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GESCHICHTEN DES KRIEGES
from 0831 (11/12.2023)
Geschichten des Krieges - Ukrainische Familie fängt in Kempten ein neues Leben an
Am 24. Februar 2022 hält die Welt den Atem an. Was sich kaum jemand in der heutigen Zeit hätte vorstellen können, wird zur Wirklichkeit: Krieg in Europa. Der russische Befehlshaber Wladimir Putin greift mit einem groß angelegten Militäraufgebot die Ukraine an. Die ganze Welt ist in Schockstarre und in der Ukraine wird es dunkel. Hunderttausende Menschen werden verletzt, sterben oder müssen ihre geliebte Heimat verlassen. Auf der Suche nach Schutz flüchtet der Mathematik-Professor Volodymyr Shramenko mit seiner vierköpfigen Familie. In Kempten haben sie eine neue Heimat gefunden; obwohl ihnen hier nicht nur Gutes begegnet, fühlen sie sich endlich wieder zuhause. Der 45-jährige Familienvater hat uns seine Geschichte erzählt.
„Meine Frau und ich stammen aus Donezk, einer Stadt, die bereits seit 2014 von Russland besetzt wird. Wir wissen also, wie es ist, seine Heimat, sein bisheriges Leben zu verlassen und neu anzufangen. Viele unserer Bekannten spürten damals bereits, dass das, was 2014 begann, weitergehen würde, und zogen nicht von einer Stadt zur anderen, sondern verließen direkt das Land. Wir allerdings wollten nicht gehen, sondern kauften eine Wohnung in Kiew, bekamen drei wunderbare Kinder und reisten viel. Meine Frau arbeitete als Eventmanagerin und ich als Mathematik-Professor an der Universität. Alles war gut – bis zum Frühjahr 2022.
Wir hatten großes Glück, dass wir eine Woche vor Kriegsbeginn Kiew verlassen konnten, um in unserer Zweitwohnung in den Karpaten unterzutauchen. Am Morgen des 24. Februar erfuhren wir die schreckliche Nachricht, dass der Krieg begonnen hatte und dass fast das gesamte Gebiet der Ukraine unter Raketenbeschuss stand. Nur wenige Tage später waren bereits einzelne Gruppen russischer Soldaten in Kiew eingedrungen. Ich sah Bilder von ausgebrannten Militärfahrzeugen vor meiner Universität, wir standen unter Schock und wussten nicht, was wir tun sollen. Die Hauptautobahn stadtauswärts war blockiert und das russische Militär hatte bereits viele Zivilisten erschossen, die versuchten, die Stadt zu verlassen. Meine Freunde aus Kiew schafften es trotzdem zu uns und schlugen vor, dass wir gemeinsam zu Verwandten nach Deutschland flüchten. Wir woll- ten nur die Kinder in Sicherheit bringen. An der slowakischen Grenze verbrachten wir über drei Tage im Auto. Ohne Geld konnten wir nur auf die Unterstützung von Freunden zählen, die seit vielen Jahren als Wissenschaftler und Programmierer in Europa arbeiten. Ich erinnere mich an den Moment, als wir über die ukrainische Grenze fuhren; das einzige positive Gefühl, das ich spürte: meine Kinder, meine Frau und ich waren in Sicherheit. Alles andere war Angst und ein Gefühl der Unwirklichkeit.
Wir waren schockiert und gerührt, dass man uns Geld zum Leben gibt. Ich erinnere mich, dass mir die Tränen kamen.
Unsere Bekannten in Kempten halfen uns, eine Unterkunft beim Sozialamt zu beantragen. In der Warteschlange trafen wir Menschen aus Charkiw, Odessa, Nikolajew, Mariupol und vielen anderen Städten. Jeder hatte seine eigene Geschichte zu erzählen. In der Nähe spielten Kinder auf dem Spielplatz und an den Tischen eines Cafés tranken die Leute Kaffee und Prosecco Aperol. Das ‚normale‘ Leben um uns herum begann uns langsam wieder zu wärmen. Wir waren schockiert und gerührt, dass man uns Geld zum Leben gibt. Ich erinnere mich, dass mir die Tränen kamen. Es war das gleiche Gefühl wie als wir drei Tage lang in einer Schlange an der Grenze standen und Fremde uns Essen und heißen Tee brachten. Es zeigte sich, dass es in dieser grausamen Welt einen Platz für Freundlichkeit und Menschlichkeit gibt.
Wir waren das erste Mal in Kempten und in Bayern im Allgemeinen. Vorher lebten wir in Großstädten mit großen Entfernungen, Hektik und schlechter Ökologie. Kempten hat alles, was ein schönes Leben ausmacht: den Fluss, Denkmäler, Geschäfte, Cafés und schöne Natur mit beeindruckenden Bergen. Was mir am meisten gefällt, ist, wie gut es unseren Kindern im Allgäu geht. Am tollsten für sie ist der Kindergarten. Sie springen jeden
Morgen auf und rennen voller Freude dorthin. Früher glaubten wir an den Mythos, dass europäische Länder gegenüber Ausländern sehr konservativ sind, aber hier habe ich gesehen, wie akzeptiert und in die Gesellschaft integriert Menschen vieler Nationalitäten sind. Überall herrschte eine sehr freundliche Einstellung und Unterstützung. Es gab nur ein paar Mal offene Feindseligkeit von russischsprachigen Verkäufern, als sie erfuhren, dass wir aus Kiew kamen. Auch der Autokorso mit russischen Flaggen Mitte März war schockierend. Jemand hat einmal unsere Autotür auf einem Supermarktparkplatz stark zerkratzt. Es war klar, dass jemand auf die ukrainischen Kennzeichen am Auto so reagierte.
Ich arbeite immer noch als Mathematik-Professor an meiner Hochschule in Kiew. Wegen des Krieges findet der Unterricht online statt. Ich würde allerdings gerne meine Arbeit als Professor an der Hochschule in Kempten fortsetzen. Dafür brauche ich aber sehr gute Deutschkenntnisse. Also habe ich einen Kurs besucht und den Integrationskurs erfolgreich bestanden. Vor kurzem hat mein nächster B2-Kurs begonnen. Ich gebe mir sehr viel Mühe und lerne in meiner kompletten Freizeit. Die Situation in der Ukraine ist schwierig. Viele Freunde und Verwandte leben noch dort. Die Menschen in der Ukraine gehen zur Arbeit, in Fitnessstudios und Cafés. Sie führen ein scheinbar normales Leben. Doch es gibt immer wieder Raketeneinschläge, Häuser werden zerstört und Menschen sterben. Es ist kein Ende in Sicht. Bis 2016 brauchte man für Reisen in Europa ein Schengen-Visum. Es war ein kompliziertes, langwieriges und demütigendes Verfahren, ein solches zu erhalten. Man musste nachweisen, dass man nicht in der EU bleiben, sondern definitiv in sein Heimatland zurückkehren will. Wenn ich heute gefragt werde, ob wir in Deutschland bleiben wollen, empfinde ich diese Frage erstmal als eine Provokation aus der damaligen Erinnerung heraus, aber jetzt bin ich bereit zu sagen: Ja, ich will in Kempten bleiben, ich will Mathematik unterrichten, ich will, dass meine Kinder hier Programmierer, Ärzte, Wissenschaftler werden und sich ihr eigenes, freies Leben aufbauen können.“
von Jasmin Kaiser