schwestern schon als Kinder kaum ausstehen, der Höhepunkt war dann die Oscarverleihung 1942, als beide nominiert waren, aber Fontaine für Hitchcocks „Verdacht“ gewann. Mitte der 60er Jahre beendete Olivia de Havilland ihre Filmkarriere, trat nur mehr vereinzelt im Fernsehen auf, und widmete sich vermehrt ihren Hobbys Ballonfahren, Sportfliegen und Hochseefischen. Im hohen Alter wurde sie 2008 von George W. Bush mit der National Medal for the Arts geehrte, zum 100. Geburtstag erhob sie Queen Elizabeth II. zur Dame. Deren Mutter, die Queen Mum, selbst 102 Jahre alt geworden, war übrigens de Havillands Vorbild: „Ich wollte immer so alt werden wie Queen Mum“. Dieser Wunsch ist ihr erfüllt worden. „Für mich war jeder Geburtstag wie ein Sieg“. PAUL HEGER
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